Hermann Giesecke

Kurzer Rückblick nach 40 Jahren: Was ist Jugendarbeit?

In: Die Zeiten ändern sich... Annäherung an Theorie und Funktionsbestimmungen einer zeitgemäßen Kinder- und Jugendarbeit. = Loccumer Protokolle 17/04. Rehburg-Loccum 2006, S. 23-27

© Hermann Giesecke

 


(Hinweis: Vom 5.-7.Mai 2004 fand in der Ev. Akademie Loccum eine Tagung über das im Titel genannte Thema statt. Zu Beginn beschäftigte die Veranstaltung sich mit dem 1964 erschienenen Buch "Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie". Drei der damaligen Autoren - Wolfgang Müller, Helmut Kentler, Hermann Giesecke - gaben zu ihrem alten Text ein rückblickendes Statement ab - Klaus Mollenhauer war bereits verstorben. H.G.)

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass fast zeitgleich mit dieser Tagung der Juventa-Verlag das Ende der Auslieferung des hier zur Debatte stehenden, 1964 erschienenen Buches "Was ist Jugendarbeit" (Müller u.a. 1964) angekündigt hat. Immerhin hat es noch 40 Jahre nach seinem Erscheinen Interesse und Käufer gefunden, obwohl der Text nie überarbeitet wurde - eher ungewöhnlich für ein Buch mit einem pädagogischen Thema. Mein Beitrag ist jedoch weiterhin auf meiner Homepage zu finden (www.hermann-giesecke.de/werke3.htm).

Als ich meinen Beitrag schrieb, hatte ich mich mit der pädagogischen Wissenschaft noch kaum beschäftigt, ich hatte vielmehr das Staatsexamen für die Gymnasialfächer Geschichte und Latein und das dafür benötigte Philosophicum nicht in Pädagogik, sondern in Philosophie absolviert. Mein Text verwertete viele Diskussionen, die ich im Rahmen meiner praktischen Tätigkeit - meiner ersten Berufstätigkeit - in der Jugendbildungsstätte Jugendhof Steinkimmen geführt hatte, wo ich von 1960 bis 1963 tätig war. Vorher, während meiner Studienzeit, hatte ich zudem als studentischer Mitarbeiter bereits an zahlreichen Jugendtagungen zur politischen Bildung - als Teamer, wie es damals hieß - im Jugendhof Vlotho mitgewirkt. Ferner spielten zwei Fachtagungen für mich eine bedeutende Rolle, zu denen Martin Faltermaier vom Juventa-Verlag eingeladen hatte und an denen etwa ein Dutzend Personen teilgenommen hatten. Mein Text war also das Ergebnis der Reflexion meiner eigenen pädagogischen Praxis.

Aus dieser Ausgangslage ergibt sich schon, dass ich diesen Text heute nicht mehr in dieser Form publizieren würde. Hätte ich ihn heute noch einmal zu schreiben, würde ich allerdings seine Grundstruktur nicht ganz zurückweisen, sondern überprüfen und natürlich aktualisieren. Es ist von der Grundstruktur her eine pädagogische Theorie der Jugendarbeit, keine soziologische, obwohl vieles aus der damaligen soziologischen Literatur darin eingeflossen ist. "Pädagogisch" bedeutet, dass er vom pädagogischen Handeln ausgeht, für dessen Überschrift ich damals noch

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der Tradition entsprechend den umfassenden Begriff "Erziehung" verwendet habe, heute würde ich von Lernen sprechen und dabei zwischen Sozialisation, Erziehung und Bildung unterscheiden. Die Pädagogik betrachtet demnach eine gesellschaftliche Wirklichkeit wie die Jugendarbeit unter der Frage, was man in ihr lernen kann - und was nicht. Aufgabe einer pädagogischen Theorie ist demnach, das Feld der Jugendarbeit so zu beschreiben, dass die Voraussetzungen, Bedingungen, Ziele und Methoden in einem ganzheitlichen Zusammenhang deutlich werden können, aber auch so, dass die Ergebnisse anderer einschlägiger Wissenschaften in einem solchen Faktorenmodell berücksichtigt werden können. Die pädagogische Theorie ergibt sich also nicht als Ableitung aus anderen Wissenschaften, sondern benutzt deren Ergebnisse als Hilfen zur Aufklärung des Handlungsfeldes. Diese meine Position ist damals schon erkennbar, aber noch eher unbewusst formuliert. Sie ist durch die PISA-Diskussion wieder aktuell geworden, insofern Pädagogisches jedenfalls in der öffentlichen Meinung immer mehr als Anwendung von irgend etwas verstanden wird - der Psychologie, der Systemtheorie, des Konstruktivismus oder auch wirtschaftlicher Organisationstheorien.

