Hermann Giesecke

Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend

Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik

München: Juventa-Verlag 1981

Teil II: Bindung gegen Autonomie: Jugendarbeit in der Weimarer Republik

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis von Teil II:

II. Bindung gegen Autonomie:
Jugendarbeit in der Weimarer Republik
Politisch-kulturelle Hintergründe
Die Bündische Jugend
Neubeginn aus politischer Polarisierung
"Bund" als politische Fiktion
Bündische Erziehung und Sozialisation
Die Arbeiterjugendbewegung .
Die sozialdemokratische Jugendarbeit
1. Die sozialistische Arbeiterjugend (SAJ)
2. Die Jungsozialisten .
3. Die Kinderfreundebewegung
Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands
Bürgerliche Sozialisation und sozialistische Erziehung
Die Jugendpflege
Der Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände


 

II. Bindung gegen Autonomie:

Jugendarbeit in der Weimarer Republik
 

Politisch-kulturelle Hintergründe

Die weitere Entwicklung der Jugendbewegung und der Jugendarbeit in der Weimarer Republik knapp darzustellen, erweist als sehr schwierig. Quantitativ erreichte die Jugendarbeit einerseits die Ausmaße einer Massenbewegung, andererseits wurde das Bild dennoch buntscheckiger, weil sowohl in der bürgerlichen Jugendbewegung wie auch bei Teilen der politisch links engagierten Jugend viele Nuancierungen entstanden, zumal die Beschränkungen der Wilhelminischen Zeit weitgehend entfallen waren: Die Arbeiterjugendbewegung war nun selbstverständlich zugelassen, und die Lebensauffassungen waren nun im allgemeinen sehr viel liberaler als vor dem Kriege.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß man die Weimarer Zeit und eben auch die Jugendarbeit in ihr nicht verstehen kann, wenn man nicht wichtige Faktoren des damaligen Zeitgeistes, also der politisch-pädagogischen Kultur überhaupt mit in den Blick nimmt. Es liegt auf der Hand, daß man Gedanken, Vorstellungen oder Ideale von Jugendlichen nicht verstehen kann, ohne sie in Beziehung zu setzen zu der sie umgebenden Gesamtkultur. Der Mangel vieler Darstellungen bzw. Dokumentationen über die Jugendbewegung ist, daß sie ihren Gegenstand isolieren und damit den Eindruck erwecken, als ob Jugendbewegung ein besonders herausragendes geschichtliches Subjekt gewesen sei, während sie doch eher die Nöte und Probleme der Gesamtkultur widerspiegelt, deren Exemplar und Repräsentant sie ist.

Wegen der genannten Schwierigkeiten sollen deshalb zunächst einige allgemeine, aber für die Jugendarbeit besonders wichtige politisch-kulturelle Tendenzen beschrieben werden.

1. Der verlorene Krieg hatte nicht nur viele Menschenleben gefordert und zu wirtschaftlichem Chaos geführt,

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sondern vor allem auch einen bedeutsamen ideellen Schaden hinterlassen. Nahezu alle Gruppen der Bevölkerung fühlten sich betrogen. Die Soldaten, weil ihr Kampf nicht belohnt war, und sie in eine Heimat zurückkehrten, in der sie nur schwer wieder Fuß fassen konnten; bei vielen von ihnen hatte sich das "Fronterlebnis", das Ausharren in "Stahlgewittern" (Ernst Jünger), zu einem Erlebnis- und Interpretationsmuster verdichtet, das auch fürs zivile Leben gelten sollte. "Wahre" und "echte" Demokratie war das, was sich in den Schützengräben abgespielt hatte, als es nicht mehr aufs militärische Ritual ankam, sondern auf die "Gemeinschaft" zwischen Führern und Geführten; dagegen erschien das neue parlamentarische System von Regeln und Verfahrensweisen unlebendig und als Parteiengezänk. Selbst viele von denen, die in den Schützengräben zu Sozialisten geworden waren, erhielten sich diese militärischen Sozialmuster. - Die konservativen Gruppen fürchteten um ihre bisherigen Privilegien und sahen in der neuen Weimarer Demokratie eine Bedrohung, die mit allen möglichen ideologischen Versatzstücken (antisemitische, völkische, romantische) kompensiert wurde. - Große Teile der Arbeiterbewegung waren enttäuscht, weil der Krieg nicht einmal den Sozialismus brachte, sondern "nur" eine parlamentarische Demokratie. So richtig aus vollem Herzen wollten nur wenige den neuen Staat - nicht einmal die beiden großen Kirchen, deren Führer in ihrer Mehrheit die Republik zwar tolerierten, aber sich doch andere Staatsverfassungen wünschten.

In diesem Klima setzten sich einerseits militärische Formen auch in der Jugendarbeit durch; in den Bünden der Jugendbewegung war nicht mehr wie vor dem Kriege der Scholar oder Bacchant das Leitbild, sondern der kriegerische Ritter; aus dem "wilden Haufen" der Wandervögel vor dem Kriege wurde die im Gleichschritt marschierende Gruppe; die Lieder, die nun mit Vorliebe gesungen wurden, waren vor allem Marschlieder. Die pazifistische Tradition der linken Arbeiterjugend, die im Krieg entstanden war, hielt sich vor allem in den sozialdemokratischen Jugendorganisationen, wurde aber gegen Ende der Republik immer mehr vor allem durch kommunistische und nationalsozialistische Jugendorganisationen in die Defensive gedrängt, die bei Massenaufmärschen und Massen-

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demonstrationen schon aus Gründen der Disziplin militärische Formen anwenden mußten. Während der ganzen Zeit der Republik gab es eine mehr oder weniger latente Bürgerkriegsstimmung, die "Front" war von außen (im Krieg) nach innen gerückt. Dieser permanenten politischen Polarisierung und inneren Militarisierung konnten sich die Jugendorganisationen nicht einfach entziehen; sie mußten sich entweder mit engagieren oder - wie die Bündische Jugend - in eine romantische, an vorindustrielle, also an einfachere bzw. primitivere Sozialformen anknüpfende Distanz zur politischen Gegenwart gehen. Die politische Polarisierung und die innere Militarisierung war von den Jugendorganisationen nicht erfunden worden - und das muß bei der nachträglichen Bewertung beachtet werden! - , sondern sie wurden mehr oder weniger unausweichlich von diesen Tendenzen ergriffen. Konnte die bürgerliche Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg sich eine romantische Enklave schaffen in Distanz zur politisch-gesellschaftlichen Realität, so war dies in den inneren Polarisierungen nach 1918 kaum noch möglich.

2. Das Dilemma dieser inneren Polarisierung war vor allem, daß es darüber, was Demokratie bedeutet, in der Öffentlichkeit kaum zutreffende Vorstellungen, geschweige denn einen Minimalkonsens gab. Demokratisches Denken und demokratische Vorstellungen und Werte hatten in Deutschland so gut wie keine Tradition, waren sogar in der Wilhelminischen Ära eher noch als "westliche Zivilisation" bzw. als "blutleerer Formalismus" gebrandmarkt worden. So erschien die neue Demokratie auf den ersten Blick lediglich als ein Bündel von formalistischen Regeln zur Machtbildung, aber ohne deutlich erkennbaren spezifischen Sinn. Die Verwirrung der Begriffe darüber, was denn nun "eigentlich" "demokratisch" sei, konnte nie beseitigt werden, war am Ende der Republik eher größer geworden. Von der "Demokratie des Schützengrabens" war schon die Rede, aber es gab vor allem in den bürgerlichen Schichten eine ganze Fülle subjektiv "demokratisch" gemeinter Ideen und Konzepte, die objektiv antidemokratisch waren, z. B. die im politischen Katholizismus verbreiteten Vorstellungen eines wirtschaftlichen Ständestaates. In Teilen der bürgerlichen Jugendbewegung bzw. der Bün-

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dischen Jugend finden sich solche Vorstellungen in allen möglichen Variationen. Gerade für junge Menschen mußte diese Situation als eine Art von ideologischem Warenlager ohne jede Orientierung erscheinen.

3. Die Unanschaulichkeit und Abstraktheit der modernen Gesellschaft, ihre Erlebnisarmut, wurde nur noch prekärer erfahren, zumal die neue Republik sehr viel weniger unmittelbare Identifikationsmöglichkeiten bot als der alte Staat. Bis in weite Kreise der Sozialisten hinein gab es eine Sehnsucht nach "Gemeinschaft", also nach einer Form des politischen Zusammenhangs über den oder jenseits der Parteien und Interessengruppen. "Volksgemeinschaft" und "Gemeinschaftserziehung" bzw. "Erziehung zur Gemeinschaft" waren weit verbreitete Leitmotive. Gegenbild waren für viele die gesellschaftlichen Großorganisationen einschließlich der Apparate der Arbeiterbewegung, mit denen man sich nicht anfreunden, in denen man nicht heimisch werden konnte. Was waren da schon gewählte, persönlich in der Regel unbekannte Politiker im Vergleich zu den "Führern" in den unmittelbaren Gruppen etwa der Jugendbewegung? Der Weimarer Staat galt vielen als Repräsentant, wenn nicht gar als Ursache dieser kalten und künstlichen politischen Welt. Die Jugendorganisationen erfanden also die Mystifizierung der Gemeinschaft nicht, die bei ihnen eine so große Rolle spielte, sie griffen damit vielmehr nur eine tiefe Sehnsucht wenn nicht aller, so doch eines großen Teils der Erwachsenen auf.

4. Diese verbreitete Sehnsucht nach "Gemeinschaft" wurde von vielen Erwachsenen auf die junge Generation projiziert: sie allein könne es schaffen, das deutsche Volk zusammenzuhalten, über allen Trennungen und Spaltungen hinweg wieder "Volksgemeinschaft" zu stiften, weil sie im Unterschied zu den Älteren noch nicht von Interessengegensätzen korrumpiert sei, davon unberührt noch "reine Ideale" vertreten und durchhalten könne. Auch diese Erwartung reichte von rechts bis weit nach links. Andererseits erschien gerade einem großen Teil der jungen Generation der Weimarer Staat als einer der "Alten", der wenig unternahm bzw. unternehmen konnte, um die junge Generation zu gewinnen oder gar zu begeistern. Als die Repu-

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blik zu Ende ging, stand der größte Teil der Jugend nicht mehr zu ihr.

