Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 13: 1976

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Zu dieser Edition
Dieser 13. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahr 1976. In diesem Jahr war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte, keine selbständigen Monographien (In diesem Jahr ist erschienen: Einführung in die Politik. Lese- und Arbeitsbuch für den Sozialkundeunterricht im Sekundarbereich I. Stuttgart 1976)

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.

Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

Inhalt  von Band 13

100. Über die Grenzen einer Fachdidaktik "Politik" (1976)

101. Sozialisation und Erziehung als gesellschaftliche Tätigkeit (1976)

102. Erfahrung und Einsicht, Schülern zuliebe (1976)

103. Prüfungen und Zensuren fürs Leben? (1976)


 

100. Über die Grenzen einer Fachdidaktik "Politik" (1976)

Überlegungen zu Wolfgang Hilligens "Didaktik des politischen Unterrichts"

(In: Gegenwartskunde, H. 1/1976, S. 95-100)
 

Hilligens neue "Didaktik" (1) muß unter zwei Aspekten beurteilt werden, einmal unter dem Aspekt ihrer Darstellungsform und zum anderen unter dem Aspekt ihrer inhaltlichen Stichhaltigkeit.

Was die Form der Darstellung angeht, so handelt es sich um ein "Studienbuch", das mit der Anlage von Hilligens Schulbüchern mehr Ähnlichkeit hat als mit den üblichen, aus zusammenhängenden Texten und Kapiteln bestehenden wissenschaftlichen Einführungen. Nach dem ersten Eindruck scheint es sich sogar lediglich um eine Sammlung knapp gehaltener "Papiere" zu handeln, wie sie für die Seminararbeit produziert werden. Es zeigt sich jedoch, daß hier ein wohlüberlegtes, wenn auch kompliziertes Kompositionsschema verfolgt wurde: Die sachlichen Schwerpunkte tauchen an mehreren Stellen, als "Wiederholung unter neuem Aspekt" wieder auf; die Textteile innerhalb der Kapitel sind nach unterschiedlichen Funktionen voneinander abgegrenzt: "Basistexte" bieten grundlegende Informationen, "Materialien" dienen der Vertiefung und Ergänzung, wobei sowohl die Informationen wie auch die Materialien noch einmal nach ihrer Funktion unterteilt sind. Ausfaltbare Matrices sollen die strukturellen Zusammenhänge auch optisch sichtbar machen. Verbindende gedankliche Überleitungen wurden eingespart durch knappe Hinweise wie: "einerseits:"; "anderseits:"; "Begriffsbestimmung:"; "Verweis:"; "Ergänzungen:" usw. Auf diese Weise sind filmschnittartige, relativ knappe und verdichtete Text- und Materialstücke entstanden, zwischen denen der Leser die gedanklichen und logischen Zusammenhänge weitgehend selbst herstellen muß.

Dabei ist die Thematik weit gespannt. Neben den im engeren Sinne fachdidaktischen und unterrichtsmethodischen Problemen finden sich Kapitel zur Wissenschaftstheorie, zur Lerntheorie, zur Sozialisationstheorie und auch zur politischen Theorie. Hilligens eigener didaktischer Konzeption ist nur ein verhältnismäßig kleiner Teil des Buches gewidmet.

Trotz aller Bewunderung für diese gekonnte Übertragung einer erfolgreichen Schulbuchstruktur auf ein wissenschaftliches Studierbuch, vor allem für die zum großen Teil sorgfältig ausgewählten Zitate und die meistens auch Wesentliches betreffenden eigenen Textstücke, kann ich einige grundsätzliche Bedenken gegen diese Darstellungsform nicht unterdrücken:

1. Als Grundlagentext ("gemeinsame Lektüre") für Seminare kann ich mir dieses Buch sehr wohl vorstellen, wenn es als eine Art von "Schlüsseltext" verstanden wird und die Originale durch Referate usw. gründlicher und vor allem auch so eingebracht werden, daß die Studenten die Passage des Studierbuches am Original wieder überprüfen können. Als Grundlage des Eigenstudiums halte ich das Buch in der vorliegenden Form jedoch für weniger geeignet, weil es zu sehr dazu verführt, seinen Inhalt als hinreichendes Kompendium für das Studium zu

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betrachten, zumal der Verfasser zwar viele Hinweise dafür gibt, was man aus diesem Buch in welcher Reihenfolge lesen bzw. noch einmal nachlesen solle, aber zu wenig Hinweise dafür, was man in welcher vernünftigen Reihenfolge an anderen Texten bearbeiten solle.

2. So nützlich die knappen Texte und Materialien als Einstieg sind, so verkürzen sie doch die Wiedergabe notwendigerweise erheblich. Das zeigt sich besonders bei der Behandlung anderer didaktischer Konzepte (S. 139 ff.). Wenn nur jeweils ein bis zwei Seiten dafür zur Verfügung stehen, schrumpft das Referierte auf das zusammen, was gerade in die Systematik des Verfassers paßt. Dann erscheint die Sache so, als ob sich die anderen Autoren alle zur selben Frage geäußert hätten, während sie tatsächlich von zum Teil unterschiedlichen Problemstellungen ausgehen und ihre didaktischen Entwürfe nur auf diesem Hintergrund letzten Endes verständlich und auch kritisierbar sind. Überhaupt ist die von Hilligen gewählte Darstellungsform überall dort problematisch, wo das Verständnis auf die Kenntnis komplexer Kontexte angewiesen ist; da wird dann leicht aus dem Kontext bloße Addition. Es geht ja nicht nur darum, andere Autoren in ihrem eigenen Verständnis angemessen wiederzugeben, sondern auch darum, hinreichend differenzierte Vorstellungen über die Probleme und Alternativen selbst zu entwickeln. Bei Randthemen wie "Wissenschaftstheorie" oder "Lerntheorie" mag man solche Verkürzungen aus rein praktischen Gründen in Kauf nehmen, beim eigentlichen Thema des Buches jedoch ist das zweifellos ein Mangel. Auch die beliebten Schulbuch-Alternativen "einerseits - andererseits" bleiben hier zu eindimensional, suggerieren Alternativen, die es so nur selten gibt. Zweckmäßiger wäre vielleicht gewesen, immer erst das Problem - auch in der Auffassung anderer Autoren - gründlicher zu beschreiben und dann einige Positionen anzuführen.

3. Ich weiß auch nicht, ob der verhältnismäßig unsystematische Aufbau des Buches, bedingt durch die Intention der "Wiederholung unter neuem Aspekt" eine optimale Lösung darstellt oder nicht eher an der spezifischen Funktion eines Buches vorbeigeht. Gewiß gibt es zahlreiche Verweise und Rückverweise im Text auf andere Kapitel (die übrigens wenigstens mit Seitenangaben hätten versehen sein müssen, damit man nicht immer erst im Inhaltsverzeichnis nachblättern muß), aber das Lesen und Studieren wird auf diese Weise immer wieder abrupt unterbrochen und gestört. Für meinen Eindruck geht hier die für ein Schulbuch vielleicht notwendige, im Rahmen eines wissenschaftlichen Studiums jedoch problematische "didaktische Handreichung" zu weit, übrig bleibt oft nur der vage Eindruck, daß alles mit allem irgendwie zusammenhänge. Damit unterstützt das Buch die ohnehin weitverbreitete additive Studierweise vieler Studenten (das "Paper-Studium"), die nur schwer in der Lage sind, komplexe Argumentationen mit etwas längerem Atem zu ertragen und selbst zu vollziehen.

Überflüssige Überleitungstexte, die den Leser oft abführen, wegzulassen und den Text auf Wichtiges zu konzentrieren und ihn entsprechend zu gliedern, halte ich für einen sehr nützlichen Einfall; allerdings müßte der Verfasser eines Studienbuches dann mehr und vor allem ausführlichere Hilfestellungen durch komplexere Problematisierungen und durch die vielleicht nur exemplarische Hinführung zu anderen Theorien und Texten geben. Hilligen hat das Buch zu sehr von Anfang an auf seine eigene Konzeption zugeschnitten, wobei häufige Hinweise darauf, daß er als erster etwas gesagt habe oder früher schon dasselbe gesagt habe, eigentlich nur verwirren.

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Viele der Fragen, die zur Weiterführung der Überlegungen angeboten werden, sind im Text nicht gründlich genug vorbereitet und können dazu verführen, statt im Rahmen einer aufgebauten Argumentation "über Gott und die Welt" zu diskutieren. Die didaktische Intention des Buches hätte keinen Schaden gelitten, wenn die Kapitel mehr in einem systematischen Nacheinander aufgebaut worden wären; man hat zwischendurch das Gefühl, daß bei der endgültigen Redaktion des Textes immer noch etwas Neues hinzugekommen ist.

Was nun den Beitrag des Buches zur politischen Didaktik selbst angeht, so kann man nach den ausgiebigen Diskussionen der letzten Jahre die Argumente im wesentlichen nur wiederholen. Deshalb lediglich einige Gesichtspunkte und Bemerkungen:

1. Hilligens didaktische Konzeption ist mir in diesem Buch unklarer geblieben als in seinen früheren Veröffentlichungen. Das mag an der Darstellungsform liegen, die immer nur gleichsam "vorbereitende Überlegungen" zu einer eigenen Konzeption zuläßt. Auch das bewundernswert diffizile Strukturgitter (Matrix) hat mir dabei nicht geholfen - vielleicht deshalb nicht, weil solche Strukturgitter (wie übrigens auch schon bei Thoma) nicht aus logischen Argumentationssequenzen resultieren, sondern verhältnismäßig unverbindliche "Zuordnungs-Spiele" sind: Da man alles mit allem in Beziehung setzen kann, ohne die Art dieser Beziehung präzise angeben zu müssen, sind solche Spiele unendlich fortsetzbar, deshalb eben aber auch in ihrer Begrenzung nicht plausibel. Solche Zuordnungen sind so richtig und zugleich so nichtssagend wie etwa die, daß es einen Zusammenhang zwischen der Neurose der Hausfrau X und dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln gebe. Auch bei Hilligens Matrix - und eben auch bei seiner didaktischen Konstruktion aus politischer Option, Situationsanalyse, Bedürfnissen usw. - sind die Spielräume für willkürliche Interpretationen viel zu groß, als daß daraus eine allgemein überzeugende didaktische Theorie entstehen könnte.

2. Das kann man jedoch nicht Hilligen zur Last legen, sondern ist ein Problem jeder didaktischen Konzeption, die die politische Wirklichkeit aus eigenen Prämissen her neu konstituieren will. Wenn man wie Hilligen die Didaktik als "Wissenschaft vom Bedeutsam-Allgemeinen" definiert, kommt man notwendigerweise in eine ausweglose Lage: Nur um einige Stunden politischen Unterricht pro Woche mit einigem Selbstbewußtsein erteilen zu können, muß man immer mehr erklären, immer mehr Einwände berücksichtigen, immer kompliziertere Modelle entwerfen, immer mehr Wissenschaftstheorie betreiben, und ist am Ende doch genauso klug wie zuvor. Wäre nämlich so etwas wie die "Wissenschaft vom Bedeutsam-Allgemeinen" möglich, so gäbe es sie längst, und die Pädagogik müßte sie nicht erst erfinden. Hier werden die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Konstruktion überzogen, und die Folge davon ist, daß didaktische Theorien ständig in Weltanschauungskämpfe verstrickt werden, was keineswegs nur an der Böswilligkeit der Gegner liegt.

Was in der Politik "das Bedeutsam-Allgemeine" ist, entscheidet sich in den politischen Auseinandersetzungen selbst, nicht in den Theorien von Pädagogen. Die Pädagogik hat in erster Linie die Aufgabe, an diesen Auseinandersetzungen partizipieren zu lassen, sie verstehen und mit einem bewußten intellektuellen Instrumentarium prüfen und analysieren zu lehren. Wenn man das nicht will, wenn man also den politischen Unterricht nicht als "reflexive Teilnahme" an der praktischen Politik verstehen will, dann gibt es nur eine vernünftige Alternative:

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Sozialwissenschaft in der Schule in einem eigenen Fach zu lehren, wie jüngst in einer gründlichen didaktischen Analyse vorgeschlagen wurde (2). Möglicherweise kann man auch beide Ansätze kombinieren. Aber eine didaktische Konzeption, die sich dazwischen ansiedelt, mit "eigenständigen" wissenschaftstheoretischen politisch-ideologischen und sonstigen normativen Prämissen und Vorgaben, wird vom Mittel zum Selbstzweck, pädagogisiert die Politik in nicht mehr zu vertretendem Maße. Das war schon das Problem der nordrhein-westfälischen Richtlinien und ist auch Hilligens Problem. Ich vermute, daß die Aufnahmebereitschaft für derartige Konzepte in den letzten Jahren vor allem auf die Einrichtung fachdidaktischer Lehrstühle und auf die Spannung zwischen "Fachwissenschaft" und "Fachdidaktik" sowie zwischen Universität und pädagogischen Hochschulen zurückgeht. Fachdidaktik ist gleichsam zu einer "Emanzipationswissenschaft" gegen die klassische Universität geworden. (Nicht zufällig spielt das Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik bei Hilligen eine verhältnismäßig große Rolle).

3. Bei diesem Problem führt auch die Forderung nach "Offenlegung" wissenschaftstheoretischer und politischer Positionen nicht weiter. Einmal waren auch in früheren Texten und Richtlinien diese Positionen "offengelegt", man mußte nur gelernt haben, sie daraufhin zu lesen und zu kritisieren. Inzwischen aber haben an den Hochschulen und in der Literatur diese "Offenlegungen" gelegentlich den Charakter von Bekenntnis-Orgien angenommen. Gedanken und Argumentationen werden nur noch unter der Voraussetzung solcher Vorweg-Bekenntnisse zur Kenntnis genommen. Die Folge ist u. a. ein Verlust an differenzierter Argumentation und die voreilige Subsumtion von Gedanken unter sogenannte "Positionen". Wissenschaftstheorie ist aber zunächst einmal eine philosophische Spezialdisziplin, die an ganz bestimmten Problemen arbeitet und an der man sich vernünftig nur mit einer gewissen philosophischen Vorkenntnis beteiligen kann. Was davon den Studierenden - zumal jüngerer Semester - mitgeteilt werden muß, sind die grundlegenden erkenntnistheoretischen Probleme (und erst sekundär die "Positionen"), im übrigen aber hat es wenig Sinn, sie ständig im Munde bzw. in der Feder zu führen.

Die studentische Protestbewegung hat von vornherein aus weltanschaulich agitatorischen Gründen diese Erkenntnistheorie aus einer Spezialdisziplin ins allgemeine Gerede gebracht, und vermutlich war das auch eine Zeitlang nützlich für die Besinnung auf die Grundlagen der wissenschaftlichen Arbeitsweise und auf ihre gesellschaftlichen Folgen. Aber wissenschaftliche Dignität gewinnt man nicht dadurch, daß man sich ständig auf solche Positionen bezieht, sondern dadurch daß man den Stand der Diskussion in den eigenen Texten zu realisieren versucht.

Ähnlich verhält es sich mit den politisch-ideologischen Prämissen bzw. Optionen. Man kann sie - als Service für das Verständnis des Lesers - ausdrücklich offenbaren, aber grundsätzlich sollte man dem Leser selbst überlassen, ob er sie überhaupt wissen will.

Zwar hat Hilligen diese Probleme auf engem Raum subtil und differenziert behandelt, aber es bleibt doch die Frage, ob sie in diesem Umfange zum Thema gehören oder nicht doch eher falsche Akzente setzen. Das Buch handelt nämlich nicht nur von der Didaktik der Politik, sondern schließt bewußt den Kern des ganzen grundwissenschaftlichen Studiums mit ein. Nun ist für jeden Fachdidak-

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tiker die Versuchung groß, möglichst viele grundwissenschaftliche Voraussetzungen mit zu behandeln, um sie in das "eigentliche Thema" zu integrieren. Aber gerade darin steckt die Gefahr einer Fachdidaktik als einer problematischen "Integrationswissenschaft", die eine "Integration der Fächer" suggeriert, die tatsächlich nicht systematisch, sondern nur durch die Herstellung "loser Beziehungen" möglich ist. Was vielen Studierenden als "Integration" erscheint, ist dann in Wahrheit nur ein Konglomerat aus puren Setzungen und Entscheidungen mit minimalen rationalen Kontrollmöglichkeiten.

4. Die von Hilligen vertretene Didaktik als eigenständige, besondere Konstruktion des Politischen hat Konsequenzen z. B. für die Einschätzung der politischen Publizistik. Sie wird nicht gesehen als der zentrale Gegenstand politischer Analyse und Kritik, sondern bloß als "Medium" für die didaktischen Intentionen (S. 230 ff.). Die Medien "müssen curriculum- und kontextbezogen ausgewählt werden" (S. 231). Wer wählt sie aber außerhalb der Schule schon nach solchen Gesichtspunkten aus und warum sollen sie nicht als das behandelt werden, als was sie den Menschen im Alltag begegnen? Nämlich als parteiliche, aber unentbehrliche Informationen, deren Nutzen herauszulesen man lernen muß?

5. Der "Konsens" in der politischen Bildung, dem Hilligen mit Recht große Aufmerksamkeit schenkt, ist nach meinem Eindruck gerade nicht durch "autonome" didaktische Konzepte zu erreichen, weil diese durch ihre notwendigen Optionen und Vorentscheidungen die schlafenden Hunde des Dissenses erst richtig wecken müssen. Konsens - das sollten die heutigen Diskussionen über die neuen Richtlinien klargestellt haben - kann nicht durch eigenständige didaktische Theorien der Politik erzielt werden, sondern nur durch Vereinbarungen, und zwar

1. durch Vereinbarungen über Themen- und Stoffgebiete, die offenkundig von politischer Relevanz sind;

2. durch Vereinbarungen über die konkreten Gegenstände, in denen sich diese Stoffe repräsentieren (Schulbücher; politische Publizistik usw.);

3. durch Vereinbarungen über die Art und Weise der Bearbeitung im Unterricht (z. B. methodisches Vorgehen; politische Kategorien; Toleranz gegenüber anderen Meinungen, usw.).

Wenn also - um ein Beispiel zu nennen - über die sogenannte "Konflikt-Didaktik" kein Konsens zu erzielen ist, dann kann als Kompromiß zusätzlich zu Konfliktanalysen die systematische Lehre über die grundlegenden staatlichen Institutionen treten. Auf dieser Basis läßt sich immer noch ein vernünftiger Unterricht machen, allerdings entfiele dann die Möglichkeit eines in sich widerspruchslosen didaktischen Systems. Um es anders auszudrücken: Es ist ein Unterschied, ob man darüber streiten muß, wie man im Unterricht mit der vorhandenen gesellschaftlichen Pluralität fertig wird, oder darüber, ob es eine didaktische Konzeption gibt, die diese Pluralität selbst außer Kraft setzen kann, indem sie auf den darin erkennbaren Konsens abhebt. Auch hier gilt: Die Pädagogik kann nur den Konsens herstellen, den die Politik selbst hergibt; eine wissenschaftliche didaktische Theorie kann bei dieser politischen Konsensfindung zwar Hilfestellung leisten, aber sie kann sie nicht ersetzen. Der politische Konsens ist selbst eine Machtfrage und deshalb unter Umständen schnellen Wandlungen unterworfen. Das hat sich deutlich am Begriff der "Emanzipation" gezeigt, der scheinbar eine Weile als pädagogische Leitvorstellung einen breiten Konsens zum Ausdruck brachte, in der letzten Zeit jedoch zum zentralen Angriffspunkt konservativer

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Positionen geworden ist. Die didaktische Theorie sollte also nicht eigene Vorschläge über die Interpretation der politischen Welt machen, sondern über die Art und Weise, sie zu verstehen und zu kritisieren.

Als Fazit läßt sich sagen: Hilligen kann in seinem neuen Buch zwar die noch offenen didaktischen und curricularen Probleme nicht weiter lösen, aber er präsentiert sie in der Form eines neuartigen wissenschaftlichen Studienbuches, das man auch dann zur Benutzung im Seminar empfehlen kann, wenn man gegen die Darstellungsform Einwände hat; denn schließlich kann jeder Dozent seine Seminarplanung entsprechend darauf einstellen. Ich könnte mir gut vorstellen, daß diese Darstellungsform, wenn sie weiter entwickelt wird, für den Typus des Studien- und wissenschaftlichen Lehrbuches in Zukunft eine große Rolle spielen wird.

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Anmerkungen:

(1) Wo1fgang Hilligen: Zur Didaktik des politischen Unterrichts 1. Wissenschaftliche Voraussetzungen - Didaktische Konzeption - Praxisbezug. Ein Studienbuch, 330 S., Leske Verlag + Budrich GmbH, Opladen 1975. 330 S., Pb. DM 30,-

(2) Sozialwissenschaft für die Schule. Umrisse eines Struktur- und Prozeßcurriculum, von Elke Callies u. a., Stuttgart 1974.

 

 

101. Sozialisation und Erziehung als gesellschaftliche Tätigkeit (1976)

(In: H. Giesecke/A. Klönne/D. Otten: Gesellschaft und Politik in der Bundesrepublik. Eine Sozialkunde. Frankfurt 1976, S.49-102)

(Das Buch, als Fischer-Taschenbuch erschienen, war zur Verwendung im  politischen Unterricht gedacht, H. G.)
 

Ein Mensch braucht von seiner Geburt an viele Jahre, um sich körperlich, geistig und seelisch so zu entwickeln, daß er in der Gesellschaft selbständig und selbstverantwortlich leben kann. Eine solche Entwicklung geschieht nicht einfach "von selbst" sie muß vielmehr planmäßig, nämlich durch Erziehung, hergestellt und gefördert werden. Nur durch eine richtige und gute Erziehung kann ein Kind so heranwachsen, daß es ein befriedigendes Leben zu führen vermag. Aber ein Kind lernt nicht nur durch das, was die Erzieher planmäßig von ihm verlangen, sondern auch durch zahlreiche Einflüsse und Wirkungen, die das gesellschaftliche Leben selbst an das Kind heranträgt: durch die Art und Weise des Familienlebens; durch die "Einflüsse auf der Straße"; durch Massenmedien und Konsumangebote usw.

Alle diese Einflüsse und Wirkungen, einschließlich der geplanten Erziehung, bezeichnen wir mit dem Oberbegriff "Sozialisation". Im Prozeß der Sozialisation lernen also Kinder diejenigen Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen, die sie dazu befähigen, die Erwartungen der Erwachsenenwelt - zunächst als Kinder, später als Erwachsene - zu erfüllen.
 

Familie und Erziehung
 

Grundbedürfnisse

Ein Kind kommt auf die Welt als "vitales Bündel" von Bedürfnissen; es ist zwar in gewissem Umfange durch seine Erbanlagen vorgeprägt, aber diese lassen einen weiten Spielraum für Entwicklungen: Was aus diesen Erbanlagen wird, entscheidet sich im Verlauf des weiteren Lebens und vor allem eben auch durch die Auswirkungen der Erziehung.