Anfang der sechziger Jahre gab es trotz einer umfangreichen, vor allem von den Mitgliedern der Jugendbewegung selbst produzierten Literatur keine Theorie der Jugendarbeit, die uns erklärt hätte, was wir in der Praxis taten oder tun sollten. Deshalb produzierten wir selbst, was wir zu brauchen glaubten. Das erklärt aber noch nicht die große Resonanz, die diese Versuche auslösten. Offenbar trafen wir damit auf ein Problem, das auch andere beschäftigte. Warum war eine theoretische Neubesinnung damals nötig?

Meine Antwort darauf war: Sie wurde im Unterschied zu früheren Zeiten nötig, ûm einerseits überregionale Organisationen wie die großen Jugendverbände ideell zusammenzuhalten (die Funktionäre irgendwo im Lande mit der Heimabendgruppe im Dorf) sowie für langfristige Planungen auf der Grundlage teilweise erheblicher und steigender öffentlicher Mittel.

Aber wer braucht solche Theorien konkret? Nicht die jugendlichen Teilnehmer, nicht die ehrenamtlichen Mitarbeiter vor Ort, wir selbst brauchten sie, die hauptamtlichen Mitarbeiter, die sich damals dank öffentlicher Förderprogramme erstaunlich vermehrten.

Die Professionalisierung verlangte nach Theorie, und der Bedarf wurde noch größer, als die Profis dann auch an Hochschulen ausgebildet werden sollten.

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Unser Buch markierte also einen geschichtlichen Übergang, der von heute aus durchaus ambivalent zu sehen ist: den Aufstieg der hauptamtlichen Jugendarbeiter und den Abstieg der ehrenamtlichen. Vorher war Jugendarbeit über weite Strecken eine reine Gesellungsform nach den von der bildungsbürgerlichen Jugendbewegung erfundenen Regeln des "Jugendgemäßen" (naturnah und zivilisationsfern, konsumasketisch, gemeinschaftsorientiert, sexuell enthaltsam), und unter dem Schutz eines von Erwachsenen arrangierten und geschützten Ambiente. Erst Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre wurde sie professionell pädagogisiert - vor allem unter dem Anspruch der (insbesondere politischen) Bildungsarbeit. Es war die Bildungsarbeit, die Profis nötig machte.

Aus der Rückschau betrachtet sieht das in etwa so aus: Um sich als Berufsgruppe ähnlich wie die Lehrer verstehen zu können, mussten die Jugendarbeiter sich einerseits deutlich von den Lehrern abgrenzen und andererseits gegenüber den Trägern der Jugendarbeit in Distanz treten können, um nicht als bloße Exekutierer eines verbandlichen oder kommunalen Willens dazustehen. Ein solches Bedürfnis haben Ehrenamtliche oder Nebenamtliche nicht, weil die Identifikation mit den Zielen des Trägers ja gerade ihre Bereitschaft zur Mitwirkung begründet und sie außerdem dort nicht beruflich tätig sind, sondern ihre berufliche Identität aus einer anderen Quelle beziehen.

Die erwünschte professionelle Gemeinsamkeit konnte vielmehr nur aus der Definition der beruflichen Partner, nämlich der Jugendlichen, erwachsen. Man musste deren (entwicklungsbedingte) Bedürftigkeit herausfinden. Der jugendliche Mensch ist offensichtlich mehr als nur ein Mitglied etwa seines Jugendverbandes, seine Bedürftigkeit geht weit über das hinaus, was der Verband ihm anbieten kann und von ihm erwartet. Geht man von dieser Tatsache aus, dann kann sich die pädagogische Profession "Jugendarbeiter" von daher, nämlich von einer umfassend verstandenen Bedürftigkeit des Jugendlichen her, begründen. Umgekehrt können von einer solchen Position aus wiederum Forderungen, nämlich nun sogenannte "pädagogische", an den Träger erhoben werden; der professionelle Jugendarbeiter wird so auch zum Anwalt des Jugendlichen gegenüber dem Träger.

