Hermann Giesecke

Die Jugendarbeit

München: Juventa-Verlag 5. völlig neu bearb. Aufl. 1980
 

Kapitel 1:

Die Entwicklung der Jugendarbeit nach 1945


© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis


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Zu dieser Edition:

Dieses Buch behandelt die Jugendarbeit von 1945 bis 1980 in Westdeutschland bzw. der westlichen Bundesrepublik und schließt an das Buch Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend an, das die Entstehung und Entwicklung der Jugendarbeit von 1900 bis 1945 beschreibt.
Weggelassen wurden das Vorwort des Herausgebers, das Vorwort des Verfassers zur neuen Ausgabe und die weiterführenden Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1980.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
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© Hermann Giesecke




Inhaltsverzeichnis von Kapitel 1

1. Kapitel: Die Entwicklung der Jugendarbeit nach 1945
Geschichtliche Hintergründe und Ausgangspositionen
Jugendverbände
Jugendfreizeitstätten
Jugendbildungsstätten
Zeitbedingte Maßnahmen


1. Kapitel: Die Entwicklung der Jugendarbeit nach 1945

Geschichtliche Hintergründe und Ausgangspositionen

Obwohl die Geschichte der Jugendbewegungen und Jugendarbeit bis 1945 getrennt in dem Band "Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend" dargestellt und dokumentiert werden soll, sollen einige Aspekte hier kurz skizziert werden, weil dies das Verständnis der Entwicklung der Jugendarbeit nach 1945 erleichtert.

1. Von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Entstehung der Jugendarbeit waren die "Erfindungen" der bürgerlichen - also im wesentlichen von Gymnasiasten und Studenten geprägten - Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg: die Entdeckung der Natur und des Wanderns; die Entdeckung der jugendlichen Gleichaltrigengruppe als besonderen Erlebnis- und Selbsterziehungsbereich; die Distanz zu gesellschaftlichen Konventionen und die Option für ungezwungene Kleidung und Umgangsformen; die Wiederentdeckung alter Lieder, Bräuche und Sitten und die Romantik des Gemeinschaftslebens außerhalb der städtischen Zivilisation. Daraus erwuchs das Repertoire eines "jugendgemäßen Lebens", das noch bis Ende der sechziger Jahre die Vorstellungen über Sinn und Zweck der Jugendarbeit nachhaltig bestimmt hat: Jugendarbeit war im wesentlichen die Ermöglichung eben dieser jugendgemäßen Lebensformen. Diese wurden lange Zeit - bis etwa Anfang der sechziger Jahre - zwar von Pädagogen wie auch von der öffentlichen Meinung für pädagogisch wertvoll gehalten, aber nicht weiter thematisiert oder systematisch geplant. Von den Erfindungen der frühen Jugendbewegung lebte also die Jugendarbeit bis Ende der sechziger Jahre.

2. Ebenfalls schon vor dem Ersten Weltkrieg entstand eine Arbeiterjugendbewegung aus anderen Ursachen und Anlässen und mit anderen Zielen. Kampf gegen die Ausbeutung am Arbeitsplatz und im Lehrlingswesen einerseits, Selbstbestimmung ("organisatorische Autonomie") gegenüber den Arbeiterorganisationen der Erwachsenen andererseits waren die wichtigsten Motive. Bekämpft vom Staat aus politischen Gründen einer-

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seits, mit Mißtrauen betrachtet von den Arbeiterorganisationen (SPD und vor allem Gewerkschaften) andererseits ging ihre Selbständigkeit jedoch bereits vor Kriegsausbruch wieder verloren.

3. Eine der Abwehrmaßnahmen des Staates vor dem Ersten Weltkrieg war die Einrichtung einer öffentlichen Jugendpflege, in Preußen z.B. durch die Erlasse von 1911 (für Jungen) und 1913 (für Mädchen). Ziel war dabei einerseits, durch finanzielle Unterstützung der "bürgerlichen" Jugendpflegeorganisationen deren Möglichkeiten zu vergrößern, Arbeiterjugendliche für ihre Angebote zu werben; andererseits sollten die Organisationen der Arbeiterjugend, die an den öffentlichen Mitteln nicht partizipieren konnten, durch polizeiliche und gesetzliche Mittel so weit wie möglich behindert werden.

4. Nach dem Kriege zerbrach die Wandervogelbewegung, es entstanden die "Bünde": Einzelne bzw. Gruppen von Führern sammelten Gefolgschaften um sich, die bestimmte "Werte" und entsprechende Symbole für sich für verbindlich erklärten. Die Bünde - meist antidemokratisch eingestellt - waren eher Weltanschauungs-Gemeinschaften, und das Wandern und die anderen Formen des jugendgemäßen Lebens bekamen in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung.

5. Demgegenüber brachte die sozialdemokratische Jugendbewegung - der Kommunistische Jugendverband war seit 1921 ein politischer Kampfverband mit nur untergeordneten jugendpflegerischen Ambitionen - wichtige demokratische Impulse in die Jugendarbeit ein: nicht-autoritäre Beziehungen zwischen den Generationen; parlamentarische Verfahrensweisen innerhalb der Organisation; Gleichberechtigung der Geschlechter.

6. Die öffentliche Jugendpflege blieb auch nach dem Krieg in ihrer Struktur erhalten: Der Staat betrieb selbst keine Jugendarbeit, förderte aber die Arbeit der Verbände - nun auch der Arbeiterjugend - durch Subventionen und durch andere Vergünstigungen (z. B. Fahrpreisermäßigungen). Die förderungswürdigen Jugendverbände schlossen sich zum "Ausschuß der deutschen Jugendverbände"zusammen (ab 1926: "eichsausschuß der deutschen Jugendverbände") - etwa vergleichbar dem heutigen Deutschen Bundesjugendring (DBJR). Der Reichsausschuß - obwohl nach seiner Satzung zur Einstimmigkeit bei wichtigen Beschlüssen verpflichtet - entwickelte gemeinsam eine beachtliche jugendpolitische Initiative. So forderte er - wenn auch erfolglos - für die erwerbstätige Jugend eine Verkürzung

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der Arbeitszeit, eine Verbesserung der Jugendarbeitsschutzbestimmungen sowie die Einführung eines gesetzlichen Mindesturlaubs. Die Bestrebungen des fördernden Staates waren dagegen anders gerichtet. Ihm ging es um die Vorbeugung gegen Verwahrlosung, um die Vermeidung sittlicher Abweichung sowie um die Wiederherstellung der alten Rollenaufteilung von Mann und Frau.

7. Charakteristisch für die Weimarer Zeit war einmal die quantitative Ausdehnung der Jugendarbeit. Nach den Angaben der Mitgliederverbände des Reichsausschusses waren etwa 35 bis 40 Prozent der Jugendlichen in ihnen organisiert. Die Tendenz - zum Beispiel in den preußischen Richtlinien - war, möglichst alle Jugendlichen im Rahmen der Jugendpflege zu erfassen. In den politischen und weltanschaulichen Polarisierungen der Weimarer Zeit war jede Erwachsenenorganisation darauf bedacht, möglichst viele Jugendliche als potentiellen Nachwuchs zu rekrutieren. In diesem Zusammenhang waren zwei weitere "Erfindungen" von Bedeutung. Einmal die von der der SPD nahestehenden SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) organisierten "Reichsjugendtage" (z. B. 1923 in Nürnberg mit 35 000 bis 40 000 Jugendlichen), die für die damalige Zeit erhebliche organisatorische Probleme aufwarfen. Diese Aufmärsche sollten einerseits die Solidarität und die Größe des Verbandes sinnlich erfahrbar machen, andererseits auch der öffentlichen Werbung dienen. Zum anderen ermöglichte das Organisationsprinzip der Neupfadfinder (Aufteilung in altersgleiche "Gruppen" und "Stämme") auch die massenhafte Organisation von Kindern.

8. Die Hitlerjugend (HJ) - zunächst eher eine Hilfstruppe der SA bei Wahlkämpfen und politischen Auseinandersetzungen - vertrat unter Baldur von Schirach konsequent einen Alleinvertretungsanspruch gegenüber der ganzen deutschen Jugend, und bis zum Jahre 1934 waren alle anderen Jugendverbände - bis auf die vom Konkordat zunächst noch relativ geschützte katholische Jugend - entweder aufgelöst oder in die HJ eingegliedert worden. Was die HJ für die Durchsetzung ihres Monopolanspruchs und für die "Erfassung" der ganzen Jugend brauchte, fand sie vor; sie hat dem keine neue Erfindung hinzugefügt außer vielleicht der, die "gleichgeschalteten" Massenmedien zielgerichtet für die eigene Jugendarbeit einzusetzen. "Jugendgemäße" Lebensformen, Aufteilung in Altersgruppen, Liedschatz, Kluft und Symbol, militärische Organisationsformen, Massenaufmärsche mit ihren charakteristischen Ritualen:

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dies alles brauchte nur aufgegriffen und zweckmäßig vermengt zu werden.

9. Die Entwicklung der Jugendbewegungen und der Jugendarbeit hatte damit begonnen, daß die kleine Minderheit des Wandervogels sich einen selbstbestimmten "Spielraum" im Rahmen ihrer vorgegebenen Sozialisation verschaffte. Darin drückte sich aber nur die Tatsache aus, daß - ausgehend von einem bestimmten Teil der bürgerlich-kleinbürgerlichen Jugend und allmählich die ganze junge Generation erfassend - die Jugendphase mehr und mehr gesellschaftlich freigesetzt wurde. Das Jugendalter wurde zu einer Lebensphase, die einerseits immer weniger durch die familiäre Herkunft determiniert sein mußte, in der andererseits von der Herkunftsfamilie relativ freie "Spielräume" für berufliche, politische und weltanschauliche Entscheidungen bzw. Lebensperspektiven entstanden. Man kann dies die Chance zur Emanzipation des Jugendalters nennen. Andererseits aber mußte dieser "Spielraum" für Selbstbestimmung gesellschaftliche Unruhe verursachen, insofern hier ein Stück nur mäßig kontrollierter gesellschaftlicher Dynamik entstanden war. Deshalb griffen die Erwachsenenverbände - unterstützt vom Staat - in diesen Freiraum ein mit dem Ziel, für den eigenen Verband möglichst viele und gesamtgesellschaftlich gesehen möglichst alle Jugendlichen in die vorgegebenen Normen und Ordnungen zurückzuholen. Das Ergebnis war schon in der Weimarer Zeit eine hohe Vergesellschaftung des Jugendalters im Sinne einer Okkupation dieses "freien Jugendraumes", der dann im Nationalsozialismus praktisch liquidiert wurde.

Diese Traditionen bestimmten positiv wie negativ, bewußt oder unbewußt auch den Neuanfang der Jugendarbeit nach 1945, zumal die Führer und Mitarbeiter ihre Erfahrungen mit dieser Tradition in ihre neue Arbeit einbrachten.

Die Niederlage von 1945 war viel radikaler als die von 1918; Diesmal war Deutschland selbst Kriegsschauplatz geworden, der Krieg hatte das Land verwüstet, und nun wurde es von den Besatzungsmächten regiert. Die Niederlage war ebenso total wie der von Goebbels verkündete "totale Krieg". Wohnungsnot, Flüchtlingselend und Arbeitslosigkeit bestimmten den Alltag der Menschen - auch und gerade der Jugendlichen. Die Schwarzmarkt-Szene mit ihren Randzonen bot ein kriminelles Milieu, dem sich nur wenige entziehen konnten. Auch nach der Währungsreform, die den Schwarzmarkt überflüssig machte, gab es noch lange Zeit eine hohe Jugendarbeitslosigkeit - verstärkt

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noch durch die nach 1948 stark steigende Zahl der Schulentlassenen und durch Flüchtlinge aus der SBZ bzw. DDR.

"Im Jahre 1949 ... gab es in der Bundesrepublik über 600 000 Jugendliche, die arbeitslos waren oder noch keine Lehrstelle gefunden hatten. Ein Großteil der 2 000 000 Kinder und Jugendlichen, die ihre Heimat verloren hatten, lebten noch in Lagern und Massenunterkünften. Mehr als 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche hatten durch den Krieg und seine Auswirkungen Vater oder Mutter oder beide Eltern verloren. Noch fehlte vielen Familien eine neue Existenzgrundlage, noch waren viele Väter in Kriegsgefangenschaft. Die Wohnverhältnisse waren katastrophal, die Schulen überfüllt. Lange Entbehrungen und starke Belastungen hatten den Gesundheitszustand der Jugend empfindlich geschwächt. Heimatlos, berufslos, bindungslos, das waren die Stichworte für die Jugendsituation der damaligen Zeit" (Faltermaier 1959, S. 42).

Diese Probleme standen zunächst im Mittelpunkt der Jugendarbeit, und unter dem Begriff "Jugendsozialarbeit" wurden entsprechende Maßnahmen der öffentlichen und freien Träger zusammengefaßt.

Gleichwohl knüpfte sich an die junge Generation, soweit sie den Krieg überlebt hatte, erneut eine erwartungsvolle Zukunftshoffnung: Nicht nur, daß sie den Wiederaufbau leisten möge, sondern vor allem auch, daß sie eine bessere politische Zukunft, eine demokratische nämlich, garantieren möge. "Umerziehung" zu demokratischer Gesinnung und zu demokratischem Verhalten war daher ein wichtiges Programm der Besatzungsmächte. Deshalb wiesen sie die deutschen Behörden an, lokale Jugendausschüsse zu gründen, die das Entstehen von Jugendorganisationen fördern und zugleich politisch kontrollieren sollten. So entstanden die Jugendverbände allmählich wieder in den alten weltanschaulichen Richtungen. Ende 1949 schlossen sie sich gemeinsam mit den schon vorher gebildeten Landesjugendringen - den auf Landesebene zusammengeschlossenen Jugendverbänden - zum Deutschen Bundesjugendring zusammen.

Zwar gab es auch nach 1945 wieder jugendbewegte Bünde, die mit mehr oder weniger Distanz sich an ehemalige Bünde anlehnten, aber sie blieben am Rande der nach dem Kriege einsetzenden Entwicklung. Im Jahre 1963 soll es noch etwa 12 bis 15 000 Mitglieder solcher Bünde gegeben haben, aber sie konnten das Gesicht der nun von den Großorganisationen bestimmten Jugendarbeit nicht mehr prägen, zumal sie sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis eben gegen große Organisationen wehrten. Die Gruppen dieser Bünde sammelten sich in der

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Regel um einzelne Führer, und sie zerfielen auch wieder, wenn die Führer gingen. Das, was sie vertraten, nämlich einen jugendeigenen Raum in Distanz zu den Interessen der Erwachsenenverbände, fand nur geringe Resonanz. Erstens paßte eine solche Idee schlecht zu den materiellen, sozialen und ideellen Nöten der Nachkriegszeit; hinzu kam aber, daß die Bündische Jugend der Zeit vor 1933 durch ihre Distanz zum Weimarer Staat und ihre Nähe zu nationalsozialistischen Ideen ideologisch diskreditiert schien. Die großen Jugendverbände der Nachkriegszeit betrachteten die Bündischen eher als Gegner der neuen Demokratie denn als geeignete Mitstreiter für sie. Im Jahre 1963 trafen sich zum "Meißner-Tag" noch einmal etwa 2 000 Ehemalige und etwa 3 000 junge Leute aus den neuen Bünden, um des Meißnerfestes vor 50 Jahren - eines der Höhepunkte der bürgerlichen Jugendbewegung - zu gedenken. Aber die geistigen Gemeinsamkeiten reichten nicht mehr für eine selbständige Existenz gegenüber der damals schon fest etablierten Jugendarbeit der großen Verbände. Zu diesen Verbänden hielten sie auf Distanz, sie kritisierten deren Monopolstellung. So heißt es in der "Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißner-Tag 1963":

"Die Form der Bündischen Gemeinschaft, die nur mitverantwortende Zugehörigkeit kennt, ist besser geeignet, Verantwortungsbewußtsein wachsen zu lassen, als der unverbindliche Gruppenstil der Jugendverbandsarbeit. Nur die Zielvorstellungen der Jugendverbandsarbeit sind für den Jugendlichen verbindlich. Sie sind von Erwachsenenorganisationen vorgegeben. Darin sehen wir die Gefahr, daß der Heranwachsende seiner Entscheidungsfreiheit beraubt wird. Wir wollen ihm eine Reifezeit sichern, in der er frei von Verbandsinteressen das Gesellschaftsganze betrachten und zur Entscheidungsfähigkeit gelangen kann. Ein politisches 'Engagement' darf nur auf dem selbständigen Urteil eines erwachsenen Menschen beruhen, nicht auf Gewöhnung. Die Bündische Gemeinschaft vermittelt humane Werte und Haltungen zweckfrei. Wir sind deshalb der Ansicht, daß sie besser auf eine freie Gesellschaft vorbereitet ist als die Gruppe eines Jugendverbandes, die frühzeitig an interessegebundenen Aktionen teilnimmt" (Sauer 1978 S. 147).
 
 

Interessant sind diese Nachkriegsbünde - die im übrigen noch kaum erforscht sind - aber nicht nur wegen dieser bedenkenswerten Kritik an den Jugendverbänden, sondern auch wegen einer eigentümlichen Tradition: Einige von ihnen, vor allem die deutschen Jungenschaften, die an die Tradition der "d; 1. 11" anknüpften, identifizierten sich vor allem mit dem Widerstand in der NS-Zeit und behielten von daher Distanz zur neuen ge-

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sellschaftlichen Realität, führten im gewissen Sinne den "Partisanengeist" weiter. Es gibt eine Reihe personeller Verbindungen etwa zwischen den Jungenschaften und dem späteren Sozialistischen Deutschen Studentenbund, dem SDS, der in der Studentenbewegung eine bedeutende Rolle gespielt hat. Die Ideen der Freundschaft zwischen den Völkern, Solidarität und Hilfe für unterdrückte Völker, Antimilitarismus und Pazifismus wurden als Konsequenz des Widerstandes im Dritten Reich gesehen (vgl. Kerbs 1966).

Eine selbständige Arbeiterjugendbewegung hat es nach 1945 nicht gegeben, Gewerkschaften und SPD knüpften mit ihren Jugendorganisationen wie die übrigen Erwachsenenverbände auch dort wieder an, wo sie 1933 aufgehört hatten.

Überhaupt lag es nahe, dort wieder anzuknüpfen, wo der Nationalsozialismus die Entwicklung unterbrochen hatte. Die kurze Zeit der Weimarer Republik war die einzige demokratische Tradition, die Deutschland vorzuweisen hatte. Daß damit auch sehr problematische Aspekte wieder übernommen wurden - z. B. viele Unklarheiten hinsichtlich des Demokratiebegriffs und objektiv antidemokratischer Traditionen, hinsichtlich ideologischer Vorläufer des Nationalsozialismus - hat man damals kaum gesehen und konnte erst nach der Rekonstruktion der politischen und sozialen Wissenschaften überhaupt thematisiert werden. Der Schock war ein moralischer, kaum ein wissenschaftlich-intellektueller. Zudem ließen die drängenden Alltagsprobleme wenig Zeit für grundsätzliche Überlegungen. So entstanden eben die alten Träger wieder mit ihren alten Formen der Jungendverbände und auch mit ihren alten Ideen.
 
 

Jugendverbände

Die Jugendverbände hatten bis Mitte der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland eine fast monopolistische Sonderstellung in der Jugendarbeit. Die Mitgliedschaft in ihren Gruppen und die Mitarbeit an den jeweiligen Verbandszielen wurden als die "eigentliche" Aufgabe der Jugendarbeit angesehen. Das ergab sich aus dem Entstehungszusammenhang nach 1945: Nach dem Selbstverständnis der Jugendverbände mußte es darauf ankommen, möglichst viel Jugendliche in den demokratischen Jugendorganisationen zu erfassen, um sie für die neue

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Demokratie zu gewinnen. Zugleich gab es eine starke Tendenz, nach dem Vorbild des alten "Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände" eine gemeinsame Repräsentanz aller demokratischen Jugendverbände zu schaffen. So entstand 1949 der Deutsche Bundesjugendring. Wie der frühere Reichsausschuß hat er den Charakter einer Arbeitsgemeinschaft; sie besteht aus 16 auf Bundesebene arbeitenden Jugendverbänden und aus 11 auf Landesebene zusammengeschlossenen Landesjugendringen. Wichtige Beschlüsse können wie beim Reichsausschuß nur einstimmig gefaßt werden.

Bevor der DBJR sich konstituierte, hatten sich auf Anweisung der Jugendoffiziere der Besatzungsmächte auf lokaler Ebene Jugendausschüsse und Jugendringe gebildet, die die nach dem Kriege vorhandene Jugendnot wirksam bekämpfen wollten. Größeren Zusammenschlüssen standen die Besatzungsmächte eher ablehnend gegenüber, zumal sie in ihren Herkunftsländern als Organisationsform der Jugendarbeit weitgehend unbekannt waren. In diesen örtlichen Jugendringen wirkten auch lokal begrenzte Gruppen mit, die keine überregionale Bedeutung erlangten. Um wenigstens den größeren von ihnen, die auf Landesebene tätig waren, im neuen Bundesjugendring eine Repräsentation zu verschaffen, beschloß die Gründungsversammlung, die Landesjugendringe mit je einem Delegierten als stimmberechtigte Mitglieder aufzunehmen. Die Jugendverbände entsandten je nach Größe einen bis fünf, später sechs Delegierte. Aufgenommen wurden nur Jugendverbände, die in der Mehrzahl der Länder öffentlich tätig sind und mindestens 500 Gruppen oder mehr als 25 000 Mitglieder hatten (Faltermaier 1959, S. 66).

Die Gründe für diesen Zusammenschluß auf Bundesebene lagen zunächst nicht in der Hoffnung auf staatliche Zuschüsse begründet; Bundesjugendplan und Landesjugendpläne gab es noch nicht, es waren vielmehr Gründe, die nur aus der Nachkriegssituation zu verstehen sind.

1. Im "Reichsausschuß" vor 1933 hatte man das organisatorische Vorbild, an das angeknüpft werden konnte, obwohl man sich von den "Alten" der Jugendbewegung und der früheren Jugendverbände von Anfang an abzusetzen trachtete; ihr Weg schien durch die politische Erfahrung zu sehr diskreditiert.

2. Von Anfang an spielten Machtfragen eine nicht unwesentliche Rolle; das Bedürfnis, schnell wieder imponierende Großorgani-

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sationen zu schaffen, die den Nachwuchs für den gesellschaftlichen Erwachsenenverband sicherten, war vor allem bei denjenigen Verbänden verbreitet, deren Organisation den Krieg einigermaßen intakt überstanden hatte: bei den Kirchen.

3. Dieses Machtbedürfnis wurde aber zunächst überspielt durch die allgemein verbreitete Erfahrung, daß die Zersplitterung der Jugendverbände in der Zeit vor 1933 und ihr harter Konkurrenzkampf sich nicht wiederholen dürften, wenn man nicht erneut den Feinden der Demokratie von rechts und links Vorschub leisten wollte.

4. Emotional unterstützt wurde diese zum Bundesjugendring drängende Gemeinsamkeit durch ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit aller jungen Menschen, deren Aufgabe es sei, die politischen Fehler der Alten zu korrigieren und für die Zukunft zu vermeiden. Es war der "Traum von einer 'jungen Generation', ... der da glauben machte, es gäbe so etwas wie ein gemeinsames Bewußtsein der 20- bis 30jährigen, gemeinsame Ziele und gemeinsame Ideale, mit denen man sich von der in Mißkredit gekommenen älteren Generation abhebt" (Faltermaier 1959, S. 15).

5. Charakteristisch war schließlich von Anfang an das entschiedene Eintreten für die neue Demokratie und damit die Absage an rechts- und linksradikale politische Tendenzen. Zu Recht glaubte man, solchen Tendenzen durch eine Organisation auf Bundesebene eher entgegentreten zu können als auf lokaler Ebene. An dieser politischen Haltung scheiterte schließlich der Versuch, zusammen mit der damals bereits in der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) monopolisierten Freien Deutschen Jugend (FDJ) einen gesamtdeutschen Jugendring zu schaffen; die FDJ war nicht bereit, die von den anderen Verbänden genannten Bedingungen zu erfüllen: Anerkennung der Grundrechte des Grundgesetzes und Zulassung konkurrierender Jugendorganisationen in der SBZ. Aus diesen Gründen wurde der FDJ auch der Beitritt zum Bundesjugendring verwehrt.