Es gab also einen regelrechten "Jugendkult", der sich wechselseitig bestätigte: Viele Erwachsene projizierten ihre Hoffnungen und Erwartungen auf die junge Generation, diese definierte sich selbst weitgehend als die "eigentliche" Substanz des Volkes - quer durch alle Schichten und Parteiungen. "Jugend" wurde so zur Elite der Nation oder des Klassenkampfes stilisiert - sowohl in bündischen Gruppen als auch zeitweise sogar im kommunistischen Jugendverband.

5. Die ideologische Verunsicherung des Bürgertums und Kleinbürgertums nach dem Kriege führte zu einer tiefgehenden "Sinnkrise" auch für das private Leben und seine Zukunft. Alle möglichen Vorstellungen zur "Lebensreform" wurden entwickelt oder wieder entdeckt: Schrebergarten-Bewegung; Freikörperkultur; "natürliche" Lebens- und Ernährungsweisen; Entwicklung einer volkstümlich laienhaften Musik- und Theaterkultur; freiwilliger Arbeitsdienst usw. Unvermeidlich ergriffen diese Ideen auch die junge Generation und ihre Organisationen.

6. Abgesehen von den wenigen relativ ruhigen mittleren Jahren war die Weimarer Republik ständig von wirtschaftlichen Krisen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen erschüttert. Krieg und Inflation hatten die Ersparnisse vernichtet und damit für viele - vor allem aus dem Mittelstand - die Zukunfts- und Alterssicherung. Gerade diejenigen, die wie das Bildungsbürgertum keine nennenswerten produktiven Sachwerte besaßen, verarmten, wurden "proletarisiert", meist ohne diesen Prozeß politisch-ideologisch in ihr Selbstbild zu übernehmen, also sich auch politisch als Arbeiter zu fühlen. Die Inflation hatte zunächst die Besitzer produktiver Sachwerte - also auch Kaufleute, Handwerker und Bauern - begünstigt, indem sie dadurch schuldenfrei wurden, aber die Bedrohung durch den organisierten Kapitalismus von der einen und durch die Arbeiterbewegung von der anderen Seite schien sich zu verstärken.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es keine nennenswerte Arbeitslosigkeit gegeben. Das änderte sich nun. Zwar wur-

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de nach dem Kriege die Arbeitslosigkeit zunächst überwunden, so daß 1922 fast von Vollbeschäftigung die Rede sein konnte. Aber danach gab es das vorher nicht bekannte Phänomen der "Massenarbeitslosigkeit" - nicht nur der Industriearbeiter, sondern auch der Angestellten. Die Zahl der Arbeitslosen schwankte zwischen einer halben Million und 3 Millionen, um dann in der Weltwirtschaftskrise ins Hoffnungslose zu steigen. Es kam immer wieder zu Streiks und Aussperrungen.

Die mittelständische und proletarische Jugend, um die es bei unserem Thema ja in erster Linie geht, wuchs also in einer politischen Kultur auf, die durch ein hohes Maß an normativer, wirtschaftlicher und sozialer Desorganisation charakterisiert werden kann.

7. Bis zum Ersten Weltkrieg war die bürgerliche Jugendbewegung im öffentlichen Bewußtsein eher eine Randerscheinung, ihre vorhin genannten "Erfindungen" blieben weitgehend auf den Kreis der Eingeweihten begrenzt. Erst nach dem Kriege wurden diese Erfindungen schlagartig in der ganzen Jugendarbeit verbreitet, auch in der der Kirchen und politischen Parteien. Traf man eine Jugendgruppe "auf Fahrt", so ließ sich auf den ersten Blick kaum erkennen, welchem Verband bzw. welcher Richtung die Gruppe wohl angehören mochte. In dieser sprunghaften Ausdehnung der "jugendgemäßen Formen" der Jugendbewegung zeigt sich allerdings auch, daß Erwachsene eine neue Rolle spielten. In der innenpolitischen und ideologischen Zerrissenheit wurde "Jugend" das entscheidende Rekrutierungsfeld, um Anhänger für die eigenen politischen oder lebensreformerischen Absichten zu finden. Diese Absicht vertrug sich durchaus mit der erwähnten Idealisierung der Jugend als Generation; denn selbstverständlich ging jede derartige Erwartung der Erwachsenen von der Voraussetzung aus, daß sie das Gemeinwohl bzw. die "gute Zukunft" repräsentiere, also gerade deshalb der Jugend zur allgemeinen Verbreitung angeboten werden müsse.

Die massenhafte Zunahme der Jugendbewegung wie der Jugendarbeit (Jugendpflege) warf auch neue organisatorische Probleme auf, die den Zugriff der Erwachsenen erleichterten: Das "Auf-Fahrt-Gehen" mußte nun irgendwie

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organisiert werden, Zeltplätze und feste Häuser (z. B. Jugendherbergen) mußten im voraus eingeplant werden; große Veranstaltungen mit Tausenden von Jugendlichen mußten sorgfältig geplant werden, verlangten andererseits aber auch eine besondere Disziplin von jedem einzelnen. Die quantitative Ausdehnung der Jugendarbeit entstand keineswegs "spontan", ebensowenig wie "spontan" Treffen von Tausenden von Jugendlichen entstehen konnten. All dies mußte organisiert werden von Erwachsenen, und nach dem Motto "wer die Jugend hat, hat die Zukunft" wurden von den Organisationen der Erwachsenen Jugendorganisationen geschaffen, die den eigenen personellen und ideologischen Nachwuchs rekrutieren sollten. Auf diese Weise wurden bis zum Ende der Republik immer größere Teile der Jugend in die innere politische Polarisierung einbezogen. Das durch die quantitative Ausdehnung notwendig gewordene Organisationsmaß einerseits und der Zugriff der Erwachsenenverbände oder einzelner Erwachsener auf die Jugend andererseits lassen eine Unterscheidung von Jugendbewegung und Jugendarbeit kaum noch zu, wenn man davon ausgeht, daß man "Bewegung" nur nennen kann, was (noch) nicht gesellschaftlich institutionalisiert und organisiert ist. Zumindest im Sinne einer Tendenz läßt sich sagen, daß die Weimarer Republik den Sieg der öffentlich organisierten Jugendarbeit über die Jugendbewegung brachte. Nur relativ kleinen, immer wieder von Spaltungen bedrohten und sich auch wieder auflösenden Gruppen der bürgerlichen Jugend einerseits und der links-anarchistischen Jugend andererseits gelang es, den Charakter der Jugendbewegung aufrechtzuerhalten. Im übrigen wurden jedoch die Erfindungen der bürgerlichen Jugendbewegung hinsichtlich eines jugendgemäßen Lebensstils aufgegriffen und für die massenhafte Organisation der Jugend verwendet.
 
 

Die Bündische Jugend

Da über die bürgerliche Jugendbewegung in der Weimarer Republik eine ganze Reihe von Darstellungen und Dokumentationen vorliegt, und da andererseits das Erscheinungsbild der zahllosen Bünde und Gruppen sehr differen-

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ziert ist, müssen wir uns hier auf einige wesentliche Tatsachen und Interpretationen beschränken.

Neubeginn aus politischer Polarisierung

Der Krieg hatte erhebliche Veränderungen gebracht. Von den etwa 15 000 Kriegsteilnehmern aus der Jugendbewegung waren etwa 4000 gefallen. Ein Teil der Überlebenden hatte sich wegen der Kriegserlebnisse von der Jugendbewegung abgewandt. Wer nach dem Kriege die "Freideutschen Ideen" wieder aufgreifen wollte, sah sich einer veränderten Lage gegenüber. Einmal waren im Krieg die älteren Wandervögel einberufen worden, so daß die Arbeit von relativ jungen Führern gemacht werden mußte, die - obwohl nur wenig jünger - gleichwohl ganz andere Erfahrungen gemacht hatten als die Kriegsteilnehmer. Andererseits verschärfte sich seit 1916, als die Kriegsbegeisterung geschwunden war, die schon vor dem Kriege sichtbare Politisierung und damit auch die politische Polarisierung. Die Frage war, wie die Freideutschen sich zur Revolution stellten, ob sie nun das Vorkriegsprinzip der strikten parteipolitischen Neutralität noch aufrecht erhalten wollten und konnten. In den ersten Nachkriegsjahren dominierte zunächst der linke Flügel um Karl Bittel, der die "politischen Rundbriefe" herausgab - die wichtigste publizistische Plattform für diese politischen Diskussionen - und Alfred Kurella. Kurella, der wie Bittel später zum Kommunistischen Jugendverband stieß, forderte z. B. nicht nur die Anerkennung der Revolution von 1918, sondern auch, daß die Freideutschen sich mit den ökonomischen Interessen des Proletariats identifizierten und dafür Partei ergriffen. Das jedoch widersprach der sozialen Herkunft der Freideutschen. Es war schwer, Bünde in einem Dachverband zu vereinen, von denen die einen die Revolution begeistert begrüßten und sie weitertreiben wollten, während die anderen sie und ihre Ergebnisse (Parlamentarismus; Parteien) ebenso leidenschaftlich bekämpften. Um 1923 war der "Freideutsche Bund" am Ende, übrig blieben radikale oder gemäßigte rechte Bünde, deren größter der 1919 gegründete "Jungdeutsche Orden" war, die kleine Minderheit der Linken ging teilweise in den kommunistischen Jugendverband.

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Der Bruch war eingetreten auf einer Tagung der Freideutschen in Hofgeismar 1920, zu der auch Persönlichkeiten aus dem sozialistischen und völkischen Lager geladen waren. Sie sollten über Marxismus, Rußland und allgemeine gesellschaftliche Themen referieren und diskutieren. Die Absicht war, "eine vereinigte Front der Jugend" zu bilden.

