Hermann Giesecke

Die Jugendarbeit

München: Juventa-Verlag, 5. völlig neubearb. Aufl. 1980

Kapitel 2:

Jugendarbeit im gesellschaftlichen System

© Hermann Giesecke
Inhaltsverzeichnis
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Zu dieser Edition:

Dieses Buch behandelt die Jugendarbeit von 1945 bis 1980 in Westdeutschland bzw. der westlichen Bundesrepublik und schließt an das Buch Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend an, das die Entstehung und Entwicklung der Jugendarbeit von 1900 bis 1945 beschreibt.
Weggelassen wurden das Vorwort des Herausgebers, das Vorwort des Verfassers zur neuen Ausgabe und die weiterführenden Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1980.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis Kap. 2

2. Kapitel: Jugendarbeit im gesellschaftlichen System

Die politisch-gesellschaftliche Organisationsstruktur der Jugendarbeit
Das politische Selbstverständnis der Jugendarbeit

Die politisch-gesellschaftliche Organisationsstruktur der Jugendarbeit

Im Vergleich zur Schule, die durch eine verhältnismäßig klare Hierarchie vom Kultusminister bis zum Klassenlehrer bestimmt ist, muß dem Nicht-Eingeweihten die Organisationsstruktur der Jugendarbeit gänzlich undurchsichtig erscheinen. In der Tat ist sie ungleich komplizierter als die Schulorganisation, was im wesentlichen durch die historische Entwicklung zu erklären ist. Ursprünglich war Jugendarbeit - wie alle Sozialleistungen - eine Aufgabe der gesellschaftlichen Verbände, insbesondere der Kirchen. Der Staat beteiligte sich erst später daran, vor allem deshalb, weil ohne seine finanzielle Unterstützung die immer umfangreicher gewordenen Aufgaben nicht mehr zu bewältigen waren. Im Unterschied zu anderen Sozialleistungen hat der Staat im Falle der Jugendarbeit sich bis heute im wesentlichen auf die subventionierend-unterstützende Funktion beschränkt (Ausnahmen: nationalsozialistische Jugendpolitik und DDR). Je größer jedoch der finanzielle Einfluß des Staates durch seine Subventionen wurde, um so mehr mußten sich die gesellschaftlichen Träger den Intentionen der in den Verwendungsrichtlinien genannten Zwecke unterwerfen. Seit der Staat im Bereich der Fürsorge und damit auch der Jugendarbeit aktiv wurde, leben die freien Träger in der Befürchtung, ihre Zuständigkeit könnte reduziert oder ganz beseitigt werden.

Schon die ersten Jugendpflegeerlasse vor dem Ersten Weltkrieg stießen auf den Widerstand der Kirchen, die ihren historisch erwachsenen Monopolanspruch auf die Jugendarbeit behalten wollten. Seither sind andere weltanschaulich bestimmte Träger dazugekommen. Ihr Verhältnis zum Staat ist bereits im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 durch das Prinzip der Subsidiarität bestimmt worden: Der Bereich der Fürsorge und Jugendarbeit bleibt in erster Linie den staatlich lizenzierten weltanschaulichen Gruppen überlassen, der Staat hat in erster Linie subsidiäre Funktion, also die Aufgabe, diese Gruppen und Verbände bei ihrer Aufgabe - vor allem materiell - zu unterstützen. Dieser Grundsatz wurde auch im Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) von 1953 und in der Novellierung von 1961 ge-

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setzlich verankert. Trotz heftiger Kritik von Seiten einiger verbandsunabhängiger Fachleute und sogar einer Minderheit der Verbände selbst (vgl. Eyferth 1963) konnten die freien Verbände in der Novellierung des JWG von 1961 erneut durchsetzen (Paragraph 5), daß die Gemeinden (in Gestalt des Jugendamtes) nur dann selbst initiativ werden dürfen, wenn die freien Träger die vom Gesetz vorgesehenen Aufgaben nicht oder nicht in ausreichendem Maße erfüllen können.

Dies ist der entscheidende Grund dafür, daß das Gebiet der Jugendarbeit verhältnismäßig undurchsichtig ist. Hinzu kommt, daß sich die Aufgaben der Jugendarbeit in zunehmendem Maße differenziert haben, wodurch immer neue Träger für spezialisierte Bereiche entstanden: z. B. für die Errichtung von Lehrlingswohnheimen, für Jugendreisen, für politische Bildung, für Film und Fernsehen, für kulturelle Aktivitäten usw. Ein unter dem Titel "Verbände und Institutionen der Jugendarbeit" 1980 erschienener Überblick führt rund 250 Verbände und Institutionen auf, die sich mit der Jugendarbeit befassen.

Zur Verwirrung trägt schließlich auch der Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern bei. Die Jugendpflege, so wie sie sich heute selbst versteht, nämlich als außerschulische Bildungs- und Erziehungsmaßnahme, gehört eigentlich in die Kulturhoheit der Länder, die Fürsorge (einschließlich Jugendfürsorge) jedoch in die Kompetenz des Bundes. Gegen die Neufassung des JWG von 1961, die den freien Trägern erneut den Vorrang gegeben hatte, erhob deshalb das Land Hessen Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel, die Bestimmung über Jugendpflege grundsätzlich aus dem JWG herauszunehmen und die Regelung den Ländern zu überlassen. Das Bundesverfassungsgericht wies am 18. Juli 1967 diese Klage ab mit folgender Begründung:

"Der Begriff der 'öffentlichen Fürsorge' in Artikel 74 Nr. 7 GG umfaßt auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrt nicht nur die Jugendfürsorge im engeren Sinne, sondern auch die Jugendpflege. Die Grenzen zwischen der Fürsorge für den unmittelbar gefährdeten Jugendlichen und der Förderung der gesunden Jugend sind fließend. Jugendpflegerische Maßnahmen, wie die Förderung der Jugendverbände bei der Abhaltung von Freizeiten, Veranstaltungen zur politischen Bildung, internationale Begegnungen, die Förderung der Ausbildung und Fortbildung ihrer Mitarbeiter und die Errichtung und Unterhaltung von Jugendheimen, Freizeitstätten und Ausbildungsstätten scheinen zwar keine Maßnahme der Fürsorge für einen Hilfsbedürftigen oder Gefährdeten zu sein. Vergegenwärtigt man sich aber die mannigfachen Anpassungsschwierigkeiten, die manche Jugendliche bei der Einord-

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nung in die Gesellschaft haben, ohne daß man sie deshalb bereits als gefährdet bezeichnen kann, so erkennt man, daß unter Umständen eine Zusammenführung mit anderen jungen Menschen im lokalen Bereich eines Hauses der Jugend oder auf regionaler oder internationaler Ebene in einem Jugendlager oder auf Jugendreisen diese Anpassungsschwierigkeiten überwinden hilft, dadurch eine spätere Gefährdung des Jugendlichen ausschließt und künftige Fürsorgemaßnahmen überflüssig macht. Dasselbe gilt für Veranstaltungen zur politischen Bildung, die der Jugend im besonderen klarmachen sollen, daß der einzelne sich in der Demokratie nicht von der Gesellschaft absondern kann, sondern sie und ihre politische Form aktiv mitgestalten muß. Jugendfürsorge und Jugendpflege sind in der praktischen Jugendarbeit so eng miteinander verzahnt, daß die Jugendpflege schon allein unter dem Gesichtspunkte des Sachzusammenhangs mit unter den Begriff 'öffentliche Fürsorge' in Artikel 74 Nr. 7 GG fallen muß".
 
 

An diesem Urteil werden zwei Probleme wieder deutlich, die die Jugendarbeit von Anfang an bestimmt haben:

1. Das Bundesverfassungsgericht entschied sich für die "Einheit der Jugendhilfe", also für die Einheit von Jugendfürsorge und Jugendpflege. Einige Träger der Jugendarbeit, vor allem die Jugendverbände, wehren sich jedoch gegen die Ressortierung der Jugendpflege im Jugendamt. Weniger ist dabei das Gefühl der sozialen Diskriminierung durch die Nachbarschaft zur Fürsorge maßgebend als vielmehr der praktische Gesichtspunkt, daß in die Freiheitsrechte eingreifende Maßnahmen der Jugendfürsorge anders verwaltet werden müßten als die auf Freiwilligkeit basierenden Maßnahmen der Jugendarbeit; letztere aber seien bei der gegenwärtigen Konstruktion zu sehr sachfremden Verwaltungsmaximen unterworfen.

2. Diese "Einheit der Jugendpflege" kann das Gericht jedoch nur begründen unter Rekurs auf den ursprünglich auch die Jugendarbeit einschließenden Grundansatz der öffentlichen Fürsorge: Jugendarbeit wird verstanden als "vorbeugende Fürsorge". Auf diese Weise aber bleibt der schon bei der Entstehung der öffentlichen Jugendarbeit unverkennbare Zug einer "negativen Pädagogik" weiter bestehen.

Das Bundesverfassungsgericht entschied auch gegen eine weitere Klage, die von einigen Kommunen, z. B. Dortmund, zugunsten einer Reduzierung des Subsidiaritätsprinzips angestrengt worden war. Durch die Abweisung dieser Klage blieb daher das Verhältnis von Staat und freien Trägern bestehen, wie es im JWG von 1961 fixiert ist. Das Gesetz bestimmt in Paragraph 5, Absatz 4:

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"Träger der freien Jugendhilfe sind

1) Vereinigungen der Jugendwohlfahrt

2) Jugendverbände und sonstige Jugendgemeinschaften

3) Juristische Personen, deren Zweck es ist, die Jugendwohlfahrt zu fördern

4) die Kirchen und sonstigen Religionsgesellschaften öffentlichen Rechts".

Der Paragraph 9 nennt zusätzlich die Bedingungen, unter denen solche freien Träger "unterstützt werden" dürfen.

Diese Träger unterscheiden sich im JWG nicht nach Jugendpflege und Jugendfürsorge, gelten vielmehr für beide Bereiche der Jugendhilfe, obwohl das JWG die Aufgaben der Jugendfürsorge und Jugendpflege in den Paragraphen 4 und 5 zu unterscheiden trachtet. Speziell für die Jugendarbeit gibt es jedoch praktisch nur Träger entsprechend Paragraph 5, Absatz 1, Nr. 2 und 3.

Alle Aufgaben der Jugendhilfe im Sinne des JWG werden zentral zusammengefaßt im Jugendamt, das "jede kreisfreie Stadt und jeder Landkreis errichtet" (Paragraph 12, 2). Nach Paragraph 5 ist dessen Aufgabe, die für die Wohlfahrt der Jugendlichen erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu fördern und gegebenenfalls zu schaffen - letzteres unter Berücksichtigung des Vorrangs der freien Träger.

Die jeweils höheren Instanzen sind das "Landesjugendamt" und die "oberste Landesjugendbehörde" (vgl. Zilien 1970, S. 44 ff.; Harrer 1967, S. 17 ff.).

Für die Praxis der Jugendarbeit sind im allgemeinen jedoch vor allem die lokalen Jugendämter von Bedeutung. Die Tätigkeit dieser Behörde mögen folgende Beispiele illustrieren:

Erstes Beispiel: Eine Gruppe von Jugendlichen, die keinem der offiziellen Jugendverbände angehört und angehören will, möchte für die regelmäßige Freizeitgestaltung, z. B. zum Musizieren, einen Raum mieten, kann aber die Miete dafür nicht allein aufbringen. Das Jugendamt kann nun mit finanzieller Unterstützung und möglicherweise mit der Vermittlung von Experten helfen. In diesem Falle hätte es eine Initiative junger Menschen "gefördert", obwohl sie nicht von einem Träger der freien Jugendhilfe ausging.

Zweites Beispiel: Ein Jugendverband, also ein Träger der freien Jugendhilfe, möchte in einer Stadt eine Jugendfreizeitstätte einrichten, verfügt aber ebenfalls nicht über die notwendigen Mittel. Das Jugendamt kann sich nun an den Kosten beteiligen, und es kann dabei zur Auflage machen, daß das Haus wenigstens

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teilweise auch von Jugendlichen benutzt werden darf, die nicht Mitglieder des Verbandes sind. In diesem Falle hätte das Jugendamt die Initiative eines freien Trägers unterstützt.

Drittes Beispiel: In einem ärmeren Stadtviertel fehlen Freizeiteinrichtungen für Jugendliche. Da keiner der am Ort ansässigen Träger der freien Jugendhilfe an diesem Mangel Interesse zeigt, kann das Jugendamt selbst tätig werden und dort eine Freizeitstätte bauen und einrichten. Dies wäre ein Fall, bei dem das Jugendamt Eigeninitiative entwickeln darf.

Diese Beispiele sind jedoch zum Zwecke der Veranschaulichung idealtypisch konstruiert. Selten werden sie in der Praxis so eindeutig zu bestimmen sein, denn das vor allem auch ökonomische Interesse der Träger wird in den meisten Fällen bei solchen Entscheidungen zu konflikthaften Auseinandersetzungen führen.

Dies zeigt, daß für die reale Struktur der Organisation der Jugendarbeit der im JWG vorfindbare Behördenaufbau - sieht man von den lokalen Jugendämtern selbst ab - verhältnismäßig uninteressant ist (im Unterschied zu den Maßnahmen der Jugendfürsorge, für die der Behördenaufbau von großer Bedeutung ist). Vielmehr ist die Entwicklung der Realität den diesbezüglichen Vorstellungen des JWG so weit davongeeilt, daß wir uns die Organisationsstruktur von einem anderen Ansatz her klarmachen müssen.

Sehen wir von den verhältnismäßig wenigen Maßnahmen ab, die unmittelbar den Jugendämtern oder Landesjugendämtern unterstehen, so sind die Träger der Jugendarbeit entweder überregionale, möglichst auf Bundesebene bestehende Organisationen (wie die im Bundesjugendring zusammengeschlossenen großen Jugendverbände) oder aber lokal begrenzte juristische Personen (eingetragene Vereine), die sich jedoch meist ebenfalls in mehr oder weniger fester Form zu einem Bundesverband zusammengeschlossen haben (z.B. "Arbeitskreis Deutscher Bildungsstätten"). Die vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe noch einmal bestätigte "Einheit der Jugendhilfe" ist organisatorisch nur noch im Jugendamt verwirklicht, und auch dort wohl nur deshalb noch, weil das JWG es so vorschreibt. In der Realität der Verbände jedoch finden wir ausschließlich eine Spezialisierung auf alle oder einige Aufgaben der Jugendarbeit vor. Selbst die großen gesellschaftlichen Verbände wie der Kirchen, die Aufgaben der Jugendpflege und der Jugendfürsorge wahrnehmen, tun dies in jeweils selbständigen Organisationen, im Falle der Jugendarbeit vor allem in Form von Jugendorganisationen.

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Eine solche Organisation - sagen wir: ein bestimmter Jugendverband -ist ein Wirtschaftsunternehmen, das auf den Ausgleich seines Haushaltes bedacht sein muß. In keinem Falle können die nötigen Einnahmen heute mehr aus eigenen Mitteln, z. B. aus den Beiträgen der Mitglieder oder aus Einnahmen aus den Veranstaltungen aufgebracht werden. Die weit überwiegenden Kosten muß vielmehr die öffentliche Hand (Bund, Länder, Gemeinden) übernehmen. Ein derartiger Verband ist also bestrebt, möglichst solche Aktivitäten zu entwickeln, für die Bund und Länder Mittel bereitstellen. Umgekehrt versucht er, auf die Förderungsrichtlinien Einfluß zu nehmen, damit die von ihm gewünschten Aktivitäten auch finanziert und somit realisiert werden. Die Organisationsstruktur ist also in erster Linie abhängig davon, wer die geldgebenden Partner sind, und nicht primär davon, wie sie am nützlichsten für die Erledigung der inhaltlichen pädagogischen Aufgaben wäre. Die Verbände der Jugendarbeit sind aus diesem Grunde überwiegend von oben nach unten organisiert; für die optimale Erledigung der eigentlichen Aufgaben "an der Basis" wäre es jedoch vermutlich zweckmäßiger, sie von unten nach oben zu organisieren. In diesem System hat die im JWG vorgesehene Verwaltungsstruktur vom Jugendamt bis zur obersten Landesbehörde nur noch eine untergeordnete Bedeutung. Die für die Arbeit der Verbände erforderlichen Mittel werden durch Subventionsfonds vom Bund (Bundesjugendplan) bzw. von den Ländern (Landesjugendpläne) zur Verfügung gestellt, und die Organisationsstrukturen sind stark von dem Zweck bestimmt, an diesen Mitteln optimal zu partizipieren.