Auf seiner Gründungsversammlung in Altenberg vom 1. bis 3. Oktober 1949 formulierte der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) seine Aufgaben wie folgt:

"Die vordringlichen Aufgaben des Deutschen Bundesjugendringes sind:

1. Durch Erfahrungsaustausch an der Lösung der Jugendprobleme mitzuwirken;

2. das gegenseitige Verständnis und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit innerhalb der deutschen Jugend zu fördern;

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3. dem gesunden Jugendlichen in sittlicher, sozialer und kultureller Hinsicht zu dienen;

4. zu Fragen der Jugendpolitik und des Jugendrechts auf Bundesebene Vorschläge zu machen und Stellung zu nehmen;

5. die Interessen und Rechte der Jugendgemeinschaften und der Freien Jugendpflege gegenüber der Öffentlichkeit, den Volksvertretungen und Behörden zu vertreten;

6. gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen anzuregen, zu planenund durchzuführen;

7. internationale Begegnungen und Zusammenarbeit zu pflegen;

8. ein Aufleben militaristischer, nationalistischer und totalitärer Tendenzen im Interesse der Jugend mit allen Kräften zu verhindern".
 
 

Sieht man von Punkt 3 ab, so fällt die Sparsamkeit pädagogischer Formulierungen auf. Das ist kein Zufall. Die Jugendverbände verstanden sich zunächst weniger pädagogisch als vielmehr politisch und sozialpolitisch. Sozialpolitisch ging es zunächst darum, die materiellen und immateriellen Jugendnöte der Nachkriegszeit zu beheben. Politisch ging es darum, möglichst die gesamte Jugend in den demokratischen Jugendverbänden zu organisieren und sie auf diese Weise gegen totalitäre Verführungen zu immunisieren.

Die "Basis" der Jugendverbände waren örtliche "Heimabend-Gruppen", die regelmäßig, meist einmal in der Woche, zusammenkamen. Das Programm war in den einzelnen Verbänden unterschiedlich, bestand jedoch im allgemeinen aus zwei Komponenten. Einmal aus den Zielen der Organisation, die durch Vorträge oder Diskussionen den Mitgliedern nahegebracht oder - z. B. im kirchlichen Bereich - durch praktische Mitwirkung an den gemeindlichen oder verbandlichen Aufgaben der Erwachsenenverbände realisiert wurden. Zum anderen traf man sich einfach zur Verbringung der freien Zeit, an die zunächst relativ bescheidene Ansprüche gestellt wurden: Unterhaltung mit Gleichaltrigen, Singen und Spielen und vor allem die Vorbereitung größerer "Fahrten" in den Ferien. Das alles unterschied sich nicht wesentlich von den Tätigkeiten der früheren jugendbewegten Gruppen. Das Ideal war dabei die feste Mitgliedschaft im Verband und die daraus resultierende regelmäßige Mitarbeit.

Doch schon nach wenigen Jahren nahm die Attraktivität solcher Heimabendgruppen deutlich ab. Sie erwiesen sich als zu unbeweglich, um auch differenziertere Bedürfnisse und Aktivitäten zu ermöglichen, wie sie im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs auch die Jugendlichen mehr und mehr zeigten. So war es in manchen Jugendverbänden äußerst schwierig, kulturelle

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Interessengruppen - z.B. Jugendchöre - zu gründen, die nicht mit einer Heimabendgruppe identisch waren; sie paßten einfach nicht in das organisatorische Strukturmuster und konnten sich daher - selbst wenn sie geduldet wurden - nicht recht entfalten. Martin Faltermaier, der erste Chronist des Bundesjugendringes, hat schon 1959 die "Blutarmut des Bundesjugendringes auf kulturellem Gebiet" beklagt (S. 41). Es sei eine bedauerliche "Tatsache, daß in der organisierten Jugendarbeit so wenig zu spüren ist von einer Berührung, geschweige denn von einer Auseinandersetzung mit den geistigen und kulturellen Strömungen der Gegenwart" (S. 40). Faltermaier führt dies einfach auf das Desinteresse der Verbandsspitzen zurück. Heute jedoch können wir rückblickend hinzufügen, daß eine Entfaltung solcher Interessen auf der organisatorischen Basis der Heimabendgruppe gar nicht möglich war. Die politische Intention - im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Orientierung wie im Sinne der Nachwuchsbetreuung - war bei den Jugendverbänden so dominant, daß diese sich auch nach dem Muster von politischen Verbänden organisiert hatten.

In dieser schon von der Organisationsform her gegebenen Beschränkung liegt begründet, daß die Jugendverbände schon Anfang der fünfziger Jahre in eine Krise gerieten, die bis heute anhält. Je differenzierter die jugendlichen Wünsche und Bedürfnisse im Zuge der aufkommenden Konsumgesellschaft wurden, um so mehr mußte das organisatorische Grundmuster verändert werden, oder aber die Verbände mußten bestimmte Aktivitäten an andere, spezialisierte Organisationen abgeben.

Das kulturelle Interesse scheint bei einigen der früher erwähnten neuen "Bünde" reger gewesen zu sein - vor allem bei den Jungenschaften (vgl. Kerbs 1966). Dabei muß man sich daran erinnern, daß Deutschland von 1933 bis 1945 praktisch von allen modernen kulturellen Einflüssen und Strömungen - Literatur, Theater, Film, Musik - abgeschlossen war. Um so größer war daher nach 1945 bei vielen der Nachholbedarf. Diesen modernen Strömungen standen aber die meisten Erwachsenen ratlos oder gar ablehnend gegenüber, denn die im Nationalsozialismus verbreitete "Kultur" war schließlich die des "gesunden Volksempfindens" gewesen, die man vielen gar nicht erst aufdrängen mußte; und auch die Schulen taten zunächst wenig, um Modernes zu behandeln; sie zogen sich lieber auf Klassisches zurück. Hinzu kommt, daß die ehrenamtlich tätigen Erwachsenen in der Jugendarbeit aufgrund ihrer eigenen kul-

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turellen Sozialisation das Moderne - so vor allem den Jazz - eher für etwas hielten, wovor die Jugendarbeit die Jugend gerade schützen müsse. Außerdem hielt man kulturelle Arbeit nicht für eine Aufgabe der Jugendarbeit, weil es hier lediglich darum ginge, das Zusammenkommen von Gruppen zu ermöglichen, die dann ein Jugendleben mit jugendgemäßen Formen und Inhalten führen konnten.

Damit zusammen hängt ein weiteres Problem, das Faltermaier in seinem Bericht ebenfalls bereits beschrieb: der Verzicht des Bundesjugendringes auf eine pädagogisch-theoretische Reflexion seiner Arbeit. Dieser Verzicht war solange nicht schwerwiegend, wie das Grundmuster des politischen Verbandes funktionierte. Sobald man jedoch daranging, differenziertere Bedürfnisse mit differenzierteren Organisationsformen zu befriedigen, bestand Bedarf nach einem umfassenderen politisch-pädagogischen Konzept. Ein solches wurde jedoch in den fünfziger Jahren nicht ernsthaft diskutiert, was sicherlich in erster Linie daran lag, daß die inzwischen etablierte staatliche Förderung den Jugendverbänden auch ohne ein solches Konzept ein gewisses Existenzminimum garantierte. Die Folge davon war, daß gegen Ende der fünfziger Jahre sich Organisationsspitze und die Basis der Gruppen immer stärker entfremdeten; die Spitzen befaßten sich mit jugendpolitischen und allgemeinpolitischen Fragen, während die Gruppen meist auf sich selbst gestellt und ohne nennenswerte Impulse von oben ein mehr oder weniger kümmerliches Dasein fristeten, das der Konkurrenz mit der aufkommenden Freizeitindustrie nicht gewachsen war (vgl. Gerds 1966).

Erst zu Beginn der sechziger Jahre trat - nicht zuletzt unter dem Eindruck zunehmender öffentlicher Kritik - ein Wandel ein. Die 21. Vollversammlung des Bundesjugendringes im Jahre 1959 hatte sich zum ersten Mal ein pädagogisches Thema gestellt: "Die junge Generation vor den Erziehungs- und Bildungsproblemen unserer Zeit". Inzwischen waren auch die soziologischen Theorien Schelskys (1957) und seiner Schüler in die Jugendverbände eingedrungen. Vor allem die erste größere Untersuchung eines Jugendverbandes, der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands durch Gerhard Wurzbacher (1961), brachte die Diskussion des Selbstverständnisses der Jugendverbände in Bewegung. Beeinflußt von diesen Untersuchungen formulierte der Bundesjugendring im sogenannten "Grundsatzgespräch von St. Martin" im Jahre 1962 zum ersten Mal ein pädagogisches Konzept, das ungekürzt wie folgt lautet:

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"1. Die Jugendverbände verstehen sich als Glieder der Gesellschaft. Sie sehen ihr Aufgabenfeld im außerschulischen Bildungs- und Erziehungsbereich. Sie erfüllen bewußt eine ergänzende Erziehungsfunktion neben Elternhaus und Schule und isolieren sich dabei nicht vom gesellschaftlichen Leben. Ein 'autonomes Jugendreich' wird nicht angestrebt.

2. Das pädagogische Wirken der Jugendverbände wird vor allem dadurch gekennzeichnet, daß in ihren Gemeinschaften durch und auf Gegenseitigkeit hin erzogen wird. Leiter und Jugendliche und die jungen Menschen untereinander selbst stehen in einer ständigen Wechselbeziehung erzieherischer Einflüsse. Selbsterziehung und Selbstveranstaltung der Jugend gehen dabei mit den erzieherischen Leitbildern der Jugendverbände eine Verbindung ein, die das Leben des modernen Jugendverbandes prägt. Die Verbandsleitungen nehmen die sich ständig erneuernde Legitimation 'von unten', vom jungen Menschen her, als Grundbedingung demokratischen Jugendlebens besonders ernst.

3. Die Jugendverbände orientieren sich in ihrer Arbeit an Erziehungsleitbildern und weitgesteckten Aufgaben, die auf das Leben der Gesamtgesellschaft gerichtet sind. In ihren Gruppen werden menschliche Tugenden und Wertvorstellungen vermittelt. Darüber hinaus trägt schon die Bildungsarbeit der kleinen Gemeinschaften dazu bei, den Aufbau der Großgesellschaft überschaubar zu machen. Den unmittelbaren Bezug zur Großgesellschaft stellen die Verbandsorganisationen dar, in welche die Gruppen eingeordnet sind. So wird auch das Einüben von Verhaltensweisen in der demokratischen Massengesellschaft möglich.

4. Die Erziehungs- und Bildungsarbeit in den Jugendverbänden dient neben der Freizeiterfüllung vor allem der Einführung des jungen Menschen in seine späteren Aufgabenkreise. Es werden ihm seine Pflichten und Rechte innerhalb der Familie, im Rahmen des Berufs- und Arbeitslebens und in Politik und Gesellschaft deutlich gemacht. Die politische Bildung erfordert dabei ein besonderes Schwergewicht.

5. Die Jugendverbände sehen im Leben der Gruppe, dem ständigen Zusammenwirken junger Menschen gleicher Altersstufen im überschaubaren Bereich der Primärgruppe, einen wirksamen funktionalen Helfer auf dem Wege der politischen Bildung. Dazu kommt die Information über soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens. Die dritte Stufe der politischen Bildungsarbeit ist die Teilnahme junger Menschen an Aktionen im sozialen und politischen Bereich. Hierbei wird der Reifegrad der Jugendlichen berücksichtigt. Die Jüngeren (etwa 12- bis 16jährigen) werden mehr an interpersonell gerichteten Aufgaben teilhaben. Für die Älteren geht es darüber hinaus auch schon um Aktionen im sozialen sowie im politischen Leben der Gemeinde und des Staates. Sie sollen so in die Rechte und Pflichten und in die Verantwortung staatsbürgerlicher Lebensführung hineinwachsen, die das politische Engagement bei demokratischen Parteien und Verbänden einschließen.

6. Die Gruppe, soweit sie nicht romantisch, emotional oder ideologisch verstanden wird, hat sich als überschaubare, auf längere Sicht bindende soziologische Einheit in den Jugendverbänden erhalten und bewährt. Sie ermöglicht am relativ aussichtsreichsten den Erfolg der Erziehungs- und Bildungsarbeit. Sie ist orientiert an der Zielvorstellung des Ver-

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bandes und wird von ihm organisatorisch gestützt. Dabei ist sie offener und damit aufnahmefähiger für den jungen Menschen unserer Zeit geworden, der seine Bindungen oft lieber nach nüchternen Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und nach besonderen Interessen und Neigungen sowie auf begrenzte Zeit eingeht. Auch haben die Gruppen der Jugendverbände moderne Formen entwickelt und Tätigkeiten in ihre Programme aufgenommen, die breite Kreise der Jugend ansprechen. Selbstverständlich beachten sie in ihren Methoden die altersspezifischen Interessen und Neigungen der jungen Menschen.

7. In den meisten Jugendverbänden sind außerdem besondere offene Formen der Jugendarbeit entstanden. Sie können als eine Art Vorraum vor dem Gruppenleben den Zugang zu den Gruppen mit größerer Bindungsdichte erleichtern, haben aber auch als eigene Formen ihren Wert in sich selbst. Hierher gehören die offenen geselligen und bildenden Veranstaltungen, die Interessen- und Neigungsgruppen, die Arbeitskreise, die Erholungsfreizeiten, das Öffnen der Jugendheime für alle usw. Die Jugendverbände sind auf diesen Gebieten mit ihren eigenen, meist ehrenamtlichen Mitarbeitern tätig, ohne Forderungen an feste organisatorische Bindungen der Jugendlichen zu stellen, wohl aber mit der Tendenz, bei den Jugendlichen den Wunsch zum Engagement und zur Mitwirkung in Gruppen zu entwickeln und zu stärken.

8. Darüber hinaus haben Jugendverbände in immer stärkerem Maße auch Aufgaben für das Wohl der gesamten Jugend übernommen, besonders im sozialen und jugendpflegerischen Bereich. Das geschieht durch besondere Institutionen, die aus den Verbänden heraus entwickelt wurden und auf die auch bei eigenständiger Entwicklung im allgemeinen ein institutioneller Einfluß der Verbandsleitungen erhalten bleibt. In diesen Institutionen für Flüchtlingseingliederung, für Kinder- und Jugenderholung, in Jugendreisediensten, Arbeitsgemeinschaften für Soldatenbetreuung, Heimen der Offenen Tür, Jungarbeiter-Wohnheimen usw. sind meist Fachkräfte tätig, die ebenfalls aus der Jugendverbandsarbeit kommen. Mit diesen Einrichtungen der Jugendsozialarbeit und der Jugendpflege erfüllen die Verbände wichtige gesellschaftliche Aufgaben, die sonst vom Staat oder den Kommunen erfüllt werden müßten.

9. Bei der Übernahme dieser gesellschaftlichen Aufgaben im Bereich der Jugendsozialarbeit und Jugendpflege stehen die Jugendverbände ständig vor dem Problem der Überlastung ihrer Kräfte. Sie müssen ihre weit überwiegend ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter vorrangig für die Erfüllung der eigenen, inneren Bildungs-, Erziehungs- und Leitungsaufgaben verwenden. Sie sind sich deshalb darüber im klaren, daß ihrem Engagement in zusätzlichen Außenaufgaben Grenzen gesetzt sind. Sie sind sich ferner darüber einig, daß alle offenen Arbeitsformen, die Jugendsozialarbeit und Jugendpflege, in Einklang stehen müssen mit den bei ihnen als wesentlich erkannten pädagogischen Grundlinien. Aktionen und Angebote auf diesen Gebieten dürfen den jungen Menschen nicht zur Bindungslosigkeit und zu einer falschen Konsumhaltung verführen. Auch darum können und wollen die Jugendverbände in diesem Bereich nur Aufgaben übernehmen, die sie verantwortlich meistern können.

10. Ein weiteres wichtiges Feld, in dem die Jugendverbände Aufgaben

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und Verantwortung übernommen haben, ist die Jugendpolitik. Sie wollen zielbewußt an der Gestaltung der Lebensverhältnisse der jungen Generation unseres Landes mitwirken. Deshalb erarbeiten sie einzeln oder gemeinsam Vorschläge für entsprechende Maßnahmen, Pläne und Gesetze, treten für ihre Forderungen ein und entsenden ihre Mitarbeiter in die Jugendwohlfahrtsausschüsse und in andere Gremien, in denen jugendpolitische Fragen erörtert und entschieden werden. Die Jugendringe, die sich die Jugendverbände als Plattform der Zusammenarbeit geschaffen haben, sind bei der Bewältigung jugendpolitischer Aufgaben ein wichtiges Instrument.

Diese zusammenfassende Darstellung wichtiger Grundlagen der heutigen Jugendverbandsarbeit zeigt eine große Aufgabenfülle, damit aber auch die erheblichen Ansprüche, die an das Verantwortungsbewußtsein der Mitarbeiter in den Jugendverbänden gestellt werden. Sie zeigt ebenso, daß die Jugendverbände ernsthaft versuchen, den Denk- und Verhaltensweisen der jungen Generation unseres Landes gerecht zu werden und einen geeigneten, erfolgversprechenden Ansatz für ihre Bildungs- und Erziehungsarbeit zu finden.

Die Jugendverbände sind sich bewußt, daß sie sich dabei in einem ständigen Entwicklungsprozeß befinden, der durch neue Situationen und Probleme immer wieder neue Fragen an Inhalt und Form ihrer Arbeit aufwirft. Sie sind offen für solche Fragen, mögen sie aus der Praxis erwachsen oder aus den Wissenschaften, die das Bild des jungen Menschen und seiner Erziehungs- und Bildungswirklichkeit erhellen. Sie wollen diese Fragen deshalb mit allem Ernst in ihre Diskussionen einbeziehen".
 
 

Folgende Aspekte verdienen eine besondere Beachtung:

1. Das ursprünglich vor allem politische Selbstverständnis wird mit einem pädagogischen zu einem politisch-pädagogischen verbunden: Ziel ist die Mitwirkung "im politischen Leben der Gemeinde und des Staates"; die Gruppen bieten dafür dem jeweiligen Alter angemessene Vorfelder.

2. Die jugendliche Gruppe ist nicht mehr sich selbst genug. Sie dient vielmehr - entsprechend der These Schelskys vom Bedürfnis der Jugend nach "Verhaltenssicherheit" – "Aufgaben, die auf das Leben der Gesamtgesellschaft gerichtet sind", und der "Einführung des jungen Menschen in seine späteren Aufgabenkreise". Damit übernimmt die Jugendarbeit ausdrücklich die Funktion, den Übergang von der Kindheit in die Erwachsenenwelt pädagogisch zu gestalten.

3. Dabei wird die Funktion der Gruppe neu bestimmt. Die kontinuierliche, durch feste Mitgliedschaft gekennzeichnete Heimabendgruppe gilt nur noch als eine Möglichkeit. Gerechtfertigt wird darüber hinaus auch die informelle, weniger verbindliche, an spezifische Interessen gebundene und auf bestimmte Zeit terminierte Gruppe, wie sie sich im neuen Typus der "offe-

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nen Arbeit" bildete, in der die Jugendverbände als Veranstalter grundsätzlich allen Jugendlichen gegenüber auftreten, ohne von ihnen regelmäßige Bindung an den Verband zu erwarten. Die Diskussion um die Bedeutung solcher offenen Arbeit mit informellen Gruppen reicht in die Zeit der frühen fünfziger Jahre zurück, als die "Heime der offenen Tür" den Jugendverbänden bereits Konkurrenz machten. Zunächst herrschte in der ganzen Jugendarbeit die Auffassung vor, solche "bindungslosen" Gruppen dürften lediglich als Vorstufe zu den "eigentlichen", nämlich verbandlichen Gruppen verstanden werden, denen man durch die Einrichtung einer solchen Vorstufe Jugendliche zuzuführen hoffte. Die Erklärung von St. Martin entschied diese Diskussion nun zugunsten der Gleichrangigkeit beider Gruppenformen.

4. Sätze wie "Leiter und Jugendliche und die jungen Menschen untereinander selbst stehen in einer ständigen Wechselbeziehung erzieherischer Einflüsse", die deutlich die Gleichrangigkeit von Jugendlichen und Erwachsenen betonen, verweisen auf das gewandelte Gruppenverständnis, wie es durch die Übernahme amerikanischer Vorstellungen in der Gruppenpädagogik verbreitet wurde. Im Unterschied zur überlieferten deutschen Vorstellung von der Funktion der Gruppe, nach der die Gruppe entweder wie bei den Bünden zur romantischen Flucht oder wie im Nationalsozialismus zur kollektiven Indoktrination von außen kommender Intentionen dient, ist nach diesem neuen Verständnis die Gruppe grundsätzlich Gleichberechtigter eine optimale Sozialform zur Lösung von gemeinsamen Problemen.

5. Mit den betonten Hinweisen auf die Bildung und Erziehung der Jugendlichen näherten sich die Verbände den Leitvorstellungen der Schule und Erwachsenenbildung und lösten sich damit aus der Perspektive einer "negativen Pädagogik", der es vor allem auf die Bewahrung vor negativen Einflüssen, gleichsam auf die hygienische Absicherung des "freien Jugendraumes" ankam. Jugendarbeit wurde zur dritten Erziehungsinstitution neben Elternhaus und Schule bzw. Betrieb.

Mit dieser Wendung zur Bildungsarbeit tauchte jedoch das bisher ungelöste Problem der Mitarbeiter verschärft auf. Die Basisarbeit der Jugendverbände lebte von der ehrenamtlichen Tätigkeit von Erwachsenen. Diese verfügten zwar über Erfahrungen im Umgang mit jungen Leuten, vermochten Lager und Freizeiten zu organisieren und zu beaufsichtigen, waren jedoch für die Ansprüche einer darüber hinausgehenden Bildungsarbeit in der Regel nicht qualifiziert. So gesehen implizierte der Sprung zur

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Bildungsarbeit den Ersatz der ehrenamtlichen zugunsten professioneller, bezahlter und ausgebildeter Mitarbeiter. Da jedoch die Jugendverbände diese Konsequenz aus grundsätzlichen Erwägungen (die Mitarbeit sei ehrenamtliche Tätigkeit zugunsten des Gemeinwohls) nicht ziehen wollten und teilweise auch aus finanziellen Gründen nicht ziehen konnten, blieb die Praxis verständlicherweise erheblich hinter den programmatischen Postulaten zurück.

6. Angesichts dieser neuen Aufgabenstellung bestand die Schwierigkeit der Jugendverbände nun darin, ihre Existenz als Großorganisationen weiterhin zu rechtfertigen; denn es war nicht einzusehen, warum es zur Bewältigung dieser neuen selbstgesetzten Bildungs- und Erziehungsaufgaben großer Organisationen bedurfte. Zumindest auf den ersten Blick schienen dafür lokale Organisationsformen geeigneter. Die Rechtfertigung geschah auf zweierlei Weise: Einmal wurde die Beziehung zu den an der Basis arbeitenden Gruppen durch den Hinweis auf die "erzieherischen Leitbilder der Jugendverbände" (also etwa auf ihre politischen und ideologischen Besonderheiten) hergestellt, die sich umgekehrt jeweils "von unten" legitimieren mußten. Zum anderen wurde verwiesen auf die Tätigkeit "für das Wohl der gesamten Jugend", also nicht nur für die eigenen Mitglieder, wie sie insbesondere in der jugendpolitischen Aktivität sich darstellt, also etwa in der Mitarbeit bei der Jugendliche betreffenden Gesetzgebung.