Die Berichte über diese Tagung von Elisabeth Busse-Wilson und Wilhelm Ehmer (Kindt 1963, S. 244 ff. und 251 ff.) zeigen, daß die Positionen bis zur gegenseitigen Sprachlosigkeit verfestigt und Gemeinsamkeiten nicht mehr möglich waren. H. S. Rosenbusch hat das "Klima" dieses Treffens aufgrund der Berichte anschaulich beschrieben:
 
 

"So gut die Veranstaltung gemeint war, so konsequent wurde sie zu einer gespenstischen Groteske. Von einer Tagesordnung war abgesehen worden, weil der 'Inhalt unserer Besprechungen ... organisch aus unserem Beisammensein erwachsen' würde: Anwesend waren neben den Referenten Freideutsche, die meist nach links tendierten, Kommunisten und Arbeiterjugend. Zunächst redeten die Experten konsequent aneinander vorbei. Während die einen von 'seelisch-ideeller Ganzheit' und 'Seinskultur' sprachen, konterten die anderen mit Kartoffel- und Kohleproblemen. Die Kommunisten versuchten mit aller Macht, die Tagung zu torpedieren, sprachen von einem 'Sumpf' und nannten die linken Freideutschen 'politik- und geistfrei' Als nach schriftlichen Erklärungen, Gegenerklärungen und organisatorischem Chaos die Kommunisten - nicht ohne die Versicherung, daß man sie menschlich sehr schätze - gebeten worden waren, die Tagung zu verlassen, holte man sie als 'Menschen' wieder herein, und ihr Führer übernahm zeitweilig die Diskussionsleitung. Dabei stand die Arbeiterjugend oft den Freideutschen gedanklich näher als den Kommunisten aus der Jugendbewegung. Dazwischen - die Tagung dauerte eine Woche - lagen Kirchenkonzerte, Tanzvorführungen und Gesänge. Es stellte sich schließlich heraus, daß die Freideutschen den Kommunisten in keiner Weise gewachsen waren. Lediglich der Rechte Max Bondy vermochte erwähnenswerte Gedanken gegen die Diktatur des Proletariats vorbringen: Er zöge dann, wenn Diktatur nötig sei, die der Intelligenz vor, worauf der Kommunist Karl Bittel ihn einen 'ehrlichen Konterrevolutionär' nannte.
Im ganzen machte diese Tagung die politische Ignoranz, Hilflosigkeit und Versponnenheit der Freideutschen manifest. Zwar konnte man die Argumente der Kommunisten nicht widerlegen, ebensowenig war man jedoch bereit, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Man schied, sich gegenseitiger menschlicher Hochachtung versichernd, ohne ein greifbares Ergebnis. Weder hatten die Kommunisten Kompromisse zugelassen, noch hatten sie ihr

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Vorhaben, die Freideutschen zu bekehren, erreicht" (Rosenbusch, S.48).
 

Auch der Wandervogel zerbrach aus ähnlichen Gründen, übrig blieben zahlreiche Ortsgruppen, die auf eigene Faust weitermachten. Die Zeit des Wandervogels war zu Ende, es kam die Zeit der Bünde.

Alfred Kurella führte 1938 in einem Rückblick auf den Meißnertag das Scheitern vor allem darauf zurück, daß die innere Struktur des Wandervogels sich verändert hatte. An die Stelle der früheren kollegialen Leitung durch Führer, die in einer "eigenartigen Mischung von Demokratismus und Oligarchie" zwar gewählt wurden, danach aber "absolute Autorität besaßen", sei eine "Schicht von 'ewigen Wandervögeln'" getreten,

"die dem Problem einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Welt der Erwachsenen dadurch aus dem Wege gingen, daß sie im Berufsleben irgendeinen Kompromiß schlossen, die Betätigung ihrer 'Gesinnung' auf die 'Führung' der inzwischen nachgewachsenen Generation des Wandervogels beschränkten. Neben den ehemals freien, von der Jugend selbst geschaffenen Wandervogelverbänden entstanden zahllose, von oben her organisierte Wandervogelvereine. Findige Direktoren organisierten an ihrer Anstalt einen Schulwandervogel, protestantische Geistliche gründeten einen evangelischen Wandervogel usw., kurz: Die Behörden hatten endlich gemerkt, daß sie die Jugend mit ihren eigenen Waffen schlagen konnten" (Kurella 1961, S. 229).

Freideutsche Jugend und Wandervogel scheiterten also nach dem Kriege an der politischen Polarisierung bzw. überhaupt an der Notwendigkeit, politisch Stellung zu beziehen. Allerdings war dies ein Problem der älteren, der erwachsenen Führer. Inwieweit sie dabei auch die Bedürfnisse Jugendlicher artikulierten, ist schwer zu sagen. Sicher scheint zu sein, daß in der ersten Nachkriegszeit ein großer Teil der Jugend politisiert wurde. Die von Kurella kritisierten "ewigen Wandervögel" wollten die Jugend aus der Politik heraushalten und ihnen die Bedingungen für das Vorkriegsideal des "eigenen Jugendreiches" verschaffen. Auf der rechten Seite sammelten sich die völkisch orientierten Freideutschen im "Jungdeutschen Bund", der unter Leitung von Glatzel von 1919 - 1924 bemerkenswerte Erfolge hatte. Der Bund engagierte sich ausdrücklich politisch, und zwar für die deutsch-nationale Volkspartei, ohne sich dabei als deren Jugendorganisation zu verstehen.

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Glatzels Idee war unter anderem, die völkisch-orientierten Gruppen zusammenzufassen - nicht durch eine übergreifende Organisation, sondern durch persönliche Kontakte der Führer (vgl. Müller 1971, S. 249 ff.). Auf diese Weise sollte die Einigung der Jugend von rechts "wachsen".

Charakteristisch für die politische Ideologie des Bundes wie für alle Bünde und Gruppen auf der Rechten - sie unterschieden sich nur durch Varianten und durch die mehr oder weniger heftige Radikalität ihrer Positionen - waren organologische Vorstellungen, die nicht beim "künstlich organisierten" Staat ansetzten, sondern bei den "natürlichen" Sozialstrukturen des "Volkes". Die Staatsform hatte dem "Wesen des Volkes" zu entsprechen, und daran gemessen konnte die Weimarer Republik nicht bestehen. Die Hoffnung setzte man auf Führer, nicht auf Funktionäre, auf Integration des einzelnen in personale Bezüge innerhalb der "Volksgemeinschaft", nicht auf die Partikularität von Parteien und Interessengruppen, auf die Gemeinsamkeit aller Deutschen auch jenseits der Reichsgrenzen - wobei die Juden z. B. nur stören konnten. Das hier nur angedeutete ideologische Syndrom, das Sontheimer (1978) detailliert beschrieben hat, war - in allen möglichen Varianten - in den meisten Bünden verbreitet, auch in denen, die sich "unpolitisch" gaben.

Für die bürgerliche Jugend hatte sich im Vergleich zur Vorkriegszeit die Lage erheblich verändert. In einer Zeit der Orientierungslosigkeit und der politischen Gegensätze lag die Suche nach Werten, nach Bindungen und Zwecken, für die einzusetzen sich lohnt, näher, als die "Freiheit" des Wanderns vor dem Kriege. Disziplin statt Freiheit, Bindung statt Autonomie hieß die neue Tendenz. So entstanden als neue Form der Jugendbewegung die "Bünde" bzw. "Orden". Sie waren straffer organisiert als die früheren Wandervogelgruppen und versuchten, bestimmte Werte bzw. Aufgaben für sich verbindlich zu machen. Es gab eine unübersehbare Zahl von Bünden, deren Mitgliederzahl zwischen 60 000 (Jungdeutscher Orden 1929) bis zu einigen Dutzend reichte. Rudolf Kneip führt in seinem "Handbuch der Jugendverbände" (1974) mehr als 1200 Bünde und Organisationen an, die meisten von ihnen waren bündische Gruppen. Ab 1925 schloß sich eine Reihe von ihnen zur "Deutschen Freischar" zusammen.

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Einen erheblichen Einfluß nicht nur auf die Bünde, sondern auch auf andere Jugendorganisationen hatte die Pfadfinderbewegung: Ihre Uniformierung und ihr Reglement kamen dem Bestreben nach fester Organisation und nach äußerer Demonstration entgegen. Vor allem aber fügte die Pfadfinderbewegung den Erfindungen der frühen Jugendbewegung eine weitere wichtige hinzu: die Aufteilung in Altersgruppen. Dadurch wurde es möglich, auch Kinder zu organisieren, ohne deren altersgemäße Interessen denen der Älteren unterordnen zu müssen.

Die Pfadfinderbewegung hatte - von England ausgehend - schon vor dem Kriege auch in Deutschland Fuß gefaßt. Sie gehörte aber nicht zur Jugendbewegung, denn sie war von Erwachsenen geleitet, hierarchisch organisiert und auf paramilitärische Ausbildung spezialisiert; außerdem war sie nicht elitär, sondern stand jedem offen. Sie war also alles in allem das genaue Gegenteil des Wandervogels. Nach dem Krieg gab es in der Führerschaft ähnliche Auseinandersetzungen wie bei den Freideutschen und den Wandervögeln über den nun einzuschlagenden Kurs. Das Ergebnis war die Abspaltung der "Neupfadfinder" 1920 unter Führung des sogenannten "Regensburger Kreises" und des Berliner Pfarrers Voelkel. Vor allem Voelkel schuf Idee und Realität des "Bundes" - eines Jugendstaates. Dabei wurden die Vorstellungen des Engländers John Hargrave rezipiert, der - selbst Pfadfinder - in England die Pfadfinderei reformieren wollte. Seine Vorstellungen wurden von den Führern der Neupfadfinder in der Schrift »Kibbo Kift" veröffentlicht. Die wichtigste Neuerung war, daß an die Stelle der militärisch-zweckmäßigen, also "künstlichen" Organisation die "natürlichen" Einheiten der Sippe und des Stammes gesetzt wurden.

Die nach Altersstufen eingeteilten Sippen sollten eine Art erlebbarer Gemeinschaft bilden - ähnlich der früheren Wandervogel-Gruppe. Der Stamm sollte eine Kontinuität der Erziehung und der jugendlichen Entwicklung in einer größeren, aber überschaubaren und organischen Einheit garantieren, deren Größenordnung noch erlebbar war, während der Bund die Gemeinschaft der Stämme darstellte. Auf diese Weise sollte die Begrenztheit der eigenen Gruppe überwunden werden, ihre Erlebnismöglichkeiten aber sollten erhalten bleiben. So war mit Sippe, Stamm

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und Bund ein politisches Sozialisationsmodell entstanden, das zugleich als vorweggenommenes und vor-erlebtes Modell der künftigen Volksgemeinschaft und des künftigen "Reiches" erfahren werden konnte. In diesem Bund als jugendgemäßer Sozialisationsform sollten "neue Menschen" für ein "neues Reich" heranwachsen.

Die Leitidee des Bundes war, vor allem von Martin Voelkel beschrieben, der "weiße Ritter" (so auch der Titel einer Zeitschrift des Bundes), in dem sich germanische und christliche Vorstellungen bzw. Mythen verbanden. Der weiße Ritter ist ein heiliger Sucher und ein ritterlicher Held, der aufbricht, mit einer "neuen Menschheit" die Welt durch sein "Reich" zu erlösen.