Das Kind hat schon bei seiner Geburt ausgeprägte materielle Grundbedürfnisse (Essen, Kleidung, Wohnung) und seelische Grundbedürfnisse (Liebe, Anerkennung, Zuwendung). Diese Bedürfnisse kann es zunächst nur äußern, zu ihrer Befriedigung kann es selbst noch nichts beitragen. Es ist dazu auf eine Fürsorgeperson (in der Regel die Mutter) angewiesen. Findet es niemanden, der seine Bedürfnisse befriedigt,

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so muß es sterben, es kann aus eigener Kraft nicht überleben. Das gilt übrigens nicht nur hinsichtlich der materiellen Bedürfnisse - wie man oft noch glaubt - sondern auch hinsichtlich der seelischen. Kinder verkümmern z. B. etwa in Kinderheimen oder in Krankenhäusern, wenn sie zwar gute Verpflegung erhalten, aber keine Zuwendung bzw. zu wenig persönlichen Kontakt mit Erwachsenen.
 

Die Bedürfnisse werden nur unter bestimmten Bedingungen befriedigt

Die Erziehung des Kindes setzt im Grunde dort ein, wo die Befriedigung der Bedürfnisse an bestimmte Bedingungen geknüpft wird. Z. B. wird allmählich die Nahrung nur noch zu bestimmten Zeiten gewährt, das Kind lernt so, seine Bedürfnisse aufzuschieben und an bestimmte Regeln zu knüpfen. Ferner macht irgendwann die Mutter ihre gefühlsmäßige Zuwendung abhängig davon, daß das Kind "freundlich", "lieb" oder "gehorsam" ist; das Kind lernt so den Zusammenhang von Geben und Nehmen: Ich bekomme nur etwas, was mir wichtig ist, wenn ich auch etwas gebe, was dem anderen wichtig ist.
 

Soziale "Grundmuster" werden gelernt

Das Kind lernt in der Familie also durch unmittelbare Erfahrung eine Reihe von "Grundmustern" der sozialen Beziehungen, die für das spätere Verhalten von großer Bedeutung sind. Dazu gehört auch das Muster "Macht - Ohnmacht". Es wird erlebt an den übermächtigen Eltern, die alles gewähren oder versagen können. Natürlich ist die Art und Weise, wie die Eltern mit diesem "Muster" umgehen, von besonderer Bedeutung für das künftige politische Verhalten. Meist ohne sich dessen bewußt zu sein, bringen die Eltern nämlich ihren Kindern Verhaltensweisen bei, die von den späteren Erwachsenen auch als politische Verhaltensweisen erwartet werden.

Man kann z. B. Kinder autoritär erziehen: Gehorsam von ihnen verlangen, ohne die Gründe dafür zu erklären; unangenehme Fragen der Kinder nicht in Ruhe beantworten, sondern abweisen usw. Wenn sich das oft genug wiederholt, wird daraus ein "Muster" für das politische Leben des späteren Erwachsenen: Wenn du deine Bedürfnisse befriedigt haben willst, dann darfst du nicht viel fragen und nicht ungehorsam sein gegen die Stärkeren.

Man kann Kinder aber auch weniger autoritär erziehen:

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Gründe angeben, wenn man etwas von ihnen verlangt oder ihnen etwas verbietet; dem Kinde nicht den Willen der Erwachsenen aufzwingen, sondern Vereinbarungen mit ihm treffen ("Jetzt kann ich nicht mit dir spielen, aber heute nachmittag habe ich Zeit"); Fragen des Kindes auch dann ernst nehmen, wenn sie hartnäckig und scheinbar abwegig sind.

Ein so erzogenes Kind wird ein anderes "Muster" für erwachsenes politisches Verhalten lernen: Wenn du deine Bedürfnisse befriedigt haben willst, mußt du dich zu Wort melden, Fragen stellen und prüfen, was man von dir verlangt.
 

Die Familie als "solidarische Gemeinschaft"

Das Kind kann solche schwierigen Lernprozesse aber nur vollziehen, wenn es sich in der Familie geborgen und aufgehoben weiß, wenn es - mit anderen Worten - die Familie als eine "solidarische Gemeinschaft" erlebt, zu der es "dazugehört". Es kommt nämlich darauf an, daß es die genannten "Grundmuster" des sozialen Verhaltens verinnerlicht, d. h. auch dann selbständig anwendet, wenn niemand anderenfalls mit Strafe droht. Da die Frage, ob eine Familie "solidarisch" ist oder nicht, sehr stark von Gefühlen abhängt, kann man das von außen auch nur sehr schwer prüfen. Wir wissen aber umgekehrt, daß es für die Entwicklung eines Kindes sehr gefährlich ist, wenn es seine Familie nicht so erlebt, weil es dann nämlich den in dieser frühen Erziehung notwendigen Verzicht auf sofortige und bedingungslose Befriedigung seiner Bedürfnisse nicht als seine soziale Leistung, sondern nur als Unterdrückung erleben kann. Oft beginnen an dieser Stelle bereits spätere kriminelle Entwicklungen.
 

Schichtenspezifische Sozialisation

Bis jetzt haben wir so getan, als ob sich die Sozialisation in jeder Familie in gleicher Weise abspiele oder abspielen müsse. Das ist nach unserer Erfahrung aber keineswegs so. Die Aufgaben der Sozialisation in der Familie sind zwar prinzipiell die gleichen, aber die Bedingungen dafür sind z. T. sehr verschieden. So ist es z. B. ein großer Unterschied, ob ein Kind in einem industriellen Ballungsgebiet (Ruhrgebiet) aufwächst, oder in einem ländlichen Gebiet fernab von Großstädten. Wahrscheinlich noch wichtiger sind sozio-ökonomische Unterschiede, d. h. solche des Einkommens und der Bildung. Das bedeutet nicht, daß es Kindern aus Familien mit geringem Einkommen und geringer Bildung der Eltern unbedingt "schlechter" geht als anderen. Im Gegenteil sind solche Familien oft solidarischer als andere.

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Wirtschaftliche Bedingungen

Familien aus der Unterschicht, d. h. also normale Arbeitnehmerfamilien, unterliegen vor allem besonderen wirtschaftlichen Bedingungen. Trotz aller sozialpolitischen Fortschritte, die unmittelbares Massenelend weitgehend verhindern, und obwohl der äußerlich sichtbare Konsum auf den ersten Blick wirtschaftliche Not oft nicht erkennen läßt, sind die Arbeitnehmerhaushalte nach wie vor gezwungen, "mit dem Pfennig zu rechnen". Das Familienleben ist durch die Knappheit der finanziellen Mittel weitgehend bestimmt. Diese Tatsache erlaubt z. B. keine weitreichenden Planungen für die Zukunft der Kinder, zumal die wirtschaftliche Situation immer wieder durch Arbeitslosigkeit bedroht ist. Selbst für "begabte" Kinder werden weiterführende Schulbildungen selten erwogen; wichtiger erscheint es, den eigenen Kindern möglichst früh zu Einkommen zu verhelfen, sie also möglichst früh in den Arbeitsprozeß einzugliedern.

Um Mietkosten zu sparen, wohnt man meist in kleinen, beengten Wohnungen, in denen sich individuelle Interessen wenig entfalten können. Kleinere Wohnungen führen häufiger zu Reibereien zwischen den Familienangehörigen, bei denen sich die Kinder naturgemäß weniger durchsetzen können als die Erwachsenen. Kinder dagegen, die frühzeitig ein eigenes Zimmer bewohnen können, haben eine größere Chance, dem Druck der anderen Familienmitglieder zu entgehen und selbständige Interessen und Verhaltensweisen zu entwickeln.
 

Die Stellung der Eltern im Arbeitsprozeß

Aber nicht nur die unmittelbaren wirtschaftlichen Zwänge grenzen die Möglichkeiten der Sozialisation in den Unterschichten ein, sondern auch die meist unterprivilegierte Stellung der Eltern im Arbeitsprozeß. Es handelt sich überwiegend um Arbeiten, die auf Weisung von anderen (Vorgesetzten) ausgeübt werden müssen, die zwar oft hohe nervliche Anspannung erfordern, aber kaum intellektuelle, geistige oder gar schöpferische Anforderungen stellen. Im Unterschied zu den typischen Mittelschichtberufen (Angestellte; Beamte) erfordern untergeordnete Arbeiten wenig sprachliche Fähigkeiten: was zu sagen ist, läßt sich in verhältnismäßig wenigen, immer wiederkehrenden (standardisierten) Wendungen sagen. So liegt es nahe, daß auch im Umgang mit den Kindern im allgemeinen enge sprachliche Grenzen herrschen, daß die Kinder wenig sprachliche Anreize erhalten und so gegenüber den Mittelschichtkindern beim Schuleintritt benachteiligt sind;

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denn nur wer sich hinreichend genau und differenziert sprachlich ausdrücken kann, hat in unserem Schulsystem Erfolgschancen.
 

Wie kann man die Benachteiligungen abschaffen?

Die Kinder aus den unteren Sozialschichten sind also schon in der familiären Erziehung benachteiligt. Zu ändern wäre dies an sich nur durch eine nennenswerte Verbesserung der Einkommen und durch langfristige soziale Sicherung. Da dies offensichtlich einstweilen nicht erreichbar ist, versucht man, solche Benachteiligungen durch "kompensatorische Erziehung" ( = ausgleichende Erziehung) im Vorschulalter zu mildern: z. B. durch "Sprachprogramme", die die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten verbessern sollen. Jedoch ist der Erfolg solcher Bemühungen mehr als ungewiß. Erstens kosten solche Vorschuleinrichtungen sehr viel Geld (das der Öffentlichen Hand fehlt); zweitens ist die Frage, ob solche Programme auf die Dauer wirklich nützen können, wenn die spätere Arbeitssituation z. B. wieder keine sprachlichen Fähigkeiten verlangt. (Höhere Ansprüche an die Sprache sowie überhaupt an geistige und intellektuelle Fähigkeiten würden z. B. dann gestellt, wenn die Arbeit so organisiert würde, daß die Arbeiter in die Arbeitsplanung und in die Betriebsführung mit einbezogen würden.)
 

Zusammenfassung: Allgemeine Aufgaben der Familie

In unserem Gesellschafts- und Kultursystem hat die Familie für das Aufwachsen des Nachwuchses also eine Reihe von Aufgaben, die noch einmal zusammengefaßt werden sollen:

I. Die Familie übernimmt die regelmäßige und dauerhafte materielle und seelische Fürsorge für das Kind.

2. Dabei führt sie das Kind in die grundlegenden Normen und Werte unserer Gesellschaft ein.

3. In der Familie erlernt das Kind wichtige Grundmuster des sozialen Lebens und der sozialen Beziehungen, die auch im Erwachsenenleben eine große Rolle spielen: Geben - Nehmen; Mein - Dein; Ich - Du; Wir - die anderen, Macht - Ohnmacht; Schuld - Sühne; Streit - Versöhnung; Lieben - Geliebtwerden usw.
 

Die Familie bestimmt die berufliche und gesellschaftliche Zukunft des Kindes

Nach dem bisher Gesagten kann es nicht überraschen, daß die Familie dem Kind seine spätere soziale Stellung (z. B. im Be-

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ruf) im wesentlichen zuweist. Es ist nicht so, daß jeder nach seiner Begabung und seiner Leistung die gleichen Chancen hat. Nur in verhältnismäßig wenigen Ausnahmefällen wird die Position der eigenen Familie später - etwa bei der Berufswahl - entscheidend überschritten. Kinder von Arbeitern z. B. werden in der Regel auch wieder Arbeiter oder steigen nur in die nächsthöhere Position auf. Ist der Sprung zwischen der Position des Vaters und der des Sohnes zu groß, so droht oft eine gefühlsmäßige Trennung und Entfremdung zur eigenen Familie einzutreten: "Man versteht sich nicht mehr."
 

Kritik an der Familie

Einerseits also ist die Familie nach wie vor unentbehrlich für die Erziehung und Sozialisation des Kindes, andererseits ist sie jedoch gerade in den letzten Jahren durch eine Reihe von Forschungen in Frage gestellt worden. Von den erschwerenden Bedingungen in der Unterschicht war schon die Rede. Die Kritik richtet sich jedoch auch gegen die sogenannte "mittelständische" Familie, und zwar unter anderem in folgenden Punkten:

Zu enge Gefühlsbindungen zwischen Mutter und Kind

In vielen Fällen konzentrieren sich die Beziehungen des Kindes lediglich auf die Mutter, die den ganzen Tag zu Hause ist, während der Vater arbeitet und vor allem in den ersten Lebensjahren des Kindes wenig Zeit für seine Beziehung zum Kind aufwendet. Viele Kinder sind Einzelkinder oder haben nur ein Geschwister. So wichtig einerseits die Beziehung der Mutter als ständige Bezugsperson zum Kind ist, so kann Übertreibung auch hier von Schaden sein. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Mutter - in ihrem Haushalt isoliert - mehr oder weniger unbewußt ihre eigenen Bedürfnisse gefühlsmäßig auf das Kind überträgt, für die das Kind (noch) gar kein Partner sein kann: Enttäuschung am Ehepartner z. B wird umgesetzt in zuviel Zuwendung zum Kind; eigene Ängstlichkeit wird zum ständigen Beaufsichtigen und Reglementieren. Oder die Mutter möchte aus dem Kind etwas machen, was sie selbst gerne geworden wäre, aber aus irgendeinem Grunde (z. B. wegen früher Heirat) nicht werden konnte; dann wird sie von diesem Kind vielleicht frühe Lernleistungen verlangen, die es überfordern müssen. Natürlich kann solche Fehler prinzipiell auch der Vater machen, aber in der Regel geht es hier um die Mutter, weil sie den ganzen Tag zu

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Hause ist. Das Kind wird in solchen Fällen zu einem Ersatz für etwas anderes, und die Gefahr ist, daß die Bindung an die Mutter so eng wird, daß sie auch später nicht mehr richtig gelöst werden kann. Solche Gefahren entstehen vor allem in den Familien leicht, in denen die Mutter sich ganz auf Wohnung und Kinder konzentriert und keine anderen Interessen (berufliche, kulturelle, politische) hat. Natürlich muß das im Einzelfall nicht so sein. Aber immerhin scheint die Zahl der schon vor Schuleintritt seelisch gestörten Kinder zuzunehmen.

Soziale Isolierung

Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß die Zahl der Personen, zu denen das Kind Kontakt aufnimmt, gegenüber früheren Zeiten erheblich zurückgegangen ist. Die Familie besteht in den ersten Lebensjahren des Kindes oft nur aus Mutter und Kind und - wenn es hoch kommt - einem weiteren Geschwister. Die Kontakte mit dem Vater sind oft schon durch dessen Arbeitszeit beschränkt. Die Großeltern wohnen meist in einer anderen Wohnung, und in den typischen modernen Wohnstädten ist der selbstverständliche Besuch der Nachbarfamilien beim Spielen nicht mehr gegeben. Nicht zuletzt aus diesen Gründen werden Kindergärten oder ähnliche Einrichtungen für wichtig gehalten, damit das Kind frühzeitig lernt, zu anderen Menschen Beziehungen einzugehen.

Erziehung durch Manipulation der Gefühle

Es ist zweifellos ein Fortschritt, daß die körperliche Züchtigung von Kindern immer mehr abzunehmen scheint. Jedoch ist damit ein Problem entstanden, dessen Folgen heute noch gar nicht abzuschätzen sind. Bestraft wird nämlich nun auf psychologische Weise, z. B. durch "Liebesentzug": man spricht eine Weile nicht mit dem Kind, bricht die Beziehung zu ihm ab usw. Aber es ist die Frage, wie die Kinder die ständige Bedrohung der für sie lebenswichtigen Gefühlsbeziehungen wirklich verkraften. Ferner gilt es heute - ebenfalls vor allem in den Mittelschichtfamilien - als fortschrittlich, das Kind möglichst wenig durch Befehle und Verbote, dafür stärker durch Appelle an seine eigene Einsicht und Selbständigkeit zu führen. Jedoch heißt: "Denk mal selber nach", oder: "Das mußt du selbst entscheiden" ja auch: "Ich lasse dich damit allein". Selbständigkeit und Einsamkeit gehören in einem gewissen Maße zusammen, und die meisten erleben dieses Problem erst im Jugendalter als einen oft schmerzlichen Widerspruch.

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Alternative: Wohngemeinschaft

Mit diesen Überlegungen befinden wir uns schon in einem ziemlich schwierigen und noch wenig erforschten psychologischen Gebiet. Wichtig ist aber vielleicht der Hinweis, daß die sogenannten "Kommunen" nicht zuletzt deshalb entstanden sind, weil man glaubte, in Wohngemeinschaften solche Probleme besser als die herkömmliche Familie lösen zu können.

Es hat mehrere Formen von Wohngemeinschaften gegeben, in unserem Zusammenhang interessiert jedoch vor allem der folgende Typ: Eine Reihe von Personen, nicht unbedingt verheiratet, aber doch möglichst Paare, beziehen eine gemeinsame Wohnung, die so groß ist, daß sie einen Gemeinschaftsteil hat (vor allem Küche und gemeinsames Wohnzimmer) und außerdem jeder einzelnen Familie bzw. jedem Paar einen privaten Wohnbezirk sichert. Die Kinder haben dabei den Vorteil - und nur das interessiert uns hier - daß sie in ein und derselben Wohnung nicht nur zu ihren eigenen Eltern, sondern auch zu den anderen erwachsenen Personen und natürlich auch zu den anderen Kindern (die nicht ihre Geschwister sind) Beziehungen aufnehmen können. Die Erwachsenen können die Erziehung der Kinder gemeinsam beobachten und Fehler leichter erkennen und korrigieren.

Nun ist eine solche Wohngemeinschaft nicht jedermanns Sache, und viele haben sich schon nach kurzer Zeit aufgelöst. Die Schwierigkeiten sind dabei oft rein äußerer Art: Wenn z. B. aus beruflichen Gründen ein Wohnungswechsel erforderlich wird, ist der Bestand der ganzen Wohngemeinschaft bedroht.

Kinderladen

Leichter zu verwirklichen ist deshalb vielleicht eine andere Idee, die ebenfalls aus der Kritik der Kleinfamilie entstand: der Kinderladen. Er unterscheidet sich dadurch vom üblichen Kindergarten, daß die Eltern - vor allem die Mütter - maßgeblich daran beteiligt sind; sie arbeiten abwechselnd bei der Betreuung und Beaufsichtigung der Kinder mit. Auch auf diese Weise können die Eltern miteinander Kontakt über Erziehungsfragen und über andere Fragen aufnehmen und die Kinder können vielfältige Beziehungen aufbauen.

Im letzten Teil dieses Kapitels wurden also schon die Grenzen der familiären Erziehung und Sozialisation deutlich, die im Einzelfalle nicht nur an den Personen liegen, sondern grundsätzlicher Art sind. Spätestens im Jugendalter wird deutlich, daß die Familie zwar eine sehr wichtige, aber nicht die einzige Erziehungsinstitution ist.

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Die Jugendphase

Familienstruktur und Gesellschaftsstruktur

Familie ist nicht die verkleinerte Ausgabe der Gesellschaft im Ganzen, sie ist auch kein "Staat im Kleinen". Was man in der Familie lernt, reicht allein nicht aus für das Leben in der modernen Gesellschaft. Die Familie ist nämlich (im allgemeinen) keine Produktionsstätte, sondern nur eine Konsumgemeinschaft; in ihr gibt es keine Bürokratie und keine Großorganisation, die menschlichen Beziehungen sind unmittelbar und in jedem Falle gefühlsbetont. Es wäre z. B. irreführend, den Staat wie einen Vater zu betrachten oder die Berufskollegen wie Geschwister.

Die Familie ist unentbehrlich für die Erziehung und Sozialisation der Kinder, aber sie reicht nicht aus. Deshalb gibt es andere gesellschaftliche Erziehungsangebote wie die Schule. Wenn die vorhin erwähnten "Grundmuster" des Erlebens und Verhaltens, die in der Familie erlernt werden, nicht hinreichend differenziert werden im Hinblick auf die gesellschaftlichen Strukturen, dann bleiben z. B. "kindliche" politische Weltbilder bestehen, mit denen die politischen Realitäten nicht angemessen verstanden werden können.

Familiäre Erfahrung und abstrakte Gesellschaft

Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, daß die Zusammenhänge und Strukturen von Staat und Gesellschaft nicht unmittelbar erfahren werden können, wie das bei den "Grundmustern" in der Familie der Fall ist. Man kann sie vielmehr nur verstehen, wenn man dabei verhältnismäßig abstrakte wissenschaftliche Theorien und Modelle zu Hilfe nimmt. Dies ist eine entscheidende kritische Stelle für die Herausbildung eines angemessenen politischen Bewußtseins: ob es nämlich im Verlaufe der Jugendphase gelingt, die in der frühen Sozialisation (in der Familie) erworbenen "Grundmuster" in Verbindung zu bringen mit den über den Verstand und das Denken erwerbbaren politischen und gesellschaftlichen Einsichten. Eine wichtige - und unersetzbare - Bedeutung hat hier die Schule, wie wir noch sehen werden.

Personenbezogene und funktionsbezogene Rollen

Die Unterschiede, um die es hier geht, kann man am Begriff der "Rolle" verdeutlichen. Mit diesem Begriff, der aus der

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Sprache des Theaters entlehnt ist, versuchen die Sozialwissenschaften, folgende gesellschaftliche Tatsache zu erklären: Wie der Autor eines Stückes oder Filmes den Schauspielern in einer "Rolle" vorschreibt, was sie darzustellen haben und wie sie es tun sollen, so ähnlich schreibt uns die Gesellschaft für bestimmte Situationen ein bestimmtes Verhalten vor. "Vorschreiben" heißt: Man erwartet ein bestimmtes Verhalten von uns in bestimmten Situationen. Und wir verhalten uns "rollen-gerecht", wenn unser Verhalten mit diesen Erwartungen übereinstimmt. Ist dies der Fall, so erhalten wir Anerkennung dafür, verhalten wir uns nicht rollengerecht, dann erfahren wir die Mißbilligung unserer Umwelt oder sogar Strafen. So erwartet man von den Eltern, daß sie ihre Kinder versorgen und gut erziehen; von einem Arbeiter, daß er ohne Rücksicht auf seine persönlichen Probleme und Gefühle eine höchstmögliche Arbeitsleistung erzielt; von einem Verwaltungsbeamten, daß er ohne Rücksicht auf persönliche Gefühle und Sympathien nach seinen Vorschriften handelt usw.

Gerade die letzten beiden Beispiele machen den Unterschied zur Kindheit deutlich: Die Rollen innerhalb der Familie sind "personenbezogen", d. h. sie gelten immer nur für bestimmte Personen (die eigenen Eltern bzw. die eigenen Kinder oder Geschwister), sie sind in hohem Maße, von Gefühlen bestimmt und deshalb nicht ohne weiteres auf andere Personen übertragbar.

Das Leben außerhalb der Familie (z. B. im Beruf oder in der Politik) verlangt aber Rollen, die nicht personen-, sondern funktionsbezogen sind; die Gesellschaft kann nur dann funktionieren, wenn für ein und dieselbe Funktion die Personen grundsätzlich austauschbar sind. Dazu aber müssen die gesellschaftlichen Funktionen so bestimmt sein, daß sie möglichst wenig persönlich-individuelle Eigenschaften enthalten. Ein Arbeiter am Fließband z. B., der eine bestimmte Funktion ausübt, muß grundsätzlich durch einen anderen ersetzbar sein und ist "als Mensch" hier nicht interessant. Seine über diese Funktion hinausgehenden "menschlichen Probleme" (Krankheit, wirtschaftliche Not) gehören in den Bereich einer anderen Funktion, z. B. der Krankenversicherung oder der staatlichen Wohlfahrt.