So wie sich die Jugendarbeit jedenfalls entwickelt hatte, waren die Großorganisationen pädagogisch entbehrlich geworden. Und die verschiedenen weltanschaulichen und politischen Positionen hätten sich durchaus auch auf lokaler Ebene Einfluß verschaffen können. Der wahre Grund, weshalb nun auf die Großorganisation nicht mehr verzichtet werden konnte, lag im etablierten staatlichen Förderungssystem, von dem in der Erklärung von St. Martin nicht die Rede war. Um an ihm weiter partizipieren zu können, mußten die Großorganisationen auf Bundesebene bestehen bleiben. Und die Frage, mit welcher Legitimation die Jugendverbände die ganze Jugend öffentlich vertreten könnten, hatte sich schon früher beim "Reichsausschuß" gestellt.

Obwohl durch die Hinwendung zur "offenen Arbeit" die Tätigkeit der Jugendverbände einen gewissen Aufschwung nahm und obwohl die Verbände sich den modernen jugendsoziologischen Erkenntnissen zu öffnen versuchten, blieb auch in der Folge ihre

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pädagogisch-theoretische Selbstdarstellung eigentümlich blaß. Allerdings fanden sie dafür auf der Seite der Erziehungswissenschaft auch kaum Partner. Die wenigen sozialpädagogisch engagierten Erziehungswissenschaftler befaßten sich nicht speziell mit der Jugendarbeit, eher schon mit der Jugendfürsorge; zudem wurden die soziologischen Erkenntnisse und Theorien Eisenstadts (1966) und Schelskys (1957) nur zögernd von der offiziellen Pädagogik adaptiert.

Die ersten Versuche, das gesamte pädagogische Feld der Jugendarbeit pädagogisch-theoretisch zu deuten, kamen nicht aus den Reihen der Jugendverbände, sondern von Autoren, die in anderen Bereichen - den Jugendbildungsstätten und Jugendfreizeitstätten - tätig waren und diese ihre Tätigkeit durch Adaptation der Erkenntnisse der Jugendsoziologie pädagogisch-theoretisch zu fundieren trachteten. Helmut Kentlers Arbeiten mit Industriejugendlichen, Lutz Rössners Tätigkeit in einem Heim der offenen Tür, Wolfgang Müllers schon früh von sozialwissenschaftlichen Erhebungen begleitete Arbeit im Berliner "Haus am Rupenhorn" sowie die Lehrgangsarbeit des Jugendhofes Steinkimmen/Bremen, an der der Verfasser selbst beteiligt war, bildeten den Erfahrungshintergrund - Aktivitäten also, die mehr oder weniger außerhalb der Jugendverbandsarbeit angesiedelt waren und schon lange vor der Erklärung von St. Martin begonnen hatten.

Diese und andere Autoren wandten sich gegen das vor allem in den Jugendverbänden erstarrte System der Jugendarbeit. In dem Buch "Was ist Jugendarbeit?" (1. Auflage 1964) versuchten Klaus Mollenhauer, Wolfgang Müller, Helmut Kentler und Hermann Giesecke zum ersten Mal in teilweise verschiedenen Ansätzen den Gesamtkomplex der Jugendarbeit unter Verwendung der neuen jugendsoziologischen Forschung theoretisch darzustellen. Das Buch löste eine umfangreiche Diskussion aus, an der sich zum ersten Mal nach dem Kriege auch außenstehende Erziehungswissenschaftler beteiligten, und wurde auch in weiten Kreisen der Jugendverbände zur Erörterung des "Selbstverständnisses" und der pädagogischen Neuorientierung benutzt (vgl. Schepp 1964 und die Beiträge in "deutsche jugend", Heft 1, 2 und 5, 1965). Der Versuch einer pädagogischen Gesamttheorie der Jugendarbeit wurde jedoch zunächst nicht weiter verfolgt, das Interesse wandte sich wieder der Analyse einzelner Felder der Jugendarbeit zu.

So legten Mollenhauer und Mitarbeiter eine umfangreiche Ana-

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lyse des Selbstverständnisses und der pädagogisch-praktischen Intentionen der evangelischen Jugendarbeit vor (1969), die - im Unterschied zu Wurzbachers früherer Untersuchung der Pfadfinder (1961) - das Konzept der "sozial-integrativen Jugendarbeit" kritisiert und überdies zeigt, wie wenig die "fortschrittlichen" Ambitionen der eben behandelten Erklärung von St. Martin wirklich Einzug in die Praxis fanden. Obwohl die Ergebnisse nicht einfach auf andere Verbände übertragen werden können, dürfte folgende Beobachtung tendenziell für die meisten großen Jugendverbände gelten:

"Die (von der Gesellschaft, H. G.) vorgegebenen Rollenerwartungen werden in den pädagogischen Handlungsmustern reproduziert, die zugehörigen Einstellungen finden ihre Bestätigung. Die überwiegende Mehrzahl der beobachteten Veranstaltungen ... orientiert sich an den Rollenzuordnungen institutionalisierter Erziehung überhaupt: Es gibt eindeutige, nicht wechselnde Führungspositionen, es gibt ältere Jugendliche in Helferpositionen, und es gibt Konsumenten des Angebots. Die Strategie der Bedürfnis- und Interessenbefriedigung wird durch die intitutionellen Vorgaben festgelegt, durch das Programm des Verbandes oder durch die sozialen Positionen im Gemeindeverband. Es gibt informierte Fachleute, die ihr Wissen weitervermitteln, und zwar nicht so, daß Inhalt und Form der Vermittlung der Frage-Situation des Jugendlichen angemessen wird und auf sie folgt, sondern umgekehrt: so, daß der Jugendliche seine Probleme dem Angebot anpassen muß. Das entschiedene Vorherrschen der taktischen Beteiligung läßt die Tendenz erkennen, sich von unterrichtsähnlichen Formen zwar zu lösen, jedoch ohne die Rollenfestlegungen aufzulösen und eine an der Institution orientierte Strategie zu verlassen. Dem entspricht es, wenn nur ein gutes Drittel der befragten Mitarbeiter differenzierend und begründend über die Jugendlichen urteilt und die Hälfte sich in ihrem Selbstverständnis nicht an den Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen orientiert. Überdies können wir annehmen, daß das Selbstverständnis immerhin noch jugendorientierter ist als das tatsächliche Handeln. Die Häufigkeit der 'strategischen Beteiligung' ist die Probe: Noch nicht ein Zehntel aller beobachteten Veranstaltungen ist in seinem Führungsstil konsequent an den Interessen der Teilnehmer und nicht an den institutionell-integrativen Interessen des Trägers orientiert ... .

Die evangelische Jugendarbeit läßt sich in ihren vorherrschenden Tendenzen als ein pädagogisches Repetitions-Phänomen beschreiben, in dem wiederholt und verstärkt wird, was in den etablierten Ordnungen schon immer geschieht" (Mollenhauer 1969, S. 229 f.).
 
 

Die Arbeiten Wurzbachers und Mollenhauers zeigen zwar, daß einige Jugendverbände wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag gaben, aber kaum in der Lage und zum Teil auch nicht gewillt waren, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis ihrer Arbeit umzusetzen. Dem stand auch ein weiterer

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struktureller Mangel entgegen: In ihrem überkommenen organisatorischen Gefüge konnte die pädagogische Reflexion nicht fest institutionalisiert werden. Vollversammlungen, in denen neben Verwaltungsfragen auch pädagogische Probleme "angesprochen" wurden, blieben dafür ungeeignet. Der Bundesjugendring verfügte nie über eine Institution wie etwa die "Pädagogische Arbeitsstelle" des Deutschen Volkshochschulverbandes, und nur wenige Verbände, zu denen die evangelische Kirche gehörte, besaßen eigene leistungsfähige Bildungsstätten mit einem festen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab. Dieses institutionelle Defizit konnte auch durch die 1953 in Verbindung mit dem Bundesjugendring gegründete Zeitschrift "deutsche jugend" nicht beseitigt werden, obwohl diese sich bald zu einem kritisch-theoretisch ambitionierten Organ entwickelte. Aber gerade dieser Prozeß wurde nur von wenigen Verbandsmitgliedern mitvollzogen, und bei den theoretisch relevanten Beiträgen dieser Zeitschrift dominieren Autoren, die außerhalb der Jugendverbände tätig waren. Lediglich die oppositionellen Minderheiten in einigen Jugendverbänden haben sich auf dieser Plattform seit 1967 theoretisch artikuliert.

Die in der Erklärung von St. Martin formulierte und in der Untersuchung von Mollenhauer kritisierte Jugendarbeit hat man später die "sozial-integrative" genannt. Ihr Ziel war, die junge Generation in die bestehenden allgemeinen gesellschaftlichen Aufgaben zu integrieren. Obwohl der oft erhobene Vorwurf einer kritiklosen Anpassung an das herrschende gesellschaftliche System zweifellos ungerecht ist, weil die Notwendigkeit von Veränderungen auch schon in der Erklärung von St. Martin enthalten war, waren in diesen Jahren die Jugendverbände - wie die gesamte öffentliche Meinung - befangen in einem formalistischen Demokratie-Verständnis, das die inhaltlichen Probleme weiterer Demokratisierung nicht diskutierte, ja nicht einmal zur Kenntnis nahm. Dies war nur die Konsequenz jenes frühen entschiedenen Bekenntnisses zum parlamentarisch-demokratischen Staat, in den Heranwachsende zu integrieren solange als sinnvolles Ziel gelten konnte, wie - unabhängig von der Inhaltlichkeit politischer Entscheidungen und der gesellschaftlichen Entwicklung - die Prinzipien des Grundgesetzes erhalten blieben. Aus dem bedingungslosen Eintreten für die Prinzipien des Grundgesetzes und der Demokratie war unversehens die Legitimierung der herrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse geworden.

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Die Sicherheit dieser Grundeinstellung änderte sich mit dem Aufkommen der außerparlamentarischen Opposition und der Protestbewegung der Studenten, Oberschüler und Lehrlinge. Obwohl diese Protestbewegungen sich außerhalb der Jugendverbände organisierten und deshalb auch innerhalb der Verbände keinen nennenswerten Druck von unten nach oben ausüben konnten, wurden gerade die Verbandsspitzen von ihr aufgerüttelt. Sieht man die teilweise von führenden Mitarbeitern der Verbände in der Zeitschrift "deutsche jugend" seit 1968 geschriebenen Beiträge zur Lage und Aufgabe ihrer Organisationen durch, so gewinnt man den Eindruck, die Funktionäre hätten nur auf das Signal dieses Protestes gewartet, um ihre eigene Unzufriedenheit zu artikulieren. Gerade diejenigen Verbände, die fest in der Hand konservativer Erwachsenenverbande schienen, wie die katholische Jugend, öffneten sich weit für die Intentionen des Protestes.

Die Schlußerklärung der 35. Vollversammlung des Bundesjugendringes im November 1968, die sich mit dem Thema "Das Selbstverständnis des Deutschen Bundesjugendringes und seiner Mitgliedsorganisationen" befaßt hatte, enthielt im Vergleich zu der Erklärung von St. Martin fast revolutionäre Töne:

"In immer kürzeren Abständen vollziehen sich in der Jugendarbeit ebenso wie in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft, erhebliche Veränderungen. Die Jugendverbände bejahen entschieden die Notwendigkeit von permanenten Veränderungen und sehen darin eine entscheidende Voraussetzung zur Sicherung unserer Zukunft in einer demokratischen Gesellschaft. Dem dient nicht die unkritische Anpassung junger Menschen an die bestehende Gesellschaft. Die Jugendverbände beziehen selbst gesellschaftskritische Positionen. Dabei solidarisieren sie sich mit den Kräften in unserem Lande, die mit adäquaten Mitteln für Demokratisierung und Mitbestimmung in allen Bereichen eintreten.

Die Jugendverbände sind bereit zum Dialog mit Andersdenkenden. Sie sind offen für andere weltanschauliche und politische Standpunkte und setzen sich unvoreingenommen mit ihnen auseinander. Ihre politische Bildungsarbeit beschränkt sich nicht auf eine theoretische Auseinandersetzung, sondern mündet ein in Äußerungen zu politischen Fragen und in konkrete politische Aktionen. Jugendverbände sind nicht bloße Nachwuchsorganisationen für Gruppierungen der Erwachsenengesellschaft.

Der DBJR fordert für die junge Generation unseres Landes eine stärkere Mitsprache und Beteiligung an den Entscheidungen in unserer Gesellschaft, in allen sie betreffenden Fragen. Die Jugendverbände lehnen es ab, die Jugend in einen 'Schonraum' abdrängen zu lassen, engagierte Jugendliche müssen nicht nur auf die Übernahme von Verantwortung vorbereitet werden, sondern diese z. B. in Familie, Schule,

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Jugendverband, Kirche, Staat, Betrieb und Universität realisieren können.

Die Jugendverbände vertreten in erster Linie ihre Mitglieder, darüber hinaus artikulieren sie die Interessen der Jugend gegenüber der Gesellschaft und versuchen, diese durchzusetzen. Auch die Jugendringe verstehen sich als Sprecher für alle Bereiche, die die Jugend betreffen. Jugendverbände und Jugendringe schließen die Anwendung unkonventioneller Mittel bei der Durchsetzung von Interessen der jungen Generation nicht aus.

Im Interesse der Jugend wird eine engere Zusammenarbeit mit allen Kräften im Bereich der Erziehung und Bildung, ebenso mit den Schüler- und Studentenverbänden angestrebt.

Der DBJR muß als Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände und Landesjugendringe gegenüber Parlament, Regierung und Öffentlichkeit zu Fragen der Jugendpolitik konkret und sachgemäß Stellung nehmen. Voraussetzung ist eine intensive Beratung in den jeweiligen Gremien des DBJR. Beschlüsse werden in Verantwortung des betreffenden Gremiums gefaßt, vertreten und publiziert. Abweichende Auffassungen müssen respektiert werden.

Die Jugendverbände sehen ihren entscheidenden Ansatzpunkt für eine zeitgerechte Jugendarbeit nicht im Bereich der Jugendhilfe, sondern in der Partnerschaft mit einer demokratisierten Schule und mit der Erwachsenenbildung".
 
 

Folgende Punkte dieser Erklärung sind in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse:

1. Der Akzent wird von den Interessen des Verbandes und der durch ihn repräsentierten Gesellschaft auf die Interessen der jugendlichen Mitglieder verlagert.

2. Diese Interessen können auch durch "konkrete Aktionen" und durch "Anwendung unkonventioneller Mittel" durchgesetzt werden.

3. Aufgabe der großen Organisationen ist vor allem, diesen Interessen eine größere Durchschlagskraft zu verleihen.

Die weitere Entwicklung hat gezeigt, daß die Jugendorganisationen diesen Anspruch nicht einlösen konnten. Vielleicht lag dies unter anderem daran, daß "Jugend" eben keine konsistente Interessengruppe ist, deren Interessen und Bedürfnisse sich global vertreten ließen. Wichtiger ist jedoch, daß der klassische Konflikt zwischen Autonomiebestrebungen der Basis - also derjenigen, die die Jugendarbeit praktisch betreiben - und dem Machtanspruch der Verbandsspitzen in vielen Jugendverbänden sich im Laufe der siebziger Jahre wieder verschärfte und angesichts der allgemeinen Normen- und Sinnkrise von grundsätzlicher Bedeutung werden mußte. Anfang der siebziger Jahre

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traten Mitarbeiter in die Jugendverbände ein, die mehr oder weniger durch die Maximen der Studentenbewegung geprägt waren. Mit ihren Vorstellungen über das Ernstnehmen der jugendlichen Interessen und Bedürfnisse, über basisdemokratische und kollektiv-kollegiale Verfahrensweisen und über mehr oder weniger "linke" politische Ziele kollidierten sie zwangsläufig mit den Spitzen der Institution bzw. mit denjenigen Mitarbeitern, deren Vorstellungen im Rahmen einer anderen Generationserfahrung geprägt waren. Gefördert wurden diese Konflikte natürlich auch durch die allgemeine politische Polarisierung durch die politischen Parteien.

Sie äußern sich naturgemäß in den einzelnen Verbänden unterschiedlich. Bei den katholischen Jugendorganisationen z. B. - zusammengefaßt im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) - war schon immer ein spezifisches Problem die Rolle des Priesters. Im Hinblick auf sein Hirtenamt steht er in der Hierarchie der Kirche und kann sich insofern nicht irgendwelchen Mehrheitsbeschlüssen fügen. Andererseits ist die Frage, welche Tatbestände von diesem Hirtenamt tangiert werden und welche nicht. Dies ist letzten Endes eine Definitions- und damit auch eine Machtfrage. Gerade die katholischen Jugendverbände wurden durch die Ideen der Studentenbewegung erheblich beeinflußt, die sich oft mit den vom Vatikanischen Konzil ausgehenden reformerischen Impulsen verbanden.

Der Konflikt läßt sich an den beiden folgenden Zitaten verdeutlichen. In einer Stellungnahme aus dem Erzbischöflichen Ordinariat in Freiburg heißt es:

"Die Bischöfe sollten nur in die Arbeit der Verbände eingreifen, wenn es um Fragen der verbindlichen Glaubenslehre und Glaubenspraxis geht. Normalerweise muß sich aber der Willensbildungsprozeß in den Verbänden demokratisch vollziehen. Jugendverbände sind insofern ein Sonderfall, als man hier mit sehr vielen unmündigen Christen rechnen muß, weil ja viele Mitglieder noch Kinder sind. Kinder und auch Jugendliche können nur eine begrenzte Verantwortung tragen. Sie können noch nicht selbstverantwortlich Träger des Apostolats sein. Deshalb ist in Jugendverbänden eine religiöse und pädagogische 'Führung' und Leitung im Unterschied zu den Erwachsenenverbänden notwendig. Sie wird zumeist von noch jugendlichen oder erwachsenen Leitern und von Priestern ausgeübt. Auch die Bischöfe werden aufgrund dieser besonderen Mitgliedersituation in den Jugendverbänden engagierter als bei Erwachsenenverbänden auftreten und ihr Hirtenamt wahrnehmen. Eine solche 'Führung' wird in der Jugendarbeit nie durch eine selbständige demokratische Legitimierung der Leiter und Willenskundgaben ersetzt werden können" (deutsche jugend 10/1978, S. 459 f.).
 
 

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Im Unterschied dazu begründet eine Diözesanleiterin der katholischen jungen Gemeinde (KJG) den Autonomieanspruch so:

"Viele Jugendliche können mit 'Kirche' nur wenig anfangen; die Arbeit in den Jugendverbänden stellt für sie oft den einzigen Zugang zur Kirche dar. Diese große Chance muß genutzt werden. Dazu ist aber notwendig, daß die Verantwortlichen in der Jugendarbeit von den Amtsträgern der Kirche einen großen Vertrauensvorschuß erhalten. Ihnen muß die Möglichkeit zu vielerlei Wegen gegeben sein, auch auf die Gefahr eines bloßen Teilerfolges oder gar Scheiterns hin. In den meisten Jugendverbänden werden zumeist Leitungen von unten gewählt. Erregt nun die Arbeit eines Gremiums auf irgendeiner Ebene das Mißfallen von Amtsinhabern der Kirche, so geht es nicht an, daß eine solche Leitung einfach von außen abgesetzt wird. Vielmehr ist es notwendig, Bedenken und Besorgnis am jeweiligen Ort in den Verband hineinzutragen, sich dort damit auseinanderzusetzen und dann innerhalb des Verbandes ... auf demokratischem Wege inhaltliche oder personelle Konsequenzen zu ziehen. Als Verantwortliche in der KJG ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben, berechtigte Interessen und Anliegen, drängende Fragen und Probleme der Kinder und Jugendlichen, für die wir da sind, aufzugreifen und in der Kirche einzubringen - selbst wenn die Meinung der Amtsträger eine andere ist" (deutsche jugend 10/1978, S. 461).
 
 

Nun betreffen solche Konflikte um die Autonomie eines Verbandes weniger die jugendlichen Mitglieder - die ja jederzeit austreten können - als vielmehr die hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeiter. Autonomie des Verbandes ist also auch ein vordringliches berufspolitisches Interesse eben dieser Mitarbeiter.

Auf zunehmendes Desinteresse der Jugendlichen scheinen übrigens nicht nur einige katholische Jugendverbände zu treffen. Vielmehr scheint gegenwärtig, an der Schwelle der achtziger Jahre, die Arbeit der Jugendverbände in einer strukturellen Krise zu stecken; nur relativ wenige Jugendliche zeigen sich an den Angeboten interessiert und selbst viele Mitglieder beteiligen sich gar nicht oder wenig an den Aktivitäten. So heißt es z. B. in einer Erklärung der IG-Bergbau:

"Klar ist, daß die bisherige Jugendarbeit nicht wirklich die Masse der Arbeiterjugend erreicht hat. In der Beurteilung unserer Arbeit dürfen wir uns nicht hinter der gewaltigen Zahl von 1,2 Millionen Mitgliedern verstecken ... . Es ist nicht zu übersehen, daß die Arbeiterjugend sich von ihren Institutionen mehr und mehr abwendet. Daß das so ist, liegt nicht an ihr, sondern eher an uns ... . Der Tendenz, daß die Gewerkschaftsjugend sich zu einer Kaderorganisation entwickelt, was im Widerspruch zu ihrem Anspruch als demokratische Massenorganisation stünde, muß entgegen gewirkt werden. Dazu braucht man nicht weniger, sondern mehr politische Handlungsspielräume, und nur so ist ge-

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werkschaftliche Jugendpolitik in der Lage, Antworten im Interesse der arbeitenden Jugend auf die Krise zu finden" (deutsche jugend 7/ 1978, S. 315).
 
 

Diese und andere selbstkritische Analysen aus den Jugendverbänden nennen für das wachsende Desinteresse der Jugendlichen vor allem verbandsinterne Gründe: falsche Organisationsformen, Verselbständigung der Funktionärsebenen, falsche, die Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen nicht treffende Angebote usw. Es ist jedoch die Frage, ob die Jugendverbände attraktiver würden, wenn sich solche Mängel beseitigen ließen, oder ob nicht die Gesamtstruktur der Jugendverbandsarbeit neu durchdacht werden muß.

Nach 1945 waren die Jugendverbände angetreten, um einen möglichst großen Teil der Jugend für den neuen demokratischen Staat zu gewinnen und dabei selbstverständlich auch die überlieferten Formen "jugendgemäßen Lebens" und "jugendgemäßer Geselligkeit" anzubieten. Dabei sollte die weltanschauliche Pluralität der Gesellschaft auf der Basis eines gemeinsamen demokratischen Konsenses in den Jugendverbänden gleichsam abgebildet sein. Jeder Jugendliche konnte demnach in dieser Palette "seinen" Verband im Prinzip finden.

Das Konzept von Sankt Martin (1962), wonach die Jugendverbände sich als Integrationshilfe für die Jugend verstanden, war schon deshalb wenig attraktiv, weil es die Tatsache einer damals weitgehenden gesellschaftlichen Integration der Jugend nur noch einmal unterstrich. Das gilt auch für die "kritische" Position des Bundesjugendringes von 1968, die sich auch nur an die bereits vorhandene kritische bzw. radikale Grundstimmung anschloß. Mit anderen Worten: Die Jugendverbände haben in der Vergangenheit immer das angeboten, was sowieso schon da war, also eigentlich nicht zusätzlich benötigt wurde. Die weltanschauliche Pluralität war schon Ende der fünfziger Jahre ziemlich bedeutungslos geworden, und zwar in dem Maße, wie der Einfluß der Kirchen auf die junge Generation zurückging. Die neuen ideologischen Positionen, wie sie von und im Rahmen der Studentenbewegung bezogen wurden, ließen sich in den Jugendverbänden nicht mehr sortieren, sie lagen vielmehr quer zu ihnen, brachten sie alle in Bewegung bzw. Iießen sie alle als mehr oder weniger rückständig erscheinen. Das führte zu einer Krise des Selbstverständnisses der einzelnen Jugendverbände, denn die Frage war nun unausweichlich, was den einen Verband nun eigentlich noch von den anderen unterschied.