Der Bund war also ein soziales Gebilde, in dem nicht nur mehrere Altersstufen, sondern auch mehrere Generationen integriert wurden - ein interessantes Stück gesellschaftlicher Subkultur.
 

"Bund" als politische Fiktion

Die Idee des "Bundes" geht zurück auf die im 19. Jahrhundert entstandenen "Lebensreformbewegungen" (vgl. Frecot). Er ist der Versuch, außerhalb der etablierten sozialen Gegebenheiten für die eigenen reformerischen Lebensweisen mit "Gesinnungsgenossen" eine angemessene Sozialform zu finden - in Abgrenzung zum üblichen geselligen Verkehr. Im Prinzip gilt das auch für die Bünde der "bündischen Jugend". Die Lebensform, wie sie in den Bünden realisiert wurde - z. B. personal-"ganzheitliche" Beziehungsstruktur; Führer-Gefolgschafts-Modell; eigentümliche Rituale, Feste und Gewohnheiten - war in der offiziellen Gesellschaft nicht vorgesehen, dafür mußte man sich an ihrem Rand eine Nische suchen. Solange die Mitglieder eines Bundes mit ihrer subkulturellen Sondersituation zufrieden sind und die "offiziellen" politischen Strukturen anerkennen, ist der Bund nur eine von vielen Möglichkeiten gesellschaftlich-geselligen Verhaltens in einer "offenen" Gesellschaft. Die hier zur Debatte stehenden Bünde verstanden sich jedoch anders, nämlich als vorweggenommene Alternative zur offiziellen politischen Kultur oder zumindest als Lebensform für die Heranbildung der Führerpersönlichkeiten, die die offizielle Gesellschaft

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"eigentlich" braucht, aber außerhalb der Bünde - also in ihrem eigenen Erziehungssystem - nicht heranbilden kann. Damit aber entsteht die Frage nach der politischen Bedeutung der Bünde, zu der einige Überlegungen nötig sind.

1. Sowohl die politischen Auseinandersetzungen nach dem Kriege wie auch die Gründung der Bünde und Orden selbst wurden von Erwachsenen betrieben, die meistens früher zum Wandervogel gehört hatten. Sie warben in der Jugend Anhänger für ihre politisch-ideologischen Vorstellungen. Die Jugendlichen selbst, die an den Fahrten und Heimabenden teilnahmen, um "jugendgemäße Erlebnisse" zu finden, identifizierten sich vermutlich eher mit den Äußerlichkeiten: mit den Liedern, Symbolen, Ritualen usw. Wie schon vor dem Kriege, so muß man auch für diese Phase trennen zwischen der politischen Ideologie der Erwachsenen, mit denen sie das "Jugendgemäße" arrangierten, und dem jugendlichen Erlebnis selbst. Bei den Erwachsenen handelte es sich offenbar überwiegend um solche Männer, die mit ihren weltanschaulichen und politischen Vorstellungen in der Realität der Parteien, Verbände und Institutionen, also in den gesellschaftlichen Großorganisationen, nicht recht Fuß fassen konnten, die sich dort mehr oder weniger "heimatlos" fühlten. Ihnen boten die Bünde Möglichkeiten der Selbstdarstellung und der Entfaltung ihrer Fähigkeiten, die sonst nicht vorhanden gewesen wären. Ihr Erfolg bei den Jungen, z. B. als Führer, mußte die Ideologien, mit denen sie sich von der realen Gesellschaft distanzierten, noch verstärken und bestätigen, so daß gerade der Erfolg bei den Bünden auch die Wahrnehmung der politisch-gesellschaftlichen Realität weiter behinderte. Bei den Bünden und ihren Führern finden sich in teilweise komplexen und widersprüchlichen Fassungen alle Momente der damaligen bürgerlich-kleinbürgerlichen Ideologie wieder. Die daraus resultierende politische Einstellung war teils rechtsradikal, teils gemäßigt nationalistisch, jedenfalls antidemokratisch. Das bedeutet nicht, daß jeder dieser Führer ein autoritärer Mensch gewesen wäre - dann hätte er sich kaum als "Führer" halten können - , noch, daß er etwa aktiv den demokratischen Staat bekämpft hätte; die bürgerlich-kleinbürgerliche Ideologie, in der Worte wie Volk, Reich, Gemeinschaft, Führung eine zentrale Rolle

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spielten, machte es jedoch unmöglich, die Republik in ihren Stärken und Schwächen angemessen zu verstehen.

Diese Ideologie stellte einerseits Erwartungen an die Gesellschaft, die in differenzierten Gesellschaften grundsätzlich unerfüllbar sind, etwa die Erwartung nach persona-ganzheitlichen Beziehungen anstelle funktionaler "Rollenbeziehungen"; diese Erwartung ist nur noch auf "privaten" Ebenen (Familie, Freundschaft) zu realisieren. Andererseits wurden die Bündischen mit dem Problem der "Pluralität" von Interessen, Normen, Individuen und "Weltanschauungen" und deren gesellschaftlicher Organisation nicht fertig. Sie wollten weder die Lösung des Klassenkampfes, noch die einer pluralistischen Gesellschaft, sie wollten vielmehr so etwas wie eine ständisch organisierte Volksgemeinschaft. Aber die wäre ohne Gewalt gegen Teile des Volkes nicht durchsetzbar gewesen und hätte zudem als Modell einer relativ hochentwickelten Industriegesellschaft auch gar nicht funktionieren können. Das also, was sich um den Bund an politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen rankte, war Fiktion. Die Flucht der Erwachsenen in den Bund war nur eine Variation der allgemeinen Flucht der deutschen Mittelschichten in politische Illusionen, verbunden mit der Hoffnung, eine "Volksgemeinschaft", in der jeder seinen "Stand" hat, könne die notorische Statusunsicherheit dieser Mittelschichten beseitigen.

2. Man darf wohl davon ausgehen, daß diese antidemokratische Disposition der Führer die Einstellungen der Jugendlichen angesichts der intensiven Bindung zwischen Führern und Geführten mehr oder weniger stark mitgeprägt hat, obwohl offensichtlich "politische Schulung" in den Bünden nicht üblich war. Aber die emotionale Gestimmtheit verbunden mit den in Reden und Ansprachen immer wiederholten ideologischen Leerformeln sowie die Identifikation mit den Ritualen dürften ihre Wirkung bei den Jungen nicht verfehlt haben. Die Feste der Bünde waren "eine Mischung aus kontemplativem Ernst, hedonistischen Ausbrüchen und irrationalen, situativen Stimmungen. Dabei wurde auf kein Element der suggestiven Emotionalisierung verzichtet. Nacht, Feier, Fackeln, Fahnen, Tanz, gemeinschaftsbindender Gesang in einer Landschaft, welche die große Einsamkeit fühlen ließ und dadurch gleichzeitig die

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Bedürfnisdisposition nach Zusammenschluß massiv forcierte" (Rosenbusch, S. 121 f.).

Deshalb muß man die Frage aufwerfen, ob die bündische Jugend eigentlich noch zur Jugendbewegung zu rechnen ist. Walter Laqueur meint in seiner Darstellung der Jugendbewegung, daß diese eigentlich schon vor dem Ersten Weltkrieg zu Ende gewesen sei, danach habe es nur noch Erwachsene gegeben, die die Jugend für ihre mehr oder weniger konfusen Ideen zu gewinnen suchten. In der Tat war der Unterschied zwischen der Bündischen Jugend und den anderen Jugendorganisationen (z.B. der Parteien, Verbände und Kirchen) nur der, daß die Bündischen von solchen Erwachsenengruppen organisiert wurden, die nicht im Auftrag eines gesellschaftlichen Großverbandes handelten.

3. Die Bünde waren elitär in bewußter Distanz sowohl zur "Masse" der Bevölkerung wie auch zu den demokratisch-parlamentarischen Regeln und Verfahren und damit zur Weimarer Republik. Auch diese "kleinbürgerliche" Tendenz der Vorkriegszeit setzte sich fort. Die Mitglieder der Bünde waren ganz überwiegend Gymnasiasten und Studenten. Die Erwartung war, daß in den Bünden jene Elite heranreifen würde, die das deutsche Volk in der Zukunft benötige; deshalb komme es nicht auf das aktuelle politische Engagement an, sondern darauf, sich für die Zukunft bereitzuhalten. Die bündische Gemeinschaft wurde als Vorform einer späteren "besseren" Gesellschaft verstanden. In ihr wollte man reif werden, bis das Volk ruft. Als politisches Erziehungsideal war diese Vorstellung irreal und gefährlich. Gegen Ende der Republik, zur Abwehr des heraufkommenden Nationalsozialismus, versuchten sich einige Bünde, vor allem der Jungdeutsche Orden, in die aktuelle Politik einzuschalten. Die Jungdeutschen gründeten gemeinsam mit den Resten der Liberalen Deutschen Demokratischen Partei 1930 die Deutsche Staatspartei, die aber keinen Erfolg hatte.

Mit der elitären Selbsteinschätzung ließ sich die Statusangst kompensieren: sie erhöhte die, die sich tatsächlich erniedrigt und falsch oder schlecht plaziert fühlten.

4. Die Bünde waren mehr oder weniger rassistisch und antisemitisch. Juden hatten keinen Zutritt - außer natür-

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lich in einem eigenen jüdischen Bund. Die schon in der Vorkriegszeit erkennbare soziale Funktion des Antisemitismus, nämlich die eigene elitäre Selbstdefinition durch die Distanz von den "Fremden" zu erhöhen, setzte sich verstärkt in der Weimarer Republik fort.

5. Geändert hatte sich gegenüber der Vorkriegszeit die Rolle des Führers.

"Die Identifikation mit dem Führer in der Gruppe nahm im Laufe der Geschichte der Jugendbewegung ständig zu; während er anfangs lediglich als 'planner'-Typ oder 'expert'-Typ, d h der beste Wander-, Koch-, Lagerfachmann die Gruppe betreute und ein verhältnismäßig wenig herausgehobener Spezialist war, wurde der Führer in der weiteren Entwicklung dem Gleichheitsgrundsatz immer mehr entrückt, zunehmend idolisiert und dann mystifiziert´" (Rosenbusch, S. 98 f.).