Es gehört nun zu den Aufgaben des Jugendalters, solche "unpersönlichen", "funktionalen" Rollen der Erwachsenen zu lernen.

Gründe für die Schwierigkeiten der Jugendphase

Oft glaubt man noch, die Schwierigkeiten des Jugendalters seien durch die sogenannte "Pubertät" begründet, also durch den

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Vorgang der Geschlechtsreifung. Das ist insofern richtig, als damit einschneidende körperliche und seelische Veränderungen einhergehen. An sich aber könnte die Pubertät problemlos verlaufen; wir kennen Primitiv-Kulturen, in denen der Eintritt der Pubertät kein Problem für die Jugend-Generation darstellt und sogar kaum zur Kenntnis genommen wird. Konfliktreich wird die Pubertät erst durch die sozialen Bedingungen, unter denen sie erfolgen muß. Die Schwierigkeiten zeigen sich in allen modernen Industrieländern in ähnlicher Weise.

Verlängerung der Ausbildung. Die Ausbildungsgänge, vor allem für "akademische" Berufe, sind verhältnismäßig lang geworden; es dauert deshalb oft sehr lange, bis man wirtschaftliche Selbständigkeit erlangt hat und einen Beruf ausübt. Die Verlängerung der Ausbildung liegt daran, daß man immer mehr für die Aufgaben in der Erwachsenenwelt, vor allem im Beruf, lernen muß.

Verlängerung der wirtschaftlichen Abhängigkeit. Im rechtlichen Sinne ist ein Jugendlicher mit 18 Jahren volljährig. Wirtschaftlich gesehen ist ein Mensch jedoch erst dann selbständig, wenn er über ein eigenes Einkommen verfügt, über dessen Verwendung er auch selbst bestimmen kann. Junge Arbeiter, die eine Lehre abgeschlossen haben, sind im allgemeinen mit 18 Jahren auch wirtschaftlich selbständig. Immer mehr Berufe jedoch benötigen eine längere Ausbildung, und damit verlängert sich auch die wirtschaftliche Abhängigkeit. Obwohl volljährig, bleibt der Mensch bis weit in das Erwachsenenalter hinein von seinen Eltern oder von staatlichen Stipendien abhängig. Aber auch bei einem verhältnismäßig früh selbständigen Jungarbeiter bleibt wirtschaftliche Abhängigkeit noch eine Weile bestehen, weil er kaum in der Lage ist, eine Familie zu gründen.

Blockierter beruflicher Aufstieg. Da die Lebenserwartung allgemein höher geworden ist, bleiben die Älteren auch länger im Arbeitsprozeß - mindestens bis zu ihrer Pensionierung. In den Machtzentren von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft wird das Pensionsalter sogar oft erheblich überschritten, so daß jüngere Leute relativ lange warten müssen, bis sie in derartige Positionen nachrücken können. Viele erreichen den Höhepunkt ihrer beruflichen Karriere erst mit 35 oder 40 Jahren, und das gilt nicht nur für Studenten, sondern auch für diejenigen jungen Arbeiter, die "weiterkommen" wollen. Die mit einer solchen Aussicht verbundene Unsicherheit ist aber schon im Jugendalter spürbar, nämlich als Unsicherheit und Ungewißheit über die eigene berufliche "Perspektive", also über die eigene Zukunft überhaupt. Anders ausgedrückt: Unsere Gesellschaft bietet den Jugendlichen kaum eine Möglichkeit an, genaue Planungen für die eigene Zukunft anzustellen.

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Aus Untersuchungen weiß man, daß Jugendliche über ihre eigene Zukunft entweder ganz illusionäre Vorstellungen haben, oder daß sie sich kaum Gedanken darüber machen, sondern "von einem Tag auf den anderen leben".

Falsche Versprechungen der "Leistungs-ldeologie". Ganz im Gegensatz zu dieser ungewissen Zukunft steht die "Leistungs-Ideologie" unserer Gesellschaft. Sie verspricht einerseits, daß einem "alle Türen offen stehen", wenn man nur entsprechend viel leistet; andererseits aber kann die Gesellschaft dafür - auch bei guter Konjunktur - immer nur eine begrenzte Zahl von Karrieren und Aufstiegsmöglichkeiten anbieten. Der Numerus clausus an unseren Hochschulen zeigt, daß anders als noch vor 15 oder 20 Jahren der Abschluß einer höheren Ausbildung (Abitur) keineswegs mehr unbedingt eine höhere Position garantiert.

Pluralität der Werte und Lebensziele. Zu diesen Schwierigkeiten kommt der sogenannte "Wertpluralismus", d. h. sehr verschiedene Auffassungen darüber, wofür sich zu leben lohnt, was wichtig und weniger wichtig ist, welche Lebensziele man anstreben soll usw. In der Kindheit richtete sich das Verhalten im allgemeinen nach den Werten, die in der eigenen Familie galten. Konflikte mit anderen Wertvorstellungen konnte es zwar auch hier schon geben, z. B. wenn die Nachbarn andere Auffassungen über "gut erzogene Kinder" oder über Höhe und Verwendung des Taschengeldes hatten. Aber im Jugendalter werden die Wertwidersprüche voll erlebt, weil einerseits die Bindung an die eigene Familie naturgemäß abnimmt, andererseits die unterschiedlichen Auffassungen zu den wichtigsten Lebensfragen durch die Massenmedien, aber auch durch andere Gleichaltrige erfahren werden. Die Vorstellungen über "richtiges Leben" sind von der Gesellschaft nicht klar vorgegeben, sondern mehrdeutig. Während z. B. die Konsumgüterwerbung zum Geldausgeben und zum Schuldenmachen animiert, raten Politiker, vielleicht auch Eltern und Lehrer, zum Sparen; das kann aber, je nach Konjunkturlage, auch ganz anders sein. Ein anderes Beispiel: Während die Kirchen zu einer verhältnismäßig traditionellen Sexualmoral auffordern, bieten viele Blätter der Massenpresse bis in die Konsumwerbung hinein eine Fülle sexueller Reize an. Und schließlich hängt die Einstellung zu den wesentlichen politischen Fragen nicht zuletzt davon ab, welche Zeitung man regelmäßig liest.

Man muß also im Jugendalter mit der Tatsache fertig werden, daß die Werte, die man in der Familie gelernt hat, nur eine von mehreren Möglichkeiten sind, daß es auch andere Möglichkeiten gibt, die ebenso von der Gesellschaft (z. B. vom Gesetz) geduldet werden, und zwischen denen man sich auf die Dauer entscheiden muß.

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Wertpluralismus als Ausdruck unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen

Im Pluralismus der Werte und Lebensziele drücken sich jedoch umfassendere gesellschaftliche Veränderungen aus; denn neue Werte entstehen nicht dadurch, daß irgendwelche Leute oder Gruppen sie sich in den Kopf setzen. Wertpluralismus gibt es, weil es Interessenpluralismus gibt, weil sich geschichtliche Machtpositionen verändert haben, weil neue Gruppen auf ihre eigenen Rechte gegenüber anderen pochen, von denen sie bisher abhängig waren. So hat die Kirche z. B. ihre Macht über die sexuellen Werte weitgehend verloren. Oder ein anderes Beispiel: Die konservative Auffassung, daß der Bürger dem Staat zu dienen habe, ist durch die (u. a. von der Arbeiterbewegung vertretene) Ansicht verdrängt worden, daß der Staat zum Nutzen und zur Wohlfahrt der Bürger da sei. Im Wertpluralismus drücken sich also demokratische Prozesse aus - das muß man trotz vieler unsinniger Übertreibungen festhalten. Dieser Pluralismus gibt dem Jugendlichen einen gewissen Spielraum, sich für mehr demokratische Auffassungen und Verhaltensweisen zu entscheiden.

Die Bedeutung der Bezugsgruppen

Allerdings ist dieser Spielraum begrenzt; denn die Sache ist nicht so, daß jeder einzelne Jugendliche wie durch eine Tür in ein "Kaufhaus der Werte" eintritt und sich darin aussucht, was ihm gefällt. Tatsächlich sprechen viele dabei mit, ohne daß das immer bewußt ist, z. B. die Gruppen, in denen wir leben: die Eltern, die Kollegen, die Freunde, aber auch die Massenmedien. Außerdem hat man - wie wir bei der Erörterung der Familie sahen - in der Familie gewisse "Grundmuster" sozialen Erlebens und Verhaltens gelernt, die man nun nicht einfach über Bord werfen kann. Weil unser Spielraum an zahlreiche soziale Bindungen gebunden ist, gehen gesellschaftliche Veränderungen auch verhältnismäßig langsam vor sich, die Menschen können im allgemeinen ihr bisheriges Leben nicht einfach "durchstreichen". Diejenigen Gruppen, an deren Urteil wir unsere Werte und Lebensziele ausrichten, nennt man "Bezugsgruppen".

Benachteiligungen der Arbeiterjugend

Der Spielraum, von dem eben die Rede war, ist für die Arbeiterjugend besonders gering. Nur der bürgerlichen Jugend

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nämlich, d. h. den Oberschülern und Studenten, wird während ihrer Schul- und Studienzeit ein gewisser Spiel- und Experimentierraum zugestanden. Die große Mehrheit der Jugendlichen jedoch, die nach dem Hauptschulabschluß, also eigentlich am Beginn des Jugendalters, die Schule verläßt, um in den Arbeitsprozeß einzutreten, hat diese Chance kaum. Sie wird früh erwachsen gemacht, was von vielen als endliche Befreiung von der Schule erlebt wird, was andererseits aber eben auch kaum Spielraum für die Entwicklung eigener Perspektiven läßt. Sicherlich ist dies einer der Gründe dafür, daß die Werthaltungen und Lebensziele in der Arbeiterschaft sich nur sehr langsam verändern. Lehrlinge und Jungarbeiter erhalten auch einen weitaus geringeren Jahresurlaub als gleichaltrige Oberschüler; um an weiteren Bildungsmaßnahmen teilzunehmen, benötigen sie "Bildungsurlaub", für den es in den meisten Bundesländern noch keine gesetzlichen Grundlagen gibt. Von den Mängeln der Berufsausbildung wird später noch die Rede sein.

Die Gleichaltrigen-Gruppen

In allen modernen Industriegesellschaften spielt die jugendliche Gleichaltrigen-Gruppe eine besondere Rolle. Es gibt sie in verschiedenen Formen: als organisierte Gruppe innerhalb der Jugendverbände, als lose (informelle) Gruppe in der Nachbarschaft oder im Kollegenkreis, oder auch als gegen die Gesellschaft feindselige "Subkultur" wie etwa Rockerbanden. Wohl jeder Jugendliche dürfte einer oder gar mehrerer solcher Gruppen angehören. Sie haben offenbar die wichtige Funktion, den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenstatus zu überbrücken. Sie bieten Solidarität an, da ja alle gleiche oder ähnliche Probleme haben; sie gewähren Anerkennung, die man im Beruf und in der Schule nicht erhält oder nicht zu erhalten glaubt. Sie geben Rat für die Lösung von Problemen usw.. Die Gruppen der Gleichaltrigen sind offenbar wichtige "Bezugsgruppen" für die Jugendlichen. In der schwierigen Phase des Jugendalters scheinen solche Gruppen unentbehrlich zu sein, weil sie ihre Mitglieder so akzeptieren, wie sie sind: keine Kinder mehr, aber auch noch nicht voll erwachsen.

Jugendlichkeit in der Konsumwerbung

Seit die Konsumgüterindustrie entdeckt hat, daß Jugendliche verhältnismäßig viel Geld ausgeben können, hat sie das Jugendalter zur schönsten und sorglosesten Altersgruppe hoch-

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stilisiert, die nicht nur eine eigene Mode hat, sondern in ihren Lebensauffassungen überhaupt vorbildlich für die älteren Jahrgänge sei. Teilweise werden Jugendliche geradezu mißbraucht für geschäftliche Zwecke, z. B. durch die Gründung von "Star-Clubs". Problematisch ist nicht, daß Jugendliche Dinge kaufen, die nützlich sind oder ihnen Spaß machen; problematisch ist vielmehr die Ablenkung von den Problemen, die junge Leute haben und die sowohl ihnen selbst als auch den für sie Verantwortlichen auf diese Weise ausgeredet werden. Hier wird das Zusammengehörigkeitsgefühl das sich in den Gleichaltrigen-Gruppen ausdrückt, wirtschaftlich ausgebeutet.

Politische Verführbarkeit

Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch sind Jugendliche leicht ausbeutbar. Das ist schon mit der alten Jugendbewegung vor I933 geschehen und erst recht mit der Hitlerjugend. Aber auch heute besteht diese Gefahr immer wieder. Sie hat vor allem darin ihren Grund, daß die charakteristische Unsicherheit über die Zukunft mit "klaren" und "festen" Programmen aller Art scheinbar beseitigt werden kann. Zudem nehmen radikale politische Gruppen ihre jugendlichen Anhänger besonders wichtig: sie seien diejenigen, auf die es in erster Linie ankomme. Wir wissen z. B. von der Hitlerjugend, daß gerade darin ihre besondere Faszination für viele junge Leute bestand.

Subkulturen im Untergrund

Jugendliche Gleichaltrigen-Gruppen haben, wie wir sahen, für ihre Mitglieder eine wichtige Funktion. Dies gilt aber nur solange, wie sie einen Bezug zur Realität der Erwachsenenwelt behalten. Verlieren sie diesen Bezug, so verlieren sie auch ihren Nutzen für die Sozialisation im Jugendalter. Beispiele dafür aus der letzten Zeit sind etwa gewalttätige Anarchistengruppen, die sogenannte "Drogen-Szene" oder die "Rokker-Banden". Problematisch sind solche Gruppenentwicklungen nicht nur deshalb, weil sie die Gesellschaft stören oder provozieren, sondern weil sie ihre Mitglieder zu Außenseitern oder zu Kriminellen machen und ihnen damit jede Chance nehmen, ein normales, befriedigendes Leben zu führen.
 
 

Die Stufen der rechtlichen Mündigkeit

Die Tatsache, daß jeder nach seiner Geburt eine lange Strecke der Sozialisation und Erziehung durchlaufen muß, bevor er

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als selbständiger Erwachsener gelten kann, hat sich auch im Recht niedergeschlagen. Die Volljährigkeit ist neuerdings auf das vollendete 18. Lebensjahr festgesetzt. Aber bis dahin sind Kinder und Jugendliche keineswegs rechtlos, vielmehr werden die Rechte und Pflichten des Kindes und Jugendlichen seiner Altersstufe entsprechend abgestuft. Diese Stufen sind aus der folgenden Tabelle zu ersehen.

( Die folgende Tabelle wurde anders formatiert als im Original und enthält die Rechtslage von 1976, H. G.)
 
 
 
 

Vor der Geburt
Zwischen Zeugung und Geburt des Kindes (sog. Nasciturus = derjenige, der geboren werden wird)
Rechtserwerb: Recht auf Leben
Bedeutung: In seinem Urteil vom Febr. 1975 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die sogenannte "Fristenregelung" ( = Abbruch der Schwangerschaft in der Frist von 12 Wochen nach der Empfängnis) verfassungswidrig sei. Obwohl diese Entscheidung auch innerhalb des Gerichts selbst umstritten ist, wurde hierdurch das Recht des noch Ungeborenen auf Leben erneut festgestellt. Abtreibung ist demnach nur unter bestimmten Bedingungen ("Indikationen") rechtlich erlaubt.

Vollendete Geburt

Rechtserwerb:
1. Rechtsfähigkeit-
Bedeutung: Rechtsfähigkeit ist die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Ein neugeborenes Kind kann also z.B. durch Erbschaft Eigentümer eines Grundstücks, eines Hauses usw. werden und auch rechtliche Pflichten damit auf sich nehmen müssen, z.B. einen Teil des geerbten Geldes zu bestimmten festgelegten Zwecken zu verwenden. Da das Kind auf Grund seiner Entwicklungsstufe die erforderlichen Rechtshandlungen nicht selbst vornehmen kann, wird es hier von den Eltern vertreten, ohne daß diese damit jedoch die entsprechenden Rechte oder Pflichten selbst erlangt hätten.
2. Parteifähigkeit
Bedeutung: Mit dem Erwerb der Rechtsfähigkeit kann das Kind genötigt werden, seine Rechte, z.B. die aus einer Erbschaft) zu verteidigen oder wegen Nichterfüllung seiner Pflichten verklagt zu werden. Es kann also in einem Rechtsstreit "Partei" sein oder werden. Aus den gleichen Gründen wie oben kann es den Prozeß allerdings nicht selbst führen, es wird auch hier von seinen Eltern vertreten.
3. Persönlichkeitsrecht
Bedeutung: Mit der Geburt und dem Eintritt der allgemeinen Rechtsfähigkeit erwirbt das Kind gleichzeitig den Schutz der Grundrechte, vor allem den der Menschenwürde (Art. 1 Grundgesetz) und das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Grundgesetz). Der Schutz der Menschenwürde gilt absolut und gegenüber jedermann. Dies gilt im Prinzip auch für die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes, jedoch überläßt das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6, Abs. 2 Grundgesetz) es den Eltern, über die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes zu wachen und diese zu gestalten

Vollendetes 7. Lebensjahr

Rechtserwerb:
1. Beschränkte Geschäftsfähigkeit
Bedeutung: Bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres sind Kinder geschäftsunfähig, d.h. sie dürfen, (um beim Beispiel der Erbschaft zu bleiben) mit geerbtem Geld, das ja ihr Eigentum ist, keinerlei Geschäfte (z.B. Käufe) tätigen. Für die geschäftsunfähi-

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gen Kinder handeln ausschließlich die Eltern vertretungsweise. Nach Erreichen dieses Alters werden Kinder beschränkt geschäftsfähig. Sie können als Geschäfte abschließen (also z.B. Käufe), wenn die Zustimmung der Eltern dazu vorliegt, sie können, auch ohne die Zustimmung der Eltern, z.B. Schenkungen annehmen (eine Schenkung ist ein wenn auch einseitiges Rechtsgeschäft), wenn sie daraus einen rechtlichen Vorteil haben.
2. Beschränkte Deliktfähigkeit (Delikt = unerlaubte Handlung wie Körperverletzung, Sachbeschädigung)
Bedeutung: Ebenso wie sie geschäftsunfähig sind, sind Kinder bis zum vollendeten 7. Lebensjahr auch deliktunfähig. Wenn sie also einen Schaden anrichten, müssen sie selbst dann, wenn sie eigenes Vermögen haben, diesen Schaden nicht ersetzten, weil man davon ausgeht, daß Kinder dieses Alters die Folgen ihrer Handlungen noch nicht übersehen können. (Haftbar sind aber in der Regel die Eltern, wenn sie ihre Aufsichtspflicht verletzt haben oder auch, wenn das nicht der Fall war, weil es dem Geschädigten nicht zumutbar ist, den Schaden selbst zu tragen. Schadenersatzpflichtig kann auch ein Dritter, z.B. ein Lehrer, sein, wenn er im Augenblick des Schadenseintritts die Aufsicht über das Kind hatte.) Nach Vollendung des 7. Lebensjahres wird das Kind beschränkt deliktfähig, d.h. es muß aus  eventuell bei ihm vorhandenen Vermögen den angerichteten Schaden selbst ersetzen, ist also grundsätzlich für einen von ihm verursachten Schaden verantwortlich, es sei denn, ihm fehlte die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit nötige Einsicht. Ob dies der Fall war oder nicht, ist in der Praxis nur sehr schwer festzustellen und zu entscheiden.

Vollendetes 12. Lebensjahr

Rechtserwerb:
Recht auf religiöse Selbstbestimmung
Bedeutung: Nach dem "Gesetz über die religiöse Kindererziehung" (dort § 5) kann das Kind ab diesem Alter nicht mehr gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis erzogen werden als bisher. Wenn also die Eltern von einer Religionsgemeinschaft in eine andere überwechseln oder überhaupt aus der Religionsgemeinschaft austreten, ist dieser Wechsel bzw. Austritt für das Kind gegen dessen willen nicht verbindlich.

Vollendetes 14. Lebensjahr

Rechtserwerb:
1. Religionsmündigkeit
Bedeutung: Nach Vollendung des 14. Lebensjahres hat das Kind das Recht, frei drüber zu entscheiden, welcher Religionsgemeinschaft es angehören will, oder ob es die Religionsgemeinschaft verlassen will (Kirchenaustritt). Damit ist zugleich das Recht verbunden, die Teilnahme am Religionsunterricht und am Gottesdienst abzulehnen.

2. Bedingte Strafmündigkeit
Bedeutung: Ein Kind unter 14 Jahren kann für eine Straftat, die es begangen hat, strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden, es ist strafunmündig. Vom Vormundschaftsgericht (Gericht, das für Entscheidungen bei rechtlich bedeutsamen Familienstreitigkeiten zuständig ist) kann lediglich Einweisung in eines der Fürsorgeerziehungsheime angeordnet werden oder den Eltern kann zur Unterstützung ein sog. Erziehungsbeistand beigegeben werden. Nach Vollendung des 14. und bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres

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ist der Minderjährige strafrechtlich gesehen Jugendlichen und für eine Straftat verantwortlich, wenn er "zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln" (§ 3 Jugendgerichtsgesetz). Ist er wegen mangelnder Reife nicht verantwortlich, kann der Jugendrichter dennoch Erziehungsmaßnahmen (Erziehungsbeistand, Fürsorgeerziehung) anordnen.
3. Beschwerderecht in Vormundschaftsachen
Bedeutung: Ein Minderjähriger ist in allen seine Person betreffenden Angelegenheiten berechtigt, ohne Mitwirkung oder Zustimmung seiner Eltern oder - falls er aus irgendwelchen Gründen (z.B. Tod seiner Eltern) unter Vormundschaft steht - seines Vormunds beim Vormundschaftsgericht Beschwerde einzulegen. Dabei kann es, wie einige Gerichte entschieden haben, auch um streitige Erziehungsfragen (z.B. Verbot eines bestimmten Umgangs) gehen.

Vollendetes 16. Lebensjahr

Rechtserwerb:
1. Eidesfähigkeit
Bedeutung: Der Jugendliche kann als Zeuge in einem Straf- oder Zivilprozeß vereidigt werden. Im Strafprozeß kann das Gericht von einer Vereidigung absehen, wenn der jugendliche Zeuge das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
2. Fähigkeit zum Erwerb einer Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge
Bedeutung: Der Jugendliche kann ab diesem Alter die Führerscheine der Klassen IV und V erwerben und damit z.B. die Berechtigung zum Fahren eines Mopeds im öffentlichen Verkehr erlangen.
3. Personalausweis
Bedeutung: Der Jugendliche muß einen Personalausweis besitzen.
4.Kino- und Gaststättenbesuch
Bedeutung: Die für die Altersstufe freigegebenen Filme können bis 23 Uhr, Gaststätten und Tanzveranstaltungen bis 22 Uhr besucht werden.

