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Wie lernt man Werte?

Grundlagen der Sozialerziehung

Juventa-Verlag Weinheim/München 2005, 208 S., 13,00  ¤


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© Hermann Giesecke





Inhaltsverzeichnis
Einleitung

1. Regeln des Lebens   

Soziale Orte und Situationen   
Werte und Normen   
Schwierigkeiten des Wertbildungsprozesses   
Erste pädagogische Konsequenzen


2. Wertewandel   

Empirische Werteforschung und Pädagogik   
Wertewandel im historischen Prozess

  

3. Wertepolitik

4. Veränderungen im Generationenverhältnis

5. Werte- und Sozialerziehung in der Familie   

Grenzen der Familie als Wertbildungsinstanz   
Chancen der pädagogischen Einflussnahme
 


6. Werte- und Sozialerziehung in der Schule   

Wertbildung durch Unterricht   
Werteerziehung durch die Normen der Institution Schule  
Schulkultur als Wertegemeinschaft

  

7. Ausblicke: Ambivalenzen der Werteerziehung

 
Literatur   




Einleitung (Auszug)

(Mit freundlicher Genehmigung des Juventa-Verlages)

"Knigge kommt an die Schule" hieß es vor einiger Zeit frohlockend in einem Zeitungsbericht über das neue Unterrichtsfach UBV ("Umgang, Benehmen, Verhalten"), das ein Schulleiter in den fünften Klassen seiner Bremer Schule erteilt.
...
Die hier angesprochene Problematik ist ... keineswegs auf Bremen beschränkt. Auch andere Bundesländer überlegen, ob ein Benimm-Unterricht Besserung versprechen könnte. Zum Ausdruck kommt darin einerseits Hilflosigkeit im Umgang mit der sozialen Verwahrlosung an nicht wenigen Schulen, die seit langem bekannt ist, nun aber offensichtlich auch die öffentliche Diskussion erreicht hat; andererseits wird der Ruf nach einer neuen oder wenigstens erneuten "Werteerziehung" als Gegenmittel laut. Allmählich wird der Öffentlichkeit klar, dass die schlechten Ergebnisse deutscher Schüler im internationalen Vergleich ... nicht nur durch einen besseren Unterricht korrigiert werden können, sondern auch als Voraussetzung dafür einer Verhaltensänderung in den Schulen bedürfen.
 
Fragen des richtigen bzw. angemessenen Benehmens finden jedoch neuerdings auch in den Medien Aufmerksamkeit. ... Dabei wird der pädagogische Horizont inzwischen weit überschritten, zur Debatte steht längst auch die Moral der politischen und wirtschaftlichen Eliten. Die Wertediskussion ist angesichts der einschneidenden Veränderungen im sozialen und ökonomischen Bereich zu einer politischen Frage nach der normativen Basis des Gemeinwesens geworden.
...
Nun wird in der öffentlichen Debatte wie auch in der pädagogischen Argumentation stets ein Zusammenhang zwischen äußerlich erkennbarem Verhalten und innerer Wertorientierung hergestellt, das kritisierte Verhalten ist überhaupt der Grund, sich über die dabei vorausgesetzte mangelhafte innere Orientierung Gedanken zu machen. Dieser Kontext ist naheliegend und soll auch die folgenden Überlegungen leiten. Die pädagogische Frage ist jedoch, ob, wie und mit welcher Zielsetzung man auf beide Seiten - innere Wertorientierung und äußeres Verhalten - einwirken kann. Auf der Verhaltensebene scheint das zumindest theoretisch einfach zu sein, weil Erziehung es immer mit der Kritik, Korrektur oder auch Bekräftigung eines bestimmten Verhaltens zu tun hat. Bestünde die Aufgabe nur darin, eine entsprechende Sozialerziehung zu leisten, ließe sich zwar keine Erfolgsgarantie, aber doch eine pragmatische Verständigung ... über die dabei zu verfolgenden Ziele erreichen.

"Werte" jedoch sind eine hypothetische Konstruktion, keineswegs sinnlich erfahrbar wie gutes oder schlechtes Benehmen. Wir glauben unterstellen zu müssen, dass erwünschte stabile Verhaltensweisen nur möglich sind auf der Basis eines in diesem Sinne fundierten inneren Wertbewusstseins, welches das Handeln entsprechend zu steuern vermag. Davon wissen wir aber im pädagogischem Umgang mit den Partnern nichts, ...