Nun stehen sich die staatliche Exekutive einerseits und die hierarchisch bzw. föderalistisch organisierten Verbände andererseits nicht einfach als Gebende und Nehmende gegenüber, die Vermittlung wird vielmehr hergestellt durch eine Reihe von Gremien, in denen die Partner aus Verwaltung, Parlamentsausschuß und aus den Reihen der freien Träger um eine möglichst konfliktfreie Verteilung der Mittel und um Beilegung inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten bemüht sind. Formal haben diese Gremien den Charakter von Beratungsgremien der zuständigen Regierungen, deren politische Entscheidungskompetenz unangetastet bleibt (z. B. Bundesjugendkuratorium als Beratungsgremium für die Bundesregierung). Tatsächlich jedoch macht die zuständige politische Instanz ihre Entscheidungen weitgehend abhängig von den Vorstellungen dieser Gremien.

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Das bisher entworfene Bild einer Organisationsstruktur, in der auf oberster Ebene scheinbar für alle Beteiligten zufriedenstellend zwischen Staat und Trägern kooperiert wird, wäre falsch, wenn der Eindruck entstünde, als würde auch die pädagogische Arbeit selbst von oben nach unten organisiert. Ein solcher Versuch würde schon an dem Widerstand der beteiligten Jugendlichen scheitern, die die Veranstaltungen der Jugendarbeit ja freiwillig besuchen und ihre Mitarbeit jederzeit entziehen können. Zwar hat es vor allem in den fünfziger Jahren keineswegs an Versuchen gefehlt, den Verbandsmitgliedern die Ziele des Großverbandes von oben nach unten etwa dadurch nahezubringen, daß die Spitze "Jahresthemen" oder "Jahreslosungen" ausgab, die von den einzelnen Gruppen bearbeitet werden sollten, aber die Gruppen leisteten dagegen zunehmend passiven Widerstand, weil ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse dabei zu kurz kamen. Die politisch-ideologischen Unterschiede etwa zwischen den Jugendverbänden verringerten sich schließlich Anfang der sechziger Jahre so sehr, daß zumindest die pädagogischen Tätigkeiten der Gruppen sich kaum noch von Verband zu Verband unterschieden.

Damit ist - neben der auf "Wirtschaftlichkeit" ausgerichteten Unternehmensstruktur - eine weitere Besonderheit der Organisationen im pädagogischen Feld der Jugendarbeit genannt: ihr "Markt-Charakter". Die Jugendarbeit ist dasjenige pädagogische Feld, in dem die Jugendlichen die größte Chance haben, ihre Interessen und Bedürfnisse durchzusetzen. Zwar haben sie in der Regel wenig Einfluß auf die Aktivität der Verbandsspitze, sie können jedoch, was die konkrete pädagogische Arbeit betrifft, "mit den Füßen abstimmen", d. h. teilnehmen oder wegbleiben. Da aber die Verbandsspitze ihre hauptsächliche Legitimierung nur von der Zahl derjenigen "Kunden" her nehmen kann, die sie auch tatsächlich erreicht, und da außerdem viele staatliche Zuschüsse nur "pro Tag und Teilnehmer" gewährt werden, wird es leicht zu einer Existenzfrage für den Verband, ob er genügend Jugendliche für seine Angebote interessiert.

Faßt man die bisher beschriebenen eigentümlichen Kennzeichen der Organisationen im Felde der Jugendarbeit zusammen, so kann man sagen: Die freien Träger der Jugendarbeit sind Organisationen, die die im JWG genannten allgemeinen, in den Förderungsplänen des Bundes und der Länder konkretisierten Aufgaben der Jugendarbeit weitgehend monopolistisch wahr-

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nehmen, dafür zur Kostendeckung erhebliche öffentliche Subventionen erhalten, gleichwohl aber das wirtschaftliche Risiko tragen und deshalb auf die Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen marktgerecht, d. h. mit dem Zwang zur Werbung möglichst vieler "Kunden" reagieren müssen.

Das Verhältnis von Staat und Trägern im Rahmen dieser Organisationsstruktur enthält eine Reihe von Problemen:

a) Die Vermittlung der Willensbildung zwischen Exekutive und Trägern z. B. in den Beratergremien oder auf informellem Wege geschieht nicht öffentlich. Folglich ist eine informierte öffentliche Diskussion der Entscheidungen kaum möglich.

b) Die Entscheidungen selbst sind vorwiegend daran orientiert, gravierende Konflikte zu vermeiden, und die Partner spielen sich dabei auf eine konservative "mittlere Linie" ein, die verhältnismäßig immobil ist gegenüber pädagogischen Experimenten, besonders dann, wenn diese vom mittleren Durchschnitt bürgerlicher Normen und Erwartungen abweichen.

c) Das etablierte Finanzierungssystem macht notwendige strukturelle Änderungen fast unmöglich. Schon die kleinste Änderung der Förderungsrichtlinien kann für einen Träger Arbeitslosigkeit und den Zusammenbruch der Finanzierung bedeuten. Das System muß sich selbst zu erhalten trachten. Unbürokratische Flexibilität gegenüber neuen Aufgaben und Problemen ist nur sehr begrenzt möglich.

d) Was sich schon in der Weimarer Zeit anbahnte, hat sich nach 1945 vollendet: Die Trennung von "Basis" und Organisationsspitze. Die Organisation wird nach denselben Regeln bürokratischer Effizienz und von Profis mit eigenen berufspolitischen Interessen geleitet wie in anderen Organisationen auch. Die Spitzen haben kaum noch Kontakt zur Basis, zumal die Verbandszeitschriften "unten" wenig gelesen werden. Die Funktion der Großorganisationen ist heute mehr denn je unklar.

Anfang der siebziger Jahre kam Bewegung in diese Struktur. Im Zusammenhang mit den Diskussionen über eine Reform des Jugendhilferechts und über den Bildungsgesamtplan wurde auch die Jugendarbeit von den Reformüberlegungen tangiert. Einmal sollten einige ihrer Elemente in die ganztägig konzipierten Gesamtschulen mit übernommen werden. Andererseits trafen die mit diesen Reformen verbundenen und diesen zur Legitimation dienenden Ideen der Effizienz und der wissenschaftlichen Planung pädagogischer Vorgänge gerade in der Jugendarbeit auf

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einen wunden Punkt; denn um beides hatte man sich dort bisher kaum bemüht. Dem neuen wissenschaftlichen Planungsdenken mußte die "irgendwie" und mit mehr oder weniger Spaß der Beteiligten ablaufende Jugendarbeit als ähnlich überholt erscheinen wie den Curriculum-Theoretikern die "Leerformeln" der alten Lehrpläne. Ob der Jugendarbeit mit einer derartigen Verwissenschaftlichung allerdings geholfen worden wäre, ist fraglich; plausibler war da schon die Forderung, zu untersuchen, welchen Bedarf die Jugendarbeit eigentlich deckt und welchen sie darüber hinaus noch decken könnte. Derartige Untersuchungen sind bisher aber nicht angestellt worden, und es ist auch fraglich, ob auf diese Weise - erst Bedarf feststellen, dann Maßnahmen ergreifen - die Jugendarbeit wirklich verbessert worden wäre. Einen Bedarf, den man in der praktischen Arbeit an der Basis nicht entdeckt, wird man schwerlich durch wissenschaftliche Untersuchungen entdecken.

Ein anderes Problem, das sich Anfang der siebziger Jahre neu stellte, hatte folgenden Hintergrund: Die politisch sich radikalisierende Studentenbewegung ließ die alte Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verband gefördert werden könne, prekär werden. Im JWG (§ 9) war als Bedingung für die Förderung lediglich eine "den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit" genannt. Ab 1. Januar 1971 wurde in den Richtlinien zum Bundesjugendplan als weitere Bedingung die "Bejahung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der parlamentarisch-repräsentativen Willensbildung" eingeführt. Der Bundesjugendring sprach sich gegen diese Erweiterung aus, weil diese "als politische Wohlverhaltensklausel ... geeignet ist, den pädagogischen und jugendpolitischen Spielraum der freien Jugendarbeit gefährlich einzuengen" (Baetcke 1978, S. 25). Die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen über Fälle, wo unter Hinweis darauf die Mittel entzogen wurden, machten ein neues Problem im Verhältnis zwischen Staat bzw. Exekutive und Trägern deutlich: In dem Augenblick nämlich, wo die Jugendarbeit in die offene parteipolitische Polarisierung gerät, droht das ganze System zu zerbrechen. Legt die Regierung jene Klausel weit und liberal aus, setzt sie sich dem Vorwurf aus, sich mit den so liberal Geförderten politisch zu identifizieren, auch und gerade wenn sie "radikale" Positionen vertreten. Legt sie - um dem zu entgehen - die Klausel eng aus, so zieht sie den anderen Vorwurf der Illiberalität auf sich. Manche der Träger, um die es da ging, wollten ganz offensichtlich diesen Mechanis-

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mus in Gang setzen und waren an einer auch die Position des Gegenübers einbeziehenden Lösung nicht interessiert.

Immerhin war das bis dahin geltende politische Grundkonzept der Jugendarbeit angegriffen, mit dem sie nach 1945 angetreten war: Die neue demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung der jungen Generation nahezubringen, diese in deren Normen und Realitäten zu integrieren. Nun wurde das Ergebnis dieser Entwicklung einer teils reformerischen teils radikalen Kritik unterzogen.

Die Bemühungen der sozialliberalen Koalition, die Jugendarbeit in ein umfassendes neues Konzept der Jugendhilfe einzubeziehen, machte das Verhältnis zu den freien Trägern problematisch. Die Realisierung irgendwelcher vom Staat gesetzten rechtlichen Normen hing ja vom Handeln der Träger ab, denen der Staat keine Weisungen geben konnte. Deshalb waren die Träger auch skeptisch gegenüber diesen Konzepten.

In den 1978 nach vierjähriger Beratung unter Beteiligung auch der Träger der Jugendarbeit vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit verabschiedeten "Perspektiven zum Bundesjugendplan" (Bundesminister für Familie, Jugend und Gesundheit 1973) wird das Verhältnis von Staat und freien Trägern als "partnerschaftlich" bezeichnet.

"1.4.1 Eine demokratische Gesellschaft ist ohne die Pluralität der gesellschaftlichen Kräfte und Organisationen mit ihrer unterschiedlichen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Ausrichtung undenkbar. Diese Pluralität ist der reale Ausdruck der Freiheitsrechte der einzelnen Bürger und ihrer Zusammenschlüsse, auf deren Grundlage sie Ziele, Inhalt, Form und Umfang ihres gesellschaftlichen Engagements bestimmen. Die Jugendarbeit als Feld sozialen Lernens, deren Hauptziel es ist, den Willen und die Fähigkeit zur kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Partizipation am demokratischen Leben auszubilden und zu verbessern, muß deshalb wie die Gesellschaft selbst pluralistisch strukturiert sein. Dabei ist das Recht der freien Träger zum Engagement und zur Betätigung in diesem Feld originär und wird nicht erst durch die staatliche Förderung begründet. Mit ihrer Tätigkeit tragen sie andererseits dazu bei, eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen, für die der Staat die letzte Verantwortung hat. Es ist daher Ausdruck dieser Verantwortung, wenn der Staat den freien Trägern die Erfüllung von Aufgaben der Jugendhilfe ermöglicht und sie dabei in angemessener Weise mit öffentlichen Mitteln fördert ... .

1.4.3 Das Verhältnis von Staat und freien Trägern wird nicht vom Prinzip der Über- und Unterordnung, sondern vom Geist vertrauensvoller und verantwortungsbewußter Partnerschaft bestimmt, in der beiden Seiten Verpflichtungen auferlegt sind. Partnerschaft verlangt vom Staat, daß er die Autonomie der freien Träger anerkennt und wegweisende grundsätzliche Entscheidungen im Benehmen mit seinen

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Partnern trifft. Partnerschaft verlangt vom freien Träger, daß er den Staat bei der Verwirklichung von Schwerpunkten der Jugendförderung unterstützt, die er aus seiner Gesamtverantwortung für das Gemeinwohl und aufgrund akuter gesellschaftlicher Notwendigkeiten setzt" (S. 10 f.).
 
 

Diese Definition der Beziehung von Staat und Trägern ist neu: Der Staat hat demnach die Gesamtverantwortung für die Jugendarbeit, aber die Verbände - aus eigenem, nicht vom Staat verliehenen Recht - sind in diesem Bereich tätig und haben Anspruch auf Förderung. Logischerweise hat in diesem Konzept der Staat als "Gesamtverantwortlicher" auch im Konfliktfalle die letzte Entscheidung zu treffen - mag er noch so partnerschaftlich dabei mit den Verbänden umgehen. Diese hätten im Ernstfalle lediglich auf politischem Wege die Möglichkeit sich zu wehren. Dies aber werden beide Seiten möglichst vermeiden. Die Sorgen der Träger werden in den "Perspektiven" dadurch gemildert, daß ihnen "mittelfristige" Finanzierung von Mindestkosten - vor allem Personalkosten - zugesichert wird. Das Problem, das sich hinter dem Versuch verbirgt, die Beziehung von Staat und freien Trägern neu zu bestimmen, ist folgendes: Der Staat muß daran interessiert sein, daß Jugendprobleme gelöst oder doch wenigstens bearbeitet werden. Er kann dies in unserem System nur dadurch tun, daß er Finanzmittel bereitstellt, damit sich die freien Träger dieser Aufgaben annehmen. Andererseits kann es sein, daß die Träger - z. B. aus bürokratischer Unbeweglichkeit - nicht erfolgreich genug arbeiten. Politisch gesehen wird die öffentliche Kritik daran aber den Staat und nicht die Träger treffen, und insofern trägt der Staat in der Tat faktisch die Gesamtverantwortung.

Im Jahre 1973 beschlossen die Jugendminister von Bund und Ländern, die Förderungspläne von Bund, Ländern und Gemeinden zu "harmonisieren", also aufeinander abzustimmen. Damit ist die Jugendarbeit zu einem relativ geschlossenen gesellschaftlichen Teilsystem geworden, das zwischen dem Bildungssystem einerseits und dem System der Sozialpolitik andererseits anzusiedeln ist.

Begründet wird dieses System in den "Perspektiven" so:

"Die demokratisch verfaßte Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland hat zur Verwirklichung ihrer im Grundgesetz verankerten Ziele zu gewährleisten, daß die in ihr heranwachsenden jungen Menschen ihre Rechte und Pflichten in sozialer Verantwortung wahrnehmen lernen. Durch Erziehung und Bildung hat sie einen Beitrag zu einer Emanzipation des Einzelnen zu leisten, durch die das ganze Gemein-

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wesen einen Zuwachs an Freiheit und Gerechtigkeit erfährt. Erziehung und Bildung sollen jungen Menschen helfen,

- ihre eigenen Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln

- ihre persönliche und gesellschaftliche Situation beurteilen zu lernen

- die Würde des Menschen im Denken und Handeln zu achten

- Konflikte zu ertragen und friedlich auszutragen und damit zur Selbstbestimmung, Partnerschaft und Solidarität fähige Menschen zu werden. Erziehung und Bildung sollen sie zugleich befähigen, ihre eigenen Rechte und Interessen wahrzunehmen und die Anderer zu achten, ihre Pflichten gegenüber Staat und Gesellschaft zu erfüllen und an deren Gestaltung mitzuwirken.