Mitte der zwanziger Jahre hatte sich das neue "Führerprinzip" weitgehend durchgesetzt. Verantwortlichkeit der Führer und gehorsame Gefolgschaft waren die Eckpfeiler der aristokratischen Grundstruktur der Bünde. Mitberaten durften alle, aber der Führer entschied letztlich. Wer sich zum Führer berufen fühlte, konnte dies entweder im eigenen Bund realisieren oder aber eine eigene Gruppe gründen und sich dafür eine Gefolgschaft suchen. Von daher erklären sich zumindest zum Teil die vielen Spaltungen sowie andererseits das Scheitern von größeren Zusammenschlüssen; sie scheiterten nicht zuletzt an der Rivalität der Führer bzw. derjenigen, die sich zur Führung berufen fühlten.

Dieses Führerprinzip stand natürlich in striktem Gegensatz zu den demokratischen Regeln für den Erwerb und die Legitimation von Macht, wie sie in Parlament, Parteien und demokratischen Verbänden üblich waren und wie sie in der Arbeiterjugend ebenfalls praktiziert wurden. Naheliegend war zwar, daß z. B. auf einer Fahrt der Führer die Verantwortung für die Minderjährigen sich nicht durch Abstimmung nehmen lassen konnte, aber es ging um viel mehr:

"Der Führer ist für uns die verkörperte Idee. Genau so wie auf Fahrt ... , wo die Meinungen über den richtigen Weg auseinandergehen, der Führer entscheidet und sich dann alles vertrauensvoll seiner Führung anvertraut und an ihn glaubt, eben-

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so entscheidet er im Thing ( = auf der Versammlung der Gruppe oder des Bundes), nachdem er alle Meinungen angehört hat, selbständig und nur in Verantwortung vor dem höheren Führer und vor Gott. Seine Führung darf nicht von der Zustimmung der Gefolgschaft abhängig sein"—so hieß es 1931 in der Führerzeitschrift "Bund" (zit. n. Pohl, S. 39).

Bündische Erziehung und Sozialisation

Die Charakterisierung der Bünde als politische Fiktion sagt noch nichts Genaueres über deren pädagogische Bedeutung aus: über ihr erzieherisches Selbstverständnis einerseits und über ihre Sozialisationswirkung andererseits. Die politische Weltfremdheit der Führer muß nicht per se zu einer politischen Verführung oder zu falscher politischer Sozialisation der Jugendlichen geführt haben. Denkbar wäre nämlich, daß - pädagogisch gesehen - die Formen und Rituale des Bundes, also das "Bündische" überhaupt, ein altersangemessenes Arrangement darstellten, dazu geeignet, charakteristische Bedürfnisse und Fähigkeiten der jugendlichen Altersphase sich entwickeln zu lassen. Wer z. B. als Kind Räuber und Gendarm spielt, muß deshalb weder Bankräuber noch Polizist werden. Entscheidend scheint vielmehr zu sein, ob diese Altersphase als Durchgangsstadium verstanden wurde und wie der Übergang zum Erwachsenenstatus gelang. Die politischen Fiktionen der Bünde entstanden ja dadurch, daß das Bündische eben nicht der Jugendphase vorbehalten blieb, sondern zum "Lebensbund" fortgeschrieben werden sollte, der unter der "Idee des Bundes" prinzipiell alle Generationen einschloß, ja, teilweise war es sogar umgekehrt, daß nämlich Erwachsene als Führer sich für ihre Idee des Bundes eine jugendliche Gefolgschaft suchten. Erst dadurch entstand die Gefahr einer politischen Illusionierung oder gar Infantilisierung der Erwachsenen. Diese Problematik aber muß man trennen von der anderen Frage nach der pädagogischen Bedeutung der Bünde für das Jugendalter. Dazu nun einige Überlegungen.

1. Offensichtlich boten die Bünde einem bestimmten Teil der bürgerlich-kleinbürgerlichen Jugend zunächst einmal in den Widersprüchen der Zeit eine Orientierung und eine Identifikationsmöglichkeit an, die der kleinbürgerlichen

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gesellschaftlichen Position entsprach: Distanz von der aktuellen Politik, die für diese gesellschaftliche Position keine angemessenen Ziele bereit hatte; elitäre Überhöhung der eigentlich sehr labilen gesellschaftlichen Position durch die schon erwähnten Leitvorstellungen. Der Wunsch nach sinnlich erfahrbarer "Gemeinschaft" unter Vernachlässigung der dem widersprechenden komplexen gesellschaftlichen und sozialen Realität ist wie vor dem Kriege charakteristisch.

Auch in den Veranstaltungen der Bünde war es möglich, das für die Pubertätsphase so wichtige personale und soziale ´"Totalerlebnis" in der kleinen Gemeinschaft und unter reduzierten Lebensbedingungen sowie unter Aufrechterhaltung einer wenn auch romantisierten "männlichen Rolle" für eine gewisse Zeit zu wiederholen. Diese Deutung würde mit der These von H. Mau übereinstimmen, daß die Jugendbewegung sich im Grunde nicht entwickelt habe, daß vielmehr "ein keiner Wandlung unterworfenes Erlebnis", und zwar ein "bürgerliches Erlebnis", für sie charakteristisch gewesen sei (zit. n. Sauer, S. 96). Geändert hatten sich demnach nur die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Randbedingungen.

2. Diese Änderungen jedoch wirkten unmittelbar auf die Identitätsbildung dieser Jugendlichen zurück. War vor dem Kriege die Rebellion im Rahmen einer relativ stabilen sozialen Integration erfolgt, so hatten nun Krieg, Inflation, Wirtschaftskrisen, Statusunsicherheit und Wertpluralismus für soziale Desorganisation gesorgt. Die "Demontage des Vaters", der für keine befriedigende Perspektive mehr sorgen konnte, war gerade in diesen Schichten weiter fortgeschritten. Nötig war nun, entweder eine neue Art von Ich-Stärke, von verinnerlichter Selbstregulierung und individueller Autonomie in den Widersprüchen der Zeit zu gewinnen, oder Identität durch Identifikation mit einem Kollektiv oder auch mit einer "Idee" zu finden, die ja für ein Kollektiv (z.B. "Volk") steht. Manches spricht dafür, daß die Bünde hier ein Sozialisationsangebot machten, das verschiedene Ergebnisse haben konnte, und das zeigte sich vor allem beim späteren Verhalten der Erwachsenen.

Da gab es z. B. die schon von Kurella (und auch von vie-

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len anderen) kritisierten "ewig Jugendbewegten", die sich überidentifiziert hatten mit der "Idee des Bundes" und nun nicht mehr davon loskamen, für die der Bund das Kernstück ihrer Identität blieb. Aber es gab auch die anderen, die als Erwachsene sich von dieser Identifikation lösten, dabei aber die für sie wichtigen Impulse in ihre Rollen als Erwachsene übernahmen und z. B. in ihre pädagogische, künstlerische oder publizistische Tätigkeit produktiv einbrachten. Bei ihnen darf man wohl annehmen, daß sie gerade im Rahmen der Bünde Ich-Stärke und persönliche Autonomie entwickelt hatten. Allerdings läßt sich nicht sagen, wieso die eine Entwicklung so und die andere anders verlief. Jedenfalls muß man sich vor voreiligen Urteilen hüten. Daß die Bünde z. B. Bindung und Unterordnung verlangten in einer im übrigen desorganisierten Gesellschaft, war an und für sich noch kein Hindernis für die Entwicklung von Autonomie und Ich-Stärke, sondern konnte auch als Herausforderung an die eigene Leistungsfähigkeit und als Ordnungsangebot für die seelische Instabilität dieser Altersphase empfunden werden, zumal ja auch die Chance gegeben war, selbst als nur wenig Älterer eine Gruppe zu führen. Auch die Tatsache, daß die Bünde einer romantisiert-vereinfachten "Idee" dienen wollten, nämlich dem "Volk" oder der "Volksgemeinschaft", kann auch dem rigorosen Moralismus dieses Alters einen positiven Gegenstand bieten, denn schließlich ist es nicht verwerflich, seinem Volk dienen zu wollen. Und schließlich kann man sogar darüber streiten, ob eine Jugendgruppe schon deshalb als "undemokratisch" angesehen werden muß, weil sie ihre Angelegenheiten nicht nach parlamentarischen Spielregeln ordnet. Dagegen anführen ließe sich z. B., daß solche Regeln, die für die gesellschaftlichen Großgebilde entwickelt wurden, in überschaubaren Kleingruppen nicht nur entbehrlich sind, sondern auch zu unnötigen Rivalitäten und gruppendynamischen "Machtkämpfen" führen könnten.

Alle diese Besonderheiten der Bünde, so problematisch sie politisch waren, mußten als pädagogische Bedingungen keineswegs der Entfaltung von Ich-Stärke und Autonomie im Wege stehen.

Allerdings muß man dabei den sozialen Hintergrund der Mittelschichtjugendlichen bedenken. Für Arbeiterjugend-

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liche wäre damals dieses Sozialisationsangebot vermutlich nicht akzeptabel gewesen, hätte deren Bedürfnisse und Erfahrungen nicht ansprechen können. Deshalb waren sie ja auch in den Bünden so gut wie gar nicht vertreten.

3. Schon der Vorkriegs-Wandervogel hatte dem pädagogischen Bezug eine neue Variante beigesteuert: Neben den Bezug Vater-Sohn und neben die formalisierte und institutionalisierte Beziehung Lehrer-Schüler war das Verhältnis Fuhrer-Geführter getreten. Dieses Verhältnis konnte intensiv bis zur tiefen Freundschaft sein, aber auch distanzierter. Jedenfalls war es kein durch "Rollen" determiniertes und parzelliertes, sondern ein komplexes und umfassendes Verhältnis, offen für eine verhältnismäßig uneingeschränkte Gestaltung von beiden Seiten. Eine solche Beziehung enthielt zweifellos für den Pubertierenden pädagogische Chancen, sie konnte seine sonst nicht äußerbaren menschlichen Qualitäten und Leistungen herausfordern, seine Unruhe und Wechselhaftigkeit konnte sich an der Reife des Älteren stabilisieren. Allerdings hing dies nicht zuletzt von der Persönlichkeit des Älteren ab, was er in diese Beziehung einbringen konnte. Wie sahen die Führer selbst ihr Führertum? H. Pross hat das literarisch belegbare Selbstverständnis maßgeblicher Führer so skizziert:

"Sie kommen von weit her, von sehr weit her sogar, aus einer Welt, die weder mit Profitstreben noch mit Masse noch mit Demokratie irgendetwas zu tun hat. Sie sind der größte Gegensatz zur Masse; nur ein kleiner Kreis Auserwählter gesellte sich zu ihnen, zu seinem Heil natürlich, denn durch den Führer wird der Gefolgschaft das Geschenk des Bundes zuteil. Indem er alles Typische, Normale und Unvermeidliche in der Situation seiner Zeit verneint und als krank hinstellt, macht er es sich leicht, seine Gefolgsleute zu den Heilen zu erklären und sich selbst zum Heilsbringer ... .