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Gegenwärtig ist charakteristisch für das Jugendalter ein relativ hohes Maß an sozialer Desintegration, verbunden mit einem ebenso hohen Maß an Vergesellschaftung der Jugendlichen als Individuen, d. h. Iosgelöst aus ihren sonstigen sozialen Kontexten. Wenn in dieser Situation die Jugendverbände auch nur wieder verstärken, was sowieso vorliegt - z. B. durch Theoretisierung der Misere als solcher, oder allenfalls durch stellvertretende politische Ausbeutung dieser Misere im Rahmen der Funktionärsrolle - dann hilft das den Jugendlichen nicht, auch wenn dabei optimale politische Aufklärung sich ergeben würde. Vermutlich hätten die Jugendverbände eine Chance, wenn sie Formen und Möglichkeiten sozialer Integration und damit Hilfen zur Aufrechterhaltung der Identität anbieten könnten, also neue Formen eines als sinnvoll erfahrbaren Gemeinschaftslebens. Allerdings ist die Frage, ob Verbände so etwas "erfinden" können oder ob sie nicht vielleicht doch darauf warten müssen, daß solche Erfindungen - wie bei der früheren Jugendbewegung - spontan erfolgen, so daß man sie erst dann aufgreifen und verwerten kann.

Die Frage jedoch, inwieweit die institutionalisierte Jugendarbeit "anti-institutionelle" Bewegungen aufgreifen und für sich nutzen kann, berührt den alten Widerspruch von Jugendbewegung und Jugendarbeit. Vermutlich wird es wegen dieses Widerspruchs auch in Zukunft außerhalb der Verbände jugendliche Subkulturen geben, die ihrer Natur nach von den Jugendverbänden nicht integriert werden können (vgl. Brenner 1979). Jedenfalls ist das Selbstverständnis des einzelnen Verbandes im Vergleich zu den anderen unklar geworden: denn der erwähnte Vergesellschaftungsprozeß hat ja gerade diejenigen unterschiedlichen Normen und kulturellen Stile, die früher eine weltanschauliche Pluralität begründen konnten, zugunsten allgemeiner kapitalistischer Leistungs- und Konsumnormen weitgehend egalisiert. In dieser Lage könnten neue, möglicherweise auch politisch radikale Jugendverbände eine Chance bekommen.

So unbefriedigend die Lage der Jugendverbände wegen ihrer schon lange dauernden Strukturkrise auch sein mag, so sind sie andererseits doch einzeln wie gemeinsam der einzige gesellschaftliche Machtfaktor, der mit Aussicht auf öffentliche Resonanz die Probleme und Interessen von Jugendlichen öffentlich vertreten kann.

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Jugendfreizeitstätten

Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Jugendoffiziere vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht nach dem Kriege ihre eigenen Vorstellungen über Jugendarbeit mit nach Deutschland brachten, die sich von der deutschen Tradition grundsätzlich unterschieden. In den angelsächsischen Ländern war und ist die Jugendarbeit auf gemeindlicher Ebene organisiert, überregionale Vereine und Organisationen sind zweitrangig, werden im allgemeinen nur eingerichtet, wenn der praktische Zweck dies geraten erscheinen läßt. Der Aufbau ist also eher föderativ, während er bei uns herkömmlicherweise mehr zentralistisch ist. So gründete die amerikanische Besatzungsarmee in den Jahren 1945 bis 1947 zahlreiche GYA-Heime ( = German Youth Activities), die teilweise großen Zuspruch fanden. Das Programm dieser Heime ging von denselben Problemen aus wie die Jugendverbandsarbeit auch: von der sozialen und materiellen Not der Nachkriegsjugend sowie von der Gefahr der politischen Radikalisierung. Die politische Erziehungsaufgabe sah man hier deutlicher als bei den Jugendverbänden vor allem in der Einübung demokratischer Techniken sowie in der in den Jugendverbänden und der deutschen Jugendpflege überhaupt noch unbekannten inhaltlichen Mitbestimmung durch die Heimbesucher. Dieser Typ des offenen Heimes, das man in der Freizeit besuchen und an dessen Programm man beliebig in der Skala von sehr intensiv bis sehr unverbindlich teilnehmen konnte, war für die deutsche Jugendarbeit neu und kollidierte bald auch mit den Interessen der traditionellen deutschen Träger der Jugendarbeit, vor allem auch mit den Jugendverbänden, die gerade das an diesem Typ kritisierten, was seinen Vorzug ausmachte: die strikte weltanschauliche Neutralität und Pluralität sowie die "Unverbindlichkeit" des Engagements. Die Unverbindlichkeit des Engagements galt als erzieherisch wenig wertvoll, weil sie angeblich die Jugendlichen dazu verführt, auf den Aufbau einer eigenen, eindeutigen Wertwelt zu verzichten.

Die Pluralität der Weltanschauungen wurde zwar dem System der Verbände zugestanden, nicht jedoch dem einzelnen Verband; er sollte sich vielmehr möglichst eindeutig weltanschaulich profilieren und dem Jugendlichen gegenüber eine der staatlich lizensierten "Grundrichtungen der Erziehung" repräsentieren. Der Terminus "Grundrichtungen der Erziehung" steht im JWG als Ausdruck der schon beschriebenen Erwartun-

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gen im Verhältnis von Staat und freien Trägern. Entsprechend der Herkunft dieser Formel aus dem Kampf um die Weltanschaulichkeit der Erziehung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ging es bei dieser Konstruktion ja nicht nur um die Anerkennung eines äußeren Pluralismus von Organisationen, sondern um das, was diese Organisationen an überlieferten weltanschaulichen Positionen repräsentierten: um das geschlossene Normensystem katholischer, evangelischer, liberalistischer oder sozialistischer Provenienz. Der Jugendliche selbst sollte zwar - getreu der bürgerlich-liberalistischen Staatstheorie nach 1945 - diesen Pluralismus politisch anerkennen, als eine Grundbedingung der politischen Demokratie, ihn aber für sich selbst nicht in Anspruch nehmen, sondern sich einer der weltanschaulichen Grundrichtungen anschließen.

Folgerichtig mußte auch die in den GYA-Heimen praktizierte Form der Mitbestimmung verdächtig erscheinen; denn angesichts des Übergewichts der weltanschaulichen Grundposition kam eine inhaltliche Mitbestimmung der Jugendlichen in der traditionellen Jugendarbeit schon von der Sache her nicht in Betracht; schließlich handelte es sich bei der Zugehörigkeit zu einer Weltanschauung nicht um das Ergebnis einer rationalen Diskussion, sondern entweder um eine "naturwüchsige" Folge - man wurde in eine Weltanschauung hineingeboren - oder um eine bloße Entscheidung, wie etwa im Falle der Konversion, des Übertritts. In dieser auf überpersönlichen Weltanschauungen fixierten Vorstellung gab es Mitbestimmung, wo davon überhaupt die Rede war, nur in einem exekutiven Sinne, im Sinne der optimalen Verwirklichung der weltanschaulichen Ziele. Diesen Sinn hatte der Begriff "Mitbestimmung" schon in den "Grundsätzen und Ratschlägen" des preußischen Jugendpflegeerlasses von 1911.

Diese Vorbehalte gegen die GYA-Heime kamen allerdings erst dann zum Tragen, als die Jugendoffiziere ihre Tätigkeit einstellten und ihre Häuser auflösten oder an deutsche Träger übergaben. Inzwischen waren solche lokalen Freizeitheime auch von deutschen Trägern, vor allem von den Kommunen, eingerichtet worden. Aber aus den genannten ideologischen Gründen und wegen der Konkurrenz von den Jugendverbänden mißtrauisch betrachtet oder offen bekämpft, konnten sie sich nur schlecht entfalten und spielten lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Zudem war schon Anfang der fünfziger Jahre der freie, unkonventionelle und undogmatische Geist aus diesen Heimen ver-

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schwunden und ersetzt worden durch die restaurativen Leitbilder der damaligen Jugendpflege überhaupt, die Lutz Rössner (1962) später ein wenig boshaft, aber durchaus treffend Leitbilder der "Verartigung" genannt hat. Erst Anfang der sechziger Jahre konnte dieser Ansatz einer "offenen Jugendarbeit" wieder mit Erfolg aufgegriffen werden.

Immerhin waren diese Heime in den Jahren nach dem Kriege bereits so etabliert, daß sie nicht wieder abgeschafft werden konnten. Dafür mußten sie jedoch den Jugendverbänden ihre Referenz dadurch erweisen, daß sie sich als für die nicht-organisierte Jugend, also für die nicht durch Mitgliedschaft an einen Jugendverband gebundenen Jugendlichen zuständig erklärten mit dem Ziel, möglichst viele ihrer Besucher zu einer solchen Mitgliedschaft zu animieren. Außerdem, so hieß es, sei es besser, möglichst viele Jugendliche "von der Straße" zu holen, als vergeblich darauf zu warten, daß diese sich den Jugendverbänden anschlössen.

Die Vorstellung vom Vorrang der festen Mitgliedschaft in einem Jugendverband, der ja eine der weltanschaulichen "Grundrichtungen" repräsentiert, war so selbstverständlich, daß es kaum auffiel, wie sehr man damit die Heime selbst und vor allem ihre Besucher diskriminieren mußte; denn wenn das "Eigentliche" der Jugendarbeit in der Mitgliedschaft in einem politischen oder weltanschaulichen Verband bestand, dann konnte die Arbeit der Heime daran gemessen nur sekundäre, eben Zubringerfunktionen haben, und dann waren deren Besucher gegenüber den Mitgliedern von Jugendverbänden von vornherein diskriminiert. Daß sich so kaum pädagogisches Selbstbewußtsein errichten ließ, liegt auf der Hand.

Die Vorstellung vom pädagogischen Vorrang der Jugendverbandsarbeit führte vielerorts zu der Konsequenz, in den Heimen entweder auch den Jugendverbänden feste Räume zuzuweisen, um die Begegnung zwischen ihnen und den "ungebundenen" Besuchern zu ermöglichen; oder aber es wurden - vor allem in Nordrhein-Westfalen - sogenannte "Heime der teil-offenen Tür" eingerichtet; diese standen in erster Linie den eigenen Verbandsmitgliedern zur Verfügung und wurden einige Tage in der Woche auch für andere Jugendliche offen gehalten. Hinter diesem Versuch stand jedoch weniger ein pädagogisches Konzept als vielmehr das Bemühen, mit der Begründung, für die unorganisierte Jugend etwas anzubieten, die für den Bau solcher Heime vorgesehenen öffentlichen Mittel dem eigenen Verband

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zugute kommen zu lassen. Das Nebeneinander von unorganisierten Gruppen und Jugendverbänden in ein und demselben Heim hatte selten Erfolg. Reibereien zwischen den tatsächlich oder vermeintlich Privilegierten und den Unterprivilegierten waren an der Tagesordnung.

Die Heime der offenen Tür waren zunächst dezentralisiert auf lokaler Ebene entstanden; das war für die pädagogische Arbeit von Vorteil, behinderte jedoch auch den Erfahrungsaustausch und die Diskussion neuer Zielsetzungen, als ihre von der unmittelbaren Jugendnot nach dem Kriege diktierte Arbeit in eine Krise geriet. Zudem entstand das Bedürfnis, sich gegen den Druck der Jugendverbände eine bessere, überörtliche Präsentation zu verschaffen.

So trafen sich auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge (AGJJ) die Träger der Heime am 29./30. April 1953 in Gauting und verabschiedeten dort gemeinsam die sogenannten "Gautinger Beschlüsse", die als Minimalprogramm zur Richtschnur für die weitere Arbeit dienen sollten:
 
 

"I. Die Aufgaben des Heimes der offenen Tür

Das Heim der offenen Tür ist eine Freizeit- und Begegnungsstätte im freien Erziehungsraum und ergänzt die Erziehung im Elternhaus, in der Schule und im Beruf.

Es dient der gesamten Jugend und muß allen täglich offen stehen.

Im Heim der offenen Tür soll der junge Mensch der sozialen Gesamtheit begegnen; deshalb muß das Heim der offenen Tür die soziale Struktur der Gemeinde oder Nachbarschafe widerspiegeln.

Das Heim der offenen Tür vermittelt dem jungen Menschen das Gemeinschaftserlebnis und weist ihm Wege zur Welt der Erwachsenen. Dadurch lernt er, daß mit dem Erwerb von Rechten auch die Übernahme von Pflichten verbunden ist. Diese Erkenntnis bildet die Grundlage für die staats- und mitbürgerliche Erziehung.

Das Heim der offenen Tür hat die Aufgabe, im jungen Menschen die Kräfte zu wecken, die zu einer freien, selbständigen und selbstverantwortlichen Persönlichkeit führen.

Durch Interessengruppen und Arbeitsgemeinschaften werden brachliegende Fähigkeiten und Neigungen erkannt und entwickelt.

Damit wirkt das Heim der offenen Tür ausgleichend und fördernd zur Tätigkeit in der Schule und im Beruf.

Die Erziehungsarbeit im Heim der offenen Tür findet da ihre Grenze, wo es um die Formung der Persönlichkeit unter weltanschaulicher oder parteipolitischer Zielsetzung geht. Neben diesen allgemeinen Aufgaben ergeben sich aus der jeweiligen sozialen und politischen Situation besondere Aufgaben, für die das Heim der offenen Tür geeigneter Träger sein kann ... .

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III. Besucher

Das Heim der offenen Tür dient der gesamten Jugend, insbesondere den Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 25 Jahren.

IV. Programm und Methode

Die Programmplanung in einem Heim der offenen Tür soll sich grundsätzlich nach den Interessen der Heimbesucher richten.

Erfahrungsgemäß wird sich ein erfolgversprechendes Programm auf folgende Gebiete erstrecken:

Lesen, Vorlesen, Erzählen und Diskutieren,

Scharaden, Stegreif- und Laienspiele, Psycho- und Soziodramen, Singen und Musizieren,

Bewegungs- und Gesellschaftsspiele, Sport, Turnen und Gymnastik, Werken und Modellbau,

berufsausbildende und berufsfördernde, allgemeinbildende Arbeitsgemeinschaften,

Natur- und Kunststudien,

Wandern, Zelten, Ausflüge, Besichtigungen, Feier- und Festgestaltung.

Die im Heim der offenen Tür praktizierte Methode soll informal sein, d. h., sie paßt sich den jeweiligen Gegebenheiten voraussetzungslos und beweglich an.

Die Heimbesucher werden an die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung herangeführt, daran interessiert und dadurch angeregt, sich dieser Möglichkeiten im Sinne einer Persönlichkeitsentfaltung zu bedienen".
 
 

Charakteristisch an diesem Text ist, daß die Jugendverbände hier überhaupt nicht erwähnt werden. Man wollte einerseits offenbar keine "chlafenden Hunde" wecken und klammerte die Frage des Verhältnisses zu den Jugendverbänden einfach aus, andererseits wurde es auf diese Weise möglich, die eigene Arbeit autonom zu bestimmen, also aus der bisherigen diskriminierenden Zweitrangigkeit hinauszugelangen.

Die für die Konferenz gastgebende AGJJ gab auch eine empirische Untersuchung in Auftrag, die 1955 (mit dem Material von 1953) erschien und unter anderem nachprüfen sollte, ob und in welchem Maße die Gautinger Beschlüsse in den Heimen realisiert wurden (Das Heim der offenen Tür, 1955). Entsprechend den Definitionen der Gautinger Beschlüsse wurden nur solche Heime als Heime der Offenen Tür definiert und untersucht, die wenigstens viermal wöchentlich für unorganisierte Jugendliche und über einen längeren Zeitraum nach Feierabend geöffnet waren. Von den 110 ermittelten Heimen befanden sich 62 in Großstädten, allein 22 in Westberlin. 70 Prozent der Heime hatten kommunale Träger, 9 Prozent konfessionelle, der Rest entfiel auf Jugendpflegevereine. Aufgrund der Ergebnisse dieser Studie lassen sich die wichtigsten Probleme wie folgt beschreiben:

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1. Zwischen den Erwartungen der im Heim tätigen Erzieher und denen der Jugendlichen herrschte eine deutliche Diskrepanz. Die in den Gautinger Beschlüssen genannten Ziele interessierten die Jugendlichen verhältnismäßig wenig. Statt dessen erwarteten sie vom Heim vor allem die Erfüllung der Anliegen, die sie in ihrer freien Zeit im allgemeinen auch außerhalb des Heimes zu befriedigen suchen (S. 123). Diese Erkenntnis entsprach den Untersuchungen von Helmut Schelsky (1957).

2. Die Freizeitinteressen der Jugendlichen entsprachen keineswegs dem, was die Erzieher als "pädagogisch sinnvoll" ansahen. Während die Jugendlichen sich im wesentlichen entspannen und unterhalten wollten, ohne sich dabei an einem aktiven Einsatz erfordernden Programm zu beteiligen, kamen sich die Erzieher gewissermaßen überflüssig vor, wenn sie diese Bedürfnisse nicht in "höhere", "sinnvolle" verwandeln konnten. Dabei wurde als "sinnvoll" vor allem das angesehen, was man im Rahmen der sozialpädagogischen Ausbildung gelernt hatte oder vom Hörensagen kannte: Volkstanz statt Gesellschaftstanz, Gruppenaktivität statt Einzelbeschäftigung, Jugendlieder singen statt Schlager hören, kunstgewerbliches Selber-Werken statt Kaufen, informelle Gruppengespräche statt systematischem Unterricht. Alle diese Akzente verstanden sich als Gegenangebote gegen die der Konsumgesellschaft, die in kulturpessimistischer Tradition und damit auch in der Tradition der von Anfang an auf restriktives Freizeitverhalten festgelegten Jugendarbeit als grundsätzlich erziehungsgefährdend galten.

3. Entsprechend dem dominanten Bedürfnis nach Entspannung und Unterhaltung brachten die Jugendlichen den Heimen eine charakteristische "Konsumhaltung" entgegen. Sie wollten "etwas geboten" bekommen. Darunter litt insbesondere ihre Mitwirkung an der Mitbestimmung im Heim - ein Ziel, das bei der Gründung der GYA-Heime im Vordergrund gestanden hatte, in den Gautinger Beschlüssen jedoch nur noch im repressiven Sinne erwähnt wird (der Jugendliche soll einsehen, daß mit neuen Rechten auch neue Pflichten verbunden sind). Später, vor allem seit der Entstehung der jugendlichen Protestwelle, ist die autoritäre Leitung der Heime von vielen Jugendlichen kritisiert worden. Die Tatsache jedoch, daß die jugendlichen Teilnehmer schließlich kaum noch mitbestimmen konnten, hatte mehrere Ursachen. Einmal waren die Besucher aufgrund der Konsumeinstellung selbst nicht daran interessiert; zweitens ließen - vor allem in Heimen mit kommunalem Träger - die engherzigen

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Verwaltungsvorschriften für eine wirkliche Mitbestimmung kaum Raum; und schließlich herrschte unter den Erziehern die schon erklärte Vorstellung einer bloß exekutiven Mitbestimmung vor: die Jugendlichen sollten nicht so sehr an den Zielplanungen (was "pädagogisch sinnvoll" sei, könne ja nur der Erzieher wissen) als vielmehr an der optimalen Ausführung dieser Ziele beteiligt werden. Viel entscheidender aber als diese Einzelfaktoren war das gesamtgesellschaftliche Klima in dieser Frage: Man konnte schwerlich erwarten, daß Heimleiter, die in eine straffe Hierarchie eingegliedert waren, und Jugendliche, denen nirgendwo sonst in ihrem Leben Mitbestimmung gestattet war, nun ausgerechnet im Freizeitheim große Begeisterung dafür entwickelten.

4. Der pädagogische Spielraum der Heime war in hohem Maße abhängig auch von der unmittelbaren bürgerlichen Umgebung. Diese war nicht an pädagogischen Problemen und Experimenten interessiert, sondern daran, daß die Jugendlichen sich in ihrer freien Zeit nach Maßstäben der "mittleren Bürgerlichkeit" verhielten: unauffällig und gesittet. Daran in erster Linie scheiterten die Versuche, die "gefährdete" Jugend "von der Straße zu holen". Die Heimleitungen konnten es sich angesichts der bürgerlichen Umgebung gar nicht leisten, solche Jugendlichen, deren Verhalten den bürgerlichen Erwartungen nicht entsprach, zuzulassen. Taten sie es dennoch, so hatten sie entweder mit Schwierigkeiten zu rechnen oder das Heim geriet in einen "schlechten Ruf", der die "anständigen" Eltern dazu bewog, ihren Kindern den Besuch zu verbieten. Im Jahre 1953 waren die meisten Besucher zwar noch Volksschüler und Lehrlinge, von den Heimleitern meist als "gefährdet" bezeichnet. Aber in der Folgezeit wurden die meisten Heime zunehmend monopolisiert von solchen Besuchern, für die sie eigentlich nicht konzipiert waren: von ohnehin gutbehüteten Mittelstandskindern. Die sozial unterprivilegierten Schichten hatten immer weniger Zugang, eine schichtenspezifische Selektion ergab sich auf diese Weise geradezu von selbst, zumal solche Heime immer seltener in Arbeitervierteln gebaut wurden.

5. Ein Problem war lange Zeit auch die Koedukation. Die Gesellschaft der fünfziger Jahre war - unter maßgeblichem Einfluß der Kirchen - außerordentlich prüde. Zwar ging man nicht soweit, getrennte Heime für Mädchen und Jungen einzurichten, aber die Repression war deshalb nicht weniger groß. Entweder öffnete man die Heime an unterschiedlichen Tagen für Jungen

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oder Mädchen, oder man versuchte in den Heimen, die Gruppen nach Geschlechtern zu trennen. War ein Heimleiter mutig genug, koedukativ zu arbeiten, so wachte die bürgerliche Umgebung mit Argusaugen darauf, daß keine "Pärchen" sich bildeten ("Pärchen-Bildung" war in jener Zeit ein Alptraum für jeden Jugendpfleger) und auch sonst alles "anständig" zuging.

6. Eine weitere schwerwiegende Behinderung der Arbeit bestand darin, daß die meisten Heime gleichzeitig von Kindern und Jugendlichen besucht wurden (1953 waren es 87 von 110). Das hatte praktische Gründe (es fehlten die Mittel, altersspezifische Heime einzurichten, zudem wollte man die Heime auch nachmittags nutzen, weil dann die Jugendlichen nur selten kamen), aber oft auch einen ideologischen: die Heime sollten als Begegnungsstätte für die ganze Gemeinde dienen, also grundsätzlich auch für die Erwachsenen. Denkt man jedoch an die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen eines 10- und eines 18jährigen, so kann man sich die darin enthaltenen Konflikte mühelos vorstellen.

7. Der Aktionsradius der Heime, d. h. ihr zahlenmäßig erfaßbarer Erfolg, war sehr gering. Nur 21 000 ständige Besucher, die einmal in der Woche das Heim aufsuchten, wurden in den 110 Heimen im Jahre 1953 gezählt.

Fassen wir diese knappe Beschreibung der Probleme zusammen, so können wir sagen: Am Ende der fünfziger Jahre, als sich die skizzierten Trends noch verstärkt hatten, befanden sich die Heime der offenen Tür in einer ähnlichen Krise wie die Jugendverbände auch. Beide waren sie einerseits befangen in den allgemeinen restaurativen politischen und pädagogischen Vorstellungen jener Zeit, beiden war andererseits die ökonomische Entwicklung davongeeilt. Die unmittelbaren Nöte der Startsituation waren überwunden, und die angebliche "Gefährlichkeit" des unkontrollierten Freizeitverhaltens hatte sich als falsch erwiesen. Die empirischen Untersuchungen zeigten im Gegenteil, daß Freizeit und Konsum eher ein Problem für die Alten darstellten als für die Jugend, die sich vielmehr erstaunlich unkompliziert und selbstsicher im System von Freizeit und Konsum bewegte. Nun zeigte sich nicht nur, daß die Jugendarbeit mit ihrer Fürsorgevorstellung, mit der sie am Beginn des Jahrhunderts ihren Ausgang genommen hatte und die sich in der Not der Nachkriegsjahre zu bestätigen schien, eine moderne Jugendarbeit nicht zu konzipieren vermochte; vielmehr waren die differen-

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zierten Angebote des kommerziellen Freizeitsystems den jugendpflegerischen in der Regel deutlich überlegen, und zwar subjektiv - im Bewußtsein der Jugendlichen - wie auch objektiv: An ihnen gemessen hatte die Jugendarbeit durchaus den Charakter des Kleinkariert-Rückständigen. Sie war trotz aller scheinbar positiven Zielsetzungen eine lediglich "negative Pädagogik" geblieben.