Vollendetes 18. Lebensjahr

 Rechtserwerb:
1. Volljährigkeit
Bedeutung: Die Volljährigkeit tritt regelmäßig am 18. Geburtstag ein. Sie begründet - im rechtlichen Sinne - die volle Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen. Die elterliche Gewalt - und die damit verbundenen Vertretungsrechte und -pflichten der Eltern - erlischt.
2. Unbedingte Strafmündigkeit
Bedeutung: Mit diesem Alter tritt auch die volle strafrechtliche Verantwortung ein. Allerdings kann auch jetzt noch das Jugendstrafrecht angewandt werden, wenn der Täter nach seinem Entwicklungsstand noch als Jugendlicher anzusehen ist oder wenn es sich um eine typische Jugendverfehlung handelt.
3. Aktives und passives Wahlrecht
Bedeutung: Mit 18 Jahren kann man wählen ( = aktives Wahlrecht) und gewählt werden ( = passives Wahlrecht)
4. Ehemündigkeit
Bedeutung: Mit 18 Jahren ist man ehemündig; d.h. man kann selbst entscheiden, ob und wen man heiraten will. Das Vormundschaftsgericht kann die Heiratserlaubnis auch schon ab dem 16. Lebensjahr erteilen, wenn der Partner wenigstens 18 Jahre alt ist.
5. Wehrpflicht
Bedeutung: Der männliche Jugendliche wird wehrpflichtig


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Das Schulsystem
 

Schule im politischen Konflikt

Neben der Familie dürfte wohl die Schule die wichtigste Sozialisationsinstanz sein. Bei uns besteht Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr. Wer nicht das Gymnasium besucht oder in einer anderen Schulform (z. B. Berufsfachschule) seine Schulpflicht erfüllt, muß nach dem Hauptschulabschluß die Berufsschule besuchen. Das Schulwesen ist staatlich, es gibt zwar Privatschulen, aber auch diese unterstehen der Aufsicht des Staates.

Die tagespolitischen Auseinandersetzungen zeigen, daß die Schule zu den politischen "heißen Eisen" gehört. Mit großer Empfindlichkeit reagieren Öffentlichkeit und politische Parteien auf neue Lehrpläne oder auf sonstige Änderungen. Schüler, die protestieren und demonstrieren, und Lehrer, die neue, ungewohnte Unterrichtsverfahren durchführen wollen, geraten leicht in die öffentliche Kritik.
 

3 Seit es ein modernes Schulwesen gibt, ist die Schule politisch umkämpft gewesen; denn zumindest folgende Fragen mußten immer wieder neu entschieden werden:
I. Was soll in den Schulen gelehrt werden (und was nicht) ?
2. Was sollen die Lehrer lernen (und was nicht) ? ( = Frage der Lehrerausbildung).

3. Wer kontrolliert, ob die Lehrer auch tatsächlich das lehren, was sie lehren sollen?

4. Was kann der Schüler mit dem Abschluß der Schule (z. B. beruflich) anfangen?

5. Wer darf welche Schulart besuchen?
 

Ein historischer Vergleich

Diese Fragen und viele andere wurden, seit es ein modernes Schulwesen gibt, immer unterschiedlich beantwortet und entschieden. Deshalb ist es lehrreich, für einige Gesichtspunkte einen kurzen historischen Vergleich anzustellen. Wir vergleichen die Verhältnisse von I875 und I975, wobei wir uns auf die Volksschule und das Gymnasium beschränken wollen.

Die Trennung der Schularten. Im Jahre 1875 waren Gymnasien und Volksschulen deutlich voneinander getrennt. Die Gymnasien waren "Vorschulen" der Universität, kosteten ein für die unteren Klassen und Schichten unerschwingliches Schulgeld und dienten dem Nachwuchs der oberen Klassen zur Ausbildung für die höheren Positionen in Staat und Gesellschaft. Gelehrt wurden die sogenannten "klassischen Bildungsgüter":

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Griechisch, Latein, deutsche Literatur, Kunst, in geringerem Umfang auch Naturwissenschaften. Erst später kamen die Naturwissenschaften in einem eigenen Gymnasialtyp ("naturwissenschaftliches Gymnasium") stärker zur Geltung. Die Gymnasiasten mußten nicht - wie heute - mindestens die ersten 4 Jahre der Volksschule besuchen, um in das Gymnasium einzutreten. Vielmehr wurden sie damals auf die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium entweder durch private Hauslehrer vorbereitet, oder in sogenannten "Vorklassen", die die Gymnasien selbst einrichteten.

Die Volksschüler kamen also in der Schule überhaupt nicht mit den Gymnasiasten zusammen. Sie sollten nur das lernen, was zur Ausübung ihrer späteren Tätigkeit als Arbeiter oder Landarbeiter unbedingt nötig war: vor allem die "Kulturtechniken", also Rechnen, Schreiben und Lesen, sowie vaterländische Geschichte. Der Religionsunterricht nahm die meisten Schulstunden ein. Er wurde als die beste Möglichkeit zur "Gesinnungsbildung" angesehen, also dazu, mit der eigenen Lage zufrieden zu sein und die staatlichen und kirchlichen Autoritäten anzuerkennen.

Man ging also um 1875 davon aus, daß die Kinder in derjenigen sozialen Schicht bzw. Klasse bleiben würden, zu der ihre Eltern gehörten. Das Schulwesen hatte die Aufgabe, diese Klassen zu "reproduzieren", also immer wieder herzustellen. Das Kind lernte das, was es für die Aufgaben seiner Klasse brauchte.

Es wäre übertrieben zu sagen, daß sich dies heute vollständig geändert hätte. Zwar sind Gymnasium und Volksschule heute stärker miteinander verschränkt: Jedes Kind muß die ersten 4 Jahre in der Grundschule verbringen, erst danach darf sich die Trennung vollziehen (Gymnasium oder weiterer Verbleib in der Volksschule). Durch die Einrichtung der "Förderstufe" ist der Übergang ins Gymnasium auch in gewisser Weise erleichtert worden, er muß nicht mehr nach dem 4. Schuljahr, sondern kann auch noch später erfolgen. Aber immer noch gehen verhältnismäßig wenig Arbeiterkinder aufs Gymnasium, noch weniger bestehen das Abitur, und der Anteil der Arbeiterkinder an den Studenten beträgt etwa 9%. Kaum jemand würde heute ernsthaft fordern, daß die Schule die sozialen Klassen "reproduzieren" solle. Im Gegenteil wird heute offiziell gerade von der Schule verlangt, daß sie die sozialen Positionen nach Leistung vergibt. (Wer länger zur Schule geht, erhält die Chance, einen besser bezahlten Beruf zu ergreifen.) Trotzdem sind aber Volksschule und Gymnasium nach wie vor deutlich voneinander getrennt, und die Versuche, in sogenannten "Gesamtschulen" diese Trennung aufzuheben, sind in Ansätzen steckengeblieben und in eini-

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gen Bundesländern überhaupt nicht begonnen worden. Noch immer lernen Volksschüler etwas anderes als die Gleichaltrigen in den Gymnasien, und das hängt nur zum geringen Teil damit zusammen, daß der Lehrstoff für die Gymnasiasten "schwieriger" sein soll als für die Volksschüler.

Die Lehrerbildung. Die Gymnasiallehrer studierten 1875 an der Universität und hatten somit Zugang zur Wissenschaft; die Volksschullehrer wurden in "Lehrer-Seminaren" ausgebildet, in denen Wissenschaft keine Rolle spielte. Sie lernten dort nicht sehr viel mehr, als sie ihren Schülern beibringen sollten, und außerdem lernten sie die Methoden kennen, wie sie es beibringen sollten.

Heute müssen alle Lehrer an wissenschaftlichen Hochschulen studieren, auch die Volksschullehrer haben Zugang zur Wissenschaft. In einigen Ländern gibt es bereits Gesamthochschulen, wo alle Lehrer auch an ein und derselben Hochschule studieren. Dennoch sind auch hier noch "Restbestände" der alten Regelung erhalten: Lehrer für die Grundschule (Klassen 1 bis 4) und für die Sekundarstufe I (Klassen 5 bis 10) werden auch in nächster Zeit nur 3 Jahre ( = 6 Semester) studieren und deshalb z. B. anschließend weniger verdienen, während die Lehrer für die Sekundarstufe II (Klassen 11 bis 13 = 0berstufe des Gymnasiums) 4 Jahre ( = 8 Semester) studieren sollen. Dabei spielt allerdings nicht nur eine Rolle, daß Lehrer für die unteren Jahrgänge "weniger wissen müßten"; selbst diejenigen Politiker und politischen Organisationen, die diese Ansicht - zu Recht! - nicht teilen, müssen anerkennen daß auf absehbare Zeit die völlige Gleichstellung der Lehrer schon aus finanziellen Gründen nicht zu erreichen ist.

Die Schulaufsicht. Den Lehrern des Jahres 1875 war ziemlich genau durch Lehrpläne und sonstige Anweisungen vorgeschrieben, was sie unterrichten sollten, wie sie es tun sollten und was dabei herauskommen sollte (Lernziele). Das galt vor allem wiederum für die Volksschullehrer. Kontrolliert und beaufsichtigt wurden die Lehrer grundsätzlich vom Staat. Praktisch ausgeübt wurde die staatliche Schulaufsicht jedoch ganz unterschiedlich: Während die Gymnasien von speziellen staatlichen Beamten beaufsichtigt wurden, überließ der Staat die Aufsicht der Volksschulen der Kirche, d. h. den Ortsgeistlichen ( = "geistliche Schulaufsicht"). Darin kam zum Ausdruck, daß die Volksschulen durchweg Konfessionsschulen waren, im Unterschied zu den Gymnasien, die grundsätzlich überkonfessionell waren (Ausnahmen waren private bzw. kirchliche Gymnasien).

Heute hat sich dagegen die "fachliche" Schulaufsicht durchgesetzt; d. h. sie wird von besonderen Beamten (Schulräten) ausgeübt, die selbst pädagogisch ausgebildet sind und Lehrer war-

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en. Aber noch bis in die sechziger Jahre hinein hat es bei uns Konfessionsschulen gegeben, und die Frage, ob die Volksschule "konfessionell" oder "weltlich" sein solle, hat die schulpädagogischen Auseinandersetzungen bis dahin in Deutschland ganz wesentlich bestimmt.

Schule als Zugang zum Beruf. Wer im Jahre 1875 nur den Abschluß der Volksschule vorweisen konnte, konnte damit nur die unteren Berufe ergreifen bzw. erlernen, wenn er einen Ausbildungsplatz fand. Sonst blieb er ungelernter Arbeiter oder Landarbeiter. "Ein Handwerk zu erlernen" war damals durchaus schon für viele eine Art von "sozialem Aufstieg". Das Abitur dagegen berechtigte zum Studium.

An den Grenzen, die der bloße Volksschulabschluß für die weitere berufliche Karriere setzte, hat sich bis heute im Prinzip wenig geändert. Auch heute berechtigt dieser Abschluß nur zur Aufnahme einer gewerblichen und kaufmännischen Lehre; aber die Praxis zeigt, daß sogar diese Möglichkeit immer mehr begrenzt wird, weil die ausbildenden Firmen für bestimmte Ausbildungsgänge zumindest den Realschulabschluß verlangen. Weiterführende Schulen kann man mit dem Volksschulabschluß allein nicht besuchen, wenn man von den Berufs- und Berufsfachschulen absieht. Allerdings berechtigt auch das Abitur nicht mehr ohne weiteres zum Studium. Die Zahl der Studienbewerber ist erheblich größer geworden, als Studienplätze vorhanden sind.

Wer kann welche Schule besuchen? Auch vor 100 Jahren konnte im Prinzip jeder die Schule besuchen, die er wollte, es war z. B. nicht gesetzlich verboten, daß ein Arbeiterkind aufs Gymnasium ging, und in einer Reihe von Ausnahmefällen geschah das auch. Möglich war das nur durch ein Stipendium, denn die Schule kostete verhältnismäßig viel Geld. Vor allem die Kirchen (und(hier vor allem die katholische) zogen durch derartige Stipendien einen Teil ihres Priesternachwuchses in eigenen Gymnasien und Hochschulen heran. Davon abgesehen jedoch war der Besuch eines Gymnasiums für die unteren Schichten nicht nur finanziell, sondern auch sozial und kulturell praktisch unmöglich. Es ging nicht nur ums Geld; vielmehr waren auch die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Schichten kaum zu überbrücken (z. B. soziales Verhalten und Benehmen; die unterschiedlichen Werte und Lebensziele; Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die schon in der Familie von früh an in den höheren Schichten gelernt wurden usw.). Am ehesten waren solche Unterschiede noch in der theologischen Ausbildung zu überbrücken, nämlich durch die Gemeinsamkeit des Glaubens und der kirchlichen Rituale.

Heute sind die finanziellen Barrieren weitgehend überwun-

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den. Es gibt Stipendien, und auch die Einkommen der Arbeiterhaushalte sind vergleichsweise höher. Dennoch wäre es voreilig zu vermuten, daß in Arbeiterfamilien keine finanziellen Probleme für den Besuch höherer Bildungsanstalten mehr bestünden. Selbst wenn ein Stipendium gewährt wird, kostet ein Gymnasiast einen zusätzlichen Aufwand an Lehrmitteln und Kleidung, vor allem aber bringt er keinen Lohn nach Hause.

Dennoch scheint nicht so sehr die finanzielle, als vielmehr die kulturelle und soziale Barriere der eigentliche Grund dafür zu sein, daß immer noch verhältnismäßig wenig Arbeiterkinder das Gymnasium oder gar die Universität besuchen. Ein solcher Schritt bedeutet nämlich immer noch einen gewissen Bruch mit der eigenen Familie und ihren Werten und Erwartungen Man lernt anders zu sprechen, bekommt andere Interessen, hat Umgang mit anderen Leuten. Hinzu kommen die schon bei der Erörterung der Familie erwähnten unterschiedlichen Sozialisationsprozesse: Arbeiterkinder lernen meist in ihren Familien weniger als Kinder der Mittelschicht das, was man für die Schule braucht.
 

Von der Klassenschule zur allgemeinen Leistungsschule

Man sieht an diesen kleinen historischen Vergleichen, daß die Schule nicht nur eine Sozialisationsinstanz neben anderen ist, sondern daß sie eine herausragende politische Bedeutung hat. Das alte Schulsystem vor 100 Jahren war im Grunde eine Klassenschule. Die höheren Schichten hatten das Gymnasium, die Unterschichten die Volksschule. Die Schule reproduzierte die Klassengesellschaft. Eine solche Regelung aber widerspricht unserem heutigen demokratischen Selbstverständnis. Heute ist die herrschende Ansicht, daß gesellschaftliche Positionen ("oben" und "unten" in der Gesellschaft, z. B. im Beruf) nicht mehr nach der Stellung des Vaters "vererbt" werden, sondern daß sie von jedem einzelnen durch eigene Leistung neu erworben werden sollen. Zwar ist dies ein Idealbild, das mit der Wirklichkeit nur zum Teil übereinstimmt, es wäre z. B. erst dann voll verwirklicht, wenn Väter ihren Kindern auch keine materiellen Güter mehr vererben könnten, wenn also jedes Kind insofern die gleiche Startchance hätte. Aber selbst dann hätten die Väter in den "gehobenen Positionen" immer noch die "besseren Beziehungen", mit denen sie ihren Kindern einen Vorteil verschaffen könnten; die Praxis in sozialistischen Ländern, wo die Vererbung von privatem Eigentum keine nennenswerte Rolle mehr spielt, zeigt, wie bedeutsam so etwas werden kann.

Gerade weil also vollkommen gleiche Startchancen für alle

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Kinder nicht zu verwirklichen sind und aus einer ganzen Reihe von Gründen auch wohl nicht wünschenswert wären, kommt der Schule für die Korrektur der Ungleichheit der Startchance eine große Bedeutung zu. Nur wenn nämlich die Schule gegen alle die anderen Vorrechte den Maßstab der Leistung zur Geltung bringen kann, läßt sich die demokratische Ideologie, daß gesellschaftliche Positionen nach Leistung vergeben werden sollen, ernst nehmen. Aus diesem Grunde hat die Frage, ob die Schule genügend für die Korrektur der Ungleichheit tut, in den schulpolitischen Diskussionen der letzten Jahre einen großen Raum eingenommen; denn es ist natürlich nicht damit getan, daß die Schule einfach ihre Leistungsforderungen erhebt, weil das ja nur die Ungleichheit der Startchance aufrechterhalten würde. Vielmehr muß sie sich auch dazu etwas einfallen lassen, wie sie die Kinder - vor allem die benachteiligten - an diese Maßstäbe mit Erfolg heranführt.

Neue Erkenntnisse über "Begabung". In der Vergangenheit hat man die unterschiedliche Verteilung der sozialen Schichten auf die Schularten damit zu erklären und zu rechtfertigen versucht, daß darin eben die unterschiedliche "Begabung" der Schüler zum Ausdruck komme. Die Kinder aus den unteren sozialen Schichten seien eben für das Gymnasium und die Hochschule nicht "begabt" genug. Dabei nahm man an, daß schon die Erbausstattung (Vererbung) im wesentlichen über die Begabung entscheide.

Solche Vorstellungen lassen sich wissenschaftlich nicht mehr halten. Zwar spielt Vererbung tatsächlich eine gewisse Rolle, vor allem wenn es sich um körperliche Schäden (z. B. Gehirnschäden) handelt. Aber selbst solche Schäden können zum Teil durch gezieltes Training in einem erstaunlichen Ausmaß ausgeglichen werden. Im Normalfalle aber werden die Grenzen für die Lernmöglichkeiten nicht durch die Vererbung gesetzt, sondern dadurch, welche Lernanreize den Kindern von Anfang an angeboten werden, also durch soziale Tatsachen. Davon war im Kapitel über die Familie schon die Rede. Es geht dabei um viele Einzelheiten, z. B. wie man mit einem Kind spricht; ob man dabei seinen Wortschatz erweitert; ob man geduldig auf seine Fragen eingeht und es zum Fragen ermuntert; ob man seine Phantasie anspricht und ermuntert usw..

Die schon mehrmals erwähnte Bildungsbenachteiligung der unteren sozialen Schichten beruht also nicht auf biologisch bedingter Vererbung - von Sonderfällen abgesehen - sondern ist die Folge davon, was mit der vorhandenen Erbausstattung durch Lernen geschieht. Diese Erkenntnis hat die Schulreformbemühungen der letzten Zeit wesentlich beeinflußt und ihnen eine demokratische Begründung gegeben: "Bildung ist Bürgerrecht."

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Modell einer demokratischen Schulreform: Die Gesamtschule

Die Reformbemühungen der letzten Jahre konzentrierten sich auf die Errichtung der sogenannten "Gesamtschule". Ihre wichtigsten Grundsätze sind:

a) Es soll ein einheitliches Bildungssystem eingerichtet werden, das von der Vorschule bis zur Universität reicht. An die Stelle der bisherigen Dreigliedrigkeit (Volksschule, Realschule Gymnasium) tritt also die Eingliedrigkeit, möglicherweise sogar die Zusammenfassung der bisherigen Schularten in ein und demselben Gebäude. Das Prinzip heißt also: Alle Kinder gehen in die gleiche Schule, und zwar so lange, wie ihre Fähigkeiten, Interessen und Begabungen ausreichen. Das neue Schulsystem ermöglicht an verschiedenen Stellen Abschlüsse, die den Weg in bestimmte Berufsgruppen eröffnen. Wer also den langen Weg bis zum Abitur nicht schafft, kann auch früher "aussteigen", ohne daß die bisherige Schulzeit "verlorene Zeit" wäre.

b) Das starre System der Jahrgangsklassen soll teilweise aufgelöst werden. Zumindest für einen Teil der Fächer soll es Leistungskurse geben, in denen z. B. "gute Mathematiker" und "weniger gute Mathematiker" getrennt zusammengefaßt werden ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulklasse. Auf diese Weise soll erreicht werden, daß jeder Schüler nach seinem jeweiligen Leistungsstand gefördert werden kann.

c) Die Schüler sollen in einem gewissen Spielraum ihre Fächer je nach ihren Interessen und Leistungen wählen können. Auf diese Weise soll erreicht werden, daß die Schüler in ihren Interessen- und Leistungsschwerpunkten besonders gut gefördert werden.

d] Der bisherige Kindergarten soll zum Teil zu einer "Vorschule" ausgebaut werden, in der nicht nur - wie bisher im Kindergarten - "gespielt" wird, sondern bereits mit dem Blick auf den kommenden Schuleintritt systematisch gelernt wird. Die Idee zur Einrichtung von Vorschulen ist vor allem von amerikanischen Untersuchungen beeinflußt worden, die gezeigt haben, daß Kinder auch schon vor Schuleintritt sehr viel mehr lernen können, als man bisher angenommen hat. Die Vorschulen sollen vor allem Arbeiterkindern zugute kommen, damit sie beim Eintritt in die Schule eine größere "Chancengleichheit" als bisher haben.

Schwierigkeiten und Einwände. Diese Reformversuche sind inzwischen steckengeblieben, in einigen Bundesländern gar nicht begonnen worden, und es ist interessant, sich die wesentlichen Ursachen dafür klarzumachen:

a) Die Kosten für eine solche Reform wären beträchtlich; al-

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lein für die geplanten Vorschulen würden bis 1980 und nur für Bauten 4 bis 7 Milliarden Mark benötigt. Darin sind die Personalkosten für die Erzieher sowie die Kosten für deren Ausbildung noch nicht enthalten. Es hat sich inzwischen gezeigt, daß Bildungsangebote eine "Mangelware" sind, d. h. das Angebot ist erheblich kleiner als die Nachfrage. Auf dem freien Wirtschaftsmarkt würden in einer solchen Situation sehr hohe Preise für das Angebot verlangt. Im Bereich des staatlichen Bildungswesens werden jedoch nicht die Preise erhöht, vielmehr setzt ein politischer Kampf um die Zuteilung ein. Im Bereich der Bildungsreform hat sich gezeigt, daß die bereitgestellten Gelder in erster Linie den Universitäten zugute kamen, ohne daß der Anteil der Arbeiterkinder an den Studenten nennenswert gestiegen wäre. Daran gemessen hat sich die Situation der Volksschulen und der Berufsausbildung - der Einrichtungen also, in denen überwiegend Arbeiterkinder anzutreffen sind - eher weiter verschlechtert. Obwohl also die Bildungsreform unter dem Stichwort "Gesamtschule" angetreten war zur "Korrektur der Ungleichheit", hat sie diese Ungleichheit durch den Verteilungskampf eher zugunsten der bisher schon bevorzugten sozialen Schichten verstärkt.

b) Für die Gesamtschule rechnet man mit großen Schulkomplexen, mit Hunderten von Schülern und entsprechend vielen Lehrern. Nur in solchen Schulkomplexen können genügend Wahlgebiete und Leistungskurse eingerichtet werden. Dies ist in großen Städten ohne weiteres möglich, in ländlichen Gebieten müßten die Schüler entsprechend lange Anmarschwege in Kauf nehmen.

c) Außerdem wenden Kritiker ein, daß die Benachteiligung der Unterschichtkinder in solchen Schulen nicht beseitigt, sondern eher verstärkt würde. Dort würden sich nämlich die Unterschiede der Lernfähigkeit verschiedener sozialer Gruppen in ein und derselben Klasse zeigen, nämlich dadurch, daß die "Klügeren" in die höheren Wahlkurse gehen, die anderen in die niedrigeren.