Hieran hat die Jugendhilfe und in ihrem Rahmen insbesondere die Jugendarbeit verantwortlich mitzuwirken" (S. 7).
 
 

Der Erziehungs- und Bildungsanspruch der jungen Menschen könne durch Elternhaus, Schule und Berufsausbildung allein "häufig" nicht erfüllt werden; zudem seien die von der gesellschaftlichen Realität ausgehenden Sozialisationswirkungen widersprüchlich und "vielfach nicht aufeinander abgestimmt und auch nur zum Teil aufeinander abstimmbar". In dieser Situation erwachse den Jugendlichen einerseits eine größere Freiheit für ihr Handeln, andererseits aber auch eine größere Verantwortung für ihren eigenen Erziehungsprozeß, für ihre Identitätsbildung, um die in dieser Widersprüchlichkeit entstehenden Krisen besser meistern zu können. In diesem Zusammenhang versteht sich die Jugendarbeit als ein pädagogisches Angebot:

"1.2.3 Jugendliche benötigen deshalb ein Feld sozialen Lernens, das ihnen die eigenverantwortliche Entwicklung ihrer Persönlichkeit und das Hineinwachsen in die Gesellschaft erleichtert. Ein solches Feld ist die von jungen Menschen weitgehend mitbestimmte und mitgestaltete Jugendarbeit. Sie ermöglicht, daß gruppen- und schichtenspezifische, aber auch ganz persönliche Probleme und Konflikte bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit in ihren gesellschaftlichen Bezug verarbeitet und gelöst werden können; sie macht gemeinschaftliche Aktionen möglich für selbst erarbeitete oder für richtig erkannte Ziele, die andere Bereiche des Erziehungs- und Bildungswesens weder von ihrem Auftrag noch von ihrer Struktur her vermitteln können.

Die Jugendarbeit stellt die Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen selbst in den Mittelpunkt des Lernens. Dazu gehört auch, daß in anderen Bereichen des Erziehungs- und Bildungswesens mitverursachte soziale Defizite und Konflikte aufgegriffen und verarbeitet werden. Jugendarbeit kann jedoch nicht die Ausfallbürgschaft für diese Bereiche übernehmen und sie damit von notwendigen Reformen entlasten" (S. 8).
 
 

Diese Sicht der jugendlichen Sozialisation enthält jedoch einige Probleme:

1. Die Argumentation unterstellt eine weitgehende Harmonie

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zwischen der - wenn auch änderungsfähigen und änderungsbedürftigen - gesellschaftlichen Realität und dem je subjektiven Bedürfnis nach Identität und Selbstbestimmung. Es ist die Frage, inwieweit dies tatsächlich heute zutrifft. Nun kann man natürlich sagen, daß ein Anspruch an Glück, Identität und Selbstbestimmung, der nicht mit der gesellschaftlichen Realität zu harmonisieren ist, selbst illusionär und irreal wäre. Andererseits erwachsen solche Erwartungen aber nicht einfach aus der individuellen Subjektivität, sondern aus der gesellschaftlichen Realität, z. B. aus den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes. Die Frage ist also, in welchem Spielraum dieses System der Jugendarbeit Kritik an gesellschaftlicher Realität bzw. ein aktives Engagement für ihre Veränderung hinnehmen kann. Die schon erwähnten Auseinandersetzungen um die verfassungsgemäße Position einzelner Jugendverbände hatte gezeigt, daß der Spielraum im Falle ernsthafter politischer Konflikte eher kleiner als größer wird. Das bedeutet aber, daß besonders kritische und engagierte Jugendliche aus der Jugendarbeit schnell "ausgebürgert" werden können bzw. auf extreme Organisationen außerhalb der offiziellen Jugendarbeit verwiesen würden.

2. Es ist fraglich, ob das Konflikt-Modell - der Jugendliche im Widerspruch zwischen normativ unterschiedlichen Sozialisationswirkungen und Sozialisationsansprüchen - für die gegenwärtige Jugendgeneration so noch zutrifft. Vermutlich paßte es eher für die Jugend der sechziger Jahre. Damals und erst recht in den fünfziger Jahren gab es noch normative Widersprüche - z. B. hinsichtlich des Sexualverhaltens, der Autorität der Eltern, in religiösen Fragen usw. Gegenwärtig scheint das Problem eher darin zu liegen, daß die Lebensperspektive im Vergleich dazu eindimensional geworden ist, die zugleich gefährlichen wie auch für die Selbstbestimmung produktiven Konflikte zwischen unterschiedlichen Normen finden kaum noch statt, ja, normative und soziale Geborgenheit wird vielfach außerhalb der dafür eigentlich vorgesehenen gesellschaftlichen Institutionen - z. B. in Jugendsekten - gesucht.

Von daher betrachtet muß offen bleiben, welchen Einfluß in Zukunft die Förderungsprogramme des Bundesjugendplanes im Rahmen dieser neuen Sozialisationslage auf die junge Generation im Ganzen wie auch für einzelne Gruppen haben können. Die Programme werden in den "Perspektiven" wie folgt dargestellt - wobei zwischen Programmen der "allgemeinen Jugendarbeit", die sich prinzipiell an alle Jugendlichen zwischen

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14 und 25 Jahren wenden, und solchen zum "Ausgleich sozialer Benachteiligungen", die als kompensatorische Maßnahmen gedacht sind, unterschieden wird. (Gefördert werden aber nicht nur diese Programme - also Inhalte - sondern auch die Träger selbst, nämlich die zentralen Jugend- und Studentenverbände und die zentralen Fachorganisationen der Jugendhilfe.)

"2.3.1 Programme der allgemeinen Jugendarbeit

Zu diesen Programmen, die sich grundsätzlich an alle Jugendlichen richten, gehören:

2.3.1.1 Die politische und soziale Bildung, wie sie sowohl von den Jugend- und Studentenverbänden betrieben wird, als auch von Bildungsstätten und anderen Einrichtungen und Trägern außerhalb der Jugendverbände ausgeht.

2.3.1.2 Die internationale Jugendarbeit, die grundsätzlich eine Aufgabe aller Träger der Jugendarbeit ist.

2.3.1.3 Die kulturelle Jugendarbeit, die ebenfalls in allen Feldern der Jugendarbeit von Bedeutung ist. Sie wird darüber hinaus in Fachverbänden, Akademien und sonstigen Institutionen geleistet.

2.3.1.4 Die sportliche Jugendbildung, wie sie von der Deutschen Sportjugend, aber auch von anderen Jugend- und Studentenverbänden geleistet wird. Daneben regen die Bundesjugendspiele eine große Zahl junger Menschen entsprechend ihren unterschiedlichen Begabungen zu sportlicher Betätigung an.

2.3.1.5 Das Programm "Soziale Bildung", das jungen Menschen über theoretische Einsichten hinaus die Möglichkeit eröffnet, an der Behebung sozialer Mißstände und individueller Notlagen selbst praktisch mitzuarbeiten und dabei Erfahrungen zu machen, die zu sozialpolitischem Engagement anregen.

2.3.2 Programme zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen

- kompensatorische Programme -

In diesen Programmen wird an der Überwindung sozialer Benachteiligungen und spezifischer Beeinträchtigungen der Chancengleichheit zielgruppenorientiert gearbeitet.

Hierzu gehören:

2.3.2.1 Zentrale Aufgaben und Modelle der Jugendarbeit für lernschwache, berufsunreife und arbeitslose Jugendliche. Hier soll Jugendlichen, die aus verschiedenen Gründen keine Möglichkeit haben, eine berufliche Ausbildung zu durchlaufen, geholfen werden, ihre Bildungsdefizite zu beseitigen, ihre Lern-, Sprach- und Ausdrucksfähigkeit zu erweitern und Fortbildungsmöglichkeiten zu verwirklichen. Ebenso soll Jugendlichen durch Angebote berufsorientierten sozialen Lernens geholfen werden, sich in der Arbeitswelt zurechtzufinden.

2.3.2.2 Zentrale Aufgaben und Modelle der Jugendarbeit für Kinder ausländischer Arbeitnehmer sowie für jugendliche ausländische Arbeitnehmer. Dieser Zielgruppe wurden Bildungs- und Beratungsangebote gemacht, die es ihnen erleichtern, allgemeine Bildungs- und berufliche Ausbildungsmöglichkeiten wahrzunehmen sowie dazu beitragen, ihre soziale und kulturelle Gettosituation zu durchbrechen.

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2.3.2.3 Zentrale Aufgaben und Modelle der Jugendarbeit mit Behinderten, durch die behinderten Jugendlichen in Ergänzung zu medizinischen, schulischen und beruflichen Maßnahmen erweiterte soziale Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere mit Nichtbehinderten erschlossen werden.

2.3.2.4 Programme zur Eingliederung junger Zuwanderer. Die Integration junger Zuwanderer soll ergänzend zu Förderunterricht und Sprachenschulen durch gezielte sozialpädagogische Hilfen, insbesondere durch umfassende Information und Beratung über gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Funktionszusammenhänge unterstützt werden. Eine besondere, dem Individualfall Rechnung tragende Erhöhung gesetzlicher und anderer Ausbildungsbeihilfen erhalten die jugendlichen Zuwanderer aus dem sogenannten Garantiefonds.

2.3.2.5 Die Jugendarbeit der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk. Sie leistet durch ihre Jugendsozialarbeit, vor allem im Rahmen von Jugendgemeinschaftswerken und Jugendwohnheimen einen Beitrag zur berufsorientierten Bildung und zur Eingliederung von jugendlichen Zuwanderern, für die sie eine zentrale Beratungsstelle unterhält.

2.3.2.6 Die Jugendarbeit der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Sie bemüht sich um das notwendige Ineinandergreifen von Angeboten der allgemeinen Jugendarbeit und besonderen Erziehungshilfen im Rahmen der öffentlichen Erziehung".
 
 

Gegenwärtig scheint sich eine neue jugendpolitische Tendenz abzuzeichnen, nämlich in Richtung auf eine engere Verbindung von Jugendfürsorge und Jugendarbeit. Erkennbar ist dies daran, daß die Arbeit mit "jugendlichen Problemgruppen" in den letzten Jahren - auch in den "Perspektiven" - verstärkt betont wird. Nun ist es gewiß richtig, diesen Gruppen verstärkte Aufmerksamkeit und Unterstützung zu gewähren, aber aus dem traditionellen Kanon der Jugendarbeit fallen diese Aufgaben doch mehr oder weniger heraus und bedürfen wohl auch speziell qualifizierter Mitarbeiter. Vor allem auf die kommunale Jugendarbeit - die "freien" Träger können dazu ja nicht angewiesen werden - kommen damit sozialpädagogische Erwartungen zu, die als Kompensation bezeichnet werden können für Probleme, die an anderen Stellen des gesellschaftlichen Systems entstehen (z. B. Jugendarbeitslosigkeit, Jugendsekten, Arbeit mit körperlich und geistig Behinderten). Die Jugendarbeit wird so ebenfalls in die Rolle der "Feuerwehr" gedrängt, die der Fürsorge immer schon zugeteilt wurde. Andererseits gibt es kein gesellschaftliches Problem und keine "Problemgruppe", es sei denn, jemand definiert es bzw. sie so. Während jedoch die "normale" Jugendarbeit die Probleme, die sie aufgreifen und bearbeiten will - jedenfalls in einem relativ großen Spielraum

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- gemeinsam mit den Jugendlichen definieren kann, ist dies bei den sogenannten "Problemgruppen" insofern eingeschränkt, als - wie bei der Fürsorge überhaupt - die Probleme im Rahmen der jeweiligen institutionellen Interessen und Handlungsmöglichkeiten definiert werden, d. h. so, daß man im Rahmen der institutionellen Regeln auch tätig werden kann. Jugendfürsorge muß z. B. so betrieben werden, daß die Tätigkeit "aktenfähig" wird. Jugendarbeitslosigkeit kann z. B. durch Maßnahmen der Jugendarbeit mehr oder weniger sinnvoll überbrückt werden, aber solche Maßnahmen können an dem Problem, wie es der arbeitslose Jugendliche psychosozial selbst erlebt, ebenso wenig ändern wie an der Tatsache der Arbeitslosigkeit überhaupt, weil keine Lernhilfe den Jugendlichen instand setzen kann, dieses Problem selbst zu lösen.

Hinzu kommt, daß eine Reihe solcher Probleme in anderen gesellschaftlichen Bereichen produziert werden. So läßt sich fragen, ob es manche "Problemgruppen" überhaupt gäbe - bzw. in welchem Ausmaß es sie gäbe - wenn die Aufgaben der Schule anders definiert wären. Ein Schüler mit Lernschwierigkeiten (also ein "lernbehinderter") muß ebensowenig wie ein körperbehinderter aus einer "normalen" Schule ausgegliedert werden, das hängt davon ab, wie sich die Schule versteht.

Die "Einheit der Jugendhilfe", in deren Rahmen die Jugendarbeit als "vorbeugende Fürsorge" verstanden wird, erweist sich hier also als problematisch, weil sie eigentlich die ganze junge Generation als Problemgruppe definiert, die - sei es auf der Basis der Freiwilligkeit, sei es auf der Basis administrativer Akte - "behandelt" werden müsse. Zweifellos fällt es schwer, diese Vorstellung mit jener anderen in Einklang zu bringen, nach der das Jugendalter einen selbstbestimmten Spielraum zur Identitätsbildung benötigt und durch Angebote der Jugendarbeit auch erhalten soll. Anders ausgedrückt: Wenn eine Gruppe Jugendlicher oder die junge Generation im ganzen irgendwie vorweg als "Problemgruppe" definiert wird, dann wird diese Definition auch eingehen in die pädagogischen Handlungskonzepte und die für die Jugendarbeit so wichtigen Prinzipien der Freiwilligkeit und des Freizeitcharakters einschränken.

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Das politische Selbstverständnis der Jugendarbeit

 

 
 

Die Darstellung des letzten Abschnittes hat gezeigt, daß die Beziehungen zwischen Staat und Trägern der Jugendarbeit prekär sind, weil die finanzielle Abhängigkeit der Verbände vom Staat immer größer geworden ist. Das hat nicht nur zur Folge, daß die Administration die Macht hat, in die Autonomie der Verbände einzugreifen. Vielmehr geht es auch um einen grundsätzlichen Konflikt, d. h. um einen solchen, der auch dann besteht, wenn der Staat seine Eingriffsmöglichkeiten nicht anwendet. Auf der einen Seite nämlich müssen staatliche Ausgaben - zumal in dieser Höhe - öffentlich gerechtfertigt werden, und deshalb müssen sie von den Trägern der Administration gegenüber auch verantwortet werden. Mißliebige Aktivitäten von Verbänden - darauf wurde schon mehrfach hingewiesen - können für die parteipolitische Auseinandersetzung genutzt werden, indem z.B. unterstellt wird, daß die jeweilige Regierung eine solche Aktivität deshalb fördere, weil sie sich damit identifiziere. Da andererseits die Öffentlichkeit - also die Mehrzahl der Wähler - die komplizierte Beziehung von Staat und Trägern nicht durchschauen kann, können derartige parteipolitische Attacken durchaus ihre Wirkung haben.

Andererseits beruht die Abhängigkeit der Träger von staatlichen Subventionen ausschließlich darauf, daß die Träger ihre Arbeit nicht allein finanzieren können. Die staatliche Subvention ist also Teil des staatlichen Umverteilungssystems im Ganzen: Über die Steuern z. B. werden den Bürgern zunächst die Mittel entzogen, die sie sonst vielleicht unter anderem zur Eigenfinanzierung von Jugendarbeit verwenden würden, und danach werden diese Mittel den Verbänden wieder zugeteilt. Wäre es anders, dann gäbe es die meisten Konflikte in der Jugendarbeit gar nicht. Würde ein Jugendzentrum z. B. von Bürgern gegründet, die es sich finanziell leisten könnten, ein solches Haus zu unterhalten - wie etwa bei vielen studentischen Verbindungen - dann wäre dies eine rein vereinsrechtliche Sache, die den Staat höchstens dann etwas anginge, wenn irgendwelche Gesetzesübertretungen begangen würden. Und die Frage, ob die kommunistische Jugendorganisation SDAJ Mitglied eines Jugendringes werden soll - jetzt eine umstrittene Frage - würde sich gar nicht stellen, wenn damit keine finanziellen Zuwendungen verbunden wären. Die Bedeutung der finanziellen Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln wird deutlich bei den moder-

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nen Jugendsekten: Da diese finanziell unabhängig sind, sich andererseits im Schutz der Religionsfreiheit bewegen können, ist es kaum möglich, gegen sie vorzugehen.