Auf Grund dieser Sachlage könnte man den Schluss ziehen, sich zumindest in der öffentlichen Erziehung auf Sozialerziehung zu konzentrieren und zu beschränken, Werteerziehung jedoch als eine pädagogische Fiktion zurückzuweisen. In der Tat wäre von unserem Thema möglicherweise kaum die Rede, wenn eine hinreichende Sozialerziehung stattfände. Wenn im Folgenden dennoch am Begriff der Werte festgehalten wird, dann deshalb, weil einerseits die allgemeine Lebenserfahrung nahe legt, entsprechende innere Prozesse als gegeben anzunehmen, und weil andererseits gerade die Pädagogik nicht auf die Vorstellung verzichten kann, im Inneren von Menschen etwas bewirken zu können - auch der Begriff der Bildung wäre schließlich ohne diese Vermutung gegenstandslos. Zudem ist es nicht zweckmäßig, einen Begriff einfach zu ignorieren, der im öffentlichen Diskurs eine derart zentrale Bedeutung hat. Vielmehr gilt es ihn aufzugreifen und kritisch zu bearbeiten. Allerdings tut die Pädagogik gut daran, sehr zurückhaltend mit dem Begriff der Werte und überhaupt mit allem umzugehen, was sich im Inneren von Personen ereignen mag.

Die gebotene Zurückhaltung erleichtert ihr andererseits aber auch ihren Zugang zur Sache. Sie muss nicht über Erziehungsziele im allgemeinen und über Moralerziehung und Werteerziehung im besonderen von oben nach unten argumentieren, also erst die Grundsatzfragen etwa der Moral, der Ethik, der Normen und Werte erörtern und entscheiden, um dann daraus pädagogische Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein solches Verfahren wäre wenig befriedigend, weil zwischen der hohen Ebene des Philosophierens und der niederen Ebene des pädagogischen Alltags eine kaum zu vermittelnde Kluft entstünde. Das Thema wäre schnell von hehren moralischen Prinzipien und Wunschbildern sowie von kulturkritischem Lamentieren okkupiert, die der pädagogischen Praxis wenig nützen; die auf diese Weise gewonnenen Deduktionen würden entweder Leerformeln bleiben oder in derart kleine Portionen operationalisiert, dass davon "unten" kaum mehr als Trivialität übrig bliebe. ...

Andererseits scheint die fehlende Absicherung an obersten Prinzipien Teil des Problems zu sein, insofern sie zu erzieherischer Unsicherheit im Umgang mit Kindern und Jugendlichen führt. Selbst wenn diese sich offenkundig falsch, gewalttätig oder rücksichtslos verhalten, wird vielleicht nicht oder nur halbherzig interveniert, weil die Grundsatzfragen nach dem Richtigen und Guten ungeklärt erscheinen und den Handlungszielen deshalb Willkür vorgeworfen werden könnte. Wann und unter welchen Umständen hat ein Lehrer überhaupt das Recht, das Verhalten von Schülern zu kritisieren? Darf man in diesem Zusammenhang unmissverständliche Forderungen stellen oder lediglich an Einsicht und guten Willen appellieren? Wer will in einer pluralistischen Gesellschaft überhaupt entscheiden, welches Verhalten in einer bestimmten Situation das richtige ist?
Gleichwohl muss das Nachdenken über Werteerziehung, wenn es den eben beschriebenen Bruch zwischen Wissenschaft und pädagogischer Praxis vermeiden will, ohne letzte Gewissheiten über seinen Gegenstand auskommen. Lässt sich die Pädagogik statt dessen auf Überlegungen ein, wie sie etwa in der Philosophie oder Theologie erörtert werden, wildert sie in fremden wissenschaftlichen Revieren, kann trotzdem die Pluralität der dort vertretenen Positionen nicht überwinden und verliert - was schwerer wiegt - die Möglichkeit vernünftigen Handelns. Je höher die Reflexionsebene wird – etwa in Grundsatzfragen der Ethik hinein – um so weniger gibt es Konsens selbst in den dafür zuständigen Wissenschaften. Was aber in der Gesellschaft strittig ist, kann die Schule zwar im Unterricht aufgreifen und bearbeiten, aber nicht unstrittig machen. Werteerziehung zu betreiben, ohne allgemein verbindlich angeben zu können, was Werte und Normen "eigentlich" sind, erscheint vielen Pädagogen als vermessen und unzumutbar, aber genau darin besteht die Aufgabe.

Für die moralische und metaphysische Aufrüstung der Pädagogen sind die folgenden Überlegungen also nicht gedacht. Sie lassen sich auf diese Ebene nicht ein, weil dies nach dem bisher Gesagten pädagogisch unfruchtbar wäre. Vielmehr beschränkt dieses Buch sich auf die Handlungsperspektive, also auf das, was pädagogisch tatsächlich veranstaltet werden kann.
 