Deshalb waren die Thesen der jungen Jugendsoziologie besonders akzeptabel für uns. Schelsky, ihr bedeutsamster Repräsentant, hatte in seinem Bestseller "Die skeptische Generation" (1957) die Fixierung auf das in der Jugendzeit der damali-

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gen Erwachsenengeneration entstandene Bild des Jugendlichen und des Jugendgemäßen heftig kritisiert. Zum anderen enthielt diese Jugendsoziologie eine pädagogische Implikation, die praktisch aufgegriffen werden konnte, nämlich die Aufforderung, Jugendlichen im Übergang zur Erwachsenenwelt Anpassungshilfen zu leisten. Auf diese Weise wurde die damals herrschende normative Pädagogik, mit der sich gerade in der Jugendarbeit wenig mehr anfangen ließ, durch eine pragmatische ersetzt.

Wenn man wie ich seit damals die Jugendarbeit im pädagogischen Sinne als ein besonderes Lernfeld versteht, ist zu klären, worin im Einzelnen diese Lernchancen bestehen und wie sie sich von vergleichbaren pädagogischen Feldern, etwa der Schule, unterscheiden. Dieser Aspekt ist nun erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen, muss je nach Lage der jungen Generation in der Gesellschaft neu ermittelt werden. Damals war Jugend sowohl in der Familie wie in Schule und Öffentlichkeit relativ streng nach unzweideutigen Normen sozial kontrolliert, davon musste sie sich nach meiner Meinung emanzipieren können, und dafür wiederum war das Feld der Jugendarbeit eine wichtige Möglichkeit. Hier konnte man mit Verhalten und Meinungen experimentieren, soziale Geborgenheit finden, Formen nichtintimer, also gesellschaftlicher Kommunikation lernen, sonst kaum mögliche sinnvolle Aktivitäten entfalten, über individuelle und kollektive Konflikte nachdenken sowie nicht zuletzt spezifische Begabungen und Interessen entdecken und fördern. Was ich damals unter dem Gesichtspunkt "Erziehungsdefizite" vorgetragen habe, bezog sich auf diese Lage der Jugend und ist heute natürlich historisch überholt und muss neu geklärt werden.

Aber die Fragestellung bleibt gültig: Was kann die Jugendarbeit einem Jugendlichen bieten, was er sonst in seinem Lebensbereich nicht so ohne weiteres finden kann? Wie damals ist auch heute nötig, sich ein Bild von gelungenem Heranwachsen zu machen, das die einzelnen pädagogischen Felder übergreift. Heute würde ich das am ehesten mit einer Bildungstheorie beschreiben. Damals bin ich von einem Idealbild eines allseits optimal erzogenen Jugendlichen ausgegangen, der sich zum Beispiel in der Jugendarbeit holt, was er in der Schule nicht bekommt. Heute würde ich mit dem Begriff der Bildung pragmatischer umgehen und von Fähigkeiten sprechen, die für eine optimale Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten gebraucht werden. Was davon kann die Schule leisten, was davon bedarf der besonderen Bedingungen der Jugendarbeit?

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Pädagogisch gesehen bietet die Jugendarbeit nach wie vor eine Vielzahl von Lernmöglichkeiten an, die so weder in der Familie noch in der Schule möglich sind. Das liegt an ihren besonderen Rahmenbedingungen: Freiwilligkeit der Teilnahme, keine Lehrpläne, keine formellen Leistungsnachweise, großzügige rechtliche Regelungen im Unterschied etwa zum Schulrecht, spezifische Beziehungen der Jugendlichen untereinander wie zum pädagogischen Personal, kaum einklagbare Leistungsansprüche durch die Eltern. Die Frage nach der Eigenständigkeit der Jugendarbeit ist gegenwärtig unter dem Eindruck der Debatte um die Ganztagsschule wieder aktuell geworden. Die Titelfrage des alten Buches steht also nach wie vor zur Debatte: Was ist (heute) Jugendarbeit - und was nicht? Aber das wäre ein neues Thema.

Wenn man unser Buch historisch richtig einordnen will, muss man auch die damaligen Kritiken hinzuziehen. Im Jahrgang 1965 der Zeitschrift "deutsche Jugend" finden sich dazu u.a. Beiträge von Theodor Wilhelm, Heinz-Georg Binder, Christof Bäumler, Martin Vogel, Karl Seidelmann, Wolfgang Fischer und Walter Hornstein. Außerdem: Heinz Hermann Schepp: Jugendarbeit in der egalitären Gesellschaft, in: Zeitschrift für Pädagogik, H. 5/1964. Die Autoren Kentler, Mollenhauer und ich - Müller befand sich im Ausland - antworteten auf die teilweise heftige Kritik im Oktoberheft der Zeitschrift.

Ich möchte es aus Zeitgründen zunächst einmal bei diesen Erinnerungen und Hinweisen belassen und bin gespannt, was die jüngeren Kollegen nachher aus ihrer Sicht zu dem Buch zu sagen haben.

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