Es waren schließlich vor allem zwei Autoren, die zu Beginn der sechziger Jahre die Entwicklung eines neuen pädagogischen Konzeptes für die Heime der offenen Tür entscheidend beeinflußten: Lutz Rössner und C. Wolfgang Müller. Beide verfügten dafür über besonders günstige äußere Voraussetzungen. Rössner war Mitarbeiter in einem experimentierfreudigen Darmstädter Heim der offenen Tür eines privaten Trägers; Müller war Leiter der Jugendgruppenleiterschule "Haus am Rupenhorn" in Berlin, in einem Land also, dessen Aufgeschlossenheit für Probleme der Jugendarbeit damals in Fachkreisen allgemein bekannt war. Im Titel des Buches von Rössner "Jugend in der offenen Tür. Zwischen Chaos und Verartigung" (1962) kommt eine deutliche Kampfansage an die bisher beschriebene Offene-Tür-Arbeit zum Ausdruck. Der Verfasser hat in späteren Veröffentlichungen seine Erfahrungen und Einsichten weiter entwickelt (1965; 1967), wir konzentrieren uns hier jedoch auf seine erste Schrift, da es uns nicht um die Würdigung eines Autors im ganzen geht, sondern lediglich darum, seinen neuen Ansatz zu beschreiben. Dieser läßt sich in folgenden wichtigen Punkten zusammenfassen:

1. Rössner nimmt den Begriff "offene Tür" wörtlich: Jeder kann kommen und gehen, wann er will, ohne dafür in irgendeiner Form sozial diskriminiert zu werden (auch nicht durch den Vorwurf der "Bindungslosigkeit"). Dies hat zur Folge, daß die Gruppen zunächst wenig strukturiert sind, weil die Fluktuation der Mitglieder groß und die Kontinuität ihrer Mitarbeit gering ist. Zu Beginn ihres Entstehens ist eine solche Gruppe "chaotisch" strukturiert, in "Unordnung". Rössners Leitfrage ist: "Wie kommen die Jugendlichen aus dem Chaos oder der Unordnung in die Ordnung, ohne der Verartigung anheimzufallen?" (S. 101). Wie kann also eine pädagogisch motivierte Disziplinierung vermieden werden, die den Bedürfnissen und Interessen der in das Heim kommenden Jugendlichen gewaltsam übergestülpt wird?

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2. Nicht bestimmte, vom Erzieher vorher geplante Ziele bilden den Mittelpunkt der Arbeit, sondern die grundsätzlich unplanbaren Bedürfnisse, Interessen und Konflikte der Jugendlichen selbst, so wie sie sich in den Gruppen mehr oder weniger spontan artikulieren. Das Programm ist gleichsam die Gruppe selbst. Auf weittragende Zielformulierungen, wie sie die Gautinger Beschlüsse enthielten, wird daher bei Rössner von vornherein verzichtet.

3. Das zumindest vordergründig artikulierte Bedürfnis der Jugendlichen ist das Tanzen. Es dient nicht nur der erotischen Annäherung, sondern symbolisiert darüber hinaus eine ganze Reihe von persönlichen Bedürfnissen, insbesondere nach Entkrampfung und Entlastung vom Druck des alltäglichen Rollenverhaltens (in Betrieb, Schule und auch im Elternhaus). Gerade die "wilden" Tänze der Rock'n-Roll-Zeit vermögen eine solche Befreiung zu bewirken. Das Tanzbedürfnis ist also ein psychologisches Vehikel für eine ganze Reihe von seelischen und kommunikativen Bedürfnissen, die durch das Tanzen freigesetzt werden können. Dieser Frage ist Rössner später in einer eigenen Arbeit mit dem Titel "Jugend im Erziehungsbereich des Tanzes" (1965) noch genauer nachgegangen.

4. Die erotisch-emotionale Dimension des Tanzes wird offen bejaht, wenn auch von heute aus gesehen mit Einschränkungen, wie sie vor Beginn der Sex-Welle für jeden Pädagogen zur Erhaltung seiner beruflichen Existenz nötig waren. Aber die "Pärchen" waren nicht mehr verpönt und vorsichtige Äußerungen von Zärtlichkeit wie "Händchen-Halten" nicht mehr diskriminiert.

5. Die bisher gültige Dominanz der kleinen, überschaubaren Gruppe wurde außer Kraft: gesetzt; auch der großen, in sich wenig strukturierten Gruppe wurde eine eigentümliche pädagogische Bedeutung zuerkannt. Es erschien "notwendig, von dem Tabu der intimen Kleingruppe abzugehen" (S. 98).

"Es ist - entgegen der gruppenpädagogischen Theorie - einfach eine Tatsache, ... daß eine nichtorganisierte, das 'Organisieren' ihrer Gemeinschaft selbst besorgende und eine bis dahin hauptsächlich streunende Jugend eine Gruppengröße anstrebt, die der Dimension ihrer Nöte, ihrer Anliegen entspricht. Diese Jugend widersprach der 'Überschaubarkeit' der Kleingruppe, sie wollte weder überschaut noch angeschaut werden, ja sie wollte sich gerade vor dem pädagogischen Blickstrahl in die Anonymität retten. In der großen Gruppe kann der einzelne untertauchen, der vor den Mädchen unsichere Junge, das vor den Jungen unsichere Mädchen kann sich unauffällig in den eigenen

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Kreis zurückziehen, bis die nötige Sicherheit gewonnen ist, um den Blicken der anderen standzuhalten. Bis man als Jugendlicher den Blicken des geübten Pädagogen standhalten kann, bedarf es langer Zeit. In der großen Gruppe können sich die Jugendlichen zurückziehen, und es können sich auch die Pädagogen zurückziehen, wenn sie meinen, daß der Jugendliche ihren Blick nicht erträgt. In der großen Tanzgemeinschaft geht auch der Erwachsene unter; wenn er tanzt, gehört er zu einem der vielen Tanzpaare und ragt nicht mehr in erwachsener Größe unangenehm auffällig hervor. Die Anonymität wird gesucht, also gestatte man die Anonymität; die Anonymität entlastet, in der Entlastung liegt aber die Hilfe" (S. 98 f.).
 
 

6. Die Rolle des Erziehers wird neu definiert in einer so verstandenen Gruppensituation. Sein Führungsanspruch wird zurückgenommen zugunsten einer Rolle, die man am ehesten als die des "erfahrenen Partners" bezeichnen könnte:

"In den offenen Jugendgruppen soll der Erwachsene der bleiben, der er ist. Er soll nicht etwa zu rauchen anfangen aus der Befürchtung heraus, die Jugendlichen könnten einen Nichtraucher verlachen. Er soll aber auch, wenn er es gerne tut, sein Bier in der von ihm für richtig gehaltenen Menge weitertrinken, ohne die Befürchtung zu hegen, er sei sodann kein 'gutes Vorbild' mehr. Er soll seine 'Schwächen' zugeben, aber er soll auch seine 'veralteten' Grundsätze verteidigen. Eine gewisse Jugendlichkeit ist immer vonnöten (tanzen muß man können), aber der Alte soll nicht als eine belustigende Karikatur des vergangenen Jugendlichen auftreten ... . Wenn ein Mensch sich ärgert, sagt er das, der Pädagoge sollte auch in dieser Hinsicht kein Verdrängungskünstler sein. Wenn dem Pädagogen das Kleid oder die Frisur oder was sonst an einem weiblichen Gruppenmitglied gefällt und er möchte ihm gern ein Kompliment machen, dann soll er das tun; zum einen sind die Mädchen dafür empfänglich, zum anderen ist der Pädagoge nicht dazu da, erotische Stauräume aufzurichten ... . Der Pädagoge muß sich behaupten, ja er muß sich soweit behaupten, daß er auch einmal in Gegensatz zu den Jugendlichen tritt ... . Wie er seine Meinungen und Ansichten behalten, seine Emotionen nicht verdecken soll, so soll er die Meinungen, Ansichten und Emotionen der Jugendlichen gelten lassen, aber nicht vor ihnen zurückweichen, nicht den großen 'Nachgebenden' spielen. Diese Rolle hält er ohnehin nicht durch, und eines Tages würde seine Unehrlichkeit offenbar, und er wäre nicht mehr 'in Ordnung'" (S. 100 f.).
 
 

7. Noch in einer weiteren Hinsicht ändert sich die Rolle des Erziehers: Um die nun recht kompliziert gewordenen Gruppen-Interaktionen richtig verstehen und sich in ihnen zielgerichtet verhalten zu können, bedarf er der Hilfe von Kollegen; Offene-Tür-Arbeit im Sinne von Rössner ist nur denkbar als Teamarbeit, die ein schnelles "feed-back", eine Kontrolle des Erziehers also, garantiert.

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Wir haben Rössner hier so ausführlich zitiert, weil sich aus den von ihm beschriebenen Details negativ ebenso detailliert die herrschenden Auffassungen ablesen lassen, gegen die er sich wendet.

Unabhängig von der Arbeit Rössners in Darmstadt, aber fast zur gleichen Zeit, wurde die Arbeit der Freizeitstätten in Berlin einer kritischen Prüfung unterzogen. Motor war dabei das von C. Wolfgang Müller geleitete "Haus am Rupenhorn" in Berlin. Ausgehend von der allgemeinen Erfahrung, die schon die Offene-Tür-Untersuchung von 1955 belegt hatte, daß zwischen den Erwartungen der Heimleitung und denen der jugendlichen Besucher durchweg eine hohe Diskrepanz festzustellen war, versuchte man dort, die Gründe dafür durch eine wissenschaftliche Untersuchung zu ermitteln. Die Untersuchung bestätigte diese "Kluft zwischen den Ansprüchen der Jugendlichen und den pädagogischen Vorstellungen der Erwachsenenwelt":

"Die Erwachsenen und insbesondere die erwachsenen Pädagogen sehen im Jugendfreizeitheim häufig einen Ort mehr oder weniger formeller Gruppenarbeit mit allgemeinbildender Zielsetzung.

Diese Vorstellung ist arbeitsorientiert, gemeinschaftsorientiert und leistungsorientiert. Sie überträgt Verhaltens- und Leistungsnormen der Arbeitswelt auf die Freizeit.

Die Jugendlichen sehen im Jugendfreizeitheim häufig einen Ort informeller Geselligkeit, ein geselliges Kommunikationszentrum, wie es die moderne englische Jugendpflege bezeichnen würde (social-communication-centre). Die Vorstellungen der Jugendlichen sind freizeitorientiert, geselligkeitsorientiert und spielorientiert. Die Jugendlichen suchen sich im Freizeitheim offensichtlich deutlich von den Verhaltens- und Leistungsnormen der Arbeitswelt abzugrenzen und begreifen die Freizeit als einen eigenständigen Raum, der nicht dem Gesetz der Erwachsenen gehorchen muß" (Wozu dient ein Freizeitheim ...? 1962, S. 20).
 
 

Im Unterschied zu Rössner, der als Psychologe in erster Linie nach der psychologischen Bedeutung fragte, die die bis dahin in der Jugendarbeit unterdrückten Wünsche der Jugendlichen (nach modernen Tänzen, nach Unterhaltung und nach erotischer Annäherung) haben könnten, geht Müller bei seiner Interpretation dieser Diskrepanz vom Freizeitcharakter der modernen Gesellschaft aus. Im Unterschied zu den Erwachsenen, die in der Freizeit die Arbeitshaltungen durch Angebote "sinnvoller Freizeitbeschäftigungen" wiederholen wollten, haben Jugendliche das Bedürfnis, Versagungen am Arbeitsplatz (einschließlich Schule) zu kompensieren, also gerade solche Bedürfnisse und Wünsche sich zu erfüllen, die ihnen dort versagt bleiben. In späteren Ar-

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beiten hat Müller diesen theoretischen Ansatz weiter verfolgt und zu präzisieren versucht (1965). In seinem Beitrag zu dem schon genannten Buch "Was ist Jugendarbeit?" grenzt er die Jugendverbandsarbeit von der Arbeit der Freizeitstätten durch den Hinweis ab, in jener dominierten die Inhalte, die von den sich als Repräsentanten der pluralistischen Gesellschaft verstehenden Verbandsspitzen an die Jugendlichen herangetragen würden, während in dieser die Jugendlichen selbst zum Thema würden. Es könne "nur einen Gegenstand geben, der es wert wäre, im Zentrum moderner Jugendarbeit zu stehen: die an dieser Jugendarbeit teilnehmenden jungen Leute selbst" (S. 19). Die Jugendlichen können ihre Freizeitbedürfnisse erst im Rahmen der in den Freizeitstätten ermöglichten Kommunikationen artikulieren; dafür sei ein möglichst umfassendes und flexibles Programmangebot erforderlich, das jedoch den Jugendlichen nicht aufgezwungen werden dürfe, sondern ihnen als Kunden eine wirkliche Auswahl gestatten müsse. Das "Was" sei dabei gleichgültig, es komme in erster Linie auf das "Wie" an: Nicht die Umfunktionierung jugendlicher Wünsche in angeblich wertvollere dürfe das Ziel sein, sondern ihre "Kultivierung". So wird "Stil" zum zentralen Begriff im Rahmen der in der Jugendarbeit möglichen Kommunikationen. "Kommunikation zielt auf das Insgesamt aller zwischenmenschlichen Beziehungen junger Leute mit ihrer Umwelt, seien sie verbaler oder nicht-verbaler Art, Stil meint die definierbare und meßbare Qualität dieser Kommunikation" (S. 35).

Die Ergebnisse der genannten Berliner Untersuchung von 1962 führten die Autoren dazu, die "Gautinger Beschlüsse" zu revidieren. Sie stellten diesen ihre eigenen Thesen gegenüber:

1. Gegen die Gautinger These, das Heim müsse die soziale Struktur der Nachbarschaft widerspiegeln: "Diese theoretische Forderung wird sich in der Praxis selten realisieren lassen. Das Freizeitheim sollte jedoch versuchen, nicht nur eine gesellschaftliche Schicht anzusprechen. Spezielle Angebote sollten jedem einzelnen Freizeitheim einen besonderen Charakter und eine besondere Anziehungskraft verleihen (marginal-differentiation). Standardisierung und Einförmigkeit sind der Ruin jeglicher Heimarbeit".

2. Gegen das Ziel "Gemeinschaftserlebnis": "Das Freizeitheim ist ein geselliges Kommunikationszentrum. Die verschiedenen Formen der Gesellung stehen gleichberechtigt nebeneinander. Das Gemeinschaftserlebnis gibt es nur als Ideologie. Das Freizeitheim ist ein Teil der Welt der Erwachsenen, zeichnet sich jedoch durch erhöhte Mobilität und Flexibilität der Angebote und durch eine vergleichsweise autoritätsarme Atmosphäre aus".

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3. Zum staatsbürgerlichen Erziehungswert der Heime: "Das entscheidende Recht des Jugendlichen im Freizeitheim besteht darin, als ernst zu nehmender, gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden. Dieses Recht wird lediglich dort eingeschränkt, wo es die gleichen Rechte anderer Jugendlicher beschneidet. Ob diese Erkenntnis die Grundlage für die staats- und mitbürgerliche Erziehung bildet, hängt nicht vom Freizeitheim, sondern von der Gesamtgesellschaft ab".

4. Zur Gruppenbindung der Jugendlichen: "Im Freizeitheim stehen die verschiedenen Gesellungsformen wertfrei nebeneinander. Zielorientierte und sozialorientierte Gruppen der Jugendverbände haben hier ebenso ihren Platz wie spontane Gruppierungen und Clubs. Aber auch der sogenannte Einzelbesucher ist im Freizeitheim willkommen. Sein Wert kann nicht allein an seiner Bereitschaft gemessen werden, sich einer der im Heim bestehenden Gruppen anzuschließen".

5. Zur weltanschaulichen und politischen Abstinenz der Heime: "Das Jugendfreizeitheim sollte dem Jugendlichen auch Ideen auf den Gebieten der Religion und der Politik anbieten und sollte den Jugendlichen ermutigen, auf diesen Gebieten einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Jede einseitige Beeinflussung der Jugendlichen im Freizeitheim muß allerdings vermieden werden. Sie widerspricht den Prinzipien partnerschaftlicher Erziehung und degradiert den Heimbesucher zum 'manipulierbaren Menschenmaterial'" (S. 21).

Noch eine weitere wichtige Schlußfolgerung bot sich an. Wenn durch Stil kultivierte Kommunikation der zentrale Inhalt der Jugendfreizeitstätten ist, dann mußte die Einrichtung der Räume entsprechend geplant werden. Das Interesse an der pädagogischen Relevanz der Architektur war dabei nur allzu verständlich. Nach dem Kriege hatte man aus finanziellen Gründen äußerst primitiv bauen müssen; später hatte kommunaler Ehrgeiz oft zwar teuere, aber von den pädagogischen Bedürfnissen her unzweckmäßige Häuser entstehen lassen. Aufgrund der Untersuchung und des theoretischen Konzeptes von Müller und seinen Mitarbeitern war es nun möglich, die Funktionen genauer zu bestimmen, denen die Architektur im ganzen zu dienen hatte (S.22).

Der verhältnismäßig gut überschaubare Bereich einer Jugendfreizeitstätte eignet sich überhaupt vorzüglich dazu, die Gesamtheit der pädagogischen Bedingungsfaktoren zum Gegenstand pädagogischer Felduntersuchungen zu machen. So arbeiteten Christl Bals (1962), Willi Erl (1968) und Hans Rüdiger (1970) in ihren Untersuchungen eine Reihe weiterer didaktisch relevanter Zusammenhänge heraus. Die didaktische Relevanz der nicht unmittelbar personal bestimmten Faktoren (Organisationsform, Architektur usw.) als allgemeines pädagogisches Problem entdeckt zu haben, ist ein besonderes Verdienst der praktischen Ar-

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beit der Jugendfreizeitstätten und ihrer wissenschaftlichen Erforschung.

Den Intentionen Rössners und Müllers war gemeinsam, daß sie den Akzent von den von Erwachsenen bestimmten pädagogischen Inhalten auf die konkreten, vorfindbaren Bedürfnisse der Jugendlichen hin verlagerten. Kritisch kann dagegen angemerkt werden, daß sie diese Bedürfnisse noch nicht als gesellschaftlich produzierte problematisierten. Ihre Stoßrichtung zielte in erster Linie dahin, die Partei der Jugendlichen gegen die "falschen" Erwartungen ihrer Erzieher zu ergreifen. Verhältnismäßig unkritisch paktierten sie auf diese Weise für denjenigen mechanischen gesellschaftlichen Fortschritt, der die Versagungen und Unterdrückungen im Arbeits- und Schulsektor hinnahm und als Entlastung dafür den empirisch vorfindbaren Freizeitwünschen der Jugendlichen entgegenkam. Man kann auch sagen: Sie spielten die bessere gesellschaftliche Angepaßtheit der Jugendlichen gegen die schlechtere ihrer erwachsenen Partner aus.

Die eben skizzierten Konzeptionen gaben jedoch ohnehin nicht die allgemeine Realität der Heime wieder. Das zeigten die großangelegten empirischen Untersuchungen von Grauer (1973) und Lüdtke (1972), deren Ergebnisse zwar erst 1972 und 1973 veröffentlicht wurden, deren Material aber aus dem Jahre 1966 stammt. Folgende ihrer Ergebnisse sind in unserem Zusammenhang interessant:

1. Die schon in der AGJJ-Untersuchung von 1953 aufgewiesenen Mängel bestehen im wesentlichen auch 1966 noch: Immer noch ist z. B. die berufliche Situation und Qualifikation des Personals unbefriedigend; der Wirkungsradius der Heime ist gering, ihre Kapazität wird nur teilweise genutzt. Das Programm ist relativ undifferenziert, so daß es keinem Interesse bzw. Bedürfnis voll gerecht werden kann; die Heime haben wenig Kontakt zur Außenwelt.

2. Die bauliche Anlage ist meistens von der Erwartung geprägt, daß die Jugendlichen sich kleingruppenhaften Gemeinschaften und leistungsbetonten Arbeitsgemeinschaften zuwenden. Es herrscht "ein erhebliches Defizit an Geselligkeitskomfort: Statt der von sozialpädagogischen Experten geforderten reizvollen, wohnlichen und originellen Klubatmosphäre sind Sauberkeit, Schlichtheit, Stabilität und Nüchternheit die leitenden Gesichtspunkte der Ausgestaltung" (Grauer, S. 259), so daß die Heime eher "geselligkeits-, vergnügungs- und konsumfeindlich" wirken (S. 260). Dem widerspricht nicht, daß die neugebauten Heime

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im allgemeinen technisch perfekter und großzügiger ausgestattet sind (S. 263).

3. Die Angebotsstruktur besteht immer noch im wesentlichen aus zwei Dimensionen: Spielraum für unverbindliche Aktivitäten einerseits und Leistungs- und Bildungsangebote für strukturierte Gruppen andererseits. Schon wegen des Personalmangels können die Heime die Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen kaum verändern, die Jugendlichen tun in Heimen im wesentlichen das, was sie außerhalb des Heimes auch tun würden. Dies wirft die Frage nach dem pädagogischen Sinn der Heime auf:

"In der Mehrzahl der Heime und besonders in den für Unterhaltung und Geselligkeit vorgesehenen Räumen werden Verhaltensansprüche und Verbindlichkeiten zwar kaum noch sichtbar, sie gewähren der Informalität des jugendlichen Gruppenlebens, den spontanen Aktivitätswünschen, wechselnden Moden und Statussymbolen einen so weiten Raum, daß sich diese Heime von den Angeboten und Produkten der Unterhaltungsindustrie kaum noch unterscheiden - es sei denn durch die insgesamt geringere Attraktivität und Variabilität, die Anspruchslosigkeit und geringere Modernität der Ausstattung. Da in diesen Heimen aber die rationale Auseinandersetzung mit den Angeboten und die Anstöße zu reflektierten Erfahrungen ausbleiben, was durch die Zahl und Qualifikation des Personals zwangsläufig bedingt ist, stellt sich die Frage, was diese Einrichtungen überhaupt noch als Erziehungseinrichtungen auszeichnet. Zweifellos gehen auch von einem solchen Arrangement verhaltensprägende Wirkungen aus, diese verstärken jedoch eher - ganz entgegen den Intentionen "sinnvoller Freizeitgestaltung" - die Anpassung an die Produkte und Inhalte der Freizeitindustrie, freilich auf einer Ebene, die unterhalb der Standards der Erwachsenenwelt und der kommerziellen Angebote liegt".
 
 

Die Politisierung der jungen Generation Ende der sechziger Jahre durch die Studentenbewegung ergriff auch die Arbeit der Freizeitheime. Es kam an vielen Orten zu erheblichen Konflikten zwischen der Verwaltung der Heime und jugendlichen Besuchern über Fragen der Mitbestimmung an der Leitung wie über Aktivitäten in den Heimen selbst. Die inhaltlichen Konflikte ergaben sich vor allem daraus, daß politisch engagierte Gruppen sich mit den zur Verfügung gestellten kompensatorischen Möglichkeiten der Freizeitverbringung nicht mehr zufrieden gaben, die Freizeitheime vielmehr als eine Basis benutzten, um Demonstrationen sowie Aktionen in Schulen und Betrieben vorzubereiten und zu diskutieren, bzw. dazu, in diesen Heimen selbst die Konflikte auf die Spitze zu treiben, um deren jugendpolitische Rückständigkeit so zu "entlarven". Dabei zeigte

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sich, wie unflexibel die Verwaltungs- und Betriebsstruktur der Heime tatsächlich war. Vor allem bei kommunalen Heimen führten politisch mißliebige Äußerungen oder Aktionen schnell dazu, daß die jeweils regierenden politischen Parteien damit vom parteipolitischen Gegner identifiziert werden konnten. Andererseits gab es einen Widerspruch zwischen den persönlichen Verantwortungsstrukturen vom Heimleiter hin bis zur lokalen Administration einerseits, während andererseits die politischen Gruppen keine vergleichbare Verantwortlichkeit zu übernehmen hatten. Um hier zu einem für alle Beteiligten tragbaren Kompromiß zu kommen, formulierte auf dem 4. Deutschen Jugendhilfetag in Nürnberg 1970 eine dort eingesetzte Kommission folgenden Text:

"...