Man muß sich solche Zusammenhänge wohl vorweg klarmachen, um die Vorstellung von der "Pluralität der Verbände" zu verstehen, die nach wie vor einen Konsens im System der Jugendarbeit darstellt. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Verband sich eher weltanschaulich-religiös oder politisch oder von einem partikularen Interesse her definiert. Solange er sich im Rahmen des Grundgesetzes und der Rechtsordnung bewegt, kann der Staat seine Berechtigung nicht anzweifeln. Aber muß er deshalb jeden Verband gleichermaßen fördern? Und wenn nicht: ist dann "Pluralität" noch gewährleistet, wenn die Umverteilung faktisch dazu führt, daß einige Verbände und damit die in ihnen repräsentierten Partikularinteressen gegenüber anderen privilegiert werden? Dieses Problem war so lange noch relativ einfach zu lösen, wie man im wesentlichen die großen "weltanschaulichen Grundrichtungen" (katholisch, evangelisch, sozialistisch) im Auge haben mußte. Aber schon in der Weimarer Zeit war das Spektrum so breit geworden, daß es sich nicht mehr in diese Grundstruktur pressen ließ, wie allein schon die Mitgliedsorganisationen des "Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände" zeigen.

In den "Perspektiven zum Bundesjugendplan" wird die These vertreten, der Staat sei für die Jugendhilfe und damit für die Jugendarbeit im ganzen verantwortlich, dabei aber auf die Hilfe der freien Träger angewiesen. Nun ist die Verantwortung des Staates für die Jugendfürsorge sicher unbestritten, aber für die Jugendarbeit ist sie durchaus bestreitbar; sie kann auch nur begründet werden mit der Behauptung, daß Jugendarbeit vorbeugende Jugendfürsorge sei. Die Geschichte der Jugendarbeit zeigt aber, daß Jugendarbeit zunächst im gesellschaftlichen, vorstaatlichen Raum entstand, als eine gesellschaftliche Tätigkeit von Verbänden. Die staatliche Intervention bzw. Subvention war von Anfang an der Versuch einer politischen Kanalisierung: vor dem Ersten Weltkrieg als Versuch, die Arbeiterjugendbewegung zu zerschlagen und die jungen Arbeiter in "vaterländische" Organisationen zu bringen; nach dem Ersten Weltkrieg, um der materiellen, moralischen und normativen "Jugendnot" zu begegnen - ein eher fürsorgerisches Handeln; im Nationalsozialismus dann als Intention, die junge Generation total zu erfassen und politisch einzusetzen; und nach 1945 ging es

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darum, die junge Generation durch die Förderung entsprechender Verbände und Organisationen zu demokratischem Bewußtsein und Verhalten zu erziehen. Aus diesen politischen Beweggründen jedoch eine grundsätzliche Gesamtverantwortung des Staates für die Jugendarbeit abzuleiten, bleibt zumindest problematisch.

Versteht sich aber die Jugendarbeit als Teil freier gesellschaftlicher Tätigkeit von Verbänden und Organisationen, dann muß der Staat sie nicht mitfinanzieren, aber wenn er es tut, darf er zumindest prinzipiell keinen an und für sich zugelassenen Verband benachteiligen. Wohl kann er seine Zuwendungen an bestimmte Zwecke binden, also z. B. festlegen, daß das Geld nur für pädagogische Maßnahmen, nicht auch für politische Aktivitäten verwendet werden darf. So verfährt auch der Bundesjugendplan. Auf diese Weise wird das Problem der pluralistischen Chancengleichheit insofern entschärft, als der eigentliche Bezugspunkt der Förderung nicht der Verband, sondern der Jugendliche ist. Aber auch dieses Konzept enthält Probleme.

Einmal kann die Grenze von Pädagogik und Politik fließend werden, vor allem bei solchen pädagogischen Konzepten, die Handeln und Lernen im engen Zusammenhang sehen. Andererseits ist die Frage, ob die staatliche Förderung unbedingt inhaltlich bestimmt und abgegrenzt werden muß (z. B. politische Bildung; kulturelle Bildung; soziale Bildung). Möglicherweise könnte die pädagogische Basis flexibler werden, wenn solche Rubrizierungen entfallen zugunsten einer allgemeinen Definition dessen, wofür die Gelder verwendet werden dürfen.

Zweifellos ist die Pluralität der Jugendarbeit durch ihre hohe finanzielle Abhängigkeit, aber auch durch die Möglichkeit der parteipolitischen Ausnutzung von Konfliktfällen erheblich gefährdet, und dies ist nicht nur bedenklich im Hinblick auf möglicherweise benachteiligte Träger, sondern auch für das politische und pädagogische Profil der Jugendarbeit im ganzen. Pädagogisch gesehen wird die Jugendarbeit auf die Dauer unflexibel und experimentierunlustig, weil bei neuen Modellen erst einmal mühsam die Finanzierung gesichert werden muß, da ja Mittel aus etablierten Programmen nicht einfach umgewandelt werden können. Es ist z. B. nicht einzusehen, warum nicht Mittel für politische Bildung am Ort für die Einrichtung einer Jugendberatung eingesetzt werden könnten, wenn dies als dringlich empfunden wird. Nötig wäre dann nur, in die Förderungsrichtlinien für einen solchen allgemeinen Topf der Förderungsmittel

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"Jugendheratung" als eine der möglichen pädagogischen Aufgaben mit aufzunehmen.

Politisch gesehen würde eine zu große Verengung der Pluralität dem gegenwärtigen System die Legitimationsgrundlage nehmen. Schon jetzt besteht eine ernstzunehmende Tendenz zur staatlichen Jugendpflege, insofern nämlich immer mehr die Träger zu ausführenden Organen des Staates werden. Immer weniger Initiativen gehen von den einzelnen Trägern aus. Damit verbunden ist die Gefahr, daß das gegenwärtige System der Jugendarbeit sich so verfestigt, daß neue Bewegungen, auch solche radikaler Art, sich außerhalb dieses Systems einrichten und die immer noch vorhandene integrierende bzw. mäßigende Funktion der Organisationen - z. B. des Bundesjugendrings - vermindert wird. So mag es tagespolitisch plausibel sein, einem Jugendverband die Mittel zu sperren, weil er bei bestimmten Aktionen mit Kommunisten zusammengearbeitet hat; auf lange Sicht jedoch kann gerade dadurch die politisch-integrierende Funktion des Systems geschwächt werden, weil derartige Maßnahmen ja nicht nur die Funktion der Disziplinierung, sondern auch eine Tendenz zur Ausbürgerung haben können.

"Pluralität" bezeichnet letztenendes die Tatsache, daß die Jugendarbeit - im Unterschied zur Schule - das Feld der politischen und pädagogischen Partikularitäten ist. Während die Schule als staatsmonopolistische Einrichtung in einem hohen Maße auf Konsens angewiesen ist, dürfen und müssen sich partikulare Konzepte und Interessen im Bereich der Jugendarbeit - wie auch der Erwachsenenbildung - entfalten können. Wird dieser Spielraum z. B. im Hinblick auf politische Überzeugungen und Aktivitäten allzu sehr eingeengt, dann kann es zu sonst vielleicht unnötigen politischen Spannungen und Konflikten kommen. Politisch gesehen hat der Staat hier die Aufgabe, nicht einzelne Verbände zu finanzieren, sondern eben jenen Spielraum der Partikularitäten zu ermöglichen und damit eben auch dynamische, "bewegende" Impulse zu ertragen.

Die Pluralität der Jugendarbeit zeigt sich zunächst einmal natürlich in dem, was die einzelnen Verbände voneinander unterscheidet. Sie zeigt sich aber auch in allgemeinen pädagogischen und politischen Vorstellungen, die, obwohl partikularer Art, quer zu den etablierten Verbänden vertreten werden. So waren Vorstellungen über eine "emanzipatorische Jugendarbeit" in den siebziger Jahren in allen Verbänden mehr oder weniger verbreitet.

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Solchen politisch motivierten bzw. begründeten Konzepten, die nur partikulare Geltung beanspruchen können, wollen wir uns jetzt zuwenden. Es handelt sich um solche Konzepte, in denen pädagogische und politische Vorstellungen miteinander verbunden sind. Die Darstellung wird zeigen, daß es gar nicht möglich ist, "reine" pädagogische Vorstellungen ohne politische Implikationen zu vertreten.

Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus war das Demokratieverständnis ein weitgehend formales und moralisches: formal, indem es im wesentlichen realisiert schien in den Regeln des Parlamentarismus und des Rechtsstaates, moralisch, insofern die Grundrechte und politische Tugenden wie Toleranz und Kompromißbereitschaft als wichtige Verhaltensnormen betrachtet wurden. Diese Erwartungen schienen - zumal im Vergleich zum Nationalsozialismus - in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik sich zu realisieren, Demokratie und Bundesrepublik waren fast Synonyme - zumal im Vergleich zur DDR. Aber schon zu Beginn der sechziger Jahre wurde diese Gleichsetzung fragwürdig, die Realität der Bundesrepublik wurde an den demokratischen Normen gemessen, die sie für sich für verbindlich hielt. In der die ganze westliche Welt erfassenden Studentenbewegung wurde diese Kritik nicht nur radikalisiert, nun wurde auch das Normensystem von Staat und Gesellschaft selbst an entscheidenden Punkten in Zweifel gezogen: Leistungsprinzip, Wachstumsprinzip, kapitalistisches Profitprinzip. Staat und Gesellschaft gerieten in eine Normkrise, die bis heute andauert. Die Ursachen dafür im einzelnen zu analysieren ist hier nicht der Ort. Hier geht es nur um die Feststellung, daß dieser gesellschaftliche Entwicklungsprozeß sich auch im Selbstverständnis der Jugendarbeit niedergeschlagen hat. Man hat versucht, die Jugendarbeit in diesen Phasen zu charakterisieren als "traditionalistisch", "progressiv-emanzipatorisch" und "antikapitalistisch" (Pott 1971). Die traditionelle Jugendarbeit - der fünfziger Jahre - orientierte sich an überlieferten Werten und hat keine ausformulierte Theorie hinterlassen; die "progressiv-emanzipatorische« Jugendarbeit versucht die demokratischen Normen der Mit- und Selbstbestimmung in ihre Konzepte zu übernehmen; die anti-kapitalistische Konzeption geht unter anderem davon aus, daß demokratische Normen wie Selbst- und Mitbestimmung im kapitalistischen System gar nicht zu realisieren seien und daß deshalb der Kampf gegen dieses System der eigentliche Inhalt der Jugendarbeit sein müsse.

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Diese Phasenbeschreibung kann aber leicht zu Mißverständnissen führen, indem sie eine zeitliche Folge des "Fortschritts" suggeriert, während tatsächlich diese unterschiedlichen Konzepte gleichzeitig auftreten. Auch heute noch gibt es traditionelle Jugendarbeit und auch in den sechziger Jahren war sie weit stärker verbreitet als die "progressiv-emanzipatorische", und die antikapitalistische Jugendarbeit war immer nur ein Konzept einer kleinen Minderheit.

Die Gleichzeitigkeit dieser Konzepte verweist auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse, die da angesprochen werden. Trifft dies zu, dann stellt sich das Pluralismusproblem erneut. Dann ist Pluralismus nicht nur ein solcher der Verbände, sondern auch verbandsübergreifender allgemeiner pädagogisch-ideologischer Vorstellungen, gleichsam ein neuer "weltanschaulicher" Pluralismus, und es stellt sich die Frage, ob auch dieser Pluralismus in der Förderung zugelassen wird. Ernsthaft zur Debatte stehen dürfte diese Frage wohl nur für die antikapitalistische Position, sofern diese sich primär politisch und systemkritisch versteht.

Sehen wir uns diese drei politischen Vorstellungshorizonte etwas genauer an.
 
 

1. Traditionalistische Jugendarbeit

Sie ist die älteste Form. Sie orientiert sich an überlieferten Formen und Werten im Hinblick darauf, was für Jugendliche und ihre Erziehung gut und nützlich ist. Von dieser Art war die Jugendpflege vor dem Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und in den fünfziger Jahren. Sie hat zur Voraussetzung eine bürgerliche Umwelt, in der die Werte, die sie selbst vertritt, ebenfalls Geltung haben. Sie ist also Teil einer zumindest lokal noch kommunizierbaren Kultur. Eine weitere Voraussetzung ist, daß die Jugendlichen einen noch un-emanzipierten Status haben - also die Rolle dessen, der von den Älteren zu lernen hat, dem Selbst- und Mitbestimmung nur mehr oder weniger eingeschränkt zugemutet werden darf. Umgekehrt wird angesichts der sozialen und kulturellen Integration dieser Jugendlichen in ihre Umwelt auch nur ein relativ geringes Maß an Selbstbestimmung benötigt.

Werden durch starken sozialen und gesellschaftlichen Wandel die sozialen und kulturellen Normen unsicher, so wird diese Form von Jugendarbeit gefährdet. Dies ließ sich Ende der fünf-

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ziger Jahre zumindest in den Städten deutlich beobachten. In Zeiten solchen Wandels kann die Jugendarbeit das Normengefüge der sozialen Umwelt nicht einfach mehr abbilden.

Die traditionelle Jugendarbeit bestimmt sich also nicht durch ihre Inhalte als solche - z. B. auf Fahrt gehen, jugendgemäße Lieder singen usw. - sondern durch den sozio-kulturellen Kontext, in dem sie stattfindet. Sie ist also eine historisch vergängliche Form - wie alle anderen auch - und dürfte heute wohl nur noch in bestimmten ländlichen und kleinstädtischen Milieus existieren. Das schließt keineswegs aus, daß ihre Formen und Inhalte wieder in anderen sozio-kulturellen Bedingungen interessant werden können. Aber dann handelt es sich nicht um traditionelle Jugendarbeit, sondern nur um die Wiederentdeckung von Altem und seine Verwendung in einer neuen sozio-kulturellen Situation. Wenn also vor einiger Zeit gefordert wurde, die Jugendarbeit solle "wieder schön sein", also traditionelle Formen und Inhalte jugendlicher Geselligkeit oder gar "Romantik" wieder anbieten, so ist dies nicht, wie die Kritiker einwandten, einfach ein Wiederaufleben der "alten" Jugendarbeit, sondern möglicherweise eine produktive Aneignung unter neuen Bedingungen (vgl. Pott 1975; Wendland 1975; dazu die Diskussionsbeiträge in: deutsche jugend, Heft 5 und 7/1975).
 