Die Aufgaben der Schule

Versuchen wir nun, die wichtigsten Aufgaben der Schule im Rahmen des Sozialisationsprozesses zu beschreiben.

Zuteilung gesellschaftlicher und beruflicher Positionen. Die Schule hat die Aufgabe, die nachwachsende Generation auf die vorhandenen gesellschaftlichen und beruflichen Positionen zu verteilen. Wer soll "höhere", wer "niedrigere" gesellschaftliche Positionen einnehmen? In allen modernen Industriegesellschaften (kapitalistischen und sozialistischen) stellt sich dieses

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Problem in gleicher Weise. Es wird im allgemeinen auch überall in der gleichen Weise gelöst, nämlich durch unterschiedliche "Bildungswege". Bei uns gehen zunächst alle Kinder gemeinsam 4 Jahre lang in die Grundschule. Danach beginnt die erste große Aussiebung: Entweder man bleibt in der Volksschule, oder man geht aufs Gymnasium. Durch die Einrichtung der sogenannten "Förderstufe", die das 5. und 6. Schuljahr umfaßt, kann eine solche Entscheidung auch noch 2 Jahre hinausgeschoben werden. Jedenfalls führt der Volksschulabschluß in die "unteren" Berufsqualifikationen, die wiederum einige Sortierfilter enthalten: Geselle, Meister usw. Solche Sortierfilter sind immer mit Prüfungen und Zeugnissen verbunden. Für die Gymnasiasten ist das Abitur eine wichtige Filterung: Es berechtigt zum Studium. Zeugnisse haben also im allgemeinen zwei Funktionen: sie beurteilen den bisherigen Bildungsgang eines Menschen, und sie berechtigen ihn für weitere Bildungsgänge.

So unvermeidlich es ist, daß das Schulwesen in allen modernen Gesellschaften die Sortierung (auch "Selektion" genannt) übernimmt, so umstritten sind nahezu alle Einzelheiten dieses Vorganges, wie die aktuellen schulpolitischen Diskussionen deutlich zeigen. Dafür nur einige Beispiele: Nach welchen Maßstäben soll das vor sich gehen, unter welchen Bedingungen also soll jemand "sitzenbleiben"? Oder: Wie zutreffend sind Zeugnisnoten und sonstige Beurteilungen, die dabei eine Rolle spielen? Was sagen sie wirklich über die künftige Berufsqualifikation aus? Oder: Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine solche Selektion?

Qualifikation für die Teilnahme an Beruf, Politik und Kultur. Die Schule qualifiziert für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, also für die Teilnahme an Beruf, Politik und Kultur (im weitesten Sinne des Wortes). Ohne Schule wäre dies heute nicht mehr möglich. Ohne den systematischen Unterricht in der Schule würden wir kaum ein Fernsehspiel oder einen Zeitungsartikel verstehen. Zwar könnte man vieles auch ohne Schule lernen, z. B. durch die Eltern. Aber wer hat schon Zeit dafür? Müssen nicht die Kinder schon deshalb jeden Tag zur Schule gehen, damit die Eltern ihrem Beruf nachgehen können? Wichtiger ist aber folgender Punkt: Nur in der Schule, d. h. nur an einem Ort, der regelmäßig, zu bestimmten Zeiten aufgesucht wird und wo man immer wieder dieselben "Mitarbeiter" (Lehrer, Mitschüler) findet, kann man systematisch lernen, d. h. Schritt für Schritt und so, daß man dabei Zusammenhänge begreift. Ohne Schule würde man nur "lebensbezogen" lernen, also "von Fall zu Fall". Viele Kinder lernen z. B. schon vor Schuleintritt soweit das Addieren und Subtrahieren, daß sie beim Einkauf mit kleineren Geldsummen

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umgehen können, in der Schule aber wird das Rechnen abstrakt gelernt, d. h. es wird weitgehend losgelöst von solchen praktischen Aufgaben. Der Sinn ist, daß man Rechnen systematisch lernen soll, um in Zukunft möglichst alle Rechenaufgaben, die die Praxis stellt, selbständig lösen zu können.

Die Bedeutung des typisch schulischen Lernens (nämlich des systematischen Lernens) wird noch klarer, wenn wir dabei nicht an Rechnen, sondern z. B. an Politik und Gesellschaftslehre denken. Wir haben bei der Erörterung der Jugendphase schon gesehen, daß der Weg aus der Familie in die Gesellschaft (also z. B. in den Bereich der großen Organisationen und der Bürokratien) deshalb so schwierig ist, weil die gesellschaftlichen Großorganisationen nicht mehr bloß durch Lebenserfahrung verstanden werden können. Was eine gesellschaftliche Institution wie die Schule oder der Bundestag ist; was eine Großorganisation wie ein Industriebetrieb ist und wie er funktioniert; was Staat und Gesellschaft im ganzen sind und nach welchen Regeln sie funktionieren oder was ihre Existenz gefährden kann: all das kann man heute nicht mehr verstehen, indem man etwa einfach seine bisherigen Erfahrungen im Umgang mit den Eltern, Geschwistern oder Freunden anwendet. Tut man dies doch, so sieht man nur Teilaspekte, z. B. daß es Macht gibt in der Gesellschaft, so wie früher der Vater Macht über das Kind hatte; oder man hegt falsche Erwartungen wie die, daß sich Lehrer, Arbeitskollegen Vorgesetzte, Polizisten usw. verhalten sollen wie die Eltern, Geschwister oder Freunde. Zu verstehen sind die abstrakten Strukturen und Zusammenhänge der modernen Politik und Gesellschaft nur durch ebenso abstrakten und systematischen Unterricht, der uns diese Zusammenhänge gleichsam "in den Kopf bringt", damit wir die politische Welt mit entsprechend richtigen Vorstellungen verstehen können.

Daß die Schule uns qualifizieren soll, ist heute unbestritten. Gar nicht einig ist man sich jedoch auch hier wieder über die Einzelheiten: Was muß man dafür eigentlich lernen? Wie lernt man das alles am besten? Welche Rolle soll der Lehrer spielen: Ist er der Fachmann, der sein Wissen möglichst geschickt an die Schüler weitergeben soll, oder soll er die Schüler lieber selbst nach Lösungen suchen lassen und sich mit seinem Wissen zurückhalten? Geht es dabei überhaupt in erster Linie um Wissen, oder nicht vielmehr um andere Fähigkeiten, z. B. wie man sich Wissen verschafft, wenn man es braucht, und wie man es dann gemeinsam mit anderen anwendet?

Vermittlung allgemeiner Werte. Die Schule führt das Kind in die allgemeinen Werte der Gesellschaft ein, also in diejenigen, die nicht nur in seiner Familie oder in seiner sozialen Schicht gelten, sondern auf die Gesellschaft im ganzen verweisen.

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Dazu gehören zunächst mal eine Reihe von ideologischen Überzeugungen: daß z. B. die Demokratie besser sei als alle anderen Staatsformen; oder daß das Eigentum (auch an Produktionsmitteln) ein hoher Wert sei; oder daß die Menschenrechte und die Grundrechte verteidigt werden müssen. Bei all diesen eben genannten Werten ist die Sache verhältnismäßig einfach, weil sie von einer mehr oder weniger großen Zahl von Bürgern gebilligt werden. Sehr viel schwieriger aber wird es dort, wo solche Werte unter den Bürgern, z. B. zwischen den politischen Parteien, selbst umstritten sind. Beispiele dafür gibt es genug, wenn man etwa an die heftigen Auseinandersetzungen über neue Richtlinien für die Schule denkt. Darf die Schule z. B. den Schülern wissenschaftliche Forschungen über die Familie im Unterricht mitteilen, selbst auf die Gefahr hin, daß die Schüler daraufhin "kritisch" gegen ihr eigenes Elternhaus werden? Oder darf der Lehrer im Sexualkundeunterricht andere Werteinstellungen vertreten als die Eltern?

Solche Fragen sind tatsächlich nicht leicht zu beantworten. Unser kleiner geschichtlicher Vergleich zeigte, daß früher die herrschenden Gruppen und Klassen (z. B. Unternehmer, Großgrundbesitzer, Kirchen) es für selbstverständlich hielten, ihre eigenen Wertüberzeugungen den von ihnen abhängigen Klassen und Schichten aufzuzwingen. Sie gaben früher sogar offen zu, daß es die wichtigste Aufgabe der Schule sei, den Schülern solche ideologischen Überzeugungen beizubringen.

Aber heute ist das so einfach nicht mehr möglich, weil es dem Verständnis eines demokratischen Staates und einer demokratischen Schule widerspräche, wenn die Schule dazu benutzt würde, die Werte und Lebensziele der einen Gruppe einer anderen aufzuzwingen (praktisch geschieht das übrigens schon dadurch, daß die Lehrer Angehörige der Mittelschicht sind und - wie wir aus Untersuchungen wissen - ihre damit verbundenen Wertvorstellungen in den Unterricht einbringen, und zwar ganz unabhängig davon, was der Lehrplan vorschreibt). Wie also soll die Schule mit den verschiedenen, einander zum Teil widersprechenden ideologischen Überzeugungen umgehen?

Die Antwort ist "theoretisch" einfach, aber schwer zu verwirklichen. Die Schule als Staatsschule ist an das Grundgesetz und an die in ihm formulierten Wertüberzeugungen (z. B. die Grundrechte) gebunden; sie kann also nicht gegen das Grundgesetz gerichtete Werte und Überzeugungen lehren. Darüber hinaus jedoch dürfte sie in der Tat keine ideologischen Überzeugungen lehren, über die man auf dem Boden des Grundgesetzes verschiedene Ansichten haben kann; sie kann - und sollte - diese Überzeugungen aber im Unterricht zur Kenntnis bringen und deren Hintergründe erklären. Schwer zu verwirk-

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lichen ist dies unter anderem deshalb, weil die meisten Menschen (eben auch Lehrer, Eltern und Politiker) dazu neigen, ihre eigenen Überzeugungen für die "einzig möglichen" oder "einzig vernünftigen" zu halten.

Vermittlung von sachbezogenem Verhalten. Die Verbreitung ideologischer Überzeugungen ist jedoch nur ein Teil der Aufgabe der Schule, den Nachwuchs in die allgemeinen Werte der Gesellschaft einzuführen. Fast noch wichtiger ist das Training bestimmter Verhaltensweisen. Im Unterschied z. B. zu den "personenbezogenen" menschlichen Beziehungen in der Familie führt die Schule in sachbezogene ("funktionsbezogene") Beziehungen ein. Der Lehrer ist kein "Vater" oder "Onkel", sondern eher so etwas wie ein "Funktionär". Im Umgang mit ihm muß das Kind die wichtige Erfahrung machen, daß man in den gesellschaftlichen Beziehungen nicht alles von allen erwarten kann - von einem Lehrer z. B. nicht die volle persönliche Zuwendung wie von den Eltern. Die menschlichen Beziehungen werden als "aufgeteilt" erlebt: Von bestimmten Menschen kann man nur Bestimmtes erwarten: Man muß lernen, sich mit seinen jeweiligen Bedürfnissen, Zielen und Schwierigkeiten an die richtigen ("zuständigen") Leute zu wenden. Wichtig ist dies vor allem für den richtigen Einsatz der Gefühle.

Solche Lernprozesse sind z. B. wichtig für den Umgang mit gesellschaftlichen Organisationen und Bürokratien. Sie regeln in der modernen Massengesellschaft die "Zuständigkeiten" für unsere Bedürfnisse und Wünsche, wie sich dies etwa in der Aufteilung der öffentlichen Behörden ausdrückt: Finanzamt, Sozialamt, Arbeitsamt usw. Man würde z. B. nicht in der Lage sein, solche unterschiedlichen Ämter für seine eigenen Interessen und Probleme zweckmäßig zu benutzen, wenn man nicht lernen würde, menschliche Beziehungen nach Funktionen zu unterscheiden. Der Lehrer kann in seinem Amt diesen Lernprozeß einleiten und sollte dies auch tun.

Über diesen Punkt gibt es übrigens sowohl unter den Lehrern wie auch unter den Schülern oft erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Viele Lehrer halten es für "kalt" und "herzlos", eine überwiegend sachliche Beziehung zu den Schülern aufzubauen, und suchen eine engere Gemeinschaft mit ihren Schülern. Und vielen Schülern ist ebenso wohler dabei, weil sie darin die bisherige Geborgenheit in der Familie wiederfinden. Das zeigt aber nur, wie schwierig das notwendige "Umschalten" von den familiären auf allgemeine gesellschaftliche Verhaltensweisen ist.

Training von Arbeits- und Leistungsverhalten. In der Schule lernt man Arbeits- und Leistungsverhalten. Die Schule läuft ab wie ein "Betrieb", mit regelmäßigem Arbeitsbeginn und

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Arbeitsende; in der schulischen Arbeitszeit sind bestimmte Aufgaben zu bewältigen, man wird zur Pünktlichkeit, Sorgfalt und Genauigkeit angehalten - alles Tugenden, die auch später im Beruf nötig sind. Man muß arbeiten, wenn "die Zeit da ist", auch wenn man keine Lust hat: Schule ist kein Spiel.

So wichtig es ist, dies alles zu lernen, so dürfen diese Gesichtspunkte der "Selbstdisziplinierung" doch nicht der alleinige Maßstab der Schule sein. Es ist ein Unterschied, ob solche Disziplin autoritär von außen (von den Lehrern) erzwungen wird, oder ob die Schüler einen Spielraum der Mitbestimmung in der Schule haben, ob sie z. B. den Sinn und Zweck der Arbeit diskutieren und in Frage stellen können. Gerade in den letzten Jahren ist die Schule wegen solcher Disziplinforderungen oft heftig angegriffen worden. So hat man gesagt, die Schule richte mit ihren Disziplin- und Gehorsamsforderungen die Schüler nur ab für ihre spätere Ausbeutung in der kapitalistischen Produktion. Man muß bei solchen Kritiken aber sehr genau unterscheiden zwischen dem notwendigen Arbeitsverhalten und überflüssiger Disziplinierung. Diszipliniertes Arbeitsverhalten muß man in jedem Fall lernen, ganz gleich, ob man in einer kapitalistischen oder sozialistischen Gesellschaft lebt.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Anspruch der Schule auf Leistung. Die Maßstäbe für Leistungen im Unterricht werden wie im Berufsleben auch von außen (durch die Lehrpläne; durch die Lehrer) vorgegeben, der Schüler wird daran gemessen. Maßstab ist also nicht - oder jedenfalls nicht in erster Linie - die eigene (subjektive) Einschätzung der Leistung durch den Schüler selbst; auch dies spielt natürlich in gewisser Weise eine Rolle, da ja der Lehrer den Schülern pädagogisch helfen soll, die geforderte Leistung zu erreichen, und deshalb darf er den Schüler nicht entmutigen, sondern muß auch seine subjektive Leistung anerkennen. Auch hier unterscheidet sich aber die Schule vom Spiel. Beim Spiel setzt man die Leistung selbst fest, und wenn man keine Lust mehr hat, hört man auf.

Die Leistung des Schülers wird als individuelle angesehen und gemessen, also als Leistung des einzelnen. Das zeigt sich unter anderem bei Klassenarbeiten, wo man nicht voneinander abschreiben darf. In der Forderung nach der Leistung des einzelnen kommt zum Ausdruck, daß auch unsere Gesellschaft auf der Grundlage der Rechte und Pflichten des einzelnen Bürgers aufgebaut ist. Die Grundrechte z. B. sind Rechte und Pflichten von einzelnen und nicht Rechte und Pflichten von Gruppen. Man kann zwar im Beruf wie in der Schule gemeinsam arbeiten und z. B. auch in Gruppen lernen, aber seine

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Leistungsfähigkeit muß grundsätzlich jeder für sich allein nachweisen. Indem die Schule dies fordert, fördert sie also ein Verhalten, das auch eine wichtige Grundlage des Zusammenlebens in der Gesellschaft bildet, und wer es nicht lernt, wird kaum ein befriedigendes Leben in dieser Gesellschaft führen können.

Training demokratischer Verhaltensweisen. Die bisher erwähnten Verhaltensweisen, die die Schule beibringt, sind auch in nicht-demokratischen Gesellschaften anzutreffen. Auch in kommunistischen Ländern z. B. wird Leistungsverhalten anerzogen, werden Tugenden wie Pünktlichkeit, Sorgfalt und Genauigkeit angestrebt. Es leuchtet ein, daß ein solcher Katalog für eine demokratische Schule nicht ausreichen kann. Hinzu kommen müssen vielmehr Verhaltensweisen wie "Kritikfähigkeit", "Interessen vertreten können", "Selbständigkeit" usw. Solche Verhaltensweisen müssen schon im Umgang mit der Schule selbst eine Rolle spielen, nicht erst für das Leben nach der Schulzeit. Das hat z. B. Folgen für den "Umgangston" zwischen Lehrern und Schülern. Der Lehrer darf die Schüler nicht ehrenrührig beschimpfen und erst recht nicht körperlich züchtigen. Ferner sollen die Schüler lernen, in angemessener Weise ihre Interessen gegenüber den Lehrern, aber auch gegenüber ihren Mitschülern zu vertreten, und sie sollen ohne Angst Fragen stellen und andere Meinungen als der Lehrer vertreten dürfen.

Die Erfahrung zeigt, daß im Unterschied zu den vorher genannten Verhaltensweisen diese demokratischen Verhaltensweisen noch keineswegs selbstverständlich in unseren Schulen sind. In diesem Punkte zeigt sich vielleicht am deutlichsten, wie sehr alte autoritäre und konservative Traditionen in unseren Schulen überlebt haben.

Die Pluralität und Widersprüchlichkeit der Schulziele

Bei der Erwähnung der "ideologischen Überzeugungen", die die Schule lehrt, wurde auf den "pluralistischen Charakter" dieser Überzeugungen bereits hingewiesen. Ähnliches gilt auch für die Verhaltensweisen. Auch hier kann es keine eindeutigen, sondern nur pluralistische Lösungen geben, denn es kommt offenbar darauf an, die eben beschriebenen Verhaltensweisen in einer ausgewogenen Kombination zu vertreten. Es wäre z. B. ganz unsinnig, nur die Selbst- und Mitbestimmung der Schüler zu erwarten, ohne gleichzeitig disziplinierte Arbeit im Unterricht von ihnen zu fordern. Und umgekehrt wäre es genauso falsch, Leistungsanforderungen ohne Rücksicht auf Mitbestimmung, Selbständigkeit und Kritikfä-

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higkeit des Schülers zu stellen. Die Notwendigkeit, derart verschiedene Verhaltensweisen und Fähigkeiten richtig aufeinander abzustimmen, führt im Selbstverständnis der Schule, der Lehrer und der Schüler nun dadurch oft zu Konflikten, daß es hier einen gewissen Spielraum für richtige Entscheidungen gibt.

Fassen wir zusammen: Die Ziele und Aufgaben der Schule sind in gewissem Maße widersprüchlich geworden. Da im Unterschied zu früheren Zeiten keine gesellschaftliche Teilgruppe allein mehr bestimmen soll, was in der Schule gelehrt und gelernt werden soll, hat die gesellschaftliche Pluralität von Werten und Interessen auch Eingang in die Schule gefunden. Daraus erklären sich auch die meisten politischen Auseinandersetzungen über die Schule in der letzten Zeit. Entgegen der immer noch weitverbreiteten Meinung, die Schule könne und müsse sich aus den pluralistischen Widersprüchen heraushalten, muß darauf hingewiesen werden, daß eine solche Ansicht auf Illusionen beruht. Gerade wenn die Schule - soweit es geht - überparteilich sein will, muß sie sich der Pluralität öffnen, d. h. einen gewissen Spielraum von ideologischen Überzeugungen und Verhaltensweisen zulassen und tolerieren.

Schule als Institution der "Mittelschicht"

Dieses Problem ist in den letzten Jahren vor allem auch unter dem Aspekt der "Bildungsbenachteiligung" der unteren sozialen Schichten diskutiert worden. Über die Gründe für diese Benachteiligung war schon im Kapitel über die Familie die Rede. Das Fazit war: Aus einer ganzen Reihe von Gründen, die sich akkumulieren (anhäufen), ist im allgemeinen das Unterschichtkind schon bei Schuleintritt benachteiligt, und während der Schulzeit akkumuliert sich die Benachteiligung weiter. Die Schule ist nämlich eine typische "Mittelklasseninstitution": Die eben erwähnten ideologischen Überzeugungen und Verhaltensweisen, die die Schule anstrebt, sind sehr viel eher in der Mittelschicht verbreitet als in den Unterschichten. Und insofern ist schon der Übergang in die Schule für ein Mittelschichtkind weit weniger schwierig als für ein Unterschichtkind. Beim Übergang in das Gymnasium verschärfen sich die Unterschiede noch einmal: Die kulturellen Erwartungen, die das Gymnasium stellt (z. B. selbstverständlicher Gebrauch von Büchern; Interesse für Literatur, für intellektuelle Gespräche usw.) finden sich sehr viel eher im Familienmilieu der Mittelschicht als der Unterschicht.

Die Frage ist jedoch, welche Schlußfolgerungen man daraus ziehen soll. Soll man z. B. die Schule stärker auf die Unter-

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schicht hin orientieren, also auf deren besondere "Begabungen"? Solche Konzeptionen hat es bis vor wenigen Jahren tatsächlich gegeben. Man ist z. B. davon ausgegangen, daß die Unterschichtkinder vor allem "praktisch" begabt seien und hat deshalb an die Volksschule keine besonderen intellektuellen und geistigen Ansprüche gestellt. Es gab sogar ein eigenes Konzept für die Landschulen: Die Landkinder sollten im Milieu des Landes bleiben und in erster Linie das lernen. was dafür nötig war.

Oder soll man umgekehrt die Unterschichtkinder besser an die Schulforderungen anpassen, indem man z. B. Vorschulkurse einrichtet?

Eine solche Alternative besteht jedoch nur scheinbar . Denn das kulturelle Verhalten der Mittelschicht und eben auch die Erwartungen der Schule enthalten viele Merkmale, die für das Verständnis der modernen Gesellschaft unentbehrlich sind. Das zeigt sich schon daran, daß Wissenschaft, Technik und Journalismus nur zugänglich sind auf der Basis der Mittelschichtsprache und der dementsprechenden geistigen Verhaltensweisen und Interessen. Würde man nicht versuchen, soviel Unterschichtkinder wie möglich in dieses kulturelle Milieu einzuführen, so würde man sie auch von der Teilnahme an Wissenschaft, Technik und Journalismus ausschließen und z.B. ihr Informations- und Entspannungsbedürfnis auf "Sensations-Journalismus" und Groschenhefte festnageln.

Andererseits gibt es aber auch eine ganze Reihe von Mittelschichterwartungen in der Schule, die damit nicht notwendig etwas zu tun haben und die daher durchaus entbehrlich sind (z. B. Erwartungen an die Umgangssprache von Unterschichtkindern und an deren "Benehmen" in der Schule).