2. Einige Intentionen und Kriterien

Ziel aller pädagogischen Bemühungen muß die Emanzipation des jungen Menschen sein. Dies bedeutet, fähig zu werden, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen, die Gesellschaft durch Partizipation (Mitwirken, Mitdenken, Mitbestimmen, Mitverantworten) zu gestalten und zur aktiven Veränderung ihrer Struktur beizutragen.

Die verschiedenen Erziehungsinstitutionen (Kindergarten, Schule, Freizeitstätten usw.) sollten diesem Ziel auf unterschiedliche Weise dienen. Die meisten Erziehungsinstitutionen gehen bei der Durchführung ihrer Maßnahmen von einem Zustand noch nicht erreichter Emanzipation aus. Dagegen sollten Freizeitstätten Emanzipation dadurch provozieren, daß sie den jugendlichen Besucher als bereits emanzipiert annehmen und ihm erlauben, mit Freiheit im weitest möglichen Maße zu experimentieren. Auf diese Weise ermöglichen die Freizeitstätten, den Umgang mit der Freiheit der Freizeit zu erlernen.

Deshalb ist eine möglichst große 'Autonomie' für Freizeitstätten zu fordern. Eine 'Fernsteuerung' als Ausdruck für bedingende Faktoren bleibt zwar vorhanden. Jedoch muß einerseits die Grenze zwischen 'Autonomie' und 'Fernsteuerung' zunehmend weiter aus der Freizeitstätte herausverlagert werden, andererseits muß sich der Charakter der 'Fernsteuerung' verändern. Die Momente einer Fernsteuerung (z. B. Auffassung der Freizeiterzieher, Konzept des Trägers, Richtlinien des Staates, öffentliche Meinung der Gesellschaft) sollten insbesondere für Freizeitstätten diskutierbar und unter Umständen rasch veränderbar sein. Die Freizeitstätten müssen daher den Jugendlichen die Struktur der vorhandenen Fernsteuerungsmechanismen transparent machen, und sie sollen eine aktive Mitwirkung der Jugendlichen an den Veränderungen der Gesellschaft ermöglichen. Angesichts einer zunehmenden Selbstverwaltung der Jugendlichen in den Freizeitstätten erhalten die diesen Stätten assoziierten Personen und Institutionen in steigendem Maße einen Servicecharakter (z. B. Beratung).

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Daneben haben Freizeitstätten nach wie vor auch Hilfsfunktionen zu erfüllen, die nur indirekt mit der Emanzipation des jungen Menschen zusammenhängen. Deshalb erfüllen Freizeitstätten insgesamt

1. prophylaktische Funktionen,

2. soziale Hilfsfunktionen,

3. Bildungsfunktionen,

4. Freizeitfunktionen.

Diese vier Funktionen schließen sich weder gegenseitig aus, noch sind sie miteinander deckungsgleich. Sie markieren vielmehr verschiedene Bereiche sozialpädagogischer Möglichkeiten. Auf den 'Freizeitfunktionen', die sich aus dem Gedanken bereits erreichter Emanzipation ergeben, liegt für Freizeitstätten jedoch der Hauptakzent. Sie weisen den übrigen Funktionen die Richtung.

Es zeigen sich unterschiedliche Beziehungsverhältnisse zwischen Jugendlichen und Freizeitstätten. Ein Teil der Jugendlichen wird weiterhin durch Freizeitstätten, die einen traditionellen Charakter nach Art, Führung und Ausstattung tragen, befriedigt. Daneben aber haben sich Gruppen junger Menschen gebildet, die in Ausstattung und Führungsweise neu strukturierte Freizeitstätten verlangen. Diese Freizeitstätten müssen verschiedenen Faktoren Rechnung tragen, dem veränderten Anspruchsniveau, neuartigen Interessenausrichtungen und/oder einem Selbstverständnis der Jugendlichen, das die gesellschaftliche Integration in der bisher vorgegebenen Form ablehnt.

Die gesamte Variationsbreite praktischer Arbeit hat sich nach folgenden Kriterien auszurichten:

2.1 Orientierung an den Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten der Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen und pädagogischen Mitarbeiter.

2.2 Das jeweilige Interesse bestimmt die ihm zukommende Sozial- und Arbeitsform (einzelne, Klein- und Großgruppen).

2.3 Die Verwirklichung dieser Interessen bedingt mobile Möglichkeiten personeller und räumlicher Art sowie eine permanente Sinnüberprüfung der Inhalte.

2.4 Das Programm darf politisch und weltanschaulich nicht beeinträchtigt werden und erfährt prinzipiell keine thematische Einschränkung. Es erfordert aber in Aktion und Reflexion eine allmählich einsetzende Transparenz der gesellschaftlichen Zusammenhänge

2.5 Das Austragen von Konflikten gehört mit zu den Aufgaben der Freizeitstätten.
 
 

3. Struktureller Aspekt und Demokratisierung

Bisher war die Errichtung von Freizeitstätten gemäß der weitgehend verbreiteten Planlosigkeit in der Bundesrepublik häufig ein Produkt 'glücklicher' Umstände: Irgendwo gab es noch ein zu bebauendes Grundstück. Irgendwann besann sich eine Gruppe von Verantwortlichen, daß es auch Jugendliche gibt, und irgendwie wurde dann ein Haus konzipiert, das das Ansehen der Stadt oder des Verbandes mehren konnte. Nach der Grundsteinlegung schwand das öffentliche Interesse und wurde erst bei unerwünschten Aktionen und Verhaltensweisen Jugendlicher hellwach.

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Sanktionen bis hin zur Schließung von Häusern waren dann nicht selten (z. B. das Jugendzentrum Erlangen; das Jugendhaus Bonames/ Frankfurt; der Jugendclub Ca ira, Berlin; das Haus der Jugend, Ludwigshafen).

Freizeitstätten sind nur dort sinnvoll, wo sie in einem sozialen Gesamtgefüge stehen. Ihre Funktion bestimmt sich in Wechselbeziehung mit anderen Einrichtungen von Erziehung und Bildung, Erholung und Unterhaltung. Das heißt u. a.:

3.1 Freizeiteinrichtungen müssen sorgfältig als Teil einer umfassenden Sozialplanung geplant sein. In diese Planung müssen sowohl pädagogische Jugendfreizeitstätten als auch kommerzielle Freizeitunternehmen sowie weitere Maßnahmen und Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene einbezogen werden. Insgesamt ist als Ziel ein Netz von Freizeiteinrichtungen anzustreben.

3.2 Die der Planung zugrunde liegenden Daten müssen mit wissenschaftlicher Akribie ermittelt werden. Die wechselseitige Abhängigkeit von Sozialplanungen mit anderen Teilplanungen (Wirtschafts-, Verkehrs-, Gesundheitsplanungen) und Planungsfaktoren (wie Entwicklung, Schichtung, Altersstruktur der Bevölkerung) muß gesichert sein. Die Freizeitstätten stehen in einem Verbund von Teilplänen und erhalten von da ihren Rang.

3.3 Freizeitmaßnahmen müssen mehr gesellschaftsbezogen, bereits in ihrer Planungsphase transparent und demokratisch kontrolliert werden. Bei der städtebaulichen und architektonischen Planung von Freizeitstätten sind daher die potentiellen Besucher bereits angemessen zu beteiligen. Planungsgremien sollten in etwa zu gleichen Anteilen aus Vertretern der möglichen Besucher, der Träger, der Pädagogen, der Architekten und mit Fachleuten der befaßten Behörde besetzt werden. Die Sitzungen sollten öffentlich sein.

3.4 Der Aspekt der Mobilität ist für die Planung stärker als bisher zu berücksichtigen. Das bedeutet:

3.41 Eine Starrheit sowohl in der Führung als auch in der administrativen Zuordnung von Freizeitstätten widerspricht der Mobilität unserer Gesellschaft insgesamt. Insbesondere erschwert sie die Mobilität innerhalb der Freizeitstätte.

3.42 Zur Mobilität gehört auch die Variabilität von Räumen. Es sind ungestaltete Räume und Freiflächen zu belassen und so Gestaltbarkeit zu gewährleisten.

3.5 Die Häuser sind den Möglichkeiten und Erfordernissen ihrer Standorte entsprechend auszustatten. Im Zentrum werden Häuser mit 'Citycharakter' ohne größere Freiflächen, an Randgebieten werden Häuser mit 'Nachbarschaftscharakter' und größeren Freiflächen errichtet werden können.

3.6 Nach Interessenschwerpunkten sollten Freizeitstätten sowohl als Mehrzweckeinrichtungen als auch als Spezialeinrichtungen (für besondere Interessengebiete und/oder bestimmte Gruppierungen) geschaffen werden. Für kurzzeitige Bedürfnisse, z. B. für die Unterbringung einer Rocker-Bande, sollte in verstärktem Maße auch der Weg einer kurzfristigen Anmietung von Räumen beschritten werden. Der Mut zu Provisorien ist zu stärken. Funktionslos gewordene Freizeitstätten sollten geschlossen oder evtl. durch Spezialisierung einem neuen Zweck

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zugeführt werden. Ein statischer 'Gebäudeglaube' ist zu überwinden.

3.7 Die Funktion der Träger hat sich vorwiegend auf die Mittelbeschaffung und die wirtschaftliche Führung der Freizeitstätten zu beschränken. Die Verwendung der Mittel ist offenzulegen. Der Träger muß wertende Vorentscheidungen weitgehend zurückhalten. Nur bei konkreten Fragen hat der Träger seine Wertungen als mögliche Antworten den Jugendlichen anzubieten und in die Diskussion der Gremien einzubringen.

3.8 Es erhebt sich die Frage, ob es nicht nützlicher sei, ein System von Angeboten zu entwickeln, das sowohl den Aktivitäten der Jugendlichen als auch den Interessen des Gemeinwesens entspricht, statt nur für Jugendliche reservierte Bauten zu erstellen" (zit. nach "Mitteilungen der AGJJ", Dezember 1970, S. 31 ff.).
 
 

Anfang der siebziger Jahre entstand dann in deutlicher Distanz zu den traditionellen Freizeitstätten eine "Jugendzentrumsbewegung", die "selbstverwaltete Jugendzentren" vor allem auch in Kleinstädten und ländlichen Gebieten forderte. Gerade hier - die meisten Freizeitheime befinden sich in Großstädten - waren und sind die nicht kommerziellen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, vor allem Möglichkeiten zur Geselligkeit, relativ begrenzt. Aber die meisten Versuche dieser Art scheiterten nach kurzer Zeit. Die Initiativgruppen, die in der lokalen Öffentlichkeit die Bereitstellung von geeigneten Räumen forderten, hatten meist ihre Energie verbraucht, wenn sie ihre Forderungen erfüllt sahen und das Zentrum "betriebsbereit" war. Dann zeigte sich nämlich, daß das nun selbstbestimmbare Programm dieselbe Leere aufwies wie das übrige Freizeitleben auch.

An die Jugendzentrumsbewegung knüpften sich viele, nicht zuletzt auch politische Hoffnungen, und manche Jugendorganisationen wie die Jungsozialisten und der Bund deutscher Pfadfinder (BDP) hatten sie deshalb unterstützt. Man hoffte z. B., daß in diesen Zentren politisches Selbstbewußtsein und politische Kritik sich entfalten, Jugendliche ihre Bedürfnisse entdecken und kreativ gestalten könnten. Vertreter der "antikapitalistischen Jugendarbeit" sahen im Kampf um die Jugendzentren und in ihren Aktivitäten sogar eine Möglichkeit zur Herausbildung von "Klassenbewußtsein". Gerade wegen solcher Hoffnungen lohnen sich Überlegungen über die Gründe des Scheiterns.

1. In manchen Fällen haben radikale Gruppen versucht, den Kampf um Jugendzentren nur zum Anlaß zu nehmen für die Inszenierung von öffentlichen Konflikten, in denen das gesellschaftliche "System" "entlarvt" werden sollte. Dies geschah vor allem dadurch, daß unerreichbare Forderungen gestellt wurden.

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Das Ziel war hier gar nicht, ein Jugendzentrum unter halbwegs annehmbaren Bedingungen zu bekommen.

2. In den meisten Fällen jedoch zeigte sich, daß die Initiativen zur "Selbstbestimmung" von einer kleinen Minderheit ausgingen, daß die Mehrheit der Jugendlichen gar nicht bereit war und auch nicht das Bedürfnis hatte, in ihrer freien Zeit die praktische und alltägliche Mitverantwortung für die Gestaltung eines solchen Zentrums regelmäßig zu übernehmen. Zwischen dieser Mehrheit und den Initiativgruppen gab es nach einiger Zeit oft ähnliche "autoritäre" Beziehungen wie früher zwischen Heimleitung und Besuchern. Gerade im Falle der Jugendzentren hat sich gezeigt, wie sehr ein in den Medien und von Teilen der Erziehungswissenschaft verbreitetes "Jugendbild" der Realität widersprach. D. Grösch und K. Del Tedesco haben in einem Beitrag mit dem bezeichnenden Titel "Die Krise der Jugendzentren ist die Krise ihrer Theoretiker" (1976) sich mit solchen Erwartungen kritisch auseinandergesetzt - vor allem auch mit den Versuchen, jugendliche Verhaltensäußerungen und Aktivitäten "theoretisch" so zu "verlängern", daß damit politische Erwartungen der "Theoretiker" plausibel erscheinen können. Dies zeige sich z. B. an der für solche Positionen zentralen Frage, wie man "die Alltagsbedürfnisse der Arbeiterjugendlichen und Jungarbeiter so aufnehmen und organisieren" könne, daß sich "gesellschaftliches Bewußtsein" entwickle. Die Frage aber, wie man diese Bedürfnisse so aufnehmen und organisieren könne, daß sie optimal befriedigt werden, werde von diesen Theoretikern nicht gestellt (S. 361). Aus den in diesem Aufsatz kritisierten Beiträgen wird in der Tat deutlich, daß die Erwartungen, die an die Jugendlichen gerichtet werden, der politischen und professionellen Selbstdefinition der Autoren eher dienen können als der Lösung der Probleme der Jugendlichen: Die jugendlichen Bedürfnisse werden so bestimmt, daß für die eigene politische wie professionelle Identität dabei eine Aufgabe herausspringt. Das ist aber nur eine besondere Form jener pädagogischen "Ausbeutung" des Jugendlichen, der Erzieher jederzeit erliegen können. Derartige "pädagogische Tricks" haben Grösch und Del Tedesco auch im Detail einigen Autoren nachgewiesen.

3. Wenn von Jugendlichen in ihrer Freizeit eine regelmäßige Mitverantwortung und Tätigkeit für ein Jugendzentrum erwartet werden soll, dann muß das in irgendeiner Weise für sie lohnend sein; man muß z. B. dabei soziale Anerkennung gewinnen können, oder diese Tätigkeit muß wenigstens Spaß

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machen usw. Dafür bestehen gerade bei den Jugendzentren aber wenig Chancen. Öffentliche Aufmerksamkeit kann man allenfalls bei öffentlichen Konflikten erreichen, und das mag das Engagement in der jeweiligen "Kampfphase" erklären. Läuft der Betrieb jedoch "normal", dann gibt es keine öffentliche Aufmerksamkeit und keine von irgendwoher kommende Anerkennung mehr. Dann ist dies schlicht ein Stück alltäglicher sozialer Arbeit. Innerhalb des Zentrums sieht es dann meist so aus, daß die einen den Betrieb organisieren und verantworten, während die anderen sich sozusagen zum sozialen Nulltarif auf deren Kosten amüsieren. Dazu kommt die Erfahrung, daß die meist räumlich recht einfachen Jugendzentren wenig Variationsmöglichkeiten bieten und damit den üblichen, kommerziellen Freizeitmöglichkeiten eher unterlegen sind. Sieht man auf die tatsächlichen Bedürfnisse und Interessen und nicht auf deren ideologische Hypostasierung, so muß man sich zum Beispiel fragen, welchen Wert "Selbstbestimmung" eigentlich noch hat, wenn man einen großen Teil seiner Zeit dafür investieren muß, sich und anderen die rein äußeren Bedingungen der Möglichkeit dafür zu verschaffen.

4. Vielleicht sollte man die Jugendzentrumsbewegung als Teil der allgemeinen Umweltbewegung sehen, in deren Zusammenhang ja auch der "Freizeitwert" des Wohngebietes neu ins Bewußtsein drang. Dann könnte das Defizit an lokalen Freizeitmöglichkeiten als nicht mehr nur jugendspezifisches Problem angesehen werden. Die Entstehung der Jugendzentren wird immer wieder auch dadurch erklärt, daß eine Ursache der Protest der Jugendlichen gegen ihre "Freizeitmisere" sei. So meint etwa Diethelm Damm: "Die Breite der Jugendzentrumsbewegung ist einmal dadurch zu erklären, daß die Freizeitmisere außerordentlich viele Jugendliche betrifft, und daß in dem Kampf um bessere Freizeitbedingungen viele andere Bedürfnisse Jugendlicher eine gewisse Zeit mit eingehen können" (Damm 1975, S. 174). Jedoch vermißt man eine genauere Analyse, worin die "Freizeitmisere" denn eigentlich bestehen soll; denn sowohl vom Angebot her wie auch hinsichtlich der finanziellen Möglichkeiten waren die Freizeitbedingungen Jugendlicher noch nie so gut wie heute. Entweder muß man die Ursachen für die subjektiv empfundene Freizeitmisere bei den Jugendlichen selbst suchen, z. B. in der Unfähigkeit, mit den vorhandenen Möglichkeiten etwas anzufangen, oder in der Freizeitmisere drückt sich etwas ganz anderes aus, was nämlich von der

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Umweltbewegung ebenfalls als Problem gesehen wird: Nicht zuletzt unter dem Einfluß der Massenmedien wird die Freizeit vor allem familiär-privat verbracht. "Öffentliche" Freizeittätigkeiten, sei es im Rahmen einer politischen Kultur von Parteien und Verbänden, sei es im Rahmen kommunaler Vereine haben - nimmt man den Sport aus - deutlich abgenommen. Auch die Jugendverbände befinden sich, wie wir sahen, weithin in einer Mitgliederkrise. Nur auf dem Hintergrund dieser Verarmung an öffentlicher Geselligkeit und öffentlicher Freizeittätigkeit, also der Verarmung der kommunalen Kultur, kann man von einer "Freizeitmisere" im allgemeinen und der der Jugendlichen im besonderen reden; denn diese vermeiden gerade familiär-private Freizeittätigkeiten und sind in einem besonderen Maße auf öffentliche Möglichkeiten angewiesen. Ist dieser Zusammenhang richtig gesehen, dann ist aber auch die problemlösende Reichweite von Jugendzentren begrenzt, dann wäre zumindest in vielen Fällen ein übergreifendes Konzept kommunaler Freizeitpolitik, basierend auf differenzierten Leistungsangeboten einerseits und einer verantwortlichen Mitgestaltung durch die Bürger andererseits, naheliegender, als die Jugendlichen in Jugendzentren zu separieren und sie dort mit ihren diffusen Unlustgefühlen und mit ihren Problemen allein zu lassen. Sonst hätte Neidhardt wohl recht, der schon 1967 die Freizeitheime als eine Form der "sekundären Institutionalisierung" bezeichnete. Damit meinte er eine Form der sozialen Kontrolle, deren Aufgabe es ist, "Abweichungstendenzen auf einen als tolerierbar erachteten Umfang einzuschnüren und ihre möglicherweise systemgefährdende Dynamik zu brechen". In den Freizeitheimen nämlich würden subkulturelle Verhaltensweisen toleriert, auch wenn sie den Sitten und Normen der Erwachsenen widersprächen, und es werde "eine ganze Einrichtung dafür auf(geboten), Jugendlichen auch einen etwas außerhalb der Legalität der Erwachsenengesellschaft liegenden Verhaltensstil zu ermöglichen" (Neidhardt 1967, S. 85 f.).

5. In den Diskussionen über die Jugendzentren stellte sich die Frage nach der Bedeutung institutioneller Vorgaben für Lernprozesse besonders deutlich. Diejenigen politischen Gruppen, die - auch bei den Jugendzentren - möglichst jedes institutionelle Eingebundensein in die Gesamtgesellschaft aus Gründen der politischen Radikalisierung aufheben wollten, warfen in eben diesem Maße die Jugendlichen auf sich selbst und auf ihre Gefühlsstruktur zurück, auf einen Zustand also, der Indoktrinatio-

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nen und Manipulationen besondere Chancen gab, andererseits aber eben auch in die gesellschaftliche Isolierung trieb, den Bezug zur gesellschaftlichen Realität behinderte und im Extremfall sogar aufhob. Wo jede gesellschaftlich-institutionelle Realität, Regelung und Ordnung als von vornherein feindlich betrachtet werden, bleibt nur richtungsloser und grenzenloser Subjektivismus übrig - im Grunde ein Extremfall von "pädagogischer Provinz". "Selbstbestimmung" im Sinne gerade einer politisch-gesellschaftlichen Kategorie ist hier realitätsgerecht gar nicht mehr möglich, weil "Gesellschaft" ja ausgeblendet wird. Diejenigen Gruppen hingegen, die die institutionellen Bedingungen lediglich reformieren wollten, z. B. zugunsten von mehr Mitbestimmung der Jugendlichen, behielten zumindest im Prinzip die Chance, einerseits sich in solchen Auseinandersetzungen über die widerstrebende Realität aufzuklären, andererseits aber auch zu objektiv wie subjektiv realitätsgerechten Forderungen zu gelangen. Die Forderung z. B., daß die (dafür bezahlten) Personen in der Administration und im Heim gewisse Bedingungen für Selbstbestimmung und Autonomie arrangieren sollen, ist sehr viel eher eine politische, nämlich die gesellschaftlichen Realitäten im Auge behaltende Maßnahme, als alles selbst machen zu wollen und sich damit maßstablos zu übernehmen.
 
 

Jugendbildungsstätten

Die eben beschriebenen Jugendfreizeitstätten waren unabhängig von den Jugendverbänden vor allem für die nicht-organisierte Jugend auf lokaler Ebene entstanden. Sie waren ein Kind der englischen und amerikanischen Jugendoffiziere und bis dahin in der deutschen Jugendarbeit so gut wie unbekannt. Auch die in diesem Kapitel zu beschreibenden Jugendbildungsstätten verdanken ihre Gründung der Initiative oder zumindest der Unterstützung dieser ausländischen Experten. Im Unterschied jedoch zu den Freizeitstätten waren die ersten Jugendbildungsstätten - sie nannten sich zunächst "Jugendhöfe" oder "Jugendgruppenleiterschulen" - auf die Arbeit der Jugendverbände bezogen. Mit der Neuorganisation der Jugendarbeit nach dem Kriege ergaben sich zwei Notwendigkeiten: Einmal benötigte man ein überregionales Forum, auf dem man die Neuorganisation der Jugendarbeit nach dem Kriege öffentlich diskutieren konnte; dazu diente insbesondere der im Jahre 1946 gegründete Ju-

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gendhof Vlotho. Zweitens benötigte man Ausbildungsstätten für die durchweg ehrenamtlich tätigen Jugendgruppenleiter, und zwar um so mehr, als es nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes ja in erster Linie um die Einübung demokratischer Gesinnungen und Gewohnheiten ging, für die besondere Schulungs- und Kommunikationsstätten erforderlich waren. Derartige Einrichtungen waren der deutschen Jugendarbeit aus der Tradition nicht bekannt und wurden deshalb mit Hilfe der Besatzungsmächte geschaffen. Mit Ausnahme der französischen Zone, wo die Jugendarbeit nur zögernd und dann zentralistisch reorganisiert wurde, entstanden solche Jugendgruppenleiterschulen bis 1952 in allen westlichen Besatzungszonen. Außer dem schon genannten Jugendhof Vlotho handelte es sich um: Die "Jugendgruppenleiterschule Bündheim" (gegründet 1946), den "Jugendhof Barsbüttel" bei Hamburg (gegründet 1947), den "Jugendhof Steinbach" in der Eifel (gegründet 1947), die "Jugend- und Sportleiterschule Ruit" (gegründet 1947), das "Wannseeheim für Jugendarbeit" in Berlin (gegründet 1948), das "Haus am Rupenhorn" in Berlin (gegründet 1948) und den - schon ausschließlich auf deutsche Initiative zurückgehenden - "Jugendhof Steinkimmen" bei Bremen (gegründet 1952).