(Die Führer) waren Muster an Selbstlosigkeit, und 'immer irgendwie tragisch' klebten sie an der Jugend. So selbstlos waren einige von ihnen, daß sie ihren bürgerlichen Beruf versäumten ... und von der Welt in ihrer wahren Bedeutung rigoros verkannt wurden. Nichts kann aber dem Heranwachsenden das Gefühl ersetzen, verkannt zu sein. Das Bedürfnis, verkannt zu werden, bestimmt in weitem Umfang die jugendliche Vorstellungswelt ... . Um diese von der Umwelt verkannten, in erhabener Einsamkeit mit ihrem Entschluß ringenden Führer sammelte sich die Gefolgschaft in gleicher Pose" (S. 286 f.; S. 291).

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Pross weist mit Recht auf die Gefahr hin, daß die Probleme der Pubertät durch eine solche Führer-Gefolgschaft-Beziehung auch eher verschärft werden können. Jedoch ist die Frage, ob eine derartige Charakteristik auch für die vielen "unteren" Führer zutrifft, die die eigentliche Arbeit in den Gruppen leisteten und meist selbst noch Gymnasiasten waren. Für sie entstanden andere Probleme, als Pross sie sieht: wie sie nämlich selbst als noch nicht Erwachsene mit der Aufgabe des Führertums fertig werden mußten.

Schon in zeitgenössischen Arbeiten (Strauss 1932; Lippert 1934) wurde darauf aufmerksam gemacht. So sah Strauss (S. 89 ff.) folgende Gefahren des jugendlichen Führertums: Der Übergang in die Erwachsenenwelt kann verpaßt bzw. verzögert, die Jugendzeit also über Gebühr verlängert werden. Wenn man in so jungen Jahren bereits Führer wird und Verantwortung übernimmt, dann gewinnt man eine Position, die man auf Grund seiner Kenntnisse und Erfahrungen im Beruf noch nicht einnehmen kann, der Übergang in die Erwachsenenwelt wäre also mit einem erheblichen Prestige-Verlust verbunden. Von daher entsteht die Versuchung, möglichst lange Führer zu bleiben. Außerdem fixiert sich das Interesse leicht auf die jugendliche Gruppe, es gibt keine Gegengewichte, die mögliche Entwicklung anderer Interessen wird behindert, alles wird aus dem Horizont der Gruppe erlebt. Da der Verkehr mit den Gleichaltrigen reduziert ist oder gar ganz fehlt, belastet der Führer Jüngere mit seinen Problemen. "'Jugend' wird für ihn zu einem Dauerzustand, zu einem falsch verstandenen Ideal" (S. 92). Der ständige Umgang mit Jüngeren kann falsche Maßstäbe für die Selbsteinschätzung setzen, was einerseits zu "Führerdünkel" führen kann, andererseits aber auch zu der Versuchung, Konflikten und Auseinandersetzungen mit der Welt der Erwachsenen auszuweichen und sich immer wieder in die problemlose Jugendlichkeit zurückzuziehen. Schließlich kann der ständige Umgang mit Jungen das Interesse am anderen Geschlecht zerstören.

Die hier geschilderten Gefahren können natürlich im Prinzip bei jedem entsprechenden jugendlichen Überengagement auftauchen. Aber bei den Bünden kam noch der Totalitätsanspruch des "Führer-Gefolgschaft-Verhältnis-

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ses" dazu, verbunden mit dem Anspruch der totalen Hingabe an die "Idee". Ein Führer, der z. B. einen Teil seiner Freizeit mit seiner Freundin statt mit der Gruppe verbringt, hätte leicht als "treulos" und "verräterisch" erscheinen und damit den Bestand der Gruppe bzw. seine Führungsposition gefährden können. Nicht in dem jugendlichen Engagement selbst, aber in der Überhöhung der gegenseitigen Ansprüche lag in der Tat eine Gefahr für den "pädagogischen Bezug" in der Gruppe.

Andererseits zog der fast gleichaltrige Führer Erwartungen auf sich, die früher eher dem Vater gegolten hatten: Er war Vorbild, genoß Vertrauen, gab Orientierungen - er war gleichsam in der Rolle des älteren Bruders, wenn der Vater fehlt. In seiner Figur zeigte sich stellvertretend der Widerspruch von Emanzipation von den traditionellen Erziehungsmächten einerseits und daraus resultierender früher individueller Verantwortung andererseits. Für die daraus entstandene "Ungeborgenheit" und "Einsamkeit" boten die Bünde offenbar so etwas wie eine "Heimat".

4. Die Entwicklung von der Wandervogel-Gruppe zum Bund zeigt eine zunehmende Tendenz zur gesellschaftlichen Integration im Rahmen mehrerer Generationen. Damit schien die schon 1914 von Nohl erhobene Forderung nach dem freien, also institutionell nicht präformierten Austausch der Generationen als Chance der Jugendbewegung eingelöst, während Jugend, auf sich selbst zurückgeworfen, nur beschränkte Erfahrungen erwerben könne. Das Problem bei den Bünden war jedoch, daß die Älteren sich den Jüngeren nicht in ihrer "normalen" Realität präsentierten - als Berufstätige, Familienväter, Staatsbürger usw. - , sondern im Rahmen von Leitvorstellungen, die diese Realität ausklammerten und überdeckten. Dadurch wurde ein wichtiger Teil von möglichem Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen unterschlagen bzw. falsch gedeutet. Dieser Teil des "pädagogischen Verhältnisses" fand gleichsam außerhalb der gesellschaftlichen Realität statt, auf einer Ebene des "als ob", es war eher eine spielerische Inszenierung als eine realistische Kommunikation.

5. Alles in allem ist die Frage schwer generell zu beantworten, ob die Bünde nicht letzten Endes doch eher dis-

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sozialisierend gewirkt haben, zumindest im Hinblick auf die politische Sozialisation. Aber dann müßte man auch nach den denkbaren Alternativen fragen. Die Gymnasialjugend und die Studentenschaft in Weimar war von Haus aus ganz überwiegend anti-demokratisch und rechtsradikal eingestellt; diese Einstellung haben die Bünde nicht erfunden, sondern nur aufgegriffen. Vermutlich hatten die Bünde hier eher eine mäßigende Funktion, indem sie dieses ideologische Potential ins Romantische wendeten und es so "von der Straße fernhielten".

6. Die Bünde waren "Männerbünde", auch wenn einige von ihnen Mädchen-Gruppen hatten. Die Deutsche Freischar zum Beispiel, die zu den ideologisch gemäßigten Bünden gehörte, hatte 1929 etwa 15 Prozent Mädchen. Die Leitvorstellungen der Bünde, etwa das mittelalterliche Modell des (edlen) Ritters, der das Volk schützt, bzw. des Ordens, der sich unbeirrbar und treu einem Ziel bzw. einer Aufgabe verschrieben hat, sprachen Mädchen verständlicherweise wenig an. Für sie gab es da keine attraktive Rolle. Auch in diesem Punkte läßt sich die Vorkriegstendenz fortschreiben.

Die Haltung der Bünde in dieser Frage war unklar und zwiespältig. Einerseits hat die bündische Jugend erkannt, "daß ohne die Frau der Bund nie ein Vorbild für eine Volkwerdung sein kann"; andererseits waren die Bünde gegen Koedukation, weil "ein Mädchen zum Mädchen nur beim Mädchen, ein Junge zum Jungen nur durch Jungen werden kann" (Pohl, S. 59). Jungen und Mädchen sollten also getrennte Gruppen und Heimabende haben, lediglich bei Festen und großen Treffen sollten beide Geschlechter gemeinsam auftreten. Die Mädchengruppen sollten eigene Vorstellungen und Ziele für ihren Bund entwickeln und nicht die Jungenerziehung nachahmen, wobei die Erwartung der Männer war, daß die Mädchen ihre traditionelle Rolle wieder belebten und kultivierten. Das ging nicht ohne Pathos ab: "Der Mann will der Sorgende, der Denker sein; er will kämpfen, um die Frau vor Schmach und Leid zu bewahren; er will sie schützen um ihrer selbst willen" ... . (Pohl 1933, S. 61). Gesucht ist die "frauliche", die "mütterliche" Frau.

Aber es gab auch Gegenstimmen, die von der schlichten

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Tatsache ausgingen, daß es nicht jeder Frau vergönnt sei, Ehefrau und Mutter zu werden. Deren Leitbild war die Frau als Kamerad und "Mitkämpferin" - aber immer noch unter der Führung des Mannes.

"Der Mann braucht eine Kameradin fürs Leben, eine Lebensgefährtin, die nicht nur die schönen Nächte, sondern auch die schweren Tage erleben kann, willensstark und aufrecht genug, das schwerste Leid zu ertragen, eine Frau, der der Beruf und die Interessen des Mannes, seine Gedanken und Pläne nicht gleichgültig sind, die in ihm nicht nur den Ernährer und Versorger sieht", schrieb Eberhard Köbel (tusk) (zit. n. Pohl 1933, S. 62).

Die Diskussion über die Rolle der Frau im Volk und in den Bünden berührte einen besonders kritischen Punkt; denn die soziale Desorganisation, wie sie gerade in den Mittelschichten erlebt wurde, wurde besonders sichtbar an den veränderten Familienverhältnissen und an der neuen Position vieler Frauen, die viel häufiger als früher im Beruf und im öffentlichen Leben standen. Dies aber paßte nicht zusammen mit dem Verständnis von "Volk", das sich ja im Grunde auf vorindustrielle Sozialformen bezog, in der die Frau als Hüterin des Herdes und Heimes fungierte.

Die überlieferte Rollenverteilung erlaubte dem Jungen einen größeren Autonomiespielraum als dem Mädchen.