 

2. Emanzipatorische Jugendarbeit

Die Voraussetzung der emanzipatorischen Jugendarbeit lag gerade in dem Schwinden dessen, was Bedingung für die traditionelle Jugendarbeit war. Zumindest in den großen Städten setzte Anfang der sechziger Jahre eine soziale Desorganisation ein, die bis heute noch weiter fortgeschritten ist. Die Angebote des Freizeit- und Konsumsystems, die dadurch mitbedingte Zerstörung gemeindlich-nachbarschaftlicher Kommunikationsstrukturen und des Vereinswesens, die Entstehung und zunehmende gesellschaftliche Anerkennung wichtiger alternativer Normen setzten viele Jugendliche gleichsam frei aus ihren früheren sozialen Kontexten, z. B. aus ihren familiären und nachbarschaftlichen Bindungen, und zwangen sie, mehr als früher ihr Leben selbst zu bestimmen. Das galt zunächst vor allem für die Gymnasialjugend und studentische Jugend. Diese Chance zur Selbstbestimmung und Emanzipation - so klein der Spielraum auch zunächst noch war - wurde zunächst meist als Freiheit empfunden. Andererseits blieben bis Ende der sechziger Jahre diese

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Jugendlichen noch so weit integriert in ihren sozialen Horizonten, daß die kritischen Vorstellungen der emanzipatorischen Jugendarbeit damit noch integrierbar waren. Angebot und Bedürfnis entsprachen also einander ungefähr; das heißt, im Jahre 1950 z. B. wäre die emanzipatorische Jugendarbeit vermutlich auf Unverständnis gestoßen; das heißt mit anderen Worten auch, daß die emanzipatorische Jugendarbeit den emanzipatorischen Spielraum nicht erfunden oder geschaffen, sondern nur aufgegriffen und pädagogisch thematisiert hat. Zunehmende Selbstbestimmung über wichtige Fragen ihres Lebens war für diese Jugendlichen keine pädagogische Forderung, sondern eine tatsächliche Notwendigkeit. Und erst infolge dieser Notwendigkeit ergab sich später konsequenterweise die allgemeine Forderung nach Mitbestimmung. Die emanzipatorischen Konzepte entstanden also in Begleitung eines gesellschaftlichen Wandels, dem sie einen positiven politisch-pädagogischen Sinn zu geben versuchten. Nun läßt sich fragen, ob die Bezeichnung "emanzipatorisch" dafür glücklich gewählt war.

Emanzipation ist ursprünglich ein politischer Begriff. Er meint die "Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit oder Beschränkung" (dtv-Lexikon) und geht zurück auf die Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution, die den Rechten des Individuums vor den Vergesellschaftungen in Staat und Gesellschaft den Vorrang gab und insofern heute noch in den Bestimmungen unseres Grundgesetzes weiterlebt. Das Ziel aller seitherigen Emanzipationsbestrebungen ist die Gleichberechtigung (nicht unbedingt Gleichheit) im öffentlichen Leben. Die Menschenrechte waren zwar allgemein formuliert, galten aber praktisch zunächst nur für den "dritten Stand", das Bürgertum. Nachdem dieser sich gegen die beiden oberen Stände, Adel und Geistlichkeit, vor allem mit Hilfe des Parlamentarismus durchgesetzt hatte, zeigte sich, daß der allgemeine Prozeß der Emanzipation damit keineswegs zum Abschluß gekommen war. Vielmehr waren Unterprivilegierungen teils immer noch vorhanden, teils neu eingetreten. So kann man die Sozialgeschichte seit der Französischen Revolution als eine Geschichte von Emanzipationskämpfen beschreiben: der Arbeiter, der Armen, der Frauen, der Kinder, der Jugendlichen. Zunächst ging es dabei um politische Emanzipation im Sinne des gleichen Wahlrechts, aber auch um die gleichberechtigte Teilnahme an den materiellen und Bildungschancen (Kampf um die Gleichheit der Bildungschancen, um die gleichberechtigte Teilnahme am Sozial-

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produkt, um die Mitbestimmung in den gesellschaftlichen Institutionen wie Betrieben usw.). Das Endziel dieser in der Französischen Revolution begründeten Idee der Emanzipation ist ein gesellschaftlicher Zustand, in dem alle Mitglieder der Gesellschaft in gleichem Maße voneinander abhängig und unabhängig sind.

Pädagogisch relevant wird der Begriff "Emanzipation" erst dann, wenn man bestimmte Lernleistungen aus ihm ableitet, die dazu dienen können, gesellschaftliche Veränderungen in Richtung auf zunehmende Emanzipation zu betreiben bzw. - was vielleicht realistischer ist - tatsächlich stattfindende gesellschaftliche Veränderungen im Sinne zunehmender Emanzipation zu gestalten. Dann geht es pädagogisch darum, die möglichen Freiräume durch Selbstbestimmung und Mitbestimmung ausfüllen zu lernen. In dieser Konsequenz lag die in den sechziger Jahren einsetzende und im 1. Kapitel beschriebene Hinwendung zu den Individuen, zur Stärkung ihrer Fähigkeiten, ihrer Ich-Stärke und ihres Selbstbewußtseins. Diese Tendenz war allen emanzipatorischen Konzepten gemeinsam und ist nach wie vor ihr pädagogisches Kernstück.

Allerdings wurden mit dem Begriff "Emanzipation" durchaus verschiedene Vorstellungen verbunden, und manche der Theoretiker der sechziger Jahre haben ihn für sich gar nicht in Anspruch genommen. Andererseits wurden ihre Konzepte nachträglich als "sozial-integrative" charakterisiert - in einem kritischen Sinne, nämlich als gleichsam "rückständige" Vorgeschichte des antikapitalistischen Konzeptes (Liebel, in: Lessing/ Liebel 1974). Dennoch erscheint es mir gerechtfertigt, den Begriff "emanzipatorisch" zur Charakterisierung dieser Phase zu wählen, zumal die Bezeichnung "sozial-integrativ" insofern ungenau ist, als sich kein pädagogisches Konzept denken läßt, das nicht zumindest auch gesellschaftlich-integrierende Wirkungen hätte; das gilt selbst für das antikapitalistische.

Will man jedoch die in Frage stehenden Autoren nicht unzulässig nachträglich unter die Bezeichnung "emanzipatorisch" subsumieren, dann muß man den Begriff "Emanzipation" genauer bezeichnen, denn er wird inzwischen sehr unterschiedlich benutzt, wie das immer geschieht, wenn eine Leitvorstellung modisch wird.
 
 

Ein wichtiger Unterschied besteht darin, ob man eher von einem anthropologisch-systematischen oder von einem historisch-kritischen Ansatz ausgeht.

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Autoren, die z.B. die "kritische Theorie" in diesem Zusammenhang benutzt haben (z. B. Mollenhauer 1972), haben den ersten Weg zu beschreiten versucht. Ein Ergebnis ist das Leitbild des "Diskurses" als inhaltliche Konkretisierung dessen, was Selbstbestimmung aller sein könnte: herrschaftsfreie Kommunikation grundsätzlich Gleichberechtigter, wobei es lediglich auf die argumentative Überzeugung der anderen ankommt bzw. ankommen darf.

Eine solche Vorstellung wäre in unserem Zusammenhang problematisch. Geht man nämlich von dem Leitbild einer herrschaftsfreien Kommunikation aus, dann werden alle Handlungszwänge, die auf institutionellen Regelungen beruhen, und damit Institutionen überhaupt - denn jede Institution erlegt Handlungszwänge auf, das ist ja gerade ihr Sinn - als der Emanzipation hinderlich verstanden. Nun kann tatsächlich jede Institution und damit jeder Handlungszwang dem Emanzipationsinteresse entgegenstehen - das ist eine Frage der jeweiligen historischen Situation—, aber sich jede Institution "wegzudenken", um das Idealbild selbstbestimmter Kommunikation erst denken zu können, das enthält zumindest die Gefahr realitätsferner Erwartungen. Ob der Diskurs darüber hinaus wirklich die Emanzipation aller Beteiligten ausdrücken könnte oder nicht eher eine schreckliche Vision wäre (das totale Individuum, bar jeder auch schützenden Rolle und Abhängigkeit, anderen Individuen ausgeliefert), mag dahinstehen.

Faßt man dagegen den Begriff Emanzipation historisch-kritisch, so ist von vornherein klar, daß eine Situation wie der Diskurs zu keinem historischen Zeitpunkt denkbar ist. Immer wird das Individuum sich in irgendwelchen institutionellen Zwängen bewegen müssen, ja, dieses Konzept unterstellt sogar, daß diese Tatsache für den Begriff der Emanzipation konstitutiv ist. Paradox formuliert: Selbstbestimmung ist nur zu haben, wenn auf sie auch aus Einsicht in die Realität partiell verzichtet werden kann. Der von mir vertretene Begriff der "Emanzipation" setzt also eine mehr oder weniger hohe Vergesellschaftung der Menschen voraus, und zwar grundsätzlich auch im positiven Sinne, als notwendige Bedingung von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, und ebenso setzt er mit derselben Wertung Sozialisationszwänge voraus. Er beschränkt sich auf die Dimension des "Wovon" und macht keine konkreten Angaben über das "Wozu", außer der, daß in dem freigewordenen Raum nun Selbstbestimmung möglich wird.

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Diese Einschränkung ist wichtig, weil darin zum Ausdruck kommt, daß Emanzipation nicht positiv beschreibbar ist, nicht operationalisierbar ist, sie drückt lediglich eine kritische Tendenz aus, ist kritische Reflexion und Korrektur der bestehenden Sozialisation, insofern also kein in sich geschlossenes Erziehungskonzept wie eine sozialistische oder kirchlich-religiöse Erziehung. Das bedeutet aber auch, daß Emanzipation nicht allein ein Bildungs- oder Erziehungskonzept zu tragen vermag, vielmehr muß immer eine kritisierbare nicht-emanzipatorische Sozialisation vorausgesetzt werden, ohne die das Konzept seinen Sinn verlieren würde.

Selbstbestimmung und Mitbestimmung sind jedoch keine in sich plausiblen Postulate. Wird dies übersehen, dann verkümmern sie zu leeren Formalismen. Ihren Sinn erhalten beide Maximen vielmehr nur aus irgendwelchen Bedürfnissen der Menschen, deren Realisierung von Selbst- und Mitbestimmung abhängt. So ist es schon eine Frage, ob Selbstbestimmung in jedem Falle, zu jeder Zeit und in jedem Lebensalter die wirklichen Bedürfnisse ausdrückt. Selbstbestimmung heißt schließlich auch, daß die Lebensentscheidungen selbst getroffen werden und auch selbst verantwortet werden müssen, und das stellt sich für ein Vorschulkind anders dar als für einen 18jährigen, für einen Studenten anders als für einen Jungarbeiter, für ein Mitglied des Wandervogels vor dem Ersten Weltkrieg anders als für einen Jugendlichen unserer Zeit.

Andererseits kann auch sein, daß Jugendliche in bestimmten Situationen Mitbestimmung nicht als für ihre Bedürfnisse förderlich einschätzen, sondern sie eher als Hindernis sehen. Wenn man also in einem Jugendzentrum die Erfahrung macht, daß die Bedürfnisse der Jugendlichen gar nicht zur Mitbestimmung tendieren, dann kann man zwar die Gründe dafür untersuchen, aber man kann diese Gründe mit pädagogischen Mitteln nicht beseitigen; wohl kann man Situationen herstellen, in denen Mitbestimmung erlebbar wird und möglicherweise dann auch als den eigenen Bedürfnissen adäquat verstanden wird.

Die Maximen dieses historisch-kritischen Konzeptes von Emanzipation geben also kein Kriterium dafür her, ob und in welchem Maße die empirisch vorfindbaren bzw. artikulierten Bedürfnisse Jugendlicher auch ihre "wirklichen" sind. Für vergangene Emanzipationsbewegungen kann man diese Differenz möglicherweise rekonstruieren, man kann sie aber nicht zur Handlungsstrategie in aktuellen pädagogischen Situationen machen.

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Erst wenn aus Gründen, die die Pädagogik vorfindet und nicht selbst herstellen kann, in bestimmten Bereichen und Situationen jugendliche Bedürfnisse nach Selbst- und Mitbestimmung drängen, können sie von Pädagogen auch aufgegriffen und unterstützt werden. In dieser Einschätzung liegt, wie noch zu zeigen sein wird, ein wichtiger Unterschied zu antikapitalistischen Positionen.

Bei dem Versuch, gesellschaftliche Veränderungen dialektisch zu verstehen, also die Tendenzen bedürfnisorientierter Selbst- und Mitbestimmung gegenüber den ihnen entgegenstehenden Tendenzen zu verstärken, ist gerade deswegen kritische Distanz zu den Veränderungen selbst geboten. Sie können nicht vorweg als "fortschrittlich" verstanden werden, sondern sie müssen sich an emanzipatorischen Maßstäben messen lassen. So ist z. B. der Abbau von Leistungsansprüchen, die Ignorierung oder Verleugnung institutioneller Regeln und Normen keineswegs selbst schon ein Zeichen von zunehmender Selbstbestimmung, sondern zunächst nur ein Zeichen zunehmender sozialer und kultureller Desorganisation - was aber keineswegs dasselbe ist. Das emanzipatorische Konzept kann also nur "Theorien mittlerer Reichweite" formulieren, die ständig überprüft werden müssen. Die Bewertung politischer und pädagogischer Phänomene kann sich je nach ihrem gesellschaftlichen Kontext ändern. Die Einführung des Fernsehens z. B. war insofern von emanzipatorischer Bedeutung, als es die bloß lokalen politischen und kulturellen Informationsmonopole beseitigte - eine Tatsache, die auch die Jugendarbeit in den fünfziger und sechziger Jahren zu spüren bekam. In dem Maße jedoch, wie das Fernsehen mit den ihm eigenen Verständnis- und Darstellungsmustern eine Art von kulturellem Monopol bekam, und z. B. Muster des systematischen Nachdenkens außer Kraft setzte, stellt sich die Frage nach seinem emanzipatorischen Wert unter einer neuen Perspektive.

Oder: Die bei C. W. Müller und den anderen Autoren der sechziger Jahre begonnene Hinwendung zu den Subjekten ermöglichte damals ein gewisses Maß an Selbstbestimmung; manche gegenwärtigen Konzepte jedoch, die in der Unmittelbarkeit der Kommunikation verbleiben, ohne diese mit äußerer Realität (z. B. den Regeln von Institutionen) zu konfrontieren und zu vermitteln, sind gegen-emanzipatorisch, weil Selbstbestimmung unter diesen Umständen nur eingebildeter Schein sein kann.

Diese Beispiele zeigen, daß es der emanzipatorischen Pädagogik nicht darum gehen kann, die Prozesse der sozialen und kultu-

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rellen Desorganisation zu fördern, sondern immer nur darum, zu vermitteln zwischen den Ansprüchen der gesellschaftlichen Realität und den demokratischen Implikationen der Selbst- und Mitbestimmung. Daraus ergibt sich auch eine Differenzierung hinsichtlich sozio-kultureller Unterschiede: Was in einer konkreten Situation für bestimmte Personen emanzipatorisch sein kann, also ein mehr an Selbst- und Mitbestimmung ermöglichen kann, ist nicht ein für allemal vorgegeben bzw. theoretisch feststellbar, sondern muß jeweils ermittelt werden, weil dabei lebensgeschichtliche Determinanten im Rahmen bestimmter sozio-kultureller Umwelten eine Rolle spielen. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob es sich um einen 10jährigen oder 18jährigen handelt; ob um einen aus dem Jugendgefängnis Entlassenen oder um einen psychisch Kranken; ob um Großstädter oder einen Jugendlichen vom Lande; ob um junge Arbeiter oder um Gymnasiasten; ob um Jugendliche in einer sozial noch relativ integrierten Umgebung oder um Obdachlose. Unter dem Anspruch emanzipatorischer Pädagogik geht es zwar immer darum, Fähigkeiten zu verstärken, die für eine zunehmende Selbst- und Mitbestimmung benutzt werden können, aber welche das jeweils sind, muß jeweils erst konkret ermittelt werden.

So gesehen setzt das emanzipatorische Konzept bei den Pädagogen eine hohe Bereitschaft voraus, sich immer wieder möglichst unvoreingenommen auf die gesellschaftliche wie auf die subjektive Realität der Partner einzulassen. Daß dies offenbar so selten geschieht, daß im Gegenteil unter dem Begriff "emanzipatorisch" eher "geschlossene" statt offene Konzepte verstanden werden, mag daran liegen, daß professionelle Pädagogen für ihren Alltag ein gewisses Maß an standardisierten Vorstellungen benötigen, um einen möglichst großen Teil ihres Handelns routinemäßig wiederholen zu können.

