Hermann Giesecke

Demokratie als Denk- und Lebensform

Ein Nachruf auf Theodor Wilhelm (1906 - 2005)

In: Das Gespräch aus der Ferne, Nr. 375/H. 4/2005, S. 37-38

© Hermann Giesecke



Theodor Wilhelm gehörte viele Jahre zu den Lesern und Autoren des "Gesprächs". Den Älteren ist er vielleicht eher unter seinem Pseudonym "Friedrich Oetinger" in Erinnerung. "Den Oetinger" musste in den 50er und frühen 60er Jahren jeder gelesen haben, der in Sachen politische Bildung mitreden wollte. Gemeint ist das 1951 erschienene Buch "Wendepunkt der politischen Erziehung", das ab der 2. Aufl. 1953 den Titel "Partnerschaft - Die Aufgabe der politischen Erziehung" erhielt.

"Das Oetinger-Buch war die erste prinzipielle pädagogische Abrechnung mit der Tradition der deutschen Staatsmetaphysik. Weimar war in dieser Hinsicht kein neuer Anfang gewesen, auch das Jahr 1933 nicht. 1945 dagegen waren die Zeichen deutlich genug. Schluß mit aller Hegelei. Keine Heilserwartungen mehr vom Staate. Keine Begründung der nationalen Identität durch Vorstellungen, die den Staat zu einer überdimensionalen Familie machten. Keine Moralisierung der staatlichen Macht mit dem Effekt, daß jede Kritik an den öffentlichen Institutionen die Würde des Individuums in Frage stellt. Keine Beamten, die sich als Priester des Staates präsentieren. Das politische Engagement, das die neue Demokratie so dringend nötig hatte, mußte anders motiviert werden; die Berufung auf den Staat als 'Objektiven Geist' verfing nicht mehr."

So kennzeichnete Theodor Wilhelm im Heft Nr. 339/1996 dieser Zeitschrift in seinem Beitrag "Partnerschaft, eine Aufgabe, die bleibt" rückblickend noch einmal die Stoßrichtung, die er seinem ersten politisch-pädagogischen Buch gegeben hatte.

Wenige Jahre nach dem Kriege ging es der Frage nach, wie es möglich war, dass Hitler und seine "Bewegung" die Deutschen - und damit auch den Autor - so leicht politisch verführen konnte. Die Antwort lautete: Der dominierende Teil der deutschen Geistesgeschichte und damit auch der Bildungstradition hatte keinen Platz für ein der Sache angemessenes Verständnis des Politischen und Sozialen, habe die Deutschen gleichsam politisch blind gemacht für das, was mit der Hitlerbewegung auf sie zukam. Diese These wird in mehreren Anläufen entfaltet und begründet.

Als mir Mitte der 50er Jahre während des Studiums dieses Buch in die Hände fiel, war ich wie viele andere Leser beeindruckt von dieser leidenschaftlichen Abrechnung nicht nur mit dem Nationalsozialismus, sondern darüber hinaus mit einer Mentalität, die ihn gefördert und geprägt hatte und die in Schule, Hochschule und politischer Öffentlichkeit immer noch in allen möglichen Facetten gegenwärtig war. Wilhelm glaubte eine Kontinuität dieses Denkens entdeckt zu haben, die lange vor 1933 ihren Ursprung hatte. Deshalb könne aus dieser geistigen Tradition des Deutschen Idealismus auch kein demokratischer Neuanfang - schon gar nicht in der Erziehung - abgeleitet werden. Woher aber sollte er sonst kommen? Wilhelm fand für sich eine Antwort im amerikanischen Pragmatismus, wie ihn vor allem John Dewey philosophisch und pädagogisch entwickelt hatte.

"Dort fand ich alles in einfacher ('amerikanischer') Sprache ausgedrückt, was uns in der deutschen Null-Situation helfen konnte: die Blickwendung weg vom Staat und hin zu den Menschen; eine Ethik ohne Ausflucht in die unkontrollierbare Innerlichkeit, für die vielmehr konstitutiv war, daß der Mensch sich sozial exponieren muß; die Aufwertung einfacher Gewohnheiten gegenüber der neukantianischen Willensethik; der Aufbau des ganzen politischen Antriebsgefüges 'von unten her', von der Bewährung in den nahen gesellschaftlichen Bezugsverhältnissen; und eine mir besonders sympathische Distanzpflege, während die deutsche Sozialphilosophie sich bis dahin hoffnungslos im Kreise der traditionellen Intimvorstellungen gedreht hatte. Übersättigt von der nationalsozialistischen Heldendiktion begrüßten wir Nachkriegsdeutschen diese nüchterne pragmatische Welt als eine große Befreiung." So heißt es in dem erwähnten Artikel. Diesem neuen Geist gab er die Überschrift "Partnerschaft".

Wilhelms Fundamentalkritik an der deutschen Geistesgeschichte traf nun aber auch diejenigen sogenannten "geisteswissenschaftlichen" Universitätspädagogen, die während des Nationalsozialismus weitgehend kalt gestellt waren und deren wissenschaftliche Entwicklung deshalb stagnierte, die aber nach 1945 wieder - scheinbar Zeitloses - lehrten, was sie vor 1933 auch schon verkündet hatten. Das aber war nicht nur weitgehend praxisfern, von der pädagogischen Realität abgehoben und in sich selbst kreisend, es zeigte auch kaum Wege für eine demokratische Neuorientierung. Demgegenüber wirkte Wilhelms Argumentation zukunftsorientiert, zumal sie anschaulich und mitreißend formuliert sowie mit praktischen Anregungen für die pädagogische Tätigkeit gespickt war. Mit diesem Buch begann das Nachdenken über eine demokratische Erziehung in Westdeutschland.