"Kaum der Kindheit entwachsen, trennt sich ja das Mädchen vom gleichaltrigen Jüngling und hält innerlich wie äußerlich zur Matrone, mit ihr zusammen die bürgerliche Sitte verkörpernd ... Das ganze Schwergewicht der bürgerlichen Moral hängt an den 16- bis 18jährigen Mädchen, es hat dieselben menschlichen und sittlichen Maßstäbe wie seine Mütter und Tanten; während auch der einfachste und unbegabteste Jüngling sich wenigstens einige Jahre lang als Träger neuer Ideen, Maßstäbe und Ziele fühlt. Stillschweigend wird dem Jüngling jene Zeitspanne des Nochnichtverpflichtetseins zugestanden die man der Frau versagt; denn würde sie in diesen kritischen Jahren zum Bewußtsein ihrer Jugend und Freiheit gelangen wie der Jüngling, so würde ein Grundpfeiler der bestehenden Sitte untergraben" (Busse-Wilson, zit. n. Franzen-Hellersberg 1927).

Die Folgen einer solchen Erziehung seien "Klatschsucht, Neugier, Neid, Mißgunst und jenes peinliche Interesse für fremde Liebeserlebnisse": die "sekundären Geschlechtsmerkmale des bürgerlichen Weibes" (Busse-Wilson).

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Für das Mädchen war die Emanzipation von dieser ihr angesonnenen Perspektive zweifellos sehr schwierig, und die (männliche) Jugendbewegung war dafür wenig geeignet. Schließlich ging es hier nicht um die Emanzipation vom Vater, sondern von der Mutter. Wenn man die Mädchen nicht auf eigene Gruppen verwies, dann wurden sie bloß mitgenommen. Da sie keinen eigenen Beitrag zur "Sache" - nämlich den bündischen Gehalten und Formen - liefern konnten, den nicht auch die Jungen hätten liefern können, blieben sie zurückgeworfen auf ihr bloßes "Weibsein". Dieses wiederum konnte, da Liebesbeziehungen verpönt waren, sich nur im Rahmen der alten Rolle äußern: als mütterliche oder auch schwesterliche Versorgung der Jungen, als ästhetische Gestaltung der "Wohnstube" - also etwa des Landheimes. Die Berichte zeigen übereinstimmend, daß abgesehen davon die Mädchen eine durchweg passive Rolle spielten, sich z. B. an den Debatten und Diskussionen wenig beteiligten. Dabei scheint für die Mädchen im besonderen Maße zu gelten, was auch den Jungen nachgesagt wurde: "daß der Bund vor allem ein Sammelplatz der welt- und lebensanschaulich weniger Widerstandsfähigen war" (Franzen-Hellersberg, S. 136).

Was hätte "Pubertät" im Sinne eines "psychosozialen Moratoriums" damals für diese Mädchen bedeuten können? In erster Linie gerade Ablösung von den kindlichen Rollen - und damit von Mutter und Tante - und das Entwerfen alternativer Lebensperspektiven. Aber eine "Jugendbewegung der Mädchen", die sich einen solchen Freiraum hätte schaffen können, hat es nicht gegeben. So wenig man die befreienden Wirkungen des Wanderns - in anderer Kluft als der der höheren Tochter und fern vieler für Mädchen gültigen gesellschaftlichen Rituale der Mode und des Verhaltens - unterschätzen darf, so blieb die Rolle des Mädchens in den Bünden unbefriedigend, gerade weil mit emotionalen Paarbeziehungen nicht experimentiert werden durfte; denn vor allem unterschiedliche emotionale Erfahrungen - und als deren Folge möglicherweise auch sexuelle - hätten dem bürgerlichen Mädchen Selbstbewußtsein für den künftigen Partner und Selbstbestimmung im Umgang mit Beruf und Familie gewähren können. Die Realität bei den gemischten Wanderungen sah aber ganz anders aus, wie Elisabeth Busse-Wilson beschreibt:

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"Jünglinge und Mädchen in der ersten lebenshungrigsten Jugend, autoritätslos, ungebunden durch die Präventivmaßnahmen der bürgerlichen Sexualerziehung (deren Hauptsorge die Verhinderung der Gelegenheit ist), eine solche Jugend, die außerdem das Bewußtsein ihrer Besonderheit hat, findet sich auf Wiesen und im Mondschein, in Julinächten und in einsamen Wäldern zusammen und singt dazu jene schwermütig-sehnsüchtigen Volkslieder, die über die Natur der Leidenschaft nicht einmal einen Schleier breiten. Und diese Männer und Mädchen rühren sich nicht nur nicht an, sondern verlieben sich auch nicht und halten ihre unter derartigen Umständen bewahrte Neutralität für das Normale und Selbstverständliche ... . Umso komischer wirkt es, die jugendlichen Greise hinterdrein tiefernst über den Eros, den unerlebten, philosophieren zu sehen" (zit. n. Franzen-Hellersberg, S. 138 f.).

Nach dem Kriege wurden die Mädchen ohnehin "aus den gemischten Bünden zum guten Teil herausgedrängt und vom Führer der Obhut gereifter Frauen übergeben. Diese sind bei den Mädchenbünden zuweilen tüchtige Frauen der früheren Bewegung, die da führen wollen, wo sie ehemals eine Führung entbehrt hatten: Lehrerinnen, Jugendleiterinnen, Sozialbeamtinnen" (Franzen-Hellersberg, S. 137). Die Mädchen haben also den Bünden nicht den Stempel ihrer eigenen Bedürfnisse und emotionalen, sozialen und geistigen Fähigkeiten aufdrücken können. Eine Möglichkeit wäre es sicher gewesen, den Jungen neben den emotionalen Erfahrungen der Freundschaft zum eigenen wie zum anderen Geschlecht und der Erfahrung der Gemeinschaft Gleichgesinnter die ganz andere der jeweils individuell differenzierten Beziehungen zum anderen Geschlecht zu vermitteln. Aber dies hätte in der Tat den romantischen Männerkult gefährdet, die Beziehungen in den Gruppen zu kompliziert - wenn auch realitätsgerechter - gemacht, so daß die Abwehr gegen die Mädchen in den Bünden durchaus plausibel war. Im Begriff "Kameradschaft", der die Beziehungen zum anderen Geschlecht ausdrückte, verbarg sich die Tatsache, daß man mit Mädchen als Individuen nichts anfangen konnte. Ein Mädchen brauchte man, wenn man es zu etwas gebracht hatte, und dann eine vom alten "Typ" der das Heim umsorgenden Mutter.

Es scheint so, daß die Emanzipation des Mädchens derartiger Gruppen- und Führerbindungen gar nicht bedarf, daß sie eher eine individuelle ist bzw. sein muß, die ganz bestimmter Bedingungen und Voraussetzungen bedarf,

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z. B. einer qualifizierten Bildung und einer eigenständigen beruflichen Perspektive. Es scheint ferner so, daß die Emanzipation des bürgerlichen Mädchens, ihre Fähigkeit etwa zu partnerschaftlichen, gleichberechtigten Beziehungen, damals außerhalb der Bünde und wohl außerhalb der Jugendarbeit überhaupt noch am ehesten möglich war.

Die Arbeiterjugendbewegung

Schon vor dem Kriege hatte der "linke" Flügel der SPD um Luxemburg, Liebknecht, Zetkin die Hoffnung, daß die proletarische Jugendbewegung die dynamischen revolutionären Impulse der Arbeiterbewegung forcieren könne; nicht zuletzt deshalb unterstützte er die Unabhängigkeitsbestrebungen der Jugendbewegung. Als während des Krieges sich die Spaltung der Arbeiterbewegung abzeichnete, standen nicht wenige junge Arbeiter hinter den Linken, die ihrerseits den revolutionären Elan der Jungen lobten. Als "Freie sozialistische Jugend" setzte sich diese Gruppe Ostern 1916 von der Berliner "Zentralstelle" ab und kämpfte für Umsturz und Kriegsabbruch. Aus ihr ging nach dem Krieg der "Kommunistische Jugendverband" hervor.

Der Krieg hatte die Arbeit der "Zentralstelle" weitgehend eingeschränkt. Die Zahl der Jugendausschüsse war von etwa 850 bei Kriegsbeginn auf etwa 200 Ende 1918 zurückgegangen. Die Zahl der Abonnenten der "Arbeiter-Jugend" war von 108300 (1914) auf 28000 (1918) gesunken. Die jungen Arbeiter hatten die Arbeitsplätze der einberufenen Väter einnehmen und so ihre Familie ernähren müssen. Die Jugendschutzbestimmungen waren außer Kraft gesetzt und die Arbeitszeiten erheblich verlängert worden. Die "Zentralstelle" hatte darauf sowie auf andere, die Jugendlichen beeinträchtigende Maßnahmen (z. B. Sparzwang; Ausgehverbot) mit gelegentlichen Protesten reagiert, versuchte aber im wesentlichen die Organisation möglichst unbeschadet durch die Kriegsjahre zu bringen. Die "Zentralstelle" war 1917 in die staatlichen Jugendpflegeausschüsse aufgenommen und damit als staatstragend faktisch anerkannt worden. Die Gewerkschaften hatten sich nach der Gründung der USPD 1917 aus den

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Jugendausschüssen zurückgezogen, um ihre überparteiliche Position zu demonstrieren, und bauten dann nach 1918 verstärkt eigene "Jugendsektionen" auf, deren Mitgliederzahl erheblich höher war als die der sozialdemokratischen Jugendorganisation.

Für die Arbeiterjugendbewegung brachten Kriegsende und Revolution einen bedeutenden Einschnitt. Einmal entfielen nun die polizeilichen und vereinsrechtlichen Beschränkungen der Vorkriegszeit, so daß die Gründung von Jugendvereinen wieder möglich war. Zum anderen waren die Arbeiterparteien und Gewerkschaften in ganz anderem Maße in der Lage, sich auch für die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen der Jugendlichen einzusetzen, so daß die ursprüngliche Intention der Arbeiterjugendbewegung, sich selbständig für die eigenen Interessen einzusetzen, nicht mehr so dringlich erschien. Und schließlich hatte die Spaltung der Arbeiterbewegung auch die Spaltung der Arbeiterjugendbewegung zur Folge, so daß von nun an von "der" Arbeiterjugendbewegung nicht mehr gesprochen werden kann, sondern die wichtigsten Organisationen gesondert betrachtet werden müssen. Wir wollen dies im folgenden für die sozialdemokratische Jugendarbeit und für die kommunistische tun. Gruppen, die zwischen diesen beiden großen Parteien sich ansiedelten, können dabei nicht berücksichtigt werden.
 