Im Mittelpunkt dieses Konzeptes von emanzipatorischer Jugendarbeit steht das Individuum, die Entfaltung seiner Fähigkeiten und Qualitäten. Selbstverständlich wird das Individuum dabei in seinen sozialen und ökonomischen Kontexten gesehen, aber ebenso, wie seine soziale und institutionelle Abhängigkeit nicht einseitig (als bloß fremdbestimmte Herrschaft) gesehen wird, ebenso werden auch diese unmittelbaren sozialen Kontexte ambivalent gesehen: als etwas, dessen der Mensch bedarf, aber auch als etwas, demgegenüber er einen Spielraum braucht. Die Konzentration auf das lernende Individuum muß nicht

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ausschließen, daß es sich mit anderen zusammen für bessere Bedingungen für Selbstbestimmung und damit auch für politische Aktionen einsetzt. Aber in didaktisch-methodischer Hinsicht haben die Pädagogen nicht die Aufgabe, ihre Einsichten über gesellschaftliche Zusammenhänge den Jugendlichen "beizubringen", sie können sie allenfalls in die Kommunikation "einbringen" und im übrigen außersubjektive Realität zur Bearbeitung bzw. zur Abarbeitung vorstellen.

Dieses emanzipatorische Konzept, entstanden in einer bestimmten Situation gesellschaftlichen Wandels, kann historisch überflüssig werden, wenn seine Prämisse, daß es ein Bedürfnis nach individueller Selbstbestimmung gibt, nicht mehr zutrifft. Wenn etwa eine Generation heranwächst, die - aus welchen Gründen immer - kein Bedürfnis nach individueller Lebensgestaltung, nach Ich-Stärke und Ich-Identität hat, sondern im Gegenteil vielleicht fehlende Ich-Stärke durch Anlehnung an Kollektive, durch Bindung statt Autonomie zu kompensieren trachtet - dann kann ein solches Konzept auf die Dauer gegenstandslos werden.

In den sechziger Jahren, als die emanzipatorischen Konzepte formuliert wurden, ging es um eine relative Emanzipation von den Ansprüchen der im übrigen noch intakten "Erziehungsmächte" und ihrer Normen: Familie, Schule, Kirchen. Das waren anschaulich erlebbare Ansprüche, mit denen man sich auseinandersetzen mußte; gegenwärtig sind sie jedoch weitgehend bedeutungslos geworden, so daß man auf den ersten Blick sagen könnte, die Emanzipation des Jugendalters sei weitgehend gelungen. Jedoch zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß die Zwänge sich nur verschoben haben. Sie sind unanschaulicher und abstrakter geworden und wirken vor allem als verinnerlichte. In dieser Lage bekommt die Gleichaltrigen-Gruppe eine alle anderen Sozialbeziehungen überragende Bedeutung für die Herausbildung der Identität. Da aber das Jugendalter andererseits im besonderen Maße hinsichtlich von Normen, Riten und Verhaltensweisen der Vermarktung durch die Massenmedien und die Konsumprinzipien unterliegt, muß die Identität in dem Maße labil bleiben, wie jene Einflüsse z. B. ständigen modischen Veränderungen unterliegen. Soll angesichts dieser Sozialisationslage der Begriff "Emanzipation" als pädagogische Leitvorstellung aufrechterhalten bleiben, so muß er neu präzisiert werden. Nun geht es um Befreiung von diesen abstrakt-verinnerlichten Zwängen, um Selbstbestimmung gegen jene Vergesell-

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schaftungsprinzipien der Massenmedien und des Konsums, um Selbstbestimmung zum Zwecke der Identitätsfindung.

Wenn man angesichts der eben skizzierten Sozialisationslage nicht die Konsequenz der antikapitalistischen Position ziehen will - Überwindung der kapitalistischen Prinzipien, die diese Zwänge verursachen - dann muß die Strategie einer emanzipatorischen Pädagogik eine neue Richtung bekommen. Man kann sich von den - verinnerlichten -Determinanten der Massenkommunikation und der Konsumprinzipien nicht auf dieselbe Weise emanzipieren wie früher etwa von den Ansprüchen der Familie und der Schule. Der Freiraum für Selbstbestimmung ist ja weitgehend da, was fehlt, ist ein kulturelles Repertoire, ein Bestand von Verhaltensmustern und Perspektiven, die die stets wechselnden Konsumstandards zu transzendieren vermögen, ja, zum Maßstab ihrer Beurteilung und Auswahl werden können. Am Maßstab historisch-kritischer emanzipatorischer Pädagogik festzuhalten, bleibt also insofern sinnvoll, als es zwischen traditioneller und antikapitalistischer Jugendarbeit um die Aufrechterhaltung einer aufs Individuum konzentrierten Leitvorstellung von Selbstbestimmung und Mitbestimmung im Rahmen der als die eigenen erkannten Bedürfnisse geht. Wie derartige Individuen sich politisch verhalten werden - ob sie das "kapitalistische System" zerstören oder reformieren werden - kann im emanzipatorischen Konzept als einem pädagogischen nicht antizipiert werden: man kann es einfach nicht wissen.
 
 

3. Antikapitalistische Jugendarbeit

Der Begriff "antikapitalistische Jugendarbeit" wurde auf einer Tagung in Gauting im Januar 1970 geprägt. Zu dieser Tagung hatten die Victor-Gollancz-Stiftung für Jugendhilfe und der Deutsche Bundesjugendring eingeladen. "Teilnehmer waren 23 Mitarbeiter, vornehmlich Bildungsreferenten, aus 13 Jugendverbänden und einem Landesjugendring" (Brühl u. a. 1970, S. 195). Die Tagung verlief antiautoritär, d. h. ohne formelle Leitung, und ihre Ergebnisse wurden - von beauftragten Kollektiven aus dem Teilnehmerkreis - im Maiheft 1970 der Zeitschrift "deutsche jugend" veröffentlicht. Bilanz der Überlegungen war eine "Kritik" der alten politischen Jugendarbeit.

"Deren in der Regel pluralistisches Selbstverständnis, das wohl von unterschiedlichen Interessen, zugleich aber von der grundsätzlichen

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Möglichkeit ausgeht, diese auszugleichen und zu harmonisieren, ließ sich angesichts antagonistischer, systemimmanent unaufhebbarer Klassengegensätze nicht mehr halten. Ebenso wenig konnten irgendwelche höheren oder allgemeinmenschlichen Werte zur Begründung politischer Jugendarbeit mehr taugen, war doch deutlich geworden, daß 'Menschlichkeit', 'Toleranz', 'Verantwortung' im System zur Verschleierung bestehender Unmenschlichkeit, Intoleranz und Verantwortungslosigkeit dienen und ihrer Verwirklichungsmöglichkeit entbehren. Nimmt man diese Werte aber ernst, bedeutet das die Verpflichtung zu antikapitalistischer Jugendarbeit, die die Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse anstrebt, in der solche Werte ihre reale Grundlage finden können" (S. 225).
 
 

Neben dem Grundsatz, daß die Jugendarbeit nicht nur politisch bildend, sondern selbst politisch aktiv werden müsse zur Beseitigung der kapitalistischen Verhältnisse wurden auch konkrete Überlegungen "zur Praxis antikapitalistischer Jugendarbeit" angestellt (S. 228 ff.), die im wesentlichen zu folgendem Ergebnis führten:

1. Die Industriearbeiterschaft sei nicht mehr allein das revolutionäre Potential, deshalb seien "für eine antikapitalistische Jugendarbeit prinzipiell alle Jugendlichen in abhängiger Stellung von Bedeutung (Lehrlinge, Schüler, Studenten)".

2. "Antikapitalistische Jugendarbeit ist klassenspezifisch, das heißt, sie orientiert sich in der Zusammensetzung ihrer Teilnehmer und in der Wahl ihrer Inhalte und Methoden an der Klassenstruktur unserer Gesellschaft und an den dadurch bedingten klassenspezifischen Lernbarrieren und Lernmotivationen. Das bedeutet: a) anzusetzen bei den konkreten Erfahrungen der Teilnehmer (aus Familie, Schule und Betrieb), um sie zur Artikulation ihrer subjektiven Bedürfnisse und Konflikte zu bewegen und von daher ihr Interesse und ihre Lernbereitschaft zu wecken; b) in einem zweiten Schritt zu versuchen, die geäußerten Bedürfnisse in der Gegenüberstellung zu ihren wirklichen Primärbedürfnissen (nach Liebe, Anerkennung, Selbstentfaltung) als gesellschaftlich vermittelte zu erklären und ihre persönlichen Konflikte als in gesellschaftlichen Widersprüchen begründet einsichtig zu machen; c) und schließlich Mittel und Wege zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen aufzuzeigen" (S. 229).

3. "Antikapitalistische Jugendarbeit ist antiautoritär, das heißt, sie hat den Abbau autoritärer Strukturen bei den Teilnehmern zum unmittelbaren Ziel". Die dabei anzuwendenden Methoden "müssen aber ihrerseits an dem Anspruch gemessen werden, den Teilnehmern zu wirklicher Ich-Stärkung und Spontaneität, zum Abbau von Eindimensionalität und zu erhöhter Toleranz für Mehrdeutigkeiten zu verhelfen - wodurch diese Teilnehmer auch für die eigene Theorie und Praxis der Veranstalter weniger verfügbar werden. Dieses Risiko hat eine antikapitalistische Jugendarbeit einzugehen, denn hier, in der Übereinstimmung von Ziel und Methode, erweist sie ihre Glaubwürdigkeit" (S. 231).

4. "Antikapitalistische Jugendarbeit stützt sich auf eine kritische Theo-

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rie, deren Vermittlung sie sich zur Aufgabe gesetzt hat . ... Diese Theorie darf nicht verstanden werden als dogmatisches Lehrgebäude, als System 'wahrer' Sätze, sondern nur als Denkansatz, als Methode kritischer Reflexion. Aufgabe antikapitalistischer Jugendarbeit ist von daher nicht primär die Vermittlung theoretischen Wissens, sondern die Entwicklung der Fähigkeit zum theoretischen Denken, das heißt zum Erkennen 'struktureller Zusammenhänge zwischen individueller Lebensgeschichte, unmittelbaren Interessen, Wünschen, Hoffnungen und geschichtlichen Ereignissen' (S. 231).

5. "Antikapitalistische Jugendarbeit muß Ansatz zur 'organisierenden Information' sein, das heißt, sie muß zu praktisch relevanter Solidarisierung führen" (S. 231).

6. "Antikapitalistische Jugendarbeit muß versuchen, politisch relevante Praxis zu vermitteln". Gemeint ist damit einerseits "Arbeit mit bereits solidarischen und politisch-aktiven Gruppen", andererseits soll "eine sich antikapitalistisch verstehende Jugendarbeit versuchen, praktische Ernst-Situationen in ihre eigenen Veranstaltungen einzubauen, indem eine Veranstaltung in eine geplante oder spontane Aktion mündet oder ein Konflikt mit der Umwelt provoziert wird" (S. 232).

7. "Antikapitalistische Jugendarbeit muß exemplarisch sein, das heißt, daß die erfragten oder vermittelten Erfahrungen und die angesprochenen Themen eine Verallgemeinerung auf die gesamte Arbeits- und Lebenssituation der Teilnehmer und die dahinter stehenden gesellschaftlichen Widersprüche ermöglichen, daß sie Ansätze zur Vermittlung der zum Verständnis dieser Widersprüche erforderlichen Theorie liefern und daß schließlich an ihnen die Möglichkeit solidarischer, systemverändernder Praxis aufgezeigt werden kann" (S. 232).
 
 

Als Fazit dieser Thesen ergibt sich eine Art von didaktischem Stufenmodell:

"1. Einstieg: Herstellung von Ich-Beteiligung durch Betroffenheits- oder Befreiungserlebnisse;

2. Problematisierung: Herausarbeitung und Verschärfung der erfahrenen Probleme;

3. Theorievermittlung: Gesellschaftskritische und historische Reflexion der herausgearbeiteten Probleme;

4. Praxisbezug: Anwendung neu erworbener Erkenntnisse, Einstellungen und Verhaltensweisen auf die eigene Lebenspraxis" (S. 233).
 
 

Dieses Konzept versteht sich also als eine politische Fortentwicklung des emanzipatorischen Ansatzes, dessen grundlegende Werte beibehalten werden sollen. In der Tat sind hier noch wichtige Momente des emanzipatorischen Ansatzes enthalten, z. B. die Zurückhaltung des Pädagogen in der 3. These sowie die Berücksichtigung der Individualität des Lernenden, und schließlich in der 4. These der Hinweis, daß es nicht auf doktrinäre Vermittlung bestimmter Inhalte ankomme, sondern auf die Fähigkeit zum Denken. Dieses Konzept enthält also noch

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grundlegende pädagogische Ambitionen, allerdings wirft die übergeordnete politische Zielsetzung (Änderung des kapitalistischen Systems im ganzen) einige Probleme auf, die Liebel (Lessing/Liebel 1974) dann in einer Kritik dieses Gautinger Papiers formuliert hat, um auf diese Weise die politischen Implikationen dieses Ansatzes zu radikalisieren:

1. Liebel bestreitet, daß jeder Jugendliche für den antikapitalistischen Kampf mobilisiert werden könne. Welche Jugendlichen seien denn nicht "in abhängiger Stellung", "wenn sogar die wohl ohne Zweifel äußerst privilegierten Studenten auch noch zu den 'abhängigen Jugendlichen' gezählt werden" (S. 162). Nur die Industriearbeiterschaft könne das "revolutionäre Subjekt" sein, das Bürger- und Kleinbürgertum neige, wenn seine Stellung durch Klassenkämpfe bedroht werde, eher zur faschistischen als zur sozialistischen Lösung. Antikapitalistische Jugendarbeit müsse also "proletarische Jugendarbeit" sein. Die Jugendarbeit mit Oberschülern müsse sich diesem Ziel unterordnen.

"Antikapitalistische Jugendarbeit mit Oberschülern wird eine doppelte Perspektive entwickeln müssen. Sie müßte darauf abzielen, große Teile der Oberschüler so weit zu verunsichern, daß sie nicht länger in der kapitalistischen Gesellschaft den höchsten Ausdruck der historischen Vernunft sehen und nach Abschluß der Ausbildung als überzeugte Agenten der herrschenden Klasse fungieren. Andererseits hätte sie zu versuchen, den durch die Schülerbewegung ausgelösten Umorientierungsprozeß einer Minorität von Oberschülern so weit zu fördern und zu stabilisieren, daß ein kleiner Teil der Oberschüler in die Lage versetzt wird, in die zu entfaltenden Klassenkämpfe auf Seiten der revolutionären Arbeiterschaft aktiv einzugreifen" (5. 167 f.).
 
 

2. Unter dieser Perspektive müsse Jugendarbeit aufhören, "Freizeiterziehung" zu sein, sie müsse sich auf die Produktionssphäre bzw. Schule konzentrieren. "Da sich das Kapitalinteresse am unmittelbarsten in der Produktionssphäre manifestiert und die Klassenlage dort konstituiert und sinnlich am ehesten erfahrbar wird, kommt der Beteiligung an betrieblichen Kämpfen die entscheidende Bedeutung zu" (S. 174). Das Freizeitsystem dagegen sei lediglich eine Kompensation für die in der Produktionssphäre erlittene Unterdrückung und solle Widerstand dagegen gar nicht erst aufkommen lassen.

3. Dem Ziel des antikapitalistischen politischen Kampfes müßten sich pädagogische Überlegungen unterordnen - sowohl hinsichtlich der Inhalte wie der Methoden.

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"Das Lernziel antikapitalistischer Jugendarbeit ... ist ... die Befähigung und Motivation der Jugendlichen, kollektiv-organisiert die kapitalistische Klassenherrschaft zu bekämpfen. Die Organisierung der Lernsituation soll diesen Lern- und Befähigungsprozeß ermöglichen, nichts weiter. Sie kann dies aber nur gewährleisten, wenn sie den Erfordernissen der politischen Praxis untergeordnet bleibt" (S. 178).