Zu dieser von vornherein pragmatischen Beschränkung gehört zunächst, die fraglichen Sachverhalte von unten, nämlich aus der Perspektive von lernenden Individuen, zu betrachten. Kinder treten in eine Welt ein, in der es immer schon Werte, Normen, moralische Überzeugungen, Konformität und Widerstand dagegen gibt. Alles, was das soziale Leben aktiviert und regelt, ist immer schon da, wird gewiss auch verändert, aber nicht ständig neu erfunden. ... Werte und Normen lernt das Kind über weite Strecken ohne Einwirkung von Pädagogen durch Sozialisation im Rahmen sozialer Teilhabe. Worin besteht aber dann die besondere und vielleicht sogar unverzichtbare Aufgabe von Pädagogen? Die übergeordnete Frage jedenfalls müsste lauten: Wo, also an welchen sozialen Orten, lernt das Kind welche Werte und Normen auf welche Weise und mit welcher Wirkung?
 
Damit ist eine weitere pragmatische Vorentscheidung bereits angesprochen: Es geht darum, zwei pädagogische Aufgaben im Zusammenhang zu sehen, die gemeinhin als voneinander verschieden gelten: "soziales Lernen" bzw. Sozialerziehung einerseits und Werteerziehung andererseits. "Werte" werden von Kindheit an nicht philosophisch abstrakt, sondern erst durch soziales Handeln überhaupt wahrgenommen, und die mit diesem Handeln notwendig verbundenen Auseinandersetzungen mit sozialen Regeln bzw. Normen führen zu teils unbewussten, teils auf Einsicht beruhenden Wertvorstellungen – überwiegend durch bloße Sozialisation, aber auch durch Erziehung in den pädagogischen Feldern. Umgekehrt stellt sich schon früh heraus, dass erfolgreiches soziales Handeln einer Wertorientierung bedarf, auf die die Partner des Handelns sich verlassen können müssen. Werte werden also vor allem dadurch gelernt, dass persönliche Bestrebungen auf Grenzen – nämlich auf Regeln und Normen – stoßen und sich daran abarbeiten müssen. Aus der Sicht des Kindes ist seine Innerlichkeit primär, tatsächlich ist es jedoch das Soziale. ...

Damit ist eine dritte Vorentscheidung bereits angedeutet: Sozialerziehung als Werteerziehung wird hier verstanden als reflektierte Intervention in soziale Lernprozesse, die zu einem erheblichen Teil außerhalb pädagogischer Felder, Intentionen und Kompetenzen verlaufen. Es geht – platt gesagt – also nicht um die Herstellung des "guten" Menschen, sondern um die Korrektur des realexistierenden zum – vielleicht - besseren.
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Der hier vertretene Ansatz geht also fürs Erste von folgenden Voraussetzungen aus:
 - Äußere Verhaltensorientierung und innere Wertbildung sind auch bei Kindern schon in einem hohen Maße Resultat pädagogisch nicht geplanter oder gesteuerter Sozialisationsprozesse.
 - Werteerziehung ist ein Teil dieses Prozesses und richtet sich als Sozialerziehung auf das offenkundige Verhalten, wozu auch die Art und Weise des Argumentierens und der Begründung eigener Handlungen gehört. Sie rechnet zwar damit und hofft sogar darauf, dass die Adressaten dieser Bemühungen innere Dispositionen in der erwünschten Richtung ausbilden, hält sich aber zunächst an das, was offenkundig ist. Es geht ihr um Verhalten, nicht um Gesinnung. Das ist zugegebenermaßen ein sehr enges Verständnis von Erziehung, das keineswegs allgemein geteilt wird, es ist aber, wie sich zeigen wird, nützlich für eine pragmatische, handlungsorientierte und einigermaßen illusionslose pädagogische Strategie.
 - Als Wertbildung wird der im Inneren der Person stattfindende Prozess zum Aufbau und zur Konsolidierung von das Handeln relativ stabil steuernden Wertorientierungen betrachtet. Sie kann nur von der betreffenden Person selbst geleistet werden - einmal dadurch, dass die Sozialisationserfahrungen und die Anforderungen der Werteerziehung entsprechend verarbeitet werden, zum anderen dadurch, dass ein reflexives Verhältnis zu sich selbst, zur sozialen Umwelt und generell zu kulturellen Objektivationen entsteht und auf (relative) Dauer gestellt wird.
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Das 1. Kapitel beschreibt in einer phänomenologischen Skizze idealtypisch die "Regeln des Lebens", die dem Kind an den ihm zugänglichen sozialen Orte begegnen und die es veranlassen, sich mit den dort gültigen Normen auseinander zu setzen und dabei seine innere Wertbildung zu konstruieren. Dabei zeigt sich, dass es keinen Mangel, sondern eher einen Überfluss an Werten und Normen gibt, weil von den unterschiedlichen Orten neben allgemeingültigen immer auch spezifische Erwartungen ausgehen, dass diese Orte so etwas wie einen sozialen Pluralismus darstellen, dessen Differenzen das Kind im Rahmen seiner Wertbildung integrieren muss. Erziehung ist folglich nur als partielle Intervention in einen komplexen Prozess möglich, der weitgehend ohne sie entsteht und abläuft.
 