Die Aufgaben dieser Einrichtungen, deren Entwicklung Heinz Hermann Schepp (1963) ausführlich beschreibt, ergaben sich also zunächst aus den Re-Education-Bestrebungen der englischen und amerikanischen Besatzungsmächte, die "Multiplikatoren" für die Jugendarbeit ausbilden wollten. Deren Leitgedanken faßt Schepp folgendermaßen zusammen:

"1. Die Vorstellung, daß der 'gute' Staatsbürger identisch ist mit dem 'aktiven' Staatsbürger, der zur Übernahme politischer Verantwortung bereit und auch befähigt ist, weil ihm der 'BIick auf das Ganze' dazu Einsicht und Kraft gibt.

2. Die Ansicht, daß die Mitwirkung in Gruppen mit intensivem Gemeinschaftsleben (besonders musischen Vereinigungen) die beste Vorbereitung für die aktive Teilnahme am politischen Geschehen ist und

3. die Meinung, daß sich die 'mitbürgerlichen Verhaltensweisen' als solche direkt intendieren lassen (z s. durch 'Begegnung') und daß auf diese Weise entscheidende Willensimpulse für die politische Ordnung wachgerufen werden können" (S. 30).
 
 

Mit diesen Intentionen verbanden sich diejenigen der deutschen Partner, die entweder aus der Jugendbewegung kamen und von daher ihre eigenen Vorstellungen mitbrachten oder Angehörige der damaligen "mittleren Generation" waren, die nicht zur Jugendbewegung gehört hatten, aber nun ihre negativen Erfah-

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rungen mit dem Faschismus in eine neue Jugendarbeit investieren wollten. Im Unterschied zu den bisher beschriebenen beiden Maßnahmen spielten bei den Jugendhöfen einzelne Persönlichkeiten für das pädagogische Konzept ihrer Häuser eine überragende Rolle - so Klaus von Bismarck in Vlotho und Fritz Wüllenweber in Barsbüttel.

Die deutschen Partner ergänzten das Konzept der Besatzungsmächte vor allem durch die Vorstellung, die Jugendhöfe müßten sich als Plattform für das Gemeinsame der neuen Jugendarbeit anbieten, um die innenpolitische Zersplitterung der Zeit vor 1933 nicht zu wiederholen. Das Gemeinsame über das Trennende zu stellen, war damals ein emotional tief fundiertes Anliegen der Gründer, das sich in Worten wie "Begegnung" und "in Blickverbindung bleiben" ausdrückte. "Das merkwürdige Phänomen der gemeinsamen Ebene quer zu den Trennwänden der Organisationen" nannte es Klaus von Bismarck (Schepp 1963, S. 31).

Wie schon bei den Jugendfreizeitstätten, so kam es auch hier bald zum Konflikt mit den Jugendverbänden. Die Jugendhöfe der britischen Zone waren Einrichtungen der behördlichen Jugendpflege und daher voll - und verhältnismäßig großzügig - finanziert. Die Amerikaner dagegen hatten die Jugendhöfe ihres Bereiches freien Trägern, bürgerlichen Vereinigungen überlassen. Die Jugendverbände befürchteten nun durch die Jugendhöfe ein Übergewicht der staatlichen Jugendpflege; der alte, in der ganzen Geschichte der Fürsorge in Deutschland schwelende Streit über staatliche oder freie Jugendpflege drohte am Beispiel der Jugendhilfe wieder aufzubrechen. Die erste Vollversammlung des Deutschen Bundesjugendrings 1949 in Bacharach behandelte unter Punkt 5 das Thema: Freie und amtliche Jugendleiterschulen. Dort wurden den Jugendhöfen im wesentlichen drei Vorwürfe gemacht:

Das erste Argument war uns schon bei den Auseinandersetzungen um die Freizeitstätten begegnet: Es ging um die "weltanschauliche Neutralität" der pädagogischen Arbeit. Die rein technische Ausbildung der Jugendgruppenleiter, die Vermittlung des praktischen "Handwerkszeugs" könne durchaus weltanschaulich neutral geschehen, eine darüber hinausgehende Schulungs- und Bildungsarbeit jedoch nicht. "Es gibt ... keine Neutralität in der Persönlichkeitsbildung. Sie bedarf immer bestimmter ideologischer Grundlagen. Wo also amtliche Jugendhöfe bzw. Jugendgruppenleiterschulen auf der Grundlage der

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sogenannten Neutralität sich dieser ... Aufgabe unterziehen, wird ihre Existenz äußerst bedenklich ... . Neutralität ist unmöglich, wenn es um ernsthafte Bildungsarbeit geht" (Tagungsbericht, zit. nach Schepp 1963, S. 45).

Die Jugendhöfe, so lautete der zweite Vorwurf, bereiteten einer "staatlich gelenkten Jugendarbeit" den Boden. Sie machten es den Jugendlichen zu leicht, "ihre Wünsche außerhalb fordernder Gemeinschaften zu befriedigen". "Wenn die amtlichen Jugendhöfe Kursteilnehmer über den Lehrgang hinaus zu erfassen und als dauernde Arbeitsgemeinschaften zu organisieren versuchen, dann müssen wir uns gegen diese Tendenz wehren. Die Weiterentwicklung ist die 'Staatsjugend'" (Tagungsbericht, zit. nach Schepp 1963, S. 46).

Drittens wandte man ein, die Jugendhöfe würden vom Staat "einseitig subventioniert", nämlich besser als die Schulungsstätten der Verbände, die allenfalls Teilfinanzierungen erhielten.

Stichhaltig war eigentlich nur das dritte Argument. Das erste war schon deshalb töricht, weil zumindest das höhere Schulwesen schließlich auch in diesem Sinne "weltanschaulich neutral" war. Sinn konnte es nur unter der Voraussetzung haben, daß unter "Erziehung" nichts weiter verstanden wurde als der geglückte Zugriff einer weltanschaulichen Position auf ein individuelles Objekt unter Einhaltung einmal getroffener weltanschaulicher Marktabsprachen. Aber von der grundsätzlichen Richtigkeit dieser Argumente war man damals so allgemein überzeugt, daß die Jugendhöfe in ihrer Antwort nicht deren Unsinnigkeit bloßlegten, sondern lediglich auf ihre eigene notwendige vermittelnde Funktion hinwiesen. "Sie entgegnen dem Bundesjugendring, daß ihre wesentliche Aufgabe nicht in einer wie auch immer gearteten Persönlichkeitsbildung bestehe, sondern in einer fairen Information, im Auskunftgeben, im Herstellen von Querverbindungen zwischen den Organisationen und Verbänden" (Schepp 1963, S. 49).

Das zweite Argument schließlich traf für die süddeutschen Einrichtungen, die ja nicht staatlich waren, nicht zu und richtet sich selbst durch den Hinweis, daß Jugendlichen die Erfüllung ihrer Wünsche nur bei Hingabe an eine verbandliche, und das heißt an eine weltanschauliche Bindung gestattet werden dürfe, obwohl zugegeben werden muß, daß eine gewisse Sensibilität gegen eine Verstaatlichung der Jugendpflege nach den Erfahrungen mit der HJ durchaus angebracht war. Die "Antwort der Jugendhöfe", die Schepp ausführlich referiert,

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blieb jedoch ebenfalls in diesen Prämissen befangen und führte in den grundsätzlichen Argumenten nicht weiter. Im März 1950 trafen sich die Vertreter des Bundesjugendringes und der Jugendhöfe zur Schlichtung dieses Konfliktes in Bündheim und verfaßten die "Bündheimer Entschließungen", die von beiden Seiten keine neuen Argumente brachten, sondern den Charakter eines Stillhalteabkommens hatten.

Immerhin hatten sich die Jugendhöfe gegen den Monopolanspruch der Jugendverbände behaupten können. Aber nicht die Jugendgruppenleiterausbildung wurde - wie ursprünglich geplant - zur vorherrschenden Aufgabe; sie erlangte vielmehr nur örtliche Bedeutung, und die großen Jugendverbände übernahmen sie bald in eigene Regie. Aber es gelang den verbandlichen Ausbildungsstätten nie, eine eigenständige pädagogische Bedeutung zu erlangen. Keine von ihnen spielte eine Rolle bei den pädagogisch-theoretischen Diskussionen der folgenden Zeit. Dazu waren sie nicht leistungsfähig genug, vor allem verfügten sie nicht über ein pädagogisch-wissenschaftlich ausgebildetes Leitungsteam. Leistungsfähige, den Jugendhöfen vergleichbare Einrichtungen hätten wohl auch vom Bundesjugendring etabliert werden müssen, die einzelnen Verbände waren dazu finanziell und personell zu schwach.

Anders die Jugendhöfe. Sie verloren zwar mehr und mehr den Kontakt zu den Jugendverbänden, wandelten sich dafür aber zu selbständigen Jugendbildungsstätten mit eigenem Programm, die zum Teil aus einem überregionalen Einzugsbereich jugendliche Teilnehmer für Tagungen und Lehrgänge gewinnen konnten. Vor allem in der Zeit von 1955 bis 1965 erzielten sie große Erfolge, gerade weil sie den Wünschen der Jugendlichen ohne Androhung von Bindungen entgegenkamen und vor allem, weil sie den Jugendlichen eine gewisse Mobilität offerierten: Was Helmut Kentler später beim aufblühenden Jugendtourismus die Motivation des "Auszugs aus dem Alltag" nannte (Kentler u. a. 1970), spielte hier schon vorher eine Rolle; allein schon die Gelegenheit, einmal für kurze Zeit den heimischen Sozialisationsinstanzen zu entrinnen, war vielfach eine zureichende Motivation für den Besuch.

Zu den Jugendhöfen, die lange Zeit keine spezialisierten Programme anboten, sondern sich für eine breite Nachfrage offenhielten, gesellten sich im Laufe der fünfziger Jahre weitere Einrichtungen. Teils waren ihre Lehrprogramme spezialisiert wie bei Institutionen zur politischen Bildung oder zu "Ost-

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West-Fragen", teils richteten freie Träger eigene Tagungsstätten ein; zu nennen wären hier besonders die evangelischen Akademien in Bad Boll und Loccum, die - an sich für die Arbeit mit Erwachsenen gegründet - spezielle Jugendtagungen veranstalteten.

Im Jahre 1956 gründeten die Jugendhöfe und einige andere Bildungsinstitutionen zur gemeinsamen Interessenvertretung den "Arbeitskreis Jugendbildungsstätten e. V.", der sich 1962 zum "Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten. Unabhängige Institutionen für politische Bildung und Jugendarbeit" erweiterte und nun auch Institutionen aufnahm, die sich gleichzeitig oder ausschließlich mit Erwachsenenbildung beschäftigten.

Die Jugendhöfe hatten so, wenn auch zögernd, eine Entwicklung von der negativ-behütend orientierten Jugendpflege zur eigenständigen Jugendbildungsarbeit vorangetrieben, was sie zwangsläufig in eine enge Nachbarschaft zu den entsprechenden Institutionen der Erwachsenenbildung brachte. War in der alten Jugendpflege Freizeit das, wovor man Jugendliche in erster Linie zu bewahren hatte, so galt sie nun als eine Bedingung der Möglichkeit für neue, didaktisch zu organisierende Lernprozesse. Nicht durch verbindliche Lehrpläne behindert, konnten diese Einrichtungen sich solchen Aufgaben zuwenden, die im etablierten Schulwesen zu kurz kamen; dazu gehörten bis weit in die sechziger Jahre hinein vor allem Themen der politischen Bildung.

Die didaktisch-methodische Reflexion dieser eigenständigen Jugendbildungsarbeit im Freizeitbereich kam jedoch nur zögernd voran. Für eine systematische Bildungsarbeit gab es bisher nur ein Modell: die Schule. Und viele Häuser kopierten das schulische Modell, indem sie Tagungen veranstalteten, in denen Referate und Diskussionen zwar systematisch, aber doch auch langweilig miteinander abwechselten.

Aber zumindest bei einigen Jugendbildungsstätten setzte eine Entwicklung ein, wie wir sie schon bei den Freizeitstätten gesehen hatten: von den "Sachen" und den fremdbestimmten Ansprüchen Erwachsener hin auf die Teilnehmer und ihre Probleme und Bedürfnisse. Die "Sachen", so entdeckte man, mußten so strukturiert werden, daß sie mit den Problemen und Bedürfnissen der jugendlichen Teilnehmer sich verbinden konnten.

Den ersten Beitrag zu einer auf diesem Grundsatz aufbauenden Tagungsdidaktik lieferte Helmut Kentler in seinem Bericht "Jugendarbeit in der Industriewelt" (1962). Er entdeckte, daß für

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die Jungarbeiter und Lehrlinge, mit denen er zu tun hatte, all das nicht problematisch war, was die Erwachsenen dafür hielten: z.B. Politik und Beruf. Unsicher waren sie vielmehr in ihrem Freizeitverhalten - im weitesten Sinne - also gerade in denjenigen Verhaltens- und Kommunikationsbereichen, die, anders als der Betrieb, nicht klare Rollen vorschrieben oder, wie die Politik, ganz einfach zu weit abseits von ihrem realen Dasein lagen. Kentler zog daraus schon damals die Folgerung, daß die Jugendbildungsarbeit den Teilnehmern erlauben müsse, sich selbst zu thematisieren, ohne daß dies den Charakter von Bekenntnissen bekäme. Methodisch trug er dieser Einsicht Rechnung durch Verzicht auf systematische Referate und Diskussionen; statt dessen benutzte er Bert Brechts Theorie der "Verfremdung": Er stellte Dinge und Aussagen, die unreflektiert selbstverständlich waren, in einen neuen Zusammenhang, der sie fremd erscheinen ließ. Reflexionsprozesse, so fand Kentler weiter, konnten jedoch nur dann von derartigen Arrangements ausgehen, wenn die Art und Weise der Gruppenbeziehungen sowie die Beziehungen zwischen Gruppe und Lehrgangs-Team dies zuließ. Ebenso wie Müller und Rössner in den Freizeitstätten, so entdeckte Kentler in der Tagungssituation die fundamentale Bedeutung eines auf Gleichberechtigung beruhenden partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Erwachsenen und Jugendlichen.

Ähnliche Erfahrungen gewann der Verfasser dieses Buches wenig später bei seiner Tätigkeit im Jugendhof Steinkimmen, und zwar nicht zufällig vor allem ebenfalls beim Umgang mit berufstätigen Jugendlichen (Giesecke 1966). Er entwickelte daraus ein didaktisches Konzept, dessen wichtigste Gesichtspunkte folgendermaßen lauten:

1. Die Tatsache, daß die Tagungssituation durch räumliche und psychologische Distanz vom Alltag charakterisiert ist (also eine Art "pädagogischer Provinz" darstellt), ist positiv zu sehen; sie ermöglicht "experimentelles Verhalten" zu Meinungen, Sachverhalten und Personen, das unter den Kontrollbedingungen des Alltags wegen der damit verbundenen Sanktionen nicht ohne weiteres möglich ist. Tagung ist eine "experimentelle Gesellungsform" (S. 119).

2. Die Lehrinhalte sind den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage unterworfen: Die Bildungsstätte kann - mit einem gewissen Spielraum - nur solche Themen anbieten, die außerhalb ihrer Mauern, also in der Realität des politischen und ge-

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sellschaftlichen Alltags, Bedeutung haben, mit deren Kenntnis man sich also an Kommunikationen in Schule, Betrieb und Familie beteiligen kann. Von den Tagungsthemen her wird also der Charakter der "pädagogischen Provinz" in gewisser Weise wieder revidiert.

3. Vor der objektiven, z. B. von der politischen Lage her bestimmten Wahl der Themen hat Vorrang die in der "experimentellen Gesellungsform" enthaltene Möglichkeit zu neuen Selbsterfahrungen; daran gemessen sind die Stoffe lediglich zweitrangig.

4. Die dabei möglichen politisch-pädagogischen "Grunderfahrungen" lassen sich - ganz im Sinne der These Kentlers von der "Selbstthematisierung" - in ihrem Zusammenhang als die subjektive Seite des modernen Demokratisierungsprozesses interpretieren. Solche Grunderfahrungen sind: "die Erfahrung der rationalen Leistungsfähigkeit", "die Erfahrung vom Reichtum der Freizeitangebote", "die Erfahrung von der Vielschichtigkeit der menschlichen Bedürfnisse", "die Erfahrung vom Luxuscharakter des Lernens", "die Erfahrung vom kooperativen Charakter der politischen Erkenntnis", "die Erfahrung verminderter Repression", "die Erfahrung vom funktionalen Charakter der Herrschaft", "die Erfahrung der Subjektivität" (S. 120 ff.).

Ein weiterer Beitrag zu einer Theorie der Arbeit in den Jugendbildungsstätten stammt von Mitarbeitern des Jugendhofes Dörnberg (Lüers u. a. 1971). In einer Reihe politisch-didaktischer Experimente wurde versucht, den Ansatz der "Selbstthematisierung" und der "Selbsterfahrung" unter Verwendung psychologischer Testmethoden mit Intentionen des politischen Protests zu verbinden.

Wie in der Freizeitstättenarbeit, so hatte sich also auch hier - wenigstens in der Theorie - der Akzent konsequent auf die Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen verlagert. Dabei ging es den Autoren von Kentler bis Giesecke in erster Linie darum, die jugendlichen Teilnehmer zu einer effektiveren Wahrnehmung der ihnen zugänglichen gesellschaftlichen Chancen zu ermuntern und ihnen dafür ein besseres Selbstbewußtsein nahezulegen. Die Grenze dieses Verfahrens lag in erster Linie darin, daß die damit implizierten gesellschaftlichen Veränderungen solange nur utopisch antizipiert werden konnten, wie die politisch-gesellschaftliche Entwicklung sie real nicht aufkommen ließ. Praktische Konsequenzen dergestalt, daß die Teilnehmer

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die in den Bildungsstätten gewonnenen Einsichten nach ihrer Rückkehr in den Alltag in reale Änderungen der Verhältnisse umsetzen konnten, mußten ausgeklammert bleiben. Das änderte sich erst in dem Augenblick, wo mit dem Aufkommen der außerparlamentarischen Opposition solche Veränderungen ernsthaft diskutiert und in Angriff genommen werden konnten. Nun kam es auch in den Jugendbildungsstätten zu politischen Konflikten. Insbesondere die Arbeit mit Lehrlingen wurde auf Druck der Betriebe, die ihre Lehrlinge ja dafür beurlauben mußten, fast überall eingestellt: so in den evangelischen Akademien Loccum und Bad Boll und im Jugendhof Steinkimmen. Im Streit um die Arbeit des Jugendhofes Dörnberg bei Kassel wurde sogar ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß bemüht (vgl. Lüers 1970; Vorstand des Hessischen Jugendrings 1969).

Neben diesen hier erwähnten Bildungsstätten gab und gibt es jedoch auch eine Reihe anderer Tagungsstätten mit anderen Konzeptionen und Programmen. Zu erwähnen wären etwa die Kurzschulen, die weniger von einem Bildungsangebot ausgehen als vielmehr von einer am Ernstfall (z. B. Seenotdienst) orientierten erzieherischen Gemeinschaftserfahrung (vgl. Hahn o. J.; Schwarz 1967). Ferner gibt es inzwischen eine Reihe von verbandlichen Bildungs- und Schulungsstätten, die im Rahmen der eigenen Verbandsarbeit Kurse und Lehrgänge teils nur für Jugendliche teils auch für Erwachsene anbieten.

Die im Zuge der Studentenbewegung einsetzende Politisierung ergriff auch diese Einrichtungen mehr oder weniger. Allerdings waren es hier weniger die Teilnehmer, die den Protest aufgriffen - zumindest in den nicht-verbandsgebundenen Häusern wie den Jugendhöfen gab es dafür auch zu wenig "autoritäre" Betriebsstrukturen - als vielmehr die pädagogischen Mitarbeiter, die nun mit neuen, teilweise aggressiven didaktischen Konzepten die Teilnehmer verunsicherten und im Rahmen der allgemeinen politischen Polarisierung auch öffentliche Konflikte hervorriefen (vgl. Lüers 1971).

Solche Konflikte trafen die Bildungsstätten an ihrer empfindlichsten Stelle: der Finanzierung ihres Etats. Als wirtschaftliche Unternehmen können sie nicht kostendeckend arbeiten, sondern sind auf staatliche Subventionen mittelbar oder - über den zugehörigen Verband - unmittelbar angewiesen. Jeder Konflikt kann also die Existenz gefährden und die Arbeitsplätze bedrohen. Eine weitere Abhängigkeit besteht darin, daß die jugendlichen Teilnehmer außerhalb der Ferien von den Betrieben bzw.

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Schulen beurlaubt werden müssen. Diese Genehmigung kann leicht verweigert werden.

Seit etwa Mitte der siebziger Jahre ist eine Konsolidierung zu beobachten. Die Bildungsstätten bemühen sich, die Entwicklungen und Diskussionen seit Ende der sechziger Jahre didaktisch umzusetzen.

Vergleicht man die von etwa 1971 bis etwa 1976 entwickelten Vorstellungen mit den oben skizzierten Konzepten von Kentler bis Lüers, so lassen sich charakteristische Tendenzen feststellen:

1. Wie auch bei den Jugendverbänden, so setzten bei den Bildungsstätten Diskussionen über ihr "Selbstverständnis" ein. Dabei wurde meistens versucht, die praktische Arbeit durch Deduktionen aus relativ abstrakten gesamtgesellschaftlichen Theorien bzw. Theoremen zu bestimmen und zu rechtfertigen. Neomarxistische Aspekte, vor allem politikökonomische, spielten dabei eine wichtige Rolle. Das bedeutet nicht, daß in den Bildungsstätten nur Marxisten tätig (gewesen) seien. Vielmehr haben jene Theoreme und Theorien offensichtlich als "Selbstverständlichkeit" eine generationsprägende Kraft gehabt.

2. In der praktischen Arbeit der Bildungsstätten setzten die neuen Vorstellungen zwei Akzente: Zunächst wurde versucht, den Jugendlichen das "richtige" politische Bewußtsein, so wie man es selbst verstand, beizubringen. Als dies an den Fähigkeiten wie an den Interessen der Teilnehmer scheiterte, wurde der "erfahrungsbezogene" Ansatz favorisiert, der bei den "Erfahrungen" der Jugendlichen, also auch bei ihren Gefühlen, ansetzt und versucht, auf diese Weise Einsicht in die gesellschaftliche Realität zu vermitteln. Aber auch hier blieben die Lehrenden diejenigen, die diese Erfahrungen letztenendes "richtig" zu interpretieren hatten - etwa im Hinblick auf den Klassencharakter der Gesellschaft und die Grundwidersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Belardi (1975) hat beide Strömungen treffend charakterisiert, um seinen modifizierten Ansatz einer "erfahrungsbezogenen Jugendbildungsarbeit" dagegen abzusetzen. Man versteht diesen auch gegenwärtig noch favorisierten erfahrungsbezogenen Ansatz nicht, wenn man ihn nicht als methodische Variation innerhalb jener gesamtgesellschaftlichen antikapitalistischen Prämissen sieht. Bei den vorher genannten Konzepten von Kentler bis Lüers wurden die politischen Vorstellungen und Meinungen der Pädagogen zwar in die Kommunikation mit den Teilnehmern eingebracht, nicht aber zu einem geplanten "Lernziel" gemacht, "kritisches" Arbeiten hieß

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hier gerade, die Inhalte und Ergebnisse offen zu halten für die andere Erfahrung des anderen. In den "antikapitalistischen" Konzepten der siebziger Jahre jedoch, auf die im nächsten Kapitel noch genauer eingegangen wird, ließ sich neben der Tendenz zu einer abstrakten Theoretisierung auch eine solche zur Dogmatisierung feststellen.