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Als Theodor Wilhelm - Jahrgang 1906 - die "Partnerschaft" veröffentlichte und damit seinen Weg in die Erziehungswissenschaft antrat, war er bereits 45 Jahre alt. Vorher hatte er beruflich mit Pädagogik nur am Rande zu tun. Er wurde 1929 mit einer historischen Arbeit über die englische Verfassung promoviert, ein einjähriger Studentenaustausch führte ihn nach England, wodurch der Wunsch entstand, in den diplomatischen Dienst zu gehen. Deshalb verfasste er eine zweite, juristische Dissertation über "Die Idee des Berufsbeamtentums" (1933). Im selben Jahr wurde er Referent beim Deutschen Akademischen Austauschdienst, 1936 dort wieder entlassen, blieb aber bis Kriegsende Schriftleiter der außenpolitisch orientierten "Internationalen Zeitschrift für Erziehung" (IZE). Die weiteren Stationen: 1938 Dozent für Erziehungswissenschaft an der Hochschule für Lehrerbildung in Oldenburg, von 1939 bis 1945 Soldat, nach dem Krieg Gymnasiallehrer in Oldenburg, 1951 Rückkehr in die Lehrerbildung an der Hochschule in Flensburg.

Die "Partnerschaft" war eine Streitschrift, kein im engeren Sinne wissenschaftliches Werk. Damit begründete der Autor auch die Wahl eines Pseudonyms. Aber das hier zum Ausdruck kommende Trauma des Nationalsozialismus durchzieht als Leitmotiv auch seine nachfolgenden, nun erziehungswissenschaftlichen Schriften, die man ohne diesen biografischen Hintergrund kaum verstehen kann. Immer geht es darum, idealisierende Überhöhungen zu vermeiden und realistische, also praktizierbare Theorien für Politik und Pädagogik zu entwickeln. In diesem Sinne wendet er sich in den nächsten Jahren allen wichtigen Bereichen der Erziehungswissenschaft zu. Am Beispiel von Georg Kerschensteiner, dem Klassiker der modernen Berufspädagogik, zeigt er in seiner Habilitationsschrift (1957), wohin es führt, wenn man eine plausible praktische pädagogische Aufgabe, in diesem Falle die politische Bildung für die arbeitende Jugend, so sehr in abstrakte Gefilde führt, dass zwar die deutschen Bildungsphilosophen zufrieden sein können, die konkrete Aufgabe selbst aber darin wieder verschwindet. Die Pädagogik sei kein Fach für die "letzten Fragen" des Lebens - allenfalls für die "vorletzten" - so schärfte er seinen Studenten ein. Sie könne sich wegen ihres praktischen Auftrags auch keine "Imponiersprache" leisten, sondern müsse für die demokratische Öffentlichkeit verständlich bleiben.

Als Nachfolger von Fritz Blättner übernahm er 1959 dessen Lehrstuhl am Pädagogischen Institut der Universität Kiel, wo er bis zu seiner Emeritierung 1972 tätig war. Es war seine erziehungswissenschaftlich produktivste Zeit. Als sein Hauptwerk ist wohl die "Theorie der Schule" (1967) anzusehen. Was muss die Schule in der modernen Gesellschaft lehren und wie kann man das herausfinden? Die traditionelle Bildungsidee habe darauf keine befriedigende Antwort mehr, nötig dafür sei vielmehr eine didaktische Durchdringung der modernen Wissenschaften mit dem Ziel einer "Wissenschaftsschule".

Nach seiner Emeritierung wandte er sich wieder politischen Themen zu. So sah er in der Studentenbewegung und ihren akademischen Wortführern eine Neuauflage jener verhängnisvollen alten idealistischen Abstraktionen in neuem, nun neomarxistischem Gewand, und setzte sich damit ausführlich auseinander ("Der Kompromiss", 1973 - "Jenseits der Emanzipation", 1975).

Theodor Wilhelm hinterließ ein komplexes Lebenswerk, dessen gründliche Bearbeitung und pädagogische Auswertung noch aussteht. Er war ein Mann des widersprüchlichen 20. Jahrhunderts, das er fast von Anfang an erlebt hat. So wurde er - vor allem nach seiner Emeritierung - wegen seiner kulturpolitischen Tätigkeit zwischen 1933 und 1945 angegriffen, woraus sich publizistische Kontroversen ergaben, die jedoch sachlich unbefriedigend verliefen.

Alles in allem war und blieb er - der Pfarrerssohn und Schüler neuhumanistischer Internate - selbst ein Bildungsbürger, der seinesgleichen die politisch-pädagogischen Leviten las. Genau genommen hat er nämlich weniger die Autoren der deutschen Bildungsgeschichte und des Idealismus demontiert, sondern eher das, was daraus in den Köpfen des Bildungsbürgertums - und damit in seinem eigenen Herkunftsmilieu - geworden war. Dieser Ansatz war für seine pädagogischen Texte ungemein produktiv und gibt ihnen einen unverwechselbaren Stellenwert in der deutschen Nachkriegspädagogik. Daran gemessen war seine politische Interpretation der Zeitläufte zu sehr zeitgebunden und insofern weniger erfolgreich. Deshalb müssen beide Perspektiven getrennt beurteilt werden.

Nicht unerwähnt bleibe, dass Theodor Wilhelm sein Konzept der "Partnerschaft", das er bis zum Ende seines Lebens für eine unverzichtbare Grundlage einer Demokratie als Lebensform hielt, nicht nur verkündet, sondern auch gelebt hat - woran ich mich als Assistent in seinem Kieler Institut dankbar erinnere. Er starb am 11. November 2005 in Kiel.

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