Die nächsten drei Kapitel verlassen die Perspektive des Kindes und versuchen das Thema in einen größeren Zusammenhang zu stellen, Bedingungen anzusprechen, die das pädagogische Handeln entscheidend im Hinblick auf seine Voraussetzungen und Wirkungen beeinflussen. Das 2. Kap. befasst sich mit dem in der sozialwissenschaftlichen Literatur immer wieder erörterten Wertewandel und fragt nach dem Nutzen einschlägiger Untersuchungen und ihrer Ergebnisse für das pädagogische Handeln. Dafür ist der Ertrag empirischer Daten geringer, als allgemein angenommen wird, weil sie nicht einfach in das pädagogische Handeln transformiert werden können. Zudem fehlt diesen Untersuchungen eine historische Perspektive, deshalb werden sie durch eine sozialgeschichtliche Skizze ergänzt. Veränderungen im kollektiven Wertebewusstsein sind ohne Kenntnisnahme der ihnen zu Grunde liegenden ökonomischen Ressourcen nicht verständlich, mit diesen ändert sich auch jenes. Gegenwärtig scheint wieder eine Zäsur angesagt, weil der Massenwohlstand und insbesondere die bisherigen Sozialleistungen nicht einfach weiterhin fortgeschrieben werden können. Die Konsumgesellschaft lebt längst über ihre Verhältnisse, und das wird nicht ohne Folgen für die allgemeine Wertorientierung bleiben.

Damit ist die politische Dimension des Themas bereits angesprochen. Werte, denen die Menschen folgen, verstehen sich nicht von selbst. Sie bedürfen vielmehr des politischen Schutzes, wie im 3. Kapitel begründet wird. Jede Sozialität schützt ihre wichtigsten Werte durch Normierung, Abweichungen davon werden sanktioniert. Das gilt auch für die staatliche Ebene, wobei sich allerdings der demokratische Staat in einem Dilemma befindet: Er kann die Werte, die er garantieren soll, als Staat nicht herstellen. Demokratische Wertepolitik bleibt also angewiesen auf ein zivilgesellschaftliches Wertebewusstsein, das sich aus öffentlichen Diskursen über normative Implikationen des politischen und gesellschaftlichen Handelns immer wieder speisen muss. Was geschieht, wenn den grundlegenden Werten etwa der Menschenrechte der politische Schutz entzogen wird, wird am Beispiel der nationalsozialistischen Herrschaft in Erinnerung gerufen. Jedenfalls greift die pädagogische Behandlung des Themas "Werte und Normen" zu kurz, wenn diese politische Dimension nicht mit ins Auge gefasst wird, so dass die Werteerziehung sich als wichtiger Aspekt der politischen Bildung erweist.

Im 4. Kapitel richtet sich der Blick wieder näher auf das pädagogische Handeln und skizziert die Veränderungen im Verhältnis der Generationen seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie haben die erzieherische Autorität der Erwachsenen gegenüber Heranwachsenden Zug um Zug vermindert sowie auf professionelle Teilgruppen konzentriert und reduziert. Gerade für Interventionen im Rahmen der Werteerziehung ist diese Entwicklung von entscheidender Bedeutung, weil sie die Legitimation des öffentlichen erzieherischen Handelns grundsätzlich begrenzt und bei der privaten Erziehung in der Familie zu erheblicher Verunsicherung führt.

Im Anschluss an diese der Aufklärung des pädagogischen Bewusstseins dienenden Überlegungen werden die Chancen und Grenzen pädagogischer Einwirkungen auf den Wertbildungsprozess in der Familie (Kapitel 5) und der Schule (Kapitel 6) genauer analysiert. Gerade ein so sensibles Thema wie die Werteerziehung verleitet leicht zu pädagogischen Illusionen, nicht selten auch zu Allmachtsfantasien, als sei das gut Gemeinte auch schon das Erreichbare. Im Gegensatz dazu liegt der Akzent hier auf eher pragmatischen Hinweisen für unterstützende Interventionen in den Wertbildungsprozess von Kindern und Jugendlichen.

Das abschließende 7. Kapitel greift noch einmal einige pädagogisch besonders relevante Gesichtspunkte des vorangehenden Textes zum Zwecke der Zusammenfassung und Vertiefung auf.