Die Berufsausbildung

Die Sonderstellung der Berufsausbildung im Bildungssystem

Alle Berufe in unserer Gesellschaft bedürfen einer mehr oder weniger speziellen Ausbildung. Trotzdem wird der Begriff "Berufsausbildung" nur im Rahmen der unteren beruflichen Qualifikationen verwendet, also für die Ausbildung zu denjenigen gewerblichen und kaufmännischen Berufen, die mit dem Abschluß der Volksschule zu erreichen sind. Die überragende Bedeutung einer möglichst guten Berufsausbildung ist wohl für jedermann einsichtig; denn schließlich geht es hier um eine sehr wichtige Voraussetzung dafür, daß man für

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den Rest seines Lebens seinen Lebensunterhalt verdienen und eine anerkannte soziale Stellung einnehmen kann. Da zudem gesellschaftliche Positionen nicht mehr vom Vater "vererbt" werden, sondern auf Leistung beruhen sollen, stellt eine möglichst gute berufliche Qualifikation für die große Mehrheit der Menschen das einzige "Kapital" dar, das ihnen im wirtschaftlichen Wettbewerb zur Verfügung steht. Einen unerläßlichen Beitrag für die berufliche Qualifikation leistet - wie wir gesehen haben - die Schule; allerdings bietet sie als "allgemeinbildende" Schule dafür nur einen allgemeinen Beitrag, sie stellt gleichsam die Grundlagen her, auf denen dann die Ausbildung für einen bestimmten Beruf aufbauen kann.

Während nun die Ausbildungsgänge für höhere Berufe durch weg staatlich sind, ist die Berufsausbildung im engeren Sinne, also die für die unteren Arbeitsqualifikationen, eine Sache der wirtschaftlichen Unternehmen selbst. Damit soll sich dieses Kapitel beschäftigen, weil es sich hier um den problematischsten und am meisten vernachlässigten Teil unseres Bildungs- und Ausbildungswesens überhaupt handelt. Wir werden dabei sehen, daß dies vor allem mit der Tatsache des privatwirtschaftlichenCharakters der Berufsausbildung zusammenhängt.

Unser Berufsausbildungssystem wird als "duales System" bezeichnet. Es beruht nämlich auf zwei Säulen (Duo = zwei): der betrieblichen Ausbildung und dem Berufsschulunterricht. Die betriebliche Ausbildung dauert im allgemeinen 3 Jahre und findet im Betrieb des Lehrherrn (z. B. Industriebetrieb; Handwerksbetrieb; Einzelhandelsgeschäft) als praktische Ausbildung statt. Ferner ist durch Gesetz (Schulpflicht) ein Berufsschulunterricht bis zum 18. Lebensjahr vorgeschrieben

Das Lehrverhältnis wird durch einen Lehrvertrag zwischen dem Lehrherrn und dem Lehrling bzw. seinem gesetzlichen Stellvertreter rechtlich geregelt. Wie jeder Vertrag, so beschreibt auch dieser die Rechte und Pflichten, die beide Partner gegeneinander haben. Allerdings können solche Lehrverträge nicht beliebig festgesetzt werden. Vielmehr wird die Vertragsfreiheit vor allem durch drei übergeordnete Regelungen eingeengt: durch das Berufsbildungsgesetz (1969); durch das Jugendarbeitsschutzgesetz (1960); und durch die sogenannten "Ordnungsmittel" der Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft.

Das Berufsbildungsgesetz von 1969 hat nach langen Auseinandersetzungen und mit vielen Kompromissen versucht, die

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bis dahin gültigen, zum Teil sehr verschiedenen und widersprüchlichen Bestimmungen über die Berufsausbildung zu vereinheitlichen. Vor allem enthält es verschärfte Vorschriften darüber, wer unter welchen Voraussetzungen Lehrlinge ausbilden darf.

Das Jugendarbeitsschutzgesetz von 1960 enthält alle Sondervorschriften, die ein Arbeitgeber bei der Beschäftigung von Jugendlichen zu beachten hat, vor allem Vorschriften über die Dauer der Arbeitszeit. Demnach darf die tägliche Arbeitszeit von Jugendlichen 8 Stunden nicht überschreiten, die Wochenarbeitszeit der Jugendlichen unter 16 Jahren 40 Stunden, der über 16 Jahren 44 Stunden nicht überschreiten. Außerdem dürfen Jugendliche nicht vor 6 Uhr morgens und nach 20 Uhr abends und nicht länger als 4,5 Stunden ohne Ruhepause beschäftigt werden.

Den unmittelbarsten Einfluß auf die Lehrverträge haben aber die sogenannten "Ordnungsmittel" der Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft: der Industrie- und Handelskammern einerseits und der Handwerkskammern andererseits. Diese Kammern nehmen etwa dieselbe Aufgabe für die Berufsausbildung wahr wie die Kultusminister für die Schulen: Sie bestimmen, für welche Berufe welche Qualifikationen erforderlich sind ( = "Berufsbild") und stellen dafür "Lehrpläne" (hier "Berufsbildungspläne" genannt) auf. Ferner kontrollieren sie die Ausbildung - jeder Lehrvertrag muß ihnen gemeldet werden - und legen die Prüfungsverfahren und Prüfungsinhalte fest. In der Regel geben sie "Muster-Verträge" für die Lehrherren heraus.

Die Berufsschule dagegen ist wie alle Schulen eine staatliche Einrichtung. Sie soll nach dem Gesetz mindestens 9 bis 12 (je nach Bundesland) Wochenstunden Unterricht während der Lehrzeit erteilen, vor allem Fachkunde, aber auch allgemeinbildende Fächer wie Deutsch und politischen Unterricht. In der Regel findet der Berufsschulunterricht an einem Tag oder an zwei Tagen der Woche statt, manchmal wird der Unterricht aber auch als "Block" erteilt, d. h. eine größere Anzahl der vorgeschriebenen Stunden wird wie in der Vollzeitschule an aufeinanderfolgenden Tagen erteilt.
 
 

Gründe für die Entstehung des "dualen Systems"

Um sich die Sonderstellung der Berufsausbildung erklären zu können, sind vielleicht wieder einige historische Hinweise nützlich. Zwei Traditionen haben sich hier verbunden, nämlich die Tradition der mittelalterlichen Zünfte und die Grundsätze der kapitalistischen Gewerbefreiheit.

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Bevor es eine moderne Industrie gab, war die handwerkliche Produktion von Gütern die fortschrittlichste Produktionsmög]ichkeit von Gütern überhaupt. Das Handwerk hatte also ein ähnliches Ansehen wie heute etwa die technologisch fortgeschrittene Industrie, z. B. die chemische Industrie oder der Automobilbau. Das Handwerk war in Zünften organisiert, die Zünfte sorgten u. a. dafür, daß nicht zu viele ein Handwerk ausübten und damit eine zu große Konkurrenz entstand. Der Nachwuchs wurde damals so ausgebildet, daß der Lehrling zu einem Meister ging, ihm bei der Arbeit zusah und selbst auf Anweisung hin kleinere Arbeiten ausführte. Durch diesen "Umgang" mit dem Meister in der Praxis der Arbeit lernte der Lehrling gleichsam "von selbst" seinen Beruf, und zwar als Lebensberuf, d. h. den erlernten Beruf übte er für den Rest seines Lebens aus. Der Lehrling wohnte im Hause seines Meisters und wurde so über die Berufsausbildung hinaus im Sinne seines "Standes" erzogen: Er lernte auf diese Weise die Sitten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen seines Standes. Das Lehrverhältnis war also eine Art von totalem Erziehungsverhältnis: Der Meister übernahm auch die Erziehungsrechte der Eltern, z. B. die "väterliche Züchtigungsgewalt", also das Recht der körperlichen Bestrafung, sowie die Aufsicht über die Freizeit.

Solche Vorstellungen gingen auch noch in die "Gewerbeordnung" von 1869 ein, die zum ersten Mal die verschiedenen Ausbildungsvorschriften gesetzlich zusammenfaßte. Einige Bestimmungen galten noch bis zum Jahre 1969, z. B. diese: "Der Lehrling ist dem Lehrherrn zu Zucht und anständigem Betragen verpflichtet". In der Neufassung des Berufsbildungsgesetzes von 1969 lautet der entsprechende Satz: "Der Auszubildende hat ... den Weisungen zu folgen, die ihm im Rahmen der Berufsausbildung vom Ausbildenden ... erteilt werden". In dieser neuen Formulierung kommt zum Ausdruck daß das totale Erziehungsverhältnis, das aus der alten Zunftordnung übernommen worden war, nicht mehr gelten soll. Lehrling sein ist nur noch eine Rolle unter anderen, und Vorschriften darf der Lehrherr dem Lehrling nur machen "im Rahmen der Berufsausbildung", d. h. nur im sachlichen Zusammenhang der Ausbildung selbst.

Die schon genannte Gewerbeordnung von 1869 führte aber noch ein weiteres Prinzip in die Berufsausbildung ein, nämlich das Vertragsverhältnis zwischen Lehrling und Lehrherrn. Die Vorstellung, daß Arbeitsverhältnisse durch einen "freien" Vertrag zwischen Unternehmern und Arbeitern entstehen, ist typisch für die kapitalistische Gesellschaft. In den alten Zünften gab es solche Verträge nicht. Durch den Ausbildungsvertragwird die Berufsausbildung so ähnlich geregelt wie ein

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Arbeitsverhältnis, und so sieht es auch das moderne Arbeitsrecht: Ein Lehrverhältnis (Ausbildungsverhältnis) ist zugleich auch ein Arbeitsverhältnis, was z. B. darin zum Ausdruck kommt, daß der Lehrling eine Art von Lohn erhält.

Die schulische Ergänzung der betrieblichen Ausbildung, die Berufsschule, ist erst sehr viel später dazugekommen. Zur gesetzlichen Pflichtschule wurde sie erst 1938. Schon Ende des vergangenen Jahrhunderts gab es Vorläufer, die sogenannten "Fortbildungsschulen", die freiwillig besucht werden konnten.

Das Problem der "Jungarbeiter"

Ein Jugendlicher ist zwar zum Besuch der Berufsschule verpflichtet, sofern er nicht eine höhere Schule besucht, aber nicht dazu, ein Ausbildungsverhältnis abzuschließen. Die Zahl derjenigen Jugendlichen, der sogenannten "Jungarbeiter", die nicht in ein Ausbildungsverhältnis eintreten, sondern gleich ein Arbeitsverhältnis aufnehmen, beträgt rund 240 000 im Jahr. Es handelt sich zu einem guten Teil um solche Jugendlichen, die den Volksschulabschluß nicht geschafft haben; bei ihnen zeigen sich besonders deutlich die Benachteiligungen der Unterschicht. Es ist bekannt, daß vor allem Kinder von Hilfsarbeitern wieder Hilfsarbeiter werden. Fast 70 % dieser Gruppe sind Mädchen. In diesem hohen Anteil kommt zum Ausdruck, daß in unserer Gesellschaft die Mädchen immer noch hinsichtlich ihrer beruflichen Ausbildung benachteiligt sind, und daß dies insbesondere und verstärkt wiederum für die Unterschichten gilt. Diese Gruppe der "Jungarbeiter" ist wirtschaftlich besonders stark gefährdet, weil sie bei wirtschaftlichen Krisen zuerst entlassen wird.

Probleme der gegenwärtigen Berufsausbildung

Seit Jahrzehnten ist dieses System der Berufsausbildung heftig umstritten. Seine Schwächen werden gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen wie gegenwärtig besonders sichtbar dadurch, daß z. B. die Jugendarbeitslosigkeit und der Mangel an Lehrstellen jedermann deutlich wird. Es geht vor allem um folgende, grundsätzliche Probleme:

Abhängigkeit des Lehrstellenangebots von der wirtschaftlichen Lage. Da bisher kein Betrieb zur Ausbildung verpflichtet ist, hängt die Zahl der von der privaten Wirtschaft angebotenen Lehrstellen von den wirtschaftlichen Überlegungen der Betriebe ab. Ist die wirtschaftliche Lage ungünstig, wer-

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den Kosten und damit auch Lehrstellen eingespart. Seit etwa 1960 hat sich das Angebot an Lehrstellen allmählich um die Hälfte verringert. Nur noch etwa 16 % aller Betriebe bilden überhaupt aus. Dieser Rückgang hat nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle Gründe. Ein Hauptgrund ist z. B. der wirtschaftliche Konzentrationsprozeß, der viele Klein- und Mittelbetriebe entweder aufsog oder zur Stillegung zwang. Die meisten Ausbildungsstellen werden nämlich von Klein- und Mittelbetrieben angeboten, die mehr Lehrlinge ausbilden, als sie selbst brauchen können. Etwa 30 % der Lehrlinge (nämlich 400 000) lernen in Betrieben bis zu 10 Beschäftigten, weit über die Hälfte aller Lehrlinge, nämlich etwa 700 000, werden in Betrieben bis zu 50 Beschäftigten ausgebildet.

Zu geringe Qualität der Ausbildung. In vielen Fällen waren Lehrlinge "billige Arbeitskräfte", vor allem in Kleinbetrieben. Diesen Betrieben brachten die Lehrlinge mehr ein, als ihre Ausbildung kostete. Das war nur möglich, weil die Ansprüche an die Qualität der Ausbildung verhältnismäßig gering waren. Durch das Berufsbildungsgesetz von 1969 sind die Anforderungen erhöht worden, und damit stiegen die Kosten für die Ausbildung; es wurde immer weniger interessant, aus Gründen des Profits Lehrlinge einzustellen. Will man die Anforderungen weiter erhöhen, so steigen auch die Kosten weiter. Insofern gibt es einen leicht erkennbaren Widerspruch zwischen der Qualität der Ausbildung und der Bereitschaft der Betriebe zur Ausbildung. Was die Qualität betrifft, so kommt es nicht nur darauf an, bestimmte praktische Einzelkenntnisse zu erwerben, sondern auch darauf, beruflich beweglich und anpassungsfähig zu werden, um sich den ständig sich verändernden beruflichen und wirtschaftlichen Entwicklungen anpassen zu können. Der einmal erlernte Beruf reicht nicht mehr unbedingt fürs ganze Leben. Hierbei kommt es auf Faktoren an, die in der bisherigen Berufsausbildung kaum eine Rolle spielen, z. B.: eine weniger spezielle Ausbildung; mehr systematischer Fachunterricht; mehr allgemeine Kenntnisse z. B. über Politik, Technik und Wirtschaft. Da - wie wir gesehen haben - systematischer Unterricht immer schulischer Unterricht ist, müssen die schulischen Anteile verbessert und vergrößert werden, ohne daß die praktischen Anteile etwa aufgegeben würden. Es käme darauf an, beides besser aufeinander zu beziehen.

Zu viele spezielle Ausbildungsberufe. Obwohl die Zahl schon erheblich verringert wurde, gibt es immer noch einige hundert spezielle Ausbildungsberufe. Das hängt u. a. damit zusammen, daß bisher vor allem das Handwerk Lehrlinge ausbildete, teilweise mehr, als es selber später benötigte. Die Industrie bildete dagegen sehr viel weniger aus als sie brauchte. Kamen

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nun neue berufliche Spezialisierungen hinzu, so wurde einfach ein neuer Ausbildungsberuf geschaffen. Das führte zu einer sehr speziellen Ausbildung, die oft schon nach kurzer Zeit wegen veränderter technischer Bedingungen nicht mehr benötigt wurde. Zudem macht diese Spezialisierung der Ausbildungsberufe es besonders schwer, allgemeine Richtlinien für die Ausbildung aufzustellen. Für die Zukunft kommt es darauf an, die Vielzahl der Ausbildungsberufe auf etwa ein Dutzend "Berufsbereiche" zusammenzufassen, also auf eine breite Grundausbildung erst am Schluß eine Spezialisierung folgen zu lassen. Solche "Berufsbereiche" oder "Grundberufe" könnten z. B. sein: spanabhebende Metallberufe, organisationsorientierte Büroberufe, pflegerische Berufe usw. Die Schwierigkeit einer solchen Reform ist wiederum vor allem im privatwirtschaftlichen Charakter der Ausbildungsbetriebe begründet. Ein privatwirtschaftlicher Betrieb ist notwendigerweise an wirtschaftlichen Zielen wie Produktivität, Profit, kostensparende Arbeitsorganisation orientiert. Ein privatwirtschaftlicher Betrieb (und im Grunde auch ein sozialistischer Betrieb, wie sich in den sozialistischen Ländern gezeigt hat) ist nicht zum Zwecke des bestmöglichen Lernens organisiert; er kann vielmehr nur solche Lernchancen anbieten, die gewissermaßen sich als "Abfallprodukt" seiner wirtschaftlichen Interessen anbieten. Wird dagegen die Berufsausbildung nach pädagogischen Gesichtspunkten konzipiert, also danach, wie man das Lernen am besten organisieren kann, dann entsteht notwendigerweise ein Konflikt mit den betrieblichen Interessen.

Benachteiligung wirtschaftlich strukturschwacher Gebiete. Da die Ausbildungsmöglichkeiten von den Angeboten der Betriebe abhängen, ist das Angebot an Berufsausbildung eben auch abhängig von der lokalen Wirtschaftsstruktur. In ländlichen Gebieten mit wenig Industrie sind die verhältnismäßig wenigen Lehrstellen meist nur bestimmten Wirtschaftszweigen zugeordnet. Zahlreiche Berufe kann man in der heimischen Umgebung gar nicht lernen. Entweder nimmt man das an, was angeboten wird, oder man muß wie ein Student das Elternhaus verlassen und in einer größeren Stadt eine Berufsausbildung beginnen. Das aber führt zu höheren Kosten, z. B. für die Unterbringung und Verpflegung am Ausbildungsort. Man hat diesen Mangel durch die Einführung von "überbetrieblichen Ausbildungsstätten" zu beheben versucht. Aber davon gibt es zu wenige, zumal sie weitgehend vom Staat finanziert werden müssen.

Die Misere der Berufsschule. Nach dem Konzept des "dualen Systems" soll die Berufsschule den praktischen Teil der Ausbildung vertiefen und systematisieren. Jedoch ist die Berufs-

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schule der am schlechtesten ausgestattete Teil des ganzen Schulwesens. Der Lehrermangel ist hier am größten, die vom Gesetz vorgeschriebenen Mindeststundenzahlen an Unterricht können nur selten erteilt werden. Zudem leidet die Berufsschule unter der Vielzahl der Ausbildungsberufe. Nur für diejenigen Lehrlinge nämlich, die in hinreichender Anzahl denselben Beruf erlernen, kann eine Fachklasse eingerichtet werden. Berufe dagegen, die nur wenige Lehrlinge am Ort haben, müssen in der Schule zu einer Klasse zusammengefaßt werden, so daß für diese Lehrlinge ein systematischer Fachunterricht kaum möglich ist. Für eine Verbesserung des Berufsschulunterrichts ist also die Zusammenfassung der vielen Ausbildungsberufe in wenige Grundberufe eine unerläßliche Voraussetzung.

Die Berufswahl. Nur etwa 15 % der Jugendlichen, die die Volksschule verlassen, treffen eine überlegte Berufswahl. Die anderen lassen sich eher von Freunden, von Verwandten oder auch von modischen Einflüssen in einen bestimmten Lehrberuf "drängen". Dabei besteht die Gefahr, daß man eine Lehre beginnt, die nicht befriedigt oder für die man körperlich oder seelisch nicht geeignet ist. Um Fehlentscheidungen zu vermeiden, ist die Berufsberatung eingerichtet worden, die auch spezielle Eignungsuntersuchungen durchführt. Die Berufsberatung ist bei uns (wie die Arbeitsstellenvermittlung) eine öffentliche, halbstaatliche Einrichtung und darf nicht gewerblich betrieben werden. Der Gesetzgeber will auf diese Weise vermeiden, daß hier eine Art "Menschenhandel" mit den Rat- und Arbeitsuchenden betrieben wird.

Trotzdem richten sich die Berufsberater vielfach weniger nach den Interessen des einzelnen als nach dem jeweiligen Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft. Die Frage, welcher Beruf Zukunft habe, können die Berufsberater kaum zutreffend beantworten, weil man das einfach nicht weiß. Die letzten Jahre haben gezeigt, daß scheinbar aussichtsreiche Berufe plötzlich wegen technischer Neuerungen überflüssig werden. Auch aus diesem Grunde wäre eine breite und gründliche Grundausbildung sinnvoll, damit man später in der Lage ist, ohne allzu große Schwierigkeiten eine neue Tätigkeit auszuüben. Jedenfalls haben neuere Untersuchungen eine verhältnismäßig große Unzufriedenheit der Lehrlinge mit ihrer Ausbildung gezeigt: Etwa 40 % würden nicht noch einmal denselben Ausbildungsbetrieb wählen, und etwa 35 % würden nicht noch einmal denselben Ausbildungsberuf wählen. Im 3. Lehrjahr, also mit entsprechender Erfahrung, äußern sogar über 50 % diese Ansicht.

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Reformvorschläge

Die zahlreichen Mängel der Berufsausbildung von denen wir nur einige aufgeführt haben, haben eine Fülle von Reformvorschlägen hervorgebracht. Das gegenwärtige System ist in den wesentlichen Punkten schon seit der Jahrhundertwende kritisiert worden. Jedoch haben die mit diesem System verbundenen wirtschaftlichen Interessen sich immer wieder durchsetzen können. Wie immer bei Reformdiskussionen, gibt es auch hier Vorschläge, die entweder unrealistisch sind, weil sie z. B. nicht bezahlt werden können, oder die "das Kind mit dem Bade ausschütten", also z. B. eine totale Verschulung der Berufsausbildung unter Verzicht auf den praktischen Anteil fordern. Die verschiedenen Meinungen können hier nicht im einzelnen dargestellt werden, aber eine gewisse Einigkeit der Reformer herrscht über folgende Punkte:

Die Finanzierung der Berufsausbildung muß neu geregelt und gesichert werden. Das Angebot an Berufsausbildung kann nicht weiterhin von den Zufällen der Konjunktur abhängig gemacht werden. Auf lange Sicht hat es natürlich keinen Sinn, für Berufe auszubilden, die anschließend nicht mehr gebraucht werden. Insofern bestimmt in jedem Fall die allgemeine wirtschaftliche Lage die Berufsausbildung mit. Andererseits reicht es aber nicht, wenn man die Betriebe nur fragt, wie viele Lehrlinge mit welcher Qualifikation sie in absehbarer Zeit brauchen. Erstens sind die privatwirtschaftlichen Betriebe natürlich daran interessiert, gerade für die unteren Qualifikationen möglichst geringe Ansprüche zu stellen, denn höherqualifizierte Arbeiter kosten zumindest auf die Dauer auch mehr. Und zweitens gibt es eine Reihe von wichtigen Lernaufgaben, an denen die Betriebe unmittelbar gar nicht interessiert sein können, z. B. politische Bildung. Die Reformvorschläge gehen dahin, daß sich alle Betriebe an der Finanzierung beteiligen sollen, auch diejenigen, die selbst nicht ausbilden wollen oder können. Zusammen mit den Mitteln des Staates könnten so verhältnismäßig unabhängig von der jeweiligen Wirtschaftslage Plätze für die Berufsausbildung geschaffen werden.