3. Damit zusammen hing eine Tendenz zur politischen Aktivierung und Mobilisierung der Teilnehmer. Natürlich erwarteten auch früher die Bildungsstätten, daß das, was sie taten, irgendwie von praktischer Bedeutung für das Verhalten der Teilnehmer in ihrem Alltag sein werde; aber das wurde im einzelnen nicht antizipiert, darüber konnten und wollten die Pädagogen nicht vorweg verfügen. Wenn die eigentliche Intention jedoch ist, die Gesellschaft in Richtung einer bestimmten politischen Grundposition zu verändern und die pädagogische Arbeit in den Dienst einer solchen Intention zu stellen, dann hat das einmal zur Folge, daß man didaktisch-methodisch die Gegenstände und Formen der Kommunikation danach sortiert. Außerdem muß man sich der Wirkung vergewissern, die die pädagogische Arbeit für die Jugendlichen in ihrem Alltag hat - vor allem für ihr "politisches" Verhalten - wobei der Erfolg oder Mißerfolg wieder zurückwirkt auf die didaktische Konzeption. So entsteht leicht ein didaktischer Kreislauf, der sich nach relativ äußeren und zudem schwer zu objektivierenden Maximen einspielt.

4. Für eine verbandliche Bildungsstätte, z. B. eine gewerkschaftliche, ist dies ein innerverbandliches Problem, insofern ein solcher Verband nach seinen eigenen Regeln entscheiden muß, welche Inhalte und Methoden er für sich wünscht. Für eine nicht an einen solchen Verband gebundene Bildungsstätte jedoch, die ihre Legitimation ja gerade der Offenheit gegenüber unterschiedlichen politischen Interessengruppen und Meinungen verdankt, kann eine solche Dogmatisierung zur Existenzkrise werden. Damit ist eine weitere Tendenz angesprochen, die man als antiinstitutionellen Affekt bezeichnen könnte. Mitarbeiter, die zur Dogmatisierung ihrer eigenen didaktischen Konzeption neigen, tun sich verständlicherweise schwer, vorhandene institutionelle Vorgaben und Regeln zu akzeptieren bzw. realistisch mit ihnen umzugehen. Das gilt innerbetrieblich - z. B. wenn es um die persönliche Verantwortung der eigenen Arbeit geht - wie auch im Hinblick auf die Frage, wie die Institution nach außen, also z. B. gegenüber denjenigen, die sie bezahlen, zu legitimieren

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bzw. überhaupt nur als nützlich und notwendig auszuweisen ist. Die Folge ist, daß vielfach die Bildungsstätten nur noch das tun und anbieten, was die gerade zufällig dort tätigen Mitarbeiter für richtig und wichtig halten, andere Aufgaben, wie Mittelpunkt der Jugendarbeit einer gewissen Region zu sein, dafür Dienstleistungen anzubieten und vor allem auch neue didaktisch-methodische Impulse zu entwickeln, gerieten dagegen in Rückstand.

5. Diese Tendenzen werden verstärkt durch die weitere der pädagogischen Professionalisierung. Diese ist nicht zuletzt auf die prekäre Arbeitsmarktlage zurückzuführen. Wer einen Arbeitsplatz hat, muß ihn zu behalten trachten. Es ist nicht mehr möglich, die Tätigkeit als zeitlich begrenzt zu betrachten, als ein fachliches wie persönliches Experimentierstadium, um dann längerfristig in einem fester institutionalisierten Bereich tätig zu werden. Die Folge dieser erzwungenen Immobilität ist, daß die pädagogischen Mitarbeiter in den Bildungsstätten hinsichtlich ihrer didaktisch-methodischen Angebote sich ökonomisch verhalten und andererseits auf die Einhaltung ihrer Arbeitszeit bedacht sein müssen. Zeitaufwendige didaktisch-methodische Experimente sind nun in erster Linie eine Belastung, weniger ein Anreiz für die Mitarbeit. Nötig wird nun auch ein professionelles Selbstbewußtsein wie bei anderen Lehrberufen auch; dieses wird vor allem im Hinblick auf die jugendlichen Partner definiert, und zwar so, daß irgendwo die Überlegenheit deutlich werden muß oder zumindest das, was den Pädagogen in dieser Beziehung unentbehrlich macht. Unter diesem Aspekt werden die schon beschriebenen Tendenzen der abstrakten Theoretisierung wie der Dogmatisierung teilweise plausibel, nämlich als Teilstücke professionellen Selbstbewußtseins; schließlich sind in diesem Sinne dogmatische Lehrer an den Schulen aus guten Gründen eher die Regel als die Ausnahme.

Ähnliches gilt für die nicht-hauptamtlichen Mitarbeiter, die Teamer, in der Regel Studenten. Oft befinden sie sich in einem pädagogischen Ausbildungsgang, empfinden insofern relativ hohe "professionelle" Ansprüche an sich, die sie meist noch nicht einlösen können, und sie können sich nur schwer als das einbringen, was sie gerade sind. Belardi hat die daraus resultierende Unsicherheit anschaulich an zwei verschiedenen Reaktionsweisen beschrieben:
 
 

"Der Teamer als bedürfiger Jugendlicher: Diese Pädagogen identifizieren sich so stark mit den Jugendlichen und ihren Problemen, daß

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sie sich selber wie Jugendliche verhalten. Die Teilnehmer des Lehrgangs geraten dabei oft in die Rolle von Projektionsobjekten der Schwierigkeiten und Bedürfnisse der Teamer. Diese Studenten stehen nicht zu ihrer Rolle und der damit verknüpften Verantwortung, sie bestehen nicht auf Grenzen (zum Beispiel Arbeitszeiten, Nachtruhe) die zu Beginn des Lehrgangs von allen Beteiligten akzeptiert wurden; statt dessen sind sie darauf bedacht, die Sympathie der Jugendlichen zu bekommen ... . Inhaltlich neigt dieser Typus meist zu subjektivistischen Angeboten, wenn er überhaupt in der Lage ist, ein Angebot zu machen und die Reaktion darauf zu erproben. Für die Zuneigung der Jugendlichen sind sie deshalb meist bereit, fast alles zu tun ... .

Der Teamer als Dozent objektivistischer Theorien: ... Auch er hat Angst vor der pädagogischen Situation mit Jugendlichen. Auch er sucht nach einem Thema, um die Unstrukturiertheit der Lage zu überwinden. Aufgrund seiner Erfahrungen und Charakterstruktur projiziert er jedoch nicht eigene Problematik auf die Jugendlichen, indem er seine Defekte zu denen der Schüler macht, sondern er erhofft sich eine Lösung des Problems, sowohl des Lehrgangs als auch darüber hinaus des der Jugendlichen und unausgesprochen auch seines eigenen, durch entsprechende Darbietung objektiver Tatsachen.

Daß es den Jugendlichen so schlecht geht, liegt vor allem daran, daß man ihnen die Wahrheit - sei es der Arbeiterklasse oder des Kapitalismus überhaupt - bisher vorenthalten hat. Zwar anerkennen diese Pädagogen auch die Bedeutung persönlicher Problematik. Doch diese zu lösen, halten sie im Kapitalismus für unmöglich. Deshalb gilt es, erst den Kapitalismus abzuschaffen, wonach sich subjektive Schwierigkeiten meist von selber lösen ... . Nachdem dieser Teamer tagsüber so mit Jugendlichen 'politisch gearbeitet' hat, wird er abends menschlich: er erzählt Stories aus der politischen Tagesarbeit und beschwört die unaufhaltsamen Erfolge" (S. 158 ff.).
 
 

Was Belardi hier beschreibt, gilt sicher im gewissen Grade auch für hauptamtliche Mitarbeiter, zumal in den ersten Berufsjahren. Nur ist dabei zu bedenken, daß der Versuch, professionelles Selbstbewußtsein über die Defekte der Partner zu gewinnen, ein Grundproblem jeder pädagogischen Beziehung ist.

Die Tendenz zur Professionalisierung in den Bildungsstätten droht zu einer Verschulung der Bildungsarbeit und damit zu einem Verlust an Offenheit und Spontaneität zu führen, was durch die Administration zunehmend gefördert wird, insofern sie versucht, die Arbeitsmaßstäbe für Lehrer auch in diesem Bereich verbindlich zu machen.

Wie schon betont wurde, galten die eben beschriebenen Tendenzen der politischen Pädagogisierung für die erste Hälfte der siebziger Jahre, die Implikationen der Professionalisierung wirken allerdings weiter fort. Inzwischen ist eine Konsolidierung und die Suche nach einer neuen Funktionsbestimmung der Bildungsstätten zu beobachten; denn die erwähnten Tendenzen haben in

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eine Sackgasse geführt, insofern die Bildungsstätten wie die Jugendverbände und die Freizeitstätten sich in einer Krise ihres Selbstverständnisses befinden (vgl. Giesecke 1977).
 
 

Zeitbedingte Maßnahmen

Ich habe in diesem Kapitel versucht, die drei wichtigsten Veranstaltungsformen der Jugendarbeit - Jugendverbände, Jugendfreizeitstätten und Bildungsstätten - in ihrer Entwicklung seit 1945 darzustellen. Diese Darstellung muß an wichtigen Punkten unvollständig bleiben. So konnten die Jugendverbände nur in ihrer Gesamtheit betrachtet werden und im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten. Die jeweiligen Eigentümlichkeiten des einzelnen Verbandes kommen dabei entschieden zu kurz. Diese Beschränkung war einerseits aus Raumgründen geboten, andererseits liegen aber auch noch zu wenig Vorarbeiten für eine Gesamtdarstellung vor. Wie interessant ein gründlicheres Eingehen auf einzelne Verbände wäre, läßt sich am Beispiel der konfessionellen Verbände zeigen; denn hier geht es nicht nur um die Probleme der Jugendverbandsarbeit im allgemeinen, sondern auch um das Selbstverständnis der jeweiligen Kirche, um theologische Entwicklungen und Kontroversen. Man müßte also prüfen, welches theologische Verständnis sich jeweils wie in der Jugendarbeit niederschlägt und ob und wie umgekehrt die Jugendarbeit auf das kirchliche Leben und auf theologische Positionen einwirkt.

Wir haben bisher die Jugendarbeit aus der Perspektive ihrer wichtigsten Institutionen dargestellt. Man könnte auch von einem anderen Gesichtspunkt ausgehen, nämlich von den Inhalten der Arbeit, also von dem, was tatsächlich getan wird: Geselligkeit, auf Fahrt gehen, politische Bildung, kulturelle Bildung usw. Wegen der unterschiedlichen Träger und ihrer Intentionen und weil Lehrpläne und Richtlinien fehlen, wäre dies jedoch allenfalls durch aufwendige empirische Untersuchungen möglich. Abgesehen davon ist aber gerade für die deutsche Jugendarbeit der Primat der Organisationsform charakteristisch, diese ist vorgegeben - es gibt z. B. Jugendverbände - und man erwartet, daß sie flexibel genug ist, die anfallenden Aufgaben aufzugreifen. Das aber ist selbst bei gutem Willen nur bis zu einem gewissen Grade möglich. Deshalb gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die als Antwort auf bestimmte, zeitbedingte

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Probleme - oder was man dafür hielt - entstanden sind und für die sich teilweise spezielle Träger für zuständig erklären; einige solcher Maßnahmen sollen im folgenden kurz skizziert werden.

(1) Jugendsozialarbeit: Von ihr war schon in der Einleitung zu diesem Kapitel die Rede. Nach dem Kriege gab es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und einen Mangel an Lehrstellen. Zudem hatten viele elternlose jugendliche Flüchtlinge kein Heim. Die vorhandenen Arbeitsplätze und Lehrstellen befanden sich oft nicht dort, wo die Jugendlichen zu Hause waren. Wohnheime mußten also in der Nähe der Arbeitsplätze errichtet werden. Dafür wurden zunächst meist Altbauten übernommen, später wurden auch ganze Siedlungen als "Jugenddörfer" neu gebaut. Diese Hilfe konnte nicht allein materiell verstanden werden, nötig war auch eine pädagogische Betreuung, z. B. Formen der allgemeinen Jugendarbeit. Die Notwendigkeit einer spezifischen Jugendarbeit in diesen Heimen bzw. Häusern verringerte sich jedoch in dem Maße, wie das allgemeine Freizeitangebot bzw. die übrige Jugendarbeit sich verbesserten. In dem Augenblick entstand auch hier das Problem, daß die pädagogische Arbeit in eine Konkurrenzsituation zum Freizeitangebot geriet und die Bedürfnisse der Jugendlichen nicht mehr traf. So heißt es im Jugendbericht der Bundesregierung von 1965, der 1204 Wohnheime dieser Art registrierte, die Heimbewohner hätten zwar ein "ausgeprägtes Interesse an beruflicher Bildung, Ausbildung und Fortbildung", aber: "trotzdem muß das richtige Verständnis für Wesen und Wert der Bildungsarbeit oft erst noch erschlossen werden, weil manche junge Menschen sich wohl fachlich ausbilden wollen, aber weniger zu Anstrengungen bereit sind, die materiell nicht lohnend erscheinen, während andere gerade an der Erweiterung ihrer Allgemeinbildung interessiert sind, dieses Interesse aber allein als private Angelegenheit betrachten und es streng von beruflichen und betrieblichen Belangen getrennt halten wollen" (S. 127).

(2) Internationale Begegnung: Nach dem Kriege war in der jungen Generation das Bedürfnis groß, mit den Jugendlichen anderer Völker, vor allem auch der Siegermächte, in Kontakt zu kommen. Die Versöhnung über die Grenzen hinweg lag zudem auch im Interesse einer neuen, auf Frieden und Demokratie aufgebauten Politik. Die Jugendverbände wandten sich die

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ser Aufgabe von Anfang an zu, und sie wurden unterstützt durch eine in der jungen Generation weitverbreitete Sehnsucht nach einem geeinten Europa, in dem die Grenzen überflüssig werden sollten. Es entstanden aber auch außerhalb der Jugendverbände spezielle Organisationen, von denen insbesondere die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD) zu nennen sind. Sie führten international besetzte Lager durch, die halbtags an gemeinnützigen Projekten arbeiteten (z. B. Bau von Einrichtungen für die Jugend, Kinderspielplätze usw.) um auf diese Weise eine gemeinnützige Leistung zu erbringen, währen die übrige Zeit gemeinsamen Gesprächen und Gesellungen diente.

Ein besonderes Kennzeichen dieser internationalen Begegnungen war das für die übrige Jugendarbeit unbekannt hohe Maß an Mitbestimmung und darüber hinaus überhaupt die ausgesprochen freie Atmosphäre. Die Hoffnung jedoch, auf diese Weise zu einem wirksamen Abbau der Vorurteile zwischen den Völkern zu kommen, konnte sich nur in vergleichsweise seltenen Fällen erfüllen, wie sich aus einer genaueren Vorurteilsforschung ergab (Claessens/Danckwortt 1957). Das liegt nicht am mangelnden Willen und an der mangelnden Bereitschaft, sondern an den Entstehungszusammenhängen von Vorurteilen selbst und an ihrer psychischen Funktion.

Der ursprünglich unbestreitbare Sinn dieser internationalen Begegnung wurde durch zwei Entwicklungen zunehmend in Frage gestellt. Gemeinnützige Arbeitsleistungen der beschriebenen Art durch in der Regel unausgebildete Kräfte hatten eine ökonomische Unterentwicklung der Gesamtgesellschaft zur Voraussetzung, d. h., sie waren nur solange wirtschaftlich sinnvoll, wie der öffentlichen Hand das Geld fehlte, derartige Arbeiten marktgerecht in Auftrag zu geben. Die Arbeitslager arbeiteten für die relativ niedrigen Kosten der Unterhaltung des Lagers selbst. Mit der Zeit wurde es immer schwieriger, solche Arbeiten in größeren Zusammenhängen einzuplanen und zu verwalten. Zudem handelte es sich ja vorwiegend um unqualifizierte Arbeit, die teilweise rentabler durch den Einsatz von Maschinen erledigt werden konnte.

Zweitens wurden Maßnahmen der internationalen Jugendarbeit in Frage gestellt durch die rapide Entwicklung des immer billiger gewordenen internationalen Tourismus. Wer heute als junger Mensch Begegnungen mit Ausländern wünscht, kann diese - von den Ostblockländern abgesehen - in jedem beliebigen Ferienland haben, auf Wunsch auch im Rahmen eines speziali-

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sierten Programms. Für den Jugendtourismus haben sich spezielle kommerzielle Unternehmungen gebildet, die den Auslandstourismus bereits so billig gestalten können, daß selbst subventionierte Jugendarbeit damit kaum noch konkurrieren kann. Sieht man einmal von den immer noch zu geringen Angeboten auf dem Gebiet der Kinder- und Familienerholung ab, die zweifellos von der öffentlichen Hand gefördert werden müssen, aber nach unserer Definition nicht in den Bereich der Jugendarbeit fallen, so haben Programme der internationalen Jugendbegegnung auf die Dauer nur dort noch eine Chance, wo die materiellen Voraussetzungen den pädagogischen Intentionen entsprechen, d. h., wo es sich um Programme handelt, die für wünschenswert gehalten werden, im Rahmen des kommerziellen Tourismus jedoch zu teuer würden. Das gilt etwa für Fachkonferenzen, beruflichen Austausch, Ferienuniversitäten und ähnliches. Eine solche Einschränkung gilt auch für das aus außenpolitischen Beweggründen 1963 gegründete und mit einem jährlichen Etat von 40 Millionen DM ausgestattete "Deutsch-Französische Jugendwerk".

In den letzten Jahren hat die Idee der internationalen Jugendarbeit dadurch neue Impulse erhalten, daß Kontakte zu den Staaten des Ostblocks gesucht werden, was lange Zeit aus politischen Gründen als nicht möglich galt.

(3) Freiwillige soziale Dienste: Diese Maßnahme bietet jungen Menschen die Gelegenheit, nach Schulabschluß in sozialen Tätigkeitsbereichen (z. B. Krankenpflege; Betreuung hilfsbedürftiger Kinder usw.) tätig zu werden. Es gibt kurzfristige Maßnahmen an Wochenenden oder in den Ferien und den Einsatz für ein ganzes Jahr ("freiwilliges soziales Jahr"). Als diese Maßnahme 1964 eingerichtet wurde, spielten mehrere Motive eine Rolle: der Wunsch, in den notorisch personell unterbesetzten Sozialbereichen durch freiwillige Helfer Entlastung zu schaffen, die Annahme, soziales Engagement sei erzieherisch wertvoll, die Hoffnung, manche Jugendliche würden Interesse an Sozialberufen gewinnen und sie wählen. Für manche waren die Dienste ein Angebot, die Zeit vom Schulabschluß bis zum möglichen Eintritt in eine entsprechende Fachausbildung sinnvoll zu überbrücken. Das wichtigste pädagogische Motiv war die Annahme, daß die sozialen Erfahrungen, die Begegnung mit Leid und Tod und sozialer Not, sozialerzieherische Bedeutung gewinnen könnte. Deshalb finden - vom Bundesjugendplan gefördert - be-

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gleitende Kurse bzw. Seminare statt, in denen diese Erfahrungen aufgearbeitet werden können.

Manche der ursprünglichen Hoffnungen haben sich als nicht haltbar erwiesen, so hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt eher zu einem Überangebot an Arbeitskräften geführt; zudem erwiesen sich die Helfer für die Institution auch als eine Belastung gerade wegen der primär pädagogischen Intention. Diese ist selbst nicht unproblematisch, wenn man sich vorstellt, daß anderer Menschen Leid der eigenen sozialen Bildung dienen soll, und sie muß deshalb mit viel Takt realisiert werden.

In den "Perspektiven zum Bundesjugendplan" des Bundesministeriums für Familie, Jugend und Gesundheit (1978) hat diese Maßnahme einen neuen Akzent erhalten: als menschliche Kompensation für die bürokratisch-perfekte Einseitigkeit der sozialen Institutionen:

"In dem Maße, wie das System der sozialen Hilfen und der sozialen Versorgungseinrichtungen eine immer umfassendere Bewältigung individueller Notlagen zu verwirklichen sucht, erhalten seine Einrichtungen den Charakter von Dienstleistungsbetrieben mit spezialisierten Berufsbildern. Neben allen positiven Wirkungen hat diese Entwicklung häufig die Nebenwirkung, die unmittelbare Erfahrung von Not, Krankheit, Leiden und Tod zu verringern. Daß aber Menschen in besonderen Notlagen des Dialogs und der persönlichen Zuwendung bedürfen und daß diese Zuwendung auch für den, der sie leistet, einen bedeutenden Zuwachs an menschlicher und sozialer Erfahrung bedeuten kann, wird zu wenig beachtet" (S. 42).
 
 

Im Jahre 1976 haben 4 500 junge Menschen ein "freiwilliges soziales Jahr" verbracht, über 100 000 beteiligten sich an den kurzfristigen Maßnahmen - allerdings ganz überwiegend Mädchen.

(4) Mädchenbildung: Diese Maßnahme ist ein Beispiel dafür, daß falsche Interpretation eines Problems zu erfolglosen Konzepten führen kann. Hier ging es um ein spezifisches Bildungs- und Betreuungsangebot für Mädchen, die aus beruflichen Gründen nicht in der Familie wohnen konnten. Spezifisch an diesen Angeboten war vor allem, daß sie an das traditionelle Rollenmuster anknüpften, also vor allem den häuslich-familiären Bereich zum Inhalt hatten. Dieses Konzept wurde durch die weitere gesellschaftliche Entwicklung bald gegenstandslos.

(5) Arbeit mit Problemgruppen: Die übliche Jugendarbeit erreicht in der Regel nicht sogenannte Problemgruppen, zum Bei-

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spiel Kinder und Jugendliche aus Randgruppen, Behinderte, ausländische Kinder. Seit etwa Mitte der siebziger Jahre werden dafür spezielle Maßnahmen angeboten und gefördert.

(6) Jugendberatung: Im Zeichen der Jugendarbeitslosigkeit einerseits, des kulturellen Wandels und der Normenunsicherheit andererseits sowie schließlich einer zunehmenden allgemeinen Lebensunsicherheit werden Beratungsmöglichkeiten immer notwendiger. Erziehungsberatung gibt es schon seit langem, aber Beratungsstellen, an die sich Jugendliche unmittelbar wenden können, sind noch selten. Neben speziellen Beratungsstellen - z. B. für Drogenabhängige - wird eine allgemeine Anlaufstelle für jugendliche Ratsuchende benötigt, die auf spezielle Beratungsmöglichkeiten gegebenenfalls verweisen kann. Eine solche Beratung muß nicht unbedingt institutionalisiert sein, sie kann z.B. auch nebenbei durch die Mitarbeiter einer Freizeitstätte oder eines Jugendzentrums erfolgen, wie ja überhaupt "Beratung" ständig in den jugendlichen Gruppen auch ohne formelle Berater erfolgt. Manches spricht jedoch dafür, Jugendberatung auch formell anzubieten, also durch Personen, die nicht auch noch andere Beziehungen zu den Ratsuchenden haben. Ein Problem ist allerdings, daß Sozialpädagogen im Unterschied zu Ärzten die Ratsuchenden nicht durch Schweigepflicht schützen können. Ein weiteres Problem ist, daß es leicht zu Konflikten mit denen kommen kann, die die Ursachen für den benötigten Rat sind, z. B. die Eltern.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/juga1.htm

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