In diesem radikal zu Ende gedachten Konzept sind die emanzipatorischen Prinzipien verschwunden - ja es handelt sich im Grunde genommen gar nicht mehr um ein pädagogisches Konzept. Es ist Liebel nie gelungen, seine Vorstellungen pädagogisch zu konkretisieren, was ihm seine Kritiker aus den eigenen Reihen (z. B. Belardi) vorgehalten haben. Aber Liebels Frage ist konsequenterweise nicht, wie sein Konzept pädagogisch, sondern wie es politisch zu realisieren ist. Dem politischen Kampfziel sind alle anderen Überlegungen faktisch untergeordnet. Arbeit mit Oberschülern z. B. soll es nur geben, um diese in ihrer Klassenlage zu verunsichern bzw. um einige von ihnen für den politischen Kampf zu gewinnen.

Diesem "radikalen" Konzept war kein nennenswerter Erfolg beschieden, obwohl sich gewisse Hoffnungen an die Jugendzentrumsbewegung knüpften. Für diejenigen, die in Jugendverbänden oder Freizeitstätten oder Bildungsstätten tätig waren, war dieses Konzept ohne Modifizierungen kaum brauchbar. Belardi (1975) und Bierhoff (1974) haben versucht, den antikapitalistischen Ansatz zu überwinden, Bierhoff durch den Entwurf einer "kritisch-emanzipativen" Theorie, Belardi durch ein Konzept "erfahrungsbezogener Jugendbildungsarbeit". Insofern beide jedoch an den politischen Prämissen der antikapitalistischen Jugendarbeit festhalten, modifizieren sie das radikale Konzept nur.

Die prinzipiellen problematischen Aspekte des antikapitalistischen Konzeptes lassen sich wie folgt skizzieren:

1. Das didaktische Grundproblem ist, den Widerspruch zwischen den empirisch vorfindbaren Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen und den politischen Intentionen zu erklären und dann praktisch zu lösen. Man versucht, diesen Widerspruch mit der Differenz von subjektiven und objektiven Interessen zu erklären: Das subjektive, empirische Interesse ist gesellschaftlich produziert, und zwar so, daß es in den kapitalistischen Ausbeutungszusammenhang paßt; das objektive Interesse ist die Interessenlage, wie sie ohne diesen Ausbeutungszusammenhang bestünde; also kommt es darauf an, dieses objektive Interesse

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ins Bewußtsein zu nehmen - zunächst als Utopie - und es wenigstens in der Jugendarbeit selbst - z. B. als herrschaftsfreie Kommunikation - erfahrbar werden zu lassen.

"Abgezielt wird auf eine Klärung der Bedürfnisse, objektive Bedürfnisse sollen zu subjektiven Bedürfnissen werden durch Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen der individuellen Bedürfnisstruktur. Indem nun am Erfahrungsbereich der Jugendlichen angeknüpft wird, kann die Brücke geschlagen werden zwischen ihren individuellen Bedürfnissen und Problemen. Es kann versucht werden, die Bedürfnisstruktur des Jugendlichen umzustrukturieren: das Bedürfnis nach einer chancengleichen, egalitären Gesellschaft, in der es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln gibt, der zur Herrschaft über andere Menschen berechtigt, soll in ein subjektives Bedürfnis überführt werden" (Bierhoff 1974, S. 35).
 
 

2. Zur praktischen Lösung dieses didaktischen Problems sind vor allem zwei Versuche im Rahmen der antikapitalistischen Jugendarbeit gemacht worden: das dozierende "Beibringen" des richtigen Bewußtseins und der "erfahrungsbezogene" Ansatz. Im ersten Falle ging es darum, den Jugendlichen unter Bezugnahme auf ihre Interessen und Probleme die politisch-gesellschaftlichen Hintergründe ihrer Existenz zu "erklären". Belardi kennzeichnet diese Haltung treffend als didaktischen "Objektivismus" und belegt dies mit einer Reihe von Beispielen (S. 62 ff.). Die geringe Wirksamkeit dieses Konzeptes führte dann zum sogenannten "erfahrungsbezogenen" Ansatz: In einer möglichst herrschaftsfreien Kommunikation sollten die Jugendlichen ihre Erfahrungen artikulieren, so daß diese auf ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung hin interpretiert werden können.

3. Da die gesamtgesellschaftliche Interpretation vorgegeben ist, kann sie in der pädagogischen Kommunikation auch nicht mehr zur Disposition stehen. Insofern war Liebels Kritik richtig: Wenn man schon ein bestimmtes politisches Ziel verfolgt, dann müssen daraus auch die Konsequenzen gezogen werden, und damit paßten in der Tat die emanzipatorischen Relikte im Gautinger Papier nicht zusammen. Interpretationsspielräume bestehen lediglich für die Interpretation der Erfahrungen, für Überlegungen zweckmäßigen Handelns und hinsichtlich der jeweiligen Konkretisierung jener allgemeinen Prämissen. Die pädagogische Kommunikation ist also an entscheidenden Punkten nicht offen, was die antikapitalistische Jugendarbeit folgerichtig zu einem "lehrerzentrierten" pädagogischen Konzept macht, obwohl gerade die Stellung des Pädagogen zurückgenommen werden soll.

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"Antikapitalistische Jugendarbeit wird nicht primär von Pädagogen getragen und von pädagogischen Überlegungen bestimmt, sie ist notwendig Teil der politischen Praxis derer, deren objektives Interesse auf eine Umwälzung der kapitalistischen Klassenherrschaft abzielt. In der antikapitalistischen Jugendarbeit werden deshalb die Lernprozesse von denen organisiert werden müssen, die den politischen Kampf selbst tragen. Hierzu brauchen sie die Unterstützung der Pädagogen" (Liebel, in: Lessing/Liebel 1974, S. 178).
 
 

Jedoch bedeutet die Zurücknahme des Pädagogen lediglich, daß die letzte Interpretation und die Bestimmung der Lerninhalte auf die Führer des Kampfes übergeht.

4. Bei der Wendung vom "objektivistischen" Unterricht zum "erfahrungsbezogenen" Ansatz - also zur Betonung des "subjektiven Faktors" - gewannen Theoreme und Einsichten der Gruppendynamik, der Psychoanalyse und des symbolischen Interaktionismus Einfluß. Gleichwohl muß der "erfahrungsbezogene" Ansatz skeptisch beurteilt werden:

a) Dieser Ansatz scheint auf den ersten Blick sehr einleuchtend, weil pädagogisch begründet, und weil er eine fruchtbare Fortentwicklung des doktrinären "Objektivismus" zu sein scheint. Jedoch kann gerade er zu realitätsfernen Vorstellungen führen. Die pädagogische Kommunikation wird nämlich nicht mehr von thematisch bestimmten Analysen getragen, die auf Wirklichkeitserfassung gerichtet wären, sondern von dem, was in einer Gruppe an Erfahrungen und Bedürfnissen "anliegt". Damit besteht die Gefahr, daß die außersubjektive Realität - z. B. der Politik - nur in verstümmelter Form, nämlich wie sie in der kommunikativen Beschränkung erscheint, wahrgenommen wird. Der Pädagoge muß nun nicht mehr ein Thema als ein Stück Realität "studieren", um sich der tatsächlichen Sachverhalte zu vergewissern, sondern er bringt die antikapitalistischen Interpretationen, die zumindest im Prinzip ein für allemal klar sind, immer wieder ein. Pädagogisch gesprochen sind die "Erfahrungen" der Jugendlichen nur der "Aufhänger" für diese Interpretationen: Was prinzipiell herauskommt, ist vorweg klar. Dadurch werden die Erfahrungen der Jugendlichen aber eigentümlich wertlos, insofern sie einer pädagogischen Kommunikation keine Substanz zu geben vermögen. Nach dem antikapitalistischen Konzept sind diese Erfahrungen ja immer "falsche", die erst die richtige Interpretation bekommen müssen, sie haben nur insofern Wert, als sie sich auf die politischen Theoreme hin "vermitteln" lassen. Die dadurch gegebene "Lehrerzentriertheit" der Kommunikation muß sich nicht einmal mehr durch irgend-

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eine spezielle Sachkunde, z. B. sorgfältige Kenntnis eines Themas ausweisen. Es gibt keine "Themen" mehr, sondern nur noch "Ansätze", das heißt, die Themen werden entsprechend der gewünschten Endinterpretation vorstrukturiert, wie z. B. Belardis eigene Vorschläge zeigen.

b) In dem Maße, wie die außersubjektive Realität als Denk-, Leistungs- und Handlungsanspruch an Bedeutung verliert, nimmt einerseits die Manipulationsmöglichkeit zu und andererseits auch die Möglichkeit, der Realität Stereotype aufzusetzen, die deshalb plausibel sind, weil sie dem Wunschdenken entsprechen. "Erfahrung" wird nun nicht mehr verstanden als Ergebnis des Austausches von innerer und äußerer Realität bzw. des Austausches der Subjekte, sondern schrumpft zusammen auf diffuse Gestimmtheiten wie Unzufriedenheit und Unlust, die leicht zu Aktionen nach außen gewendet werden können. Wenn es also unter diesen Umständen gelingen sollte, Jugendliche zu "Klassenkampfaktionen" zu mobilisieren, so ist nicht sicher, ob dies aus Einsicht in die Klassenlage geschieht, oder weil ein diffuses Unlustpotential sich lediglich aggressiv hat einsetzen lassen.

c) Der erfahrungsbezogene Ansatz stellt also an die Jugendlichen keinerlei Ansprüche hinsichtlich der kognitiven Durchdringung ihrer Erfahrungen und Konflikte, keine Denk- und Verhaltensarbeit, die der einzelne selbst zu leisten hätte. Die wird ihm abgenommen, und zum Ausgleich dafür wird er in seiner emotionalen Subjektivität bestärkt, sein "Leiden" ist schließlich von den kapitalistischen Verhältnissen verursacht, aber es wird gebraucht für die politische Mobilisierung.

So paradox es klingen mag, aber gerade im erfahrungsbezogenen Ansatz steckt auf Grund jener politischen Prämissen die Gefahr einer Mißachtung des Individuums und seiner Erfahrungen, Leiden und Konflikte, die Gefahr nämlich, die jeder pädagogischen Beziehung innewohnt, daß die Defizienz der Partner die Grundlage der eigenen professionellen Identität wird. Es ist für die pädagogische Kommunikation ein wichtiger Unterschied, ob jemand sich als Person mit bestimmten Grundüberzeugungen einbringt, oder ob er als Person gerade zurücktritt hinter das, was er - als Austauschbarer - zu verkünden hat.

Wie diese kritischen Hinweise zeigen, ist die antikapitalistische Konzeption sehr schnell in das alte Dilemma aller normativ orientierten weltanschaulichen Pädagogik geraten: Die Lern-

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ergebnisse stehen nicht zur Disposition; die Vermittlungsprozesse wie das pädagogische Verhalten überhaupt haben daran gemessen lediglich taktische Bedeutung; der Pädagoge handelt nicht als Person, sondern als "priesterlicher" Funktionär der Idee einer Gruppe bzw. eines sonstigen "Über-Ichs".

Nun ist dies weder neu noch ehrenrührig. Schließlich hat es immer schon weltanschauliche Gruppen und Verbände gegeben (z. B. die Kirchen), die keinen Zweifel daran ließen, daß es ihnen im Rahmen der Jugendarbeit um die Werbung eines überzeugten und - in ihrem Sinne - handlungsbereiten Nachwuchses ging, und die Jugendarbeit ist ja gerade derjenige Sozialisationsbereich, in dem weltanschauliche Partikularitäten ihr legitimes Feld haben - etwa im Unterschied zur Schule. Gleichwohl unterscheiden sich die antikapitalistischen Konzeptionen von denen der "klassischen" weltanschaulichen Träger in einigen wichtigen Punkten: Einmal dadurch, daß es sich hier gar nicht um einen neuen "Träger" handelte, sondern um Einzelpersonen, die zwar aufgrund ihrer gemeinsamen Vorstellungen eine Art von Gruppenbewußtsein entwickelt hatten, aber keine öffentlich erkennbare Organisation als kulturelle Objektivität repräsentierten. Die Folge davon wiederum mußte sein, daß der weltanschauliche Anspruch, der den Jugendlichen entgegentrat, zunächst verdeckt blieb (wer andererseits zu einem kirchlichen Jugendverband geht, weiß in etwa, was ihn erwartet). Treten in einer solchen Lage die Pädagogen als Personen - also grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber den Erfahrungen und Überzeugungen der Partner - für ihre politischen Überzeugungen ein, dann ist die Beziehung zwischen den Jugendlichen und dem Pädagogen klar erkennbar, d. h., der Jugendliche kann sich entsprechend souverän verhalten. Dies ist ihm jedoch weniger leicht möglich, wenn der Pädagoge seine Überzeugungen und damit seine Lernziele gar nicht persönlich meint und darstellt, sondern sich - ohne erkennbarer Repräsentant einer weltanschaulichen Organisation zu sein - gleichwohl als Vertreter eines politischen "Über-Ichs" geriert. Diese Konfusion von Person und Rolle hat dann den Charakter einer eigentümlichen "Beziehungs-Falle".
 
 

Möglicherweise beruht nicht zuletzt darauf das Scheitern der antikapitalistischen Konzeptionen. Jedenfalls scheinen die praktischen Erfahrungen gerade im Umgang mit Arbeiterjugendlichen derartige Probleme bewußt gemacht zu haben. So deutet sich ab 1976 insofern eine Wende an, als die antikapitalistischen

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Autoren zwar an ihren allgemeinen politischen Prämissen festhalten, im übrigen aber nun für eine neue Version der "Offenen Jugendarbeit" plädieren (Lessing 1976; Garrer u. a. 1977; Liebel 1978): Die pädagogische Bevormundung der Jugendlichen müsse aufhören; deren Erfahrungen und Meinungen seien andere als die der Pädagogen, aber gleichwertige, so daß auch der Pädagoge von ihnen lernen könne und müsse; die Jugendlichen sollten ihre Bedürfnisse in die Jugendarbeit einbringen und sich dort "selbst sozialisieren" können.

Man gewinnt den Eindruck, daß diese Wendung - was jedenfalls die pädagogische Reflexion angeht - wieder anknüpft an den Diskussionsstand vom Ende der sechziger Jahre - etwa an C. W. Müllers Überlegung, das Programm der Jugendarbeit seien die Jugendlichen selbst - wobei natürlich die gesellschaftlichen Veränderungen und vor allem die Veränderungen in der Sozialisation des Jugendalters entsprechende Modifizierungen nötig machen.

Vielleicht drückt sich in dieser neuen Wendung nur aus, daß die antikapitalistische Position pädagogisch ein Irrweg war, insofern sie weder inhaltlich noch methodisch noch hinsichtlich der pädagogischen Interaktion Neues erbrachte, was sich hätte als eine Art von neuem pädagogischen Konzept durchsetzen können und über den Stand vor der Studentenbewegung hinausgelangt wäre. Was z. B. Liebel (1978) neuerdings im Hinblick auf den pädagogischen Bezug postuliert, war damals alles bereits ausformuliert. Damit ist über die politische Vernünftigkeit antikapitalistischer Positionen, die ja inzwischen bis weit in die Umweltbewegung verbreitet sind, selbstverständlich noch gar nichts gesagt. Wohl aber wirft die Erfahrung, die die antikapitalistische Jugendarbeit in den letzten zehn Jahren hat machen müssen, die Frage auf, ob das Repertoire pädagogischer Handlungsmöglichkeiten nicht gleichsam von der Natur der pädagogischen Interaktionsmöglichkeiten her relativ begrenzt ist und auch durch politische Optionen nicht einfach erweitert werden kann. Mit anderen Worten: Die Variationen pädagogischen Handelns sind lange bekannt und historisch durchgespielt, und sie können wohl in ihrer jeweiligen Kombination, nicht aber im Hinblick auf ihren Fundus irgendwelchen politischen oder normativen Positionen zugerechnet werden. In dem Maße jedenfalls, wie etwa bei Liebel (1978) der jugendliche Partner wieder als lernendes und Erfahrung tragendes Individuum in den Mittelpunkt rückt, hat sich die antikapitali-

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stische Position wieder den emanzipatorischen Vorstellungen angenähert - unbeschadet dessen, daß die wissenschaftlichen und ideologischen Interpretationen bleiben. Zu lernen aus der Entwicklung der antikapitalistischen Jugendarbeit wäre wohl vor allem - wieder einmal! - folgendes: Man kann auf pädagogische Kommunikation verzichten und wie Lessing/Liebel (1974) an deren Stelle die politische Kampfgemeinschaft setzen. Dann aber bekommt diese Art von Kommunikation ihre eigentümlichen "Regeln": es geht um Werbung, um Agitation, um Überredung und Täuschung, um Machtbildung und Machterhaltung in der eigenen Gruppe, um Taktik, Kalkül und Disziplin. Gewiß geht es auch um Solidarität, aber nur mit den "eigenen Leuten" und nur solange, wie diese politisch "bei der Stange bleiben". Läßt man sich jedoch auf eine pädagogische Kommunikation ein, dann treten Eigengesetzlichkeiten in Kraft, die möglicherweise die angestrebten politischen Ziele in Frage stellen oder zumindest in größere Ferne rücken. Die politischen Überzeugungen der Pädagogen werden dann vielleicht akzeptiert, wenn man die Entfaltung der dafür grundlegenden menschlichen Fähigkeiten wie Urteilskraft, Toleranz, Engagement für den Schwächeren, Solidarität, Kooperationsfähigkeit usw. ermöglicht. Dies aber ist der wesentliche Inhalt pädagogischer Kommunikation - insbesondere der an Emanzipation orientierten.
 