2. Die notwendigen Reformen der Berufsausbildung, z. B. Verbesserung des Berufsschulunterrichts und die Zusammenfassung der Lehrberufe in Grundberufe, müssen einheitlich für das ganze Bundesgebiet geregelt werden, etwa so wie im Schulwesen auch. Die dafür nötigen Lehrpläne und Lehrmittel müßten in einem dafür zu schaffenden Institut entwickelt werden, an dem möglichst alle beteiligt werden, die mit der Ausbildung zu tun haben (Unternehmer, Gewerkschaften,

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Staat). Bei den gegenwärtigen Überlegungen des Bundestags für ein neues Berufsbildungsgesetz spielen diese zwei Punkte eine zentrale Rolle.
 
 

Jugendkriminalität
 

Die Sozialisation kann scheitern

Wir haben bisher den "normalen" Gang der kindlichen und jugendlichen Entwicklung dargestellt. Das Kind wächst in einer Familie auf, lernt dort die wichtigsten "Grundmuster" des sozialen Verhaltens; es tritt in die Schule ein, wo es neben Kenntnissen und Fähigkeiten auch weitere Verhaltensweisen und "ideologische Überzeugungen" lernt, die es für ein selbständiges, verantwortungsvolles Leben als Erwachsener braucht; im Jugendalter vollzieht sich dann der Übergang in die Rolle des Erwachsenen, was oft mit persönlichen Krisen und Schwierigkeiten verbunden ist. Mit dem Eintritt in den Beruf - sei es nach dem Besuch der Hauptschule, sei es später nach dem Abschluß des Studiums - und der juristischen Mündigkeit werden allmählich die Rechte und Pflichten von Erwachsenen erlangt.

Früher nahm man an, daß Erziehung und Sozialisation nur für Kinder und Jugendliche von Bedeutung seien, Erwachsene dagegen seien "fertige Menschen", die nichts Wichtiges mehr dazulernen müßten. Heute dagegen wird sowohl durch Forschungen wie auch durch die Lebenserfahrung immer deutlicher, daß der Prozeß der Sozialisation das ganze Leben über anhält. Neue berufliche (z. B. Arbeitsplatz- oder Berufswechsel), politische oder kulturelle Entwicklungen müssen erlernt und verarbeitet werden.

Jedoch verläuft die kindliche und jugendliche Entwicklung nicht immer "normal". Die Massenmedien berichten immer wieder von Kindern, die sich zu Diebesbanden zusammenschließen; von jugendlichen Gewalttätern, Einbrechern und Autodieben. Die meisten erwachsenen Kriminellen sind schon im Kindes- und Jugendalter auffällig oder kriminell geworden. Die Erziehung und Sozialisation kann also falsch verlaufen oder scheitern, und in diesem Kapitel wollen wir der Frage nachgehen, woran das liegt und was unsere Gesellschaft mit jugendlichen Kriminellen macht.

Abweichendes Verhalten und Kriminalität

"Kriminell" ist jemand, der gegen ein bestehendes Gesetz verstößt, also z. B. etwas stiehlt. Nun kann aber ein Kind unter

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14 Jahren strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Das bedeutet aber, daß ein Kind nach Meinung des Gesetzgebers den Unterschied von bloß "abweichendem Verhalten" und "Kriminalität" nicht zu erkennen vermag. Gesetzwidriges Verhalten von Kindern und Jugendlichen "fällt nicht vom Himmel", d. h. es handelt sich dabei nicht um ein isoliertes Fehlverhalten, sondern um ein allgemeines Fehlverhalten. Ein jugendlicher "Dieb" ist eben nicht nur jemand, der etwas stiehlt, sondern überhaupt jemand, der sich auch in anderen Zusammenhängen "abweichend" verhält. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang bei Kindern. Kinder stehlen nur selten etwas, um sich zu bereichern. In der Regel verschenken sie das Diebesgut, um sich dadurch bei ihren Kameraden Anerkennung und Zuwendung zu verschaffen, oder sie werfen es achtlos weg, weil sie z. B. nur die "Mutprobe" des Diebstahls selbst interessiert.

Wenn Kinder und Jugendliche gegen wichtige Normen der Gesellschaft verstoßen, also gegen das, was allgemein für richtig gehalten wird, dann nennt man ein solches Verhalten "dissozial" oder "abweichend". Nicht jedes abweichende Verhalten muß kriminell werden, im Gegenteil beruhen auch alle schöpferischen Neuheiten für die Gesellschaft auf abweichendem Verhalten. Wer sich in einer bestimmten Frage anders verhält als die Mehrheit, ärgert zwar meistens die anderen Leute, ist aber noch keineswegs kriminell. In vielen Fällen sind die "Abweichenden" gerade die "Normalen", z. B. diejenigen, die für ihre Freiheitsrechte eintreten oder für ein menschlicheres Verhalten. Als zu Beginn unseres Jahrhunderts die ersten Frauen die Universität besuchten, erregten sie Aufsehen durch diese "Abweichung" von der weiblichen Rolle. Heute ist es selbstverständlich, daß Mädchen studieren. Und als vor wenigen Jahren Verlobte, also nicht verheiratete Paare, eine gemeinsame Wohnung suchten, galt auch dies als "abweichend", und viele Zeitgenossen befürchteten den Verfall unserer Sitten. Es gibt aber auch andere Beispiele für abweichendes Verhalten: z. B. Rockerbanden, die ältere und gebrechliche Menschen zusammenschlagen; oder jugendliche Cliquen, die Rauschgift nehmen.

Man sieht aus diesen Beispielen: "Abweichendes Verhalten" kann sowohl eine selbstbewußte, freiheitliche Auffassung von der eigenen Lebensgestaltung zum Ausdruck bringen, es kann aber auch anzeigen, daß jemand einer "kriminellen" Karriere zusteuert. Da aber abweichendes Verhalten fast immer von der sozialen Umgebung verachtet wird, kann es leicht von der Umgebung als kriminell erklärt werden. Etwa nach dem Motto: Wenn jemand schon lange Haare trägt, dann kann auch sonst mit ihm nicht viel los sein.

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Es ist sehr schwierig, die Ursachen der Kriminalität genau zu erforschen, weil es sich nämlich dabei um einen sehr komplizierten Zusammenhang vieler Faktoren handelt. Lange Zeit hat man nur nach den Tätern gefragt, also danach, was diese getan haben und warum sie es wohl getan haben. Erst in letzter Zeit fragt man auch danach, was umgekehrt die Gesellschaft bzw. die soziale Umgebung mit dem Täter macht: In welchem Maße drängt die Umwelt jemanden, der sich abweichend verhält oder der einmal eine Gesetzesübertretung begangen hat, in eine "kriminelle Karriere" (Lebenslauf), indem sie ihn einfach so lange für einen "Kriminellen" hält, bis er es selber auch glaubt und sich danach verhält.

Es ist auch deshalb schwierig, die Ursachen der Kriminalität genau zu erforschen, weil die Erkenntnisse und Theorien immer nur allgemein gelten, jedoch nicht unbedingt für den Einzelfall. Wir wissen z. B., daß häufiges Schuleschwänzen ein wichtiges Anzeichen für eine kriminelle Karriere ist, aber bei weitem nicht jeder Schuleschwänzer wird kriminell. Oder man hat z. B. einen großen Teil der Kriminalität dadurch zu erklären versucht, daß benachteiligte soziale Schichten sich eben auf diese Weise das holen, was die Gesellschaft für wertvoll hält ("Lebensstandard"), was aber beim besten Willen durch Arbeit nicht zu schaffen ist. Aber der weitaus größte Teil der Unterschicht wird eben nicht kriminell.

Soviel ist allerdings sicher: Wenn man einmal von den Fällen absieht, wo medizinische Ursachen vorliegen (z. B. Hirnschädigungen), so wird Kriminalität nicht vererbt, sondern als Verhalten erst nach der Geburt gelernt. Dabei spielen vor allem folgende Faktoren eine Rolle:

Die Familie versagt. Bei der Erörterung über die Erziehungsaufgabe der Familie wurde darauf verwiesen, wie wichtig das Erlernen der sozialen "Grundmuster" in der Familie ist. Diese Muster werden aber nur gelernt, wenn einerseits die Normen d. h. die gesellschaftlichen Ansprüche, von den Eltern klar gefordert werden, andererseits aber das Kind mit seinen Bedürfnissen nach Anerkennung, Liebe und Geborgenheit auf seine Kosten kommt. Wird dieses Gleichgewicht aufgehoben, dann kann das Kind nur schwer den Sinn der Anforderungen der Eltern einsehen und wird dazu neigen, solchen Forderungen nicht zu gehorchen, sobald die Gewalt der Eltern nicht mehr da ist. Oder das Kind wird sich "Kompensationen" suchen, also einen Ausgleich. Es kann z. B. eine andere Person finden, die ihm Zuwendung gewährt (z. B. eine Kindergärtnerin oder eine Großmutter), oder es greift zu "Ersatzhandlungen" wie dem Diebstahl, weil es sich etwa mit dem Diebesgut Liebe

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und Zuwendung "kaufen" will.

Drei Erziehungsfehler sind in diesem Zusammenhang wichtig, vor allem, wenn sie häufig vorkommen, also "typisch" für die familiäre Erziehung sind:

1. Überstrenge Erziehung. Das Kind wird überstreng erzogen, jeder kleinste Verstoß gegen die Regeln wird bestraft, ohne daß die Strafe genügend erklärt wird. In diesem Falle lernt das Kind nicht, sich selbständig zu verhalten, sondern bleibt abhängig von Menschen, die es sofort bestrafen, wenn es einen Fehler gemacht hat. Es kann also kein selbständiges "Gewissen" ausbilden, sondern bleibt abhängig von "Autoritäten", die ihm sagen, was zu tun ist, ohne auch nur zu erklären, warum es zu tun ist. Das Kind fühlt sich mißachtet und unbeliebt.

2. Verwöhnung. Das Gegenteil, die "Verwöhnung", ist nicht minder schlimm. Mit "Affen-Liebe" werden dem Kind alle Wünsche von den Augen abgelesen und nach Möglichkeit erfüllt. Ein solches Kind lernt nicht, seine Wünsche und Bedürfnisse aufzuschieben und wenigstens zeitweilig zugunsten der Bedürfnisse anderer Menschen darauf zu verzichten. Es lernt den Zusammenhang von Geben und Nehmen nicht, im Extremfall wird es unsozial und ohne ein selbständiges Gewissen aufwachsen.

3. Fehlende Kontinuität ( = "heute so, morgen anders"). Nicht wenige Eltern richten ihre Forderungen danach, wie ihnen gerade zumute ist. Sind sie gut gelaunt, darf das Kind etwas tun, was ihm sonst verboten ist. In diesem Falle vertreten die Eltern dem Kind gegenüber nicht irgendwelche gesellschaftlichen Normen und Ansprüche, sondern nur ihre jeweilige persönliche Gefühlslage. Die Folge ist, daß das Kind kein soziales Verhalten lernen kann, es lernt nur, sich nach Stimmungen zu richten.

Irgendwann machen wohl alle Familien einmal solche Erziehungsfehler. Die Frage ist nur, ob dies gelegentlich oder durchgängig geschieht; nur im letzteren Fall ist eine solche Erziehung sehr problematisch. Es wäre jedoch ungerecht, die Schuld dann allein bei den Familienangehörigen, vor allem bei den Eltern, zu suchen. Die Familie ist keine Idylle, losgelöst von den allgemeinen gesellschaftlichen Problemen. Sie muß ja auch alle die Belastungen aushalten, die etwa am Arbeitsplatz der Eltern auftreten. Die persönlichen Probleme und Konflikte, die am Arbeitsplatz auftreten, aber dort schon wegen der Konkurrenz aller gegen alle nicht bearbeitet und ausdiskutiert werden können, werden in die Familie verlagert und belasten die Familienbeziehungen auf mannigfache Weise. Zorn und Enttäuschung über Kollegen und Vorgesetzte sowie die Angst um die eigene berufliche Position werden nicht

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im Betrieb abreagiert - wo man sich das nicht leisten kann - sondern in der Familie. Dabei werden oft an die Familie, d. h. an die anderen Mitglieder der Familie, uneinlösbare Forderungen und Erwartungen gestellt: Sie soll ein Hort der Ruhe und des Friedens sein inmitten einer als feindselig und bedrohlich empfundenen Umwelt. In diesem Zusammenhang ist das Kind natürlich das "schwächste Glied der Kette", weil es die Gründe für derartige Belastungen noch nicht zu erkennen vermag. Diese Belastungen verschärfen sich dann, wenn die wirtschaftliche Existenz der Familie gefährdet ist, wie dies bei allen einkommensschwachen Schichten durchweg und ständig der Fall ist.

Kriminelles Verhalten wird in einer kriminellen Teilkultur gelernt. Wenn eine ganze gesellschaftliche Teilgruppe (z. B. Obdachlose, Gastarbeiter; sonstige Minderheiten) von der übrigen Gesellschaft verachtet und unterdrückt wird, dann kann sich sehr leicht daraus eine "kriminelle Teilkultur" entwickeln. Beispiele dafür finden sich etwa in den USA, wo ganze Stadtviertel oft von solchen Gruppen bewohnt werden, die von den anderen verachtet werden und mit denen man keinen Kontakt haben will (z. B. Neger, Puertoricaner und sonstige völkische Minderheiten). In solchen Gebieten gelten die Normen der "offiziellen" Gesellschaft manchmal nur zum Teil. Kinder lernen hier z. B., daß Diebstahl nur gegenüber der eigenen Gruppe verboten ist, nicht jedoch gegenüber Fremden. Oder das Kind sieht von klein auf, daß man seine Interessen ganz selbstverständlich mit Gewalt vertreten muß. So entsteht Kriminalität bzw. kriminelles Verhalten oft einfach dadurch, daß die "offiziellen" Normen der Gesellschaft sich im Widerspruch befinden zu den Normen des "Milieus", in dem das Kind aufwächst.

Die sogenannte "Jugendverfehlung". Nicht jeder, der unter den bisher genannten Bedingungen aufwächst, wird tatsächlich kriminell. Überraschend ist im Gegenteil eher, wie viele Menschen nicht kriminell oder sozial auffällig werden, obwohl sie unter mehr oder weniger ungünstigen Bedingungen aufwachsen mußten. Aber zweifellos gefährden die genannten Bedingungen einen Menschen, und zwar nicht nur im Hinblick auf eine Straftat, sondern auch im Sinne einer "kriminellen Karriere", d. h. in Richtung auf eine Lebensführung die ständig von krimineller Abweichung bedroht ist. Im Unterschied dazu gibt es eine ganze Reihe krimineller Taten - gerade Gewalttaten - die eine einmalige, gleichsam explosive Lösung eines Konflikts darstellen. Hier handelt es sich um oft biszur Unerträglichkeit gesteigerte Konfliktsituationen, aus denen man keinen Ausweg sieht und wo dann "die Sicherung durchbrennt". Ein Beispiel dafür sind etwa Eifer-

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suchtstaten. Vor allem im Jugendalter sind Verfehlungen und Gesetzesbrüche dieser Art relativ häufig, allerdings weniger als Gewalttaten, sondern vor allem als Eigentumsdelikte (Raub und Diebstahl). Man spricht hier von einer "Jugendverfehlung" und meint damit, daß die besonderen Schwierigkeiten und Konfliktsituationen des Jugendalters manchmal zu entsprechenden Vergehen führen, daß aber eine Wiederholung solcher Taten nicht zu erwarten ist. Infolgedessen geht das Jugendstrafrecht mit solchen Taten und Tätern milder um als mit anderen.

Sind die Unterschichten krimineller als andere? Die Insassen der Fürsorgeerziehungsheime und Jugendstrafanstalten kommen zu etwa 85 % aus den unteren sozialen Schichten. Daraus könnte man schließen, daß Unterschichten krimineller seien als Mittelschichten und Oberschichten. Das ist teilweise richtig und wird dadurch bedingt, daß die Gesellschaft eben diese Schichten benachteiligt und zu wenig dazu beiträgt, die Lebensverhältnisse dort zu verbessern. Das Einkommen reicht oft nur für das Allernötigste. Oft müssen kinderreiche Familien unter den engsten und, am Maßstab unseres allgemeinen Lebensstandards gemessen, unzureichenden Wohnverhältnissen leben, weil die Vermieter guter Wohnungen entweder keine Kinder dulden, oder aber weil die Miete zu hoch ist. Solche Wohnverhältnisse führen aber - wie immer, wenn zu viele Menschen auf engem Raum zusammenleben - zu Konflikten, die eine vernünftige Erziehung und ein vernünftiges Aufwachsen der Kinder erheblich erschweren.

Darüber hinaus haben die Eltern selbst dann, wenn sie eine "drohende Verwahrlosung" ihres Kindes bemerken, kaum die Möglichkeit, das Abgleiten in die Kriminalität zu verhindern. Während Eltern aus den Mittel- und Oberschichten eine solche Entwicklung ihres Kindes unter anderem dadurch verhindern können, daß sie es in ein teures Internat schicken, sind Eltern aus den Unterschichten bestenfalls auf staatliche Erziehungshilfe angewiesen, die in der Regel von überlasteten und schlecht ausgebildeten Personen ausgeübt wird; außerdem sind solche staatlichen Einrichtungen Behörden, denen man mit Mißtrauen gegenübersteht.

Der geringe finanzielle Spielraum und die verhältnismäßig geringere Bildung in Unterschichtfamilien führen dazu, daß für Konflikte kaum Kompensationen ( = Ausgleichsmöglichkeiten) zur Verfügung stehen. Das gilt schon für den einzelnen Jugendlichen: Ein Oberschüler hat im allgemeinen einen viel größeren Spielraum für Konfliktlösungen als ein Lehrling oder Jungarbeiter, deren Lebensverhältnisse sehr viel stärker eingeengt sind.

Hinzu kommt noch etwas anderes: Da die Gesellschaft davon

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ausgeht, daß Unterschichtangehörige eher kriminell sind als andere, greifen Polizei und Justiz dort sehr viel eher ein. Das ist inzwischen durch zahlreiche Untersuchungen gut bewiesen. Wenn z. B. ein Junge aus der Unterschicht einen Warenhaus-Diebstahl begeht, so ist man sofort der Meinung, daß er ja "ohnehin kriminell und verwahrlost" sein müsse, während man bei einem Jungen aus der Mittel- oder Oberschicht sehr viel eher geneigt ist, diese Tat als Ausnahme, als typische Jugendverfehlung, jedenfalls nicht als kriminell zu bezeichnen. Dies führt dann nicht selten dazu, daß der Junge aus der Unterschicht vor den Jugendrichter kommt, während man bei dem anderen von vornherein auf eine Anzeige verzichtet. Selbst wenn beide vor den Jugendrichter gelangen, so kommt es auch hier häufig vor, daß der Junge aus der Unterschicht mit drastischen Maßnahmen (z. B. Fürsorgeerziehung oder Verurteilung zu Jugendstrafe) bestraft wird, während der Junge aus der Oberschicht mit glimpflicheren Maßnahmen (z. B. Ersetzen des gestohlenen Wertes vom Taschengeld) wegkommt.

Oder ein anderes Beispiel: Ein Polizist wird in einem Unterschichtenviertel eher randalierende Jugendliche mit auf die Wache nehmen als in einem "guten Viertel". Dies bedeutet einmal, daß das, was kriminell ist, zu einem bestimmten Teil abhängig ist von der sozialen Schicht, der man angehört. Es bedeutet außerdem, daß die Chance eines Unterschicht-Angehörigen, bei einer Straftat erwischt und bestraft zu werden, größer ist als die eines Mittel- oder Oberschicht-Angehörigen. In der konkreten Polizei- und Rechtspraxis gibt es tatsächlich immer noch so etwas wie "Klassenjustiz".

Hinzu kommt die allgemeine Tatsache, daß typische "Mittelschicht-Verbrechen" entweder gar nicht oder nur sehr lässig verfolgt werden. Ein Beispiel ist die sogenannte "Wirtschaftskriminalität". Der Schaden, der jährlich durch Wirtschaftsverbrechen in großem Stil entsteht, ist erheblich höher als der, der durch Raub und Diebstahl entsteht. Solche Verbrechen sind aber sehr viel schwerer nachzuweisen als die typischen Unterschicht-Delikte Raub und Diebstahl. Kommt es dann zur Verhandlung, dann stehen teure Anwälte und Gutachter zur Verfügung, die den Rechtsspielraum bis an seine Grenzen auszunutzen verstehen.

Fürsorgeerziehung und Jugendstrafe

Wie reagiert nun die Gesellschaft auf Jugendliche, deren Sozialisation zu scheitern droht oder die eine Straftat begangen haben? Solange noch keine Straftat vorliegt, kann auch kein

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Gericht in Aktion treten; jemanden zu bestrafen, weil er möglicherweise eine Straftat begehen wird, ist nach unserem Grundgesetz nicht möglich. Aber im sogenannten "Jugendwohlfahrtsgesetz" (JWG), das bereits 1922 beschlossen wurde und heute in der Fassung von 1961 gilt, sind zur Unterstützung der Erziehungstätigkeit der Familie eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen. So können Eltern z. B. einen "Erziehungsbeistand" beim Jugendamt beantragen, der bei der Erziehung eines schwierigen Kindes hilft und berät. Außerdem können die Eltern "freiwillige Erziehungshilfe" (FEH) beantragen; ein Jugendlicher kann auf Wunsch der Eltern in ein Fürsorgeerziehungsheim gebracht werden, allerdings nur solange, wie die Eltern es auch wünschen. Die Einweisung in ein Fürsorgeerziehungsheim kann auch gegen den Willen der Eltern erfolgen, dann bedarf es aber eines Urteils des Vormundschaftsgerichtes.

Ab 14 Jahren unterliegt ein jugendlicher Straftäter dem Jugendstrafrecht. Es wird auf 14- bis I7jährige straffällige Jugendliche angewandt und kann - je nach dem Stand der geistig-seelischen Entwicklung - auch auf 18- bis 21jährige, sogenannte "Heranwachsende", Anwendung finden. Früher wurden jugendliche Straftäter genau wie Erwachsene behandelt. Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse über die Probleme des Jugendalters ließen es jedoch geraten erscheinen, von dieser Praxis abzugehen. Man erkannte, daß es auch im Interesse der Gesellschaft sinnvoller ist, soweit wie möglich Erziehungsmittel anzuwenden, als kriminelle Karrieren durch das Zusammensperren von Jugendlichen mit erwachsenen Tätern in der Strafanstalt auch noch zu fördern. Vor allem bei den sogenannten "Jugendverfehlungen" erschien eine solche Strafpraxis unangebracht. Deshalb gab es bereits im Jahre 1923 das erste deutsche Jugendgerichtsgesetz (JGG), das mehrmals geändert wurde und nun in der Fassung von 1953 gilt.

Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich vom Erwachsenenstrafrecht dadurch, daß alle Maßnahmen, die dort ergriffen werden, nicht primär der Strafe, sondern der Erziehung dienen. Das Jugendstrafrecht ist nicht, wie das Erwachsenenstrafrecht, Tatstrafrecht, sondern Täterstrafrecht. Das bedeutet, daß die strafrechtliche Reaktion nicht an der Tat, sondern am Täter orientiert ist. Es gibt im Jugendstrafrecht keine Bestimmung, die für eine bestimmte Straftat eine bestimmte Strafart und ein bestimmtes Strafmaß festsetzt, wie das im Erwachsenenstrafrecht der Fall ist. Die Maßnahmen des Jugendstrafrechts hängen vielmehr von der jeweiligen Situation (Entwicklung, Umwelt usw.) des jugendlichen Straftäters ab. Es ist also durchaus denkbar, daß sich ein geistig weiterentwickelter und damit einsichtsfähiger Jugendlicher für die gleiche Tat

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härtere Maßnahmen gefallen lassen muß als ein weniger entwickelter und damit weniger einsichtsfähiger. Der Jugendrichter hat die Möglichkeit, diejenigen Maßnahmen anzuordnen, die seiner Überzeugung nach angemessen und geeignet sind, den jugendlichen Straftäter erzieherisch zu beeinflussen. Dazu gehört z. B., daß Jugendstrafe nur als "letztes Mittel" angesehen wird, wenn erzieherische Maßnahmen nichts genutzt haben. Zu den erzieherischen Maßnahmen, die der Jugendrichter zur Verfügung hat, gehört z. B. die Weisung, einen bestimmten Umgang zu vermeiden; oder die Auflage, einen Schaden gutzumachen; oder die Verpflichtung, sich durch einen Erziehungsbeistand beraten zu lassen, oder auch die Einweisung in ein Fürsorgeerziehungsheim.
 
 

Widersprüche zwischen Zielsetzung und Wirklichkeit

Die Maßnahmen des Jugendstrafrechts wie auch der Fürsorgeerziehung gehen davon aus, daß es nicht auf Bestrafung ankommt, sondern auf Erziehung. Die bisher falsch gelaufene Erziehung und Sozialisation soll nachträglich noch korrigiert werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von "Resozialisation" ( = Wiederherstellung einer richtigen Erziehung) oder "Nach-Sozialisation" ( = eine bisher falsch gelaufene Sozialisation richtig machen). Beide Begriffe haben einen wichtigen Bedeutungsunterschied: Wenn man von "Re-Sozialisation" spricht, so meint man, daß im ganzen die bisherige Erziehung eigentlich richtig war, daß der Jugendliche nur "ausgeflippt" ist und nun wieder in den ursprünglich richtigen Prozeß zurückgeführt werden muß; bei "Nach-Sozialisation" geht man jedoch davon aus, daß die bisherige Sozialisation im großen und ganzen falsch verlaufen ist, und daß es jetzt darauf ankommt, nachträglich und verspätet eine richtige Sozialisation in Gang zu setzen. Diese Zielsetzungen sind an sich einleuchtend und vernünftig, aber der Widerspruch zur Realität in den Jugendstrafanstalten und Fürsorgeerziehungsheimen ist groß. Gerade in den letzten Jahren wurden solche Einrichtungen und Maßnahmen nicht nur durch wissenschaftliche Untersuchungen, sondern auch politisch heftig kritisiert.

Widerspruch von Erziehung und Strafe. Sosehr auch offiziell die Forderung nach dem Vorrang der Erziehung vor der Strafe erhoben wird, so hartnäckig halten sich nicht nur in den Strafanstalten und Fürsorgeheimen, sondern auch in der Öffentlichkeit die überlieferten Vorstellungen vom nötigen Vorrang der Strafe. Die Vorstellung, daß eine Tat "gesühnt" werden müsse, beherrscht nach wie vor das Denken und Fühlen. Man erkennt dies u. a. daran, daß immer noch ein so großer

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Teil der Bevölkerung für die Todesstrafe eintritt. Solche Einstellungen hängen zusammen mit tiefsitzenden Gefühlen: Angst der Bürger vor dem Rechtsbrecher; tiefsitzende Gefühle der Rache; aber auch so etwas wie Neid: Ich darf das nicht, was ich manchmal auch gern täte, und dann sollen es auch die anderen nicht dürfen. Hinzu kommt, daß Strafgefangene und Fürsorgezöglinge zu den "Ausgestoßenen" in der Gesellschaft gehören. Politiker scheuen sich, sich allzu sehr für sie zu engagieren, weil das erstens keine Wählerstimmen einbringt und zweitens dem eigenen Ansehen nur schaden kann. So fehlt nicht zuletzt das Geld, das nur die Politiker zur Verfügung stellen könnten.

Hinzu kommen längst überholte Vorstellungen von Erziehung: daß man das "Böse" im Menschen nur mit Härte und Strenge austreiben könne. Gewiß kann die Strafe selbst auch einen erzieherischen Wert haben. Sie kann z. B. zur Besinnung führen, zum Nachdenken darüber, ob man den mit der Straftat eingeschlagenen Weg weitergehen will. Aber schon dafür wäre die Voraussetzung, daß der jugendliche Täter überhaupt gelernt hat, solche Überlegungen anzustellen. Oder anders ausgedrückt: Eine solche Erwartung setzt bereits eine sehr weit gelungene Sozialisation voraus, die jedoch in vielen Fällen gerade nicht vorliegt. Unter erzieherischen, nämlich pädagogischen Gesichtspunkten, geht es jedoch um etwas ganz anderes: um die Frage nämlich was der betreffende Jugendliche bisher nicht gelernt hat, aber noch lernen müßte, um in Zukunft ein straffreies und auch für ihn selbst befriedigendes Leben führen zu können. Daran gemessen ist die Strafe zweitrangig, d. h. sie ist nicht als solche, als Sühne, interessant, sondern nur insofern sie wirklich zu einem solchen Lernprozeß gehört. Dieser Maßstab hat sich jedoch nur in ganz wenigen Fürsorgeheimen und Jugendstrafanstalten durchsetzen können.

Das einschüchternde Ritual. Das Ritual, d. h. die Regeln und Formen des Umgangs mit dem Jugendlichen, ist sowohl vor dem Jugendgericht wie auch in der Strafanstalt und in den meisten Fürsorgeheimen einschüchternd und nicht ermutigend. Die Szenerie bei der Verhandlung vor einem Jugendgericht unterscheidet sich fast gar nicht von einem Strafverfahren gegen Erwachsene. Richter und Staatsanwalt in ihren schwarzen Roben sitzen auf erhöhtem Podest und blicken auf den angeklagten Jugendlichen herab. Dies allein und zudem die Formvorschriften, wie z. B. feierliche Vereidigung von Zeugen usw. lassen eine Atmosphäre aufkommen, die dem angestrebten Erziehungszweck absolut entgegensteht. Der Jugendliche sehe sich - so hat es einmal ein Jugendrichter formuliert - einer Front von Erwachsenen gegenüber, die ganz und gar

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nicht den Anschein erweckt, dem Jugendlichen helfen zu wollen. Entweder kapituliert oder resigniert der Jugendliche vor dieser Übermacht, oder er entwickelt Trotzreaktionen. Beides aber widerspricht der erzieherischen Absicht.

Diese einschüchternde Atmosphäre setzt sich in den meisten Strafanstalten und Fürsorgeheimen fort.

Mangelhafte pädagogische Ausbildung. Die Personen, die beruflich mit jugendlichen Straftätern oder Fürsorgezöglingen zu tun haben, sind, von Ausnahmen abgesehen, pädagogisch völlig unzureichend ausgebildet und somit kaum in der Lage, den Erziehungsauftrag ernsthaft zu verfolgen. Das gilt schon für die meisten Jugendrichter. Sie müssen sich in ihrem Studium keine pädagogischen Kenntnisse erwerben und haben meistens auch wenig Ahnung davon. Obwohl das Jugendgerichtsgesetz ausdrücklich Erfahrung und Befähigung zur Erziehung von Jugendrichtern verlangt, gibt es keine entsprechende Ausbildung. Häufig werden vielmehr Jugendrichter dann berufen, wenn sie zwei oder mehr Kinder haben. Man glaubt, daß sie damit über entsprechende pädagogische Fähigkeiten verfügen. Zudem ist unter den Richtern das Amt des Jugendrichters nicht sonderlich beliebt; es eignet sich nicht für eine berufliche Karriere.

Ähnlich steht es mit der Ausbildung von Heimerziehern und Aufsichtsbeamten in den Strafanstalten, die sich nach der Verurteilung des Jugendlichen bzw. nach seiner Einweisung in ein Fürsorgeheim mit ihm befassen müssen. Viele Heimerzieher haben überhaupt keine pädagogische Ausbildung, sondern sind aus anderen Berufen gekommen und gleichsam "angelernt" worden. Bei der Ausbildung der Aufsichtsbeamten in den Strafanstalten überwiegt der juristische und polizeiliche Aspekt, pädagogische Fragen spielen eine ganz untergeordnete Rolle. Zudem sind diese Berufe unterprivilegiert, d. h. sie genießen im Vergleich zu anderen Berufen ein sehr viel geringeres Ansehen. Von der besonderen Schwierigkeit der pädagogischen Arbeit her gesehen, nämlich unter so ungünstigen Voraussetzungen einen Erziehungsauftrag zu verwirklichen, müßten diese Berufe besonders gut ausgebildet und sehr viel höher bezahlt werden.

Unzureichende Lernmöglichkeiten. So gut wie nichts von dem, was jugendliche Strafgefangene oder Fürsorgezöglinge für das spätere Leben lernen müssen, können sie in den Anstalten wirklich lernen. Das liegt nicht nur am Personal, sondern auch am Anstaltscharakter selbst. Paßt sich z. B. der Jugendliche den Bedingungen der Anstalt an, so erhält er Vergünstigungen, die ihm zwar das Leben in der Anstalt erleichtern, ihn aber in seiner eigenen Persönlichkeit schwächen und für das Leben "draußen" kaum tüchtig machen. Ebenso ver-

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hält es sich mit der Arbeit, die die Jugendlichen verrichten müssen. Nur in seltenen Fällen erhalten sie eine schulische Ausbildung oder können einen Beruf erlernen, mit dem sie später etwas anfangen können. Meist werden sie in der Anstalt mit untergeordneten Hilfsarbeiten im Garten, in der Wäscherei oder der anstaltseigenen Reparaturwerkstatt beschäftigt; oder Unternehmen der Umgebung geben mehr oder weniger stumpfsinnige Handarbeiten an die Anstalt ab. Statt von ihrer Arbeit Rücklagen machen zu können für das Leben draußen, werden sie bei minimalem Lohn ausgebeutet. Statt zu lernen, wie man sein Leben selbst organisiert und plant, schreibt die Anstalt alles bis in die letzte Kleinigkeit vor. In solchen Anstalten lernt man nicht, wie man in einer freien Gesellschaft lebt, sondern nur, wie man in der Ausnahmesituation einer Anstalt lebt und überlebt.

Hohe Rückfallquote

So kann es nicht verwundern, daß der entlassene Jugendliche (und das gilt in gleicher Weise für den erwachsenen Strafgefangenen) bei seinem Bemühen, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen, überall auf Ablehnung und Vorurteile stößt. Das fängt mit der Beschaffung eines Zimmers oder einer Wohnung an und hört bei dem Bemühen um einen Arbeitsplatz, um einen Freundeskreis usw. auf. Die Strafe hängt ihm an wie ein sichtbares Zeichen ( = Stigma) und stempelt ihn auch dann zu einem "Menschen zweiter Klasse", wenn er sich nur einbildet, daß die anderen ihn anders behandeln als einen "normalen" Menschen. Der Aufenthalt in der Strafanstalt oder in dem Fürsorgeheim hat ihm nichts beigebracht, was er nun erfolgreich verwenden könnte. Meist ist er schlimmer dran als vorher. So kann es niemanden erstaunen, wenn ca. 60 bis 70 % der einmal straffällig gewordenen Jugendlichen wieder rückfällig werden und auch als Erwachsene ständig mit den Gesetzen und damit mit der Gesellschaft in Konflikt geraten.

Sicher wird man durch noch so vernünftige pädagogische Maßnahmen die Kriminalität nicht abschaffen können. Aber man könnte sehr vielen Kindern und Jugendlichen eine kriminelle Karriere ersparen.

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102. Erfahrung und Einsicht, Schülern zuliebe (1976)

(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 38/1976)
 

Pädagogische Bücher, zumal solche über die Schule, werden gemeinhin für Lehrer geschrieben oder für Leute, die es werden wollen. Pädagogische Literatur für Eltern ist selten und dann oft von zweifelhaftem Wert. Ganz überwiegend behandelt sie das Vorschulalter, viel seltener die Schul- und Jugendzeit. Dabei hat die moderne Schule den Eltern immer mehr und immer schwierigere Aufgaben zugewiesen. Sie sollen in der Schule mitbestimmen, die Interessen ihrer Kinder gegenüber der Schulverwaltung und den Lehrern vertreten, vor allem die Schulaufgaben beaufsichtigen und in vielen Fällen sogar als Nachhilfelehrer tätig werden.

Auf der anderen Seite wird die Kluft zwischen der an der Schule orientierten Erziehungswissenschaft und den Verständnismöglichkeiten des pädagogischen Laien immer größer. Gerade in den letzten Jahren hat sich eine pädagogische Imponier-Fachsprache über Probleme der Schule gebildet, die in diesem Ausmaß wissenschaftlich nicht notwendig ist, aber den bürokratischen Apparaten und auch den Lehrern einen scheinbaren Vorsprung an Weisheit und einen tatsächlichen an Macht und falscher Autorität gewährt.

Nicht zuletzt deshalb neigen viele Eltern dazu, die Ansprüche der Schule an die Kinder einfach weiterzugeben und gleichsam zu verdoppeln: "Leistung'`, so wie die Schule sie verlangt, wird nicht nur hingenommen, sondern auch unkritisch weitergegeben und gerechtfertigt. Die allmächtigen Kultusbürokratien und die pädagogisch geschulten Lehrer müssen es schließlich wissen. Viele Kinder fühlen sich isoliert zwischen dem leistungsorientierten Bündnis von Lehrern und Eltern.

Hier setzt das für die Eltern geschriebene Buch von Horst Speichert an, nämlich bei einer richtig verstandenen Leistungsfähigkeit des Kindes, die erhalten und gepflegt werden soll, aber gerade deshalb auch geschützt werden muß. Leistungsfähigkeit hängt mit Einsichtsfähigkeit und vor allem damit zusammen, daß das Kind die Ansprüche mit seinen eigenen Erfahrungen in Verbindung setzen kann. Die Schule darf nur bestimmte Leistungen herausfordern, andere, die für das Leben nicht minder wichtig sind, kann sie weder produzieren noch honorieren. Speichert mäkelt nicht grundsätzlich am Leistungsbegriff herum: Er weiß als Pädagoge, daß es die Kinder selbst sind, die etwas leisten und dafür anerkannt werden wollen. Die Frage ist nur: Was wollen und können sie leisten, und wie kann man sie dazu ermutigen und motivieren?

Speicherts Buch besticht durch seine engagierte, gleichwohl sehr abgewogene Argumentation. Der Verfasser will erklären und Verständnis wecken: Verständnis der Eltern für die Schwierigkeiten der Lehrer, für die Schwierigkeiten mit der eigenen Rolle und vor allem für die Probleme der Kinder. Eltern und Lehrer sollen zusammenarbeiten zum Wohl des Kindes, nicht gegeneinander. Dazu ist eine gründliche Information der Eltern über die wichtigsten schulischen Probleme erforderlich. Speichert gibt sie ohne jenes wissenschaftliche Imponier-Gehabe, aber auf der Höhe der Fachdiskussion.

Die Kapitel sprechen von der rechtlichen Stellung der Eltern, von Leistung und Leistungsmessung, von den besonderen Problemen des Schulanfangs, von Richtlinien und Lehrplänen, von wichtigen Schulfächern wie Rechtschreibung und Mathematik, vom Sinn der Hausaufgaben - und insbesondere davon, wie Eltern, etwa im Rahmen des Elternabends, ihre Recht und Interessen wahrnehmen können, ohne ihre Rolle als "pädagogische Laien" zu verleugnen, ohne auch in ängstlicher Autoritätsgläubigkeit zu verharren. Speichert gibt viele Tips und Hinweise für den Umgang zwischen Lehrern und Eltern., die darauf zielen, die Kommunikation zwischen ihnen zu verbessern.

"Dieses Buch handelt von der Überwindung jener Schwierigkeiten, die Menschen miteinander haben, weil es die öffentliche Schule gibt; es handelt von den unfruchtbaren Spannungen zwischen Lehrern und Schülern, Schülern und E1tern, Eltern und Lehrern. Vor allem aber handelt es davon, was Eltern konkret tun können,

- damit in diesem Beziehungsgeflecht die Atmosphäre ein wenig freundlicher wird,

- damit es für Lehrer ein bißchen bedeutungsvoller wird als bisher, gute Lehrer zu sein,

- damit Lernen für Schüler weniger bedrückend wird, und die Schüler selbst ein wenig erfolgreicher werden,

- und damit die Eltern etwas zufriedener mit der Schule, mit ihren Kindern und vor allem auch mit sich selber sein können."

Das sind nicht nur vernünftige, sondern auch erreichbare Ziele, für die dieses Buch von großem Nutzen sein kann.
 
 

Horst Speichert: Umgang mit der Schule. Ein Eltern-Handbuch zur praktischen Lösung von Problemen mit Schülern und Lehrern. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg. 268 Seiten, 19,80 DM. 

 

 
 

103. Prüfungen und Zensuren fürs Leben? (1976)

Sensibilität zählt hier nicht

(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 15, 11.4.1976)
 

Wer was werden will, muß lernen und Prüfungen bestehen. Dies wird schon den Kindern eingetrichtert, und auch der Erwachsene, der sich beruflich weiter qualifizieren muß, fügt sich dieser Regel. Prüfungen werden durch Ziffern benotet, wobei die niedrigere sinnigerweise die bessere ist; beim Punktsystem ist es dann umgekehrt, sozusagen "normal" (20 sind besser als 10). Zensuren sind entbehrlich. Es würde genügen, nur nach "bestanden" und "nicht bestanden" zu unterscheiden. Aber in einer Gesellschaft, die auf der Konkurrenz von Individuen gegründet ist, will niemand auf die Chance verzichten, "besser" zu sein als der andere.

Prüfungen und ihre Bewertung (Zensuren) können nützlich sein für den Lernenden: Er sieht, ob er etwas dazugelernt, ob sich seine Mühe gelohnt hat. Sie sind in modernen Gesellschaften auch unentbehrlich für die Statuszuweisung: Irgendwie muß ja entschieden werden, zu welchem Job man die Meisterprüfung, das Abitur oder die Promotion braucht.

Aber schon diese Zuordnungen sind einigermaßen willkürlich, eher historische Konvention als sachliche Notwendigkeit. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, daß der Voraussagewert von Zensuren für die künftige Lebensbewährung gering ist; wissenschaftliche Untersuchungen sind sich da einig. Trotzdem könnte man sich mit dem fragwürdigen Zusammenhang von Prüfungen, Zensuren und Berechtigungen abfinden, wenn die Folgen solcher zweckmäßiger Regelung im Einzelfall korrigierbar blieben. Inzwischen wurde jedoch aus der Not eine Tugend gemacht: Die Rechtsfolgen von Zensuren wurden verschärft, die Prüfungen selbst bürokratisch perfektioniert.

Die Rechtsfolgen wurden in dem Maße verschärft, wie ein Überangebot an Arbeitskräften und Studienbewerbern entstand. Der Numerus clausus hat es jedermann vor Augen geführt: Was allenfalls als pragmatische Regelung vertretbar wäre, nämlich künftige Leistungsfähigkeit aus vergangenen Prüfungsergebnissen vorherzusagen, hat sich unterderhand in ein rigoroses System von Rivalität und Unterdrückung vom Kindergarten bis in die Hochschule verkehrt. Wenn aber von Zensuren soviel abhängt wie die Zulassung zu einem Beruf oder zu einem bestimmten Studienfach, dann müssen Prüfungen und Zensuren möglichst objektiv sein. Alle subjektiven, persönlichen, individuellen, spontanen, kreativen Momente müssen möglichst ausgeschaltet werden, weil sie nicht objektivierbar, also nicht eindeutig meßbar sind.

Es ist eben diese bürokratische Perfektion einer Sache, die ihrer Natur nach nur begrenzt bürokratisierbar ist, die in den letzten Jahren die Prüfungen mehr und mehr zu unmenschlichen Veranstaltungen gemacht hat. In dem Maße, wie das nicht eindeutig Meßbare aus Prüfungssituationen liquidiert wird, steigt auch das Maß an Inhumanität, werden die beteiligten Personen zur "Sache". Die inhumane Scheinrationalität liegt schon darin, daß das perfektionierte, entpersönlichte Verfahren gerade zerstört, was es eigentlich messen will.

Wichtiger freilich ist die Einsicht, daß Prüfungssituationen lebensfremd sind. Die Umgangssprache kennt nämlich das Wort Prüfung noch in einem anderen Sinne: "Eine Prüfung bestanden" hat jemand, der mit einer schwierigen Aufgabe, die das Leben stellte, vielleicht gar mit einem Schicksalsschlag, erfolgreich fertig geworden ist. Von solcher "lebensnahen" Art sind unsere Leistungsprüfungen gerade nicht. Sie sind selbst so lebensfremd wie das Bildungssystem, das unseren Kindern keine originären Erfahrungen mit Lebensproblemen mehr erlaubt, sondern ihnen nur pädagogisch konstruierte Ersatz- und Versatzstücke anbietet. Gerade diese Lebensfremdheit macht die Ergebnisse von Prüfungen letzten Endes nur bedingt übertragbar auf ernsthafte Lebensaufgaben.

Die Lebensfremdheit beginnt bereits mit der numerischen Zensur; wo im wirklichen Berufsleben werden Leistungen auf diese Weise beurteilt? Oder man denke an die Situation der Klassenarbeit oder der Klausur; wo im wirklichen Leben muß man eine Leistung erbringen, deren wichtigste Bedingung ist, daß man mit niemandem kommunizieren und "keine Hilfsmittel benutzen" darf?

Gewiß: Einiges ist durchaus übertragbar, aber es sind gerade die formalen Momente, nicht die inhaltlichen, also nicht das Wissen als solches, sondern etwa die Fähigkeit, es selbständig zu gliedern oder es sich selbständig zu verschaffen. Reine Wissensprüfungen, auf welche die Bürokratie hinzielt, sind ohnehin in einer Gesellschaft, die alles Wissen jederzeit zugänglich machen kann, wenn es gebraucht wird, unangemessen geworden.

Würde man sich die Mühe machen, die auf Lebensbewährung hin übertragbaren Momente von Prüfungen (und damit auch von schulischem Lernen) genauer zu ermitteln, so wäre man sicher erstaunt, wie wenig da übrigbleibt. Zumal äußerst wichtige Bereiche des beruflichen Verhaltens weder auf schulische Weise lehrbar noch gar prüfbar sind, etwa Kontaktfähigkeit, Sensibilität, Kooperationsfähigkeit oder Kreativität. Der Zensurenterror in Schulen und Hochschulen ist deshalb inhuman, weil er gar nicht halten kann, was er verspricht: nämlich Leistungsnachweise, die für das künftige Berufsleben unabdingbar sind.

 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke13

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