 

4. Theorie und Professionalität

Nun muß man sich natürlich fragen, welche Bedeutung solche theoretischen Diskussionen für die Praxis selbst haben. Treffen sie eigentlich wirklich die Probleme in einem Jugendverband, in einem Jugendzentrum oder in einer Bildungsstätte? Braucht man für diese Arbeit wirklich eine systematische Gesellschaftstheorie, wie die antikapitalistische Jugendarbeit in der Kritik der emanzipatorischen gefordert hat? Oder verstellen solche Abstraktionen nicht eher den Blick für das, was man vernünftigerweise in der Praxis miteinander tun könnte?

Schließlich muß man sehen, daß solche Theorien - das gilt auch für die emanzipatorische - der Legitimation derer dienen, die die Arbeit tun. Theoretisch artikulieren müssen sich die Praktiker, die vom Gewohnten abweichen, um das Neue zu begründen und zu rechtfertigen. Das galt schon für die Veröffentlichungen der sechziger Jahre. Es geht um Abgrenzung

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gegen andere Begründungen und Praktiken einerseits und um Werbung für die eigenen andererseits. Aber das sind Gefechte der Pädagogen, nicht der jugendlichen Teilnehmer.

Damit ist noch einmal die Frage nach dem (jugend)politischen Sinn solcher Theoriekonzepte aufgeworfen. Es hat ja, wie wir sahen, relativ lange gedauert, bis die Jugendarbeit überhaupt so etwas wie ihre eigene Theorie zu formulieren begann. Genauer gesagt: Theorie wurde in den sechziger Jahren von denen benötigt, die ihre Praxis im Vergleich zum üblichen verändern und diese Veränderung - nicht zuletzt auch zum Zwecke der Mittelbeschaffung - rechtfertigen wollten bzw. mußten. Dies zeigt, daß das Bedürfnis nach veröffentlichter Theorie keineswegs sich von selbst versteht und auch keineswegs nur aus den pädagogischen Problemen der Praxis erwächst. Im Gegenteil: Die theoretische Diskussion kann sich sehr leicht gegenüber den praktischen Problemen verselbständigen und eine Art von Eigendasein führen. Eben dies ist schon den emanzipatorischen Konzepten und erst recht den antikapitalistischen vorgeworfen worden, daß sie nämlich das, was tatsächlich in der Jugendarbeit geschieht, zum großen Teil gar nicht mehr treffen und insofern auch nicht hilfreich seien. In der Tat läßt sich fragen, ob die "Banalität" dessen, was üblicherweise in einem Freizeitheim oder in einer Jugendverbandsgruppe geschieht, wirklich einer so "hohen" Theorie bedarf.

Andererseits muß das Bedürfnis nach derartigen Theorien einen sozialen Hintergrund haben. Dieser ist wohl in erster Linie zu sehen im professionellen Selbstverständnis der in der Jugendarbeit hauptamtlich tätigen Pädagogen. Die zunehmende Professionalisierung der Jugendarbeit mußte das Problem des beruflichen Selbstverständnisses aufwerfen. Was ist ein "Jugendbildner" im Unterschied zum Lehrer einerseits und zum Fürsorger andererseits? Selbst für viele Mitarbeiter in den kirchlichen Jugendverbänden kann offensichtlich die berufliche Identität nicht mehr allein durch Identifikation mit dem Träger zustande kommen; auch hier muß zumindest irgendetwas dazu kommen, was sich auf die pädagogische Seite der Tätigkeit beziehen läßt.

Vieles spricht dafür, daß das Bedürfnis nach theoretischer Selbstvergewisserung hier eine wichtige Ursache ist. Mehr noch: Gerade die emanzipatorischen bzw. antikapitalistischen Theoriestücke - vor allem deren gesellschaftskritische Aspekte - scheinen für das Selbstverständnis besonders geeignet zu sein. Dies

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würde auch erklären, warum bestimmte antikapitalistische Theoreme sich quer zu den Verbänden verbreitet haben, und zwar offensichtlich vor allem in den Reihen der hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeiter bzw. der studentischen Teamer. Es war sicher kein Zufall, daß die antikapitalistische Jugendarbeit in Gauting von Jugendbildungsreferenten formuliert wurde. Mit Hilfe derartiger Theoreme konnte das Selbstverständnis etwa so definiert werden: Im Unterschied zum Lehrer, der die kapitalistischen Prinzipien als "Agent" an die junge Generation zu vermitteln hat, ist die Jugendarbeit zumindest nicht unmittelbar an solche Aufträge gebunden. In ihr kann vielmehr politische Kritik am Gesellschaftssystem geübt werden, wobei die pädagogische Aufgabe im wesentlichen darin besteht, die unmittelbaren Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen in Richtung auf die gewünschte Veränderung zu interpretieren. Der "Jugendbildner" kann sich also als der "eigentliche Aufklärer" verstehen. Der relativ abstrakte Charakter der Theorie, der zur Banalität der Praxis in keinem angemessenen Verhältnis steht, drückt jedoch unterstreichend die Bedeutung und Funktion der professionellen Pädagogen aus.

Die durch zunehmende Theoretisierung begleitete Professionalisierung trennte auch die hauptamtlichen von den ehrenamtlichen Mitarbeitern; diese nahmen die immer abstrakter werdenden Konzepte kaum an und fühlten sich vermutlich aus dieser Diskussion eher ausgeschlossen. Ihr Mißtrauen gegen Theorie überhaupt, die ihr Selbstverständnis gefährden konnte, übertrug sich auf die Hauptamtlichen als Träger dieser Theorien, durch die sie sich disqualifiziert fühlen mußten; dies ließ sich schon in den sechziger Jahren beobachten. Alles spricht dafür, daß die theoretischen Diskussionen nur von einer kleinen Minderheit getragen, bzw. zur Kenntnis genommen wurden.

Bei diesen Diskussionen änderte sich zudem der institutionelle Hintergrund. Die Theorieentwürfe der sechziger Jahre stammten fast ausnahmslos von solchen Autoren, die in der Jugendarbeit praktisch tätig waren. Ihre Konzepte waren deshalb weitgehend praxisorientiert und konkret, ohne "wissenschaftstheoretische" Betrachtungen; es ging im Kern um das Ausloten der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Im Zuge der Studentenbewegung jedoch wurde der "Produktionsort" von Theorie immer mehr die Hochschule, deren "Normen" für wissenschaftliche Argumentationen übernommen wurden: eine Tendenz zur möglichst "lückenlosen" Erklärung der Realität, in der da gehan-

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delt werden mußte, setzte sich durch, einschließlich der Neigung, wissenschaftstheoretisch unanfechtbar zu sein. Nun mußte erst einmal "Gott und die Welt" erklärt werden, bevor etwas zu den Problemen der Jugendarbeit gesagt werden konnte. Selbst diejenigen, die nun von der Hochschule kommend in der Jugendarbeit tätig wurden und allmählich merkten, daß diese Art von Theorie ihnen wenig nützte, blieben oft in diesen universitären Normen befangen, zumal diese wie die antikapitalistischen Theoreme die Qualität eines sozialen Erkennungssignals hatten: davon abzuweichen hätte bedeutet, nicht mehr dazuzugehören, aus einer teils tatsächlichen, teils imaginativen Gruppe ausgeschlossen zu sein.

Damit ist ein weiterer Aspekt angesprochen, nämlich das Verhältnis der Autoren bzw. ihrer Anhänger zu diesen Theorien. Es ist bekanntlich ein Grundproblem jeder pädagogischen Tätigkeit, daß man dabei die Vorstellungen, die man selbst über gewisse Grundfragen der privaten wie beruflichen Existenz hat, auf die jugendlichen Partner projiziert. Das geschieht auch im Rahmen von pädagogischen Theorien. Die Autoren der sechziger Jahre hatten auch persönlich ein Verhältnis zu den von ihnen vertretenen Leitvorstellungen wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Emanzipation. Sie fühlten sich - bei aller Hochschätzung der Teamarbeit - als Individuen, die für ihr Handeln einen möglichst großen Freiraum wünschten und die dies auch ihren Kollegen und jugendlichen Partnern zugestanden.

Demgegenüber hatten die Autoren und die pädagogischen Anhänger der antikapitalistischen Phase einen Hang zu kollektiven Denk- und Verhaltensweisen. Teamarbeit geriet oft zum Gruppendruck, individuelles Handeln war eher verpönt, man wünschte, sich durch gewerkschaftliches Handeln und durch formelle kollegiale Beschlüsse abzusichern. Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Bedürfnisse besonders empfänglich machten für die damit korrespondierenden antikapitalistischen Theoreme, oder ob umgekehrt diese Theoreme eher das Verhalten und die Erwartungen mit geprägt haben.

Inzwischen gibt es einen akademischen Ausbildungsgang - das Diplomstudium - für pädagogische Mitarbeiter in der Jugendarbeit. Damit entsteht die Gefahr, daß die Problemdefinitionen des Feldes Jugendarbeit in den entsprechenden Studiengängen erfolgen - nach der für solche Ausbildungsgänge eigentümlichen Logik und nach den Regeln der dort jeweils herrschenden wissenschaftlichen "Schulen". Zum Berufsinteresse der in der

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Jugendarbeit hauptamtlich Tätigen ist das der an den Hochschulen Lehrenden getreten, das aufgrund der unterschiedlichen Handlungssituation und unterschiedlicher institutioneller Regeln sowie der eigentümlichen Normen der "Wissenschaftlichkeit" keineswegs mit den Interessen und Bedürfnissen der "Praktiker" identisch sein kann. Diese Kluft kann nicht einfach durch Praktika überbrückt werden, zumal diese ebenfalls nach den Erwartungen der Hochschule abgeleistet werden sollen. Wenn eine Hochschule z. B. erwartet, daß in den Praktika ganz bestimmte Fragestellungen oder gar empirische Erhebungen eine Rolle spielen sollen, die vom Studium ausgehen und auf dieses wieder zurückkommen sollen, dann ist der Praktikumsort nur das "Material", das es zu beobachten gilt, aber nicht ein Erfahrungsort sui generis, dessen eigene Handlungsstruktur für den Praktikanten bestimmend wäre.

Außerdem ist die Jugendarbeit in den letzten Jahren zunehmend Gegenstand von Dissertationen und ähnlichen wissenschaftlichen Arbeiten geworden. Die für derartige Arbeiten eigentümliche Konstituierung des Gegenstandes unterscheidet sich manchmal erheblich von dem, was die Phänomene in ihrer banalen Realität tatsächlich ausmacht. Das Ergebnis sind dann manchmal theoretische Überanstrengungen, die ihrerseits normbildend für Ausbildungsgänge und die Hochschullehre überhaupt sein können. Sieht man sich zum Vergleich einmal an, was inzwischen in der Schulpädagogik an Unterrichtswissenschaft und Didaktik bzw. Curricula formuliert wird, dann kann man sich ausrechnen, was auf die Jugendarbeit zukommt, wenn sie einer derartigen theoretischen Überwältigung durch die Hochschulen auf die Dauer ausgesetzt wird.

Diese Zusammenhänge von Theorie und Professionalität müßten noch genauer untersucht werden. Daß es sie gibt, kann wohl unterstellt werden, wenn man vergleichsweise an die Geschichte der Professionalisierung des Lehrers denkt. Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, daß früher in vielen Fällen die berufliche Arbeit in der Jugendarbeit nur ein Durchgangsstadium war, während die gegenwärtige Arbeitsmarktlage zu längerfristigen Perspektiven nötigt. Damit aber entstehen erst die Probleme der beruflichen Selbstdefinition.

So paradox es klingen mag: Entgegen den Intentionen der "Erfinder" der "antikapitalistischen" Jugendarbeit, die den politischen Kampf bei Unterordnung pädagogischer Gesichtspunkte wollten, ist dieses Konzept inzwischen zu einem typischen päd-

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agogisch-professionellen "Weltbild" geworden, einem der Weltbilder, von denen die Geschichte der Pädagogik und Didaktik viele kennt, die die Realität "sub specie magistri" interpretieren, sie also so definieren, daß sie optimal ins pädagogische Handlungskonzept paßt.

Um jedoch diese Perspektive der "Berufsideologie" nicht zu verabsolutieren, sei darauf hingewiesen, daß z. B. auch die moralischen Impulse der Studentenbewegung im Sinne der Unterstützung der Benachteiligten und Unterprivilegierten sich ebenfalls quer zu den Verbänden durchgesetzt haben. Trotzdem wird vermutlich die neue Situation der hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeiter Folgen für die innere Gestalt der Jugendarbeit haben, z. B. in dem Sinne, daß die Flexibilität und Innovationsbereitschaft abnehmen wird zugunsten routinisierter Handlungsabläufe; von der neuen Lage der pädagogischen Mitarbeiter geht zweifellos eine Tendenz zur Verschulung aus.

Ursache für die "Nachfrage" nach pädagogischer Theorie ist nun aber keineswegs die Professionalisierung allein. Weitere Faktoren kommen hinzu.

1. Solange Jugendarbeit im wesentlichen eine spezifische Form der Freizeitverbringung war, benötigte man lediglich überlieferte Muster, Angebote und Verhaltensweisen, keine besondere pädagogische Theorie. Es reichte, "richtig mit jungen Menschen umgehen zu können". Das änderte sich, als Anfang der sechziger Jahre "Bildungsarbeit" sich in der Jugendarbeit durchsetzte. Dazu benötigte man ein Mindestmaß an fachlichen und pädagogischen Kenntnissen, also so etwas wie "pädagogische Theorie".

2. In dem Maße, wie die Bundes- und Landesjugendpläne von einem eher pauschalen Förderungsinstrument zum Instrument der jugendpolitischen Planung wurden, wo andererseits wegen der gestiegenen Kosten und der Verknappung der öffentlichen Finanzmittel eine öffentliche (parlamentarische) Begründung notwendig wurde - in eben diesem Maße mußte die Notwendigkeit der Jugendarbeit auch pädagogisch begründet werden; denn im Unterschied zu den fünfziger Jahren war Jugendarbeit nun keine Notstandsarbeit mehr, die sich von selbst verstand.

Diese Hinweise zeigen, daß es für das Entstehen pädagogischer Theorien in der Jugendarbeit eine ganze Reihe - sich mehr oder weniger ergänzender - Gründe gibt, daß aber gerade die Teilnehmer, in deren Namen sie letztenendes formuliert werden, dabei nur eine legitimierende Rolle spielen, und es ist die Frage, in welchem Maße sie diesen wirklich nützen.

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