Die sozialdemokratische Jugendarbeit

1. Die sozialistische Arbeiterjugend (SAJ)

Am 25. Mai 1919 wurde die Umwandlung der "Zentralstelle" in den "Verband der Arbeiterjugendvereine Deutschlands" (AJ) beschlossen. Die vom Parteitag der SPD im Juni 1919 beschlossenen Richtlinien setzten fest:

"Das Ziel der Jugendbewegung ist die Erziehung der Jugend zur sozialistischen Weltanschauung und zur selbständigen praktischen Betätigung. Ferner hat sie den Zweck, einen wirksamen Jugendschutz zu fördern. Dagegen ist die Jugendbewegung keine Kampforganisation mit parteipolitischen Zielen; ihre Aufgaben sind vorwiegend erzieherischer Natur" (zit. n. Lindstaedt, S. 45).

Die Altershöchstgrenze wurde auf 18 Jahre festgesetzt, die

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älteren sollten in die Partei eintreten. Die Leitung des Vorstandes bestand aus fünf Vertretern der Partei und fünf Vertretern der Arbeiterjugendvereine.

Der Verband nahm eine günstige Entwicklung. Anfang 1920 gab es über 27 000 männliche und über 12 000 weibliche Mitglieder, Ende 1920 gab es bereits 75 000 Mitglieder (Tilsner-Gröll, S. 24). Die "Arbeiter-Jugend", weiterhin von Karl Korn redigiert, hatte 1920 60 000 Abonnenten. Dazu erschien seit 1920 der "Führer", ein Organ für die Funktionäre des Verbandes, mit einer Auflage zwischen 3000 und 6000 Exemplaren.

Im September 1922 vereinigten sich die SPD und der größte Teil der USPD wieder. Damit wurde der Weg frei für eine Vereinigung der beiden sozialistischen Jugendorganisationen AJ und SPJ (Sozialistische Proletarierjugend) zum "Verband der sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlands" (SAJ) im selben Jahr. Die gemeinsamen Programmpunkte lauteten:

"Der Verband der sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlands erzieht seine Mitglieder im Geiste der sozialistischen Weltanschauung zu Kämpfern für die sozialistischen Ideale. Er vertritt die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Forderungen der proletarischen Jugend.

Der Verband macht sich zur Pflicht, in dauernder Zusammenarbeit mit dem vorwärts strebenden Jungproletariat aller Länder die wirtschaftliche und geistige Not der arbeitenden Jugend zu beseitigen. Er betrachtet es als seine höchste Aufgabe, unermüdlich für den wahren Völkerfrieden und für die sozialistische Gesellschaft zu kämpfen" (zit. n. Tilsner-Gröll, S.36).

Die neue Organisation zählte 1922 circa 1600 Gruppen mit 105 000 Mitgliedern.

Die Phase bis 1920 kann man als eine neue "sozialistische Jugendbewegung" bezeichnen:

"Ausdruckskultur, das heißt Lebensgestaltung und Lebensauffassung, wurden primär. Ausdruckskultur bedeutete den Versuch, den 'sozialistischen Menschen' schon jetzt, in der kapitalistischen Gegenwart zu wollen; bedeutete Reform der Kleidung und Ablehnung der Lebensgewohnheiten der alten Generation. Alkohol und Nikotin wurden als entnervend und den Befreiungskampf hemmend leidenschaftlich bekämpft. Gesellschaftstanz, Kino, Rummel als Vergnügungsstätten des stumpfen Spießers verpönt. Ferner wurde versucht, den Arbeiterfestlichkeiten einen neuen Inhalt und edlere Formen zu geben. Diesem Wollen verdanken der Sprechchor, die proletarischen Feierstunden ihre Entstehung" (Jacobsen, S.108).

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Den Höhepunkt erreichte diese Bewegung auf dem sogenannten ´"Reichsjugendtag von Weimar" 1920 ("Das Weimar der arbeitenden Jugend"). In dem Referat von Johannes Schult kommt der "Geist von Weimar" deutlich zum Ausdruck: Sozialismus als Kulturbewegung, als vorweggenommener Lebensstil, getragen und realisiert vom Idealismus der Jungen:

"Es konnte nicht die Aufgabe von Marx und Engels sein, uns diese Ziele zu stecken; ihre Aufgabe war es, die damals noch dumpf dahinvegetierenden Arbeiter aufzurütteln, daß sie sich erinnerten, daß zum wirklichen Leben materielle Vorbedingungen nötig sind. Darüber gehen wir hinaus! Was ist der Jugend zu groß? Die Jugend hat die Aufgabe, aufzubauen und nicht nur das Erbe der Alten zu verwalten. Die Jugend muß neue Ziele für die Arbeiterbewegung schaffen. Wir haben vergessen, daß der Mensch außer dem Verstand noch andere Kräfte in sich trägt. Früher sagte man: Wissen ist Macht, heute sagen wir: Wissen ist auch Macht. Die Jugend hat nicht die Aufgabe, den wirtschaftlichen Sozialismus gegen eine Welt von Unverstand durchzuführen. Er wird nur durchgeführt werden können unter Mitwirkung der überwiegenden Mehrheit eines Volkes ... .

Die Aufgabe unserer Arbeiterjugendbewegung ist die, daß sie das schon von ihr Ausgestaltete zur Lebensform für das ganze Volk auswirkt. Hier liegt auch der Unterschied zwischen der unseren und der bürgerlichen Jugendbewegung ... . Die Arbeiterjugend steht nicht neben oder außerhalb des Lebens, sie steht im Leben, im Strome der Zeit, sie ist und fühlt sich nur als ein Stück der ganzen großen Kulturbewegung, sie fühlt sich als eine junge Garde dieser Bewegung ... .

Uns ist dieser Sozialismus, die Erstrebung einer Volksgemeinschaft, Herzenssache; damit unterscheiden wir uns vielleicht von den Erwachsenen. In unserer Jugend lebt die blühende, freudige Lebensbejahung Schillers, der Faustische Drang zur Lösung der tiefsten Rätsel, der brennende Durst nach Schönheit In dieser abgeklärten Welt der Goetheschen großen, unumwundenen Seelenpracht verstehen wir auch die heiße Leidenschaft Goethescher Lieder; wir fühlen den Kategorischen Imperativ Kants. In uns erneuert sich der Fichtesche Kampf um die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, um die Erneuerung der Moral eines ganzen Volkes. Wir sind die Erben der geistigen Riesenarbeit von Marx und Engels; in uns leben Heine, Mozart, Beethoven fort. Volkslieder und Volkstänze sind unser eigen geworden; unsere Wanderfahrten haben uns tief verankert im echten Nationalbewußtsein ... .

So sind unsere Jugendgemeinschaften ein heiliges Land. Wenn wir nun zuletzt fragen: Was soll werden? So müssen wir versuchen, diese Züge des Gemeinschaftslebens, die sich eben entwickelt haben, herauswachsen zu lassen aus der Jugendbewe-

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gung in die allgemeine Arbeiterbewegung; das wird die größte Aufgabe der nächsten Jahre und Jahrzehnte werden. Wir wollen uns dafür ein Wort, ein Gelübde und Bekenntnis geben:

In dem engen Gemeinschaftsleben beider Geschlechter wollen wir den Adel in uns bilden, um mitzubauen an einer sozialistischen Zukunft, bis wir anstelle des Hasses, Neides, der Kleinsucht die Liebe der Menschen untereinander in Volks- und Völkergemeinschaften zum Siege geführt haben. Wir wollen die Neuerung des Sozialismus durch Tat und Beispiel aus unserer Jugendbewegung" (zit. n. Pross, S. 269 ff.).

Hier zeigten sich deutliche Einflüsse der bürgerlichen Jugendbewegung, in diesem Enthusiasmus verbanden sich Vorstellungen des "ethischen", also nicht primär am Klassenkampf orientierten Sozialismus mit der allgemeinen politischen Hoffnung, daß trotz der unmittelbaren Not der Nachkriegszeit die wirtschaftlichen und sozialen Probleme dank der neuen politischen Bedingungen zu lösen seien. Auch ein "Nachholbedarf" an kultureller und geselliger Euphorie dürfte eine Rolle gespielt haben. Geltend gemacht wurde unter anderem, daß kulturelle Interessen und Bedürfnisse erst dann sich entfalten könnten, wenn ein gewisses Mindestmaß an sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit erreicht sei; dies schien nach dem Kriege zumindest in Aussicht zu stehen - ein Irrtum, wie sich spätestens seit der Inflation von 1923 herausstellen sollte.

Die Kritik blieb jedoch nicht aus: Sozialismus müsse mehr sein als enthusiastische Lebensgestaltung, nämlich auch Weltanschauung und politischer Kampf. Doch nach dem Jugendtag von Nürnberg 1922, wo 35- bis 40 000 Jugendliche anwesend waren, ging die Phase der Jugendbewegung rasch zu Ende und wieder zur Jugendpflege über. Das lag wohl einerseits daran, daß so große Zahlen nicht durch Enthusiasmus und Idealismus zu organisieren waren, jedenfalls nicht im Alltag, und daß andererseits die Führergeneration, die den "Geist von Weimar" getragen hatte, aus der Bewegung ausgeschieden und zum Teil in Parteiämter eingetreten war. In dieser Jugendpflegephase seit 1923 ging die Mitgliederzahl - allerdings mitbestimmt durch einige Abspaltungen - bis 1932 auf 60 000 zurück (Kneip 1974, S.225).

Die Jugendtage der SAJ mit einer so großen Zahl von Jugendlichen waren ein Novum in der Geschichte der Jugendbewegung und Jugendarbeit und zeigten eine neue

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Tendenz an: einerseits die "Masse" der jugendlichen Anhänger einmal zum "Erlebnis der großen Zahl" und damit zum Erlebnis der Solidarität zu bringen, andererseits dies aber auch der Öffentlichkeit werbend zu präsentieren.

Die "Reichsjugendtage" der SAJ standen unter einem bestimmten Motto. In Nürnberg 1923 - nach dem Kapp-Putsch und während der Besetzung des Ruhrgebietes - ging es um das Bekenntnis zur Republik. "Wir wollen, daß die Arbeit Freude werde", hieß dann das Motto des Jugendtages 1925 in Hamburg mit rund 30 000 Teilnehmern. Hier ging es um sozialpolitische Forderungen für die arbeitende Jugend, die in der politischen Arbeit der SAJ eine große Rolle spielten und die der "Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände" sich dann zu eigen machte. Es ging vor allem um den Jugendarbeitsschutz, Freizeitregelungen am Wochenende, um Urlaub und um Reformen der Berufsausbildung.

In Dortmund versammelten sich 1927 rund 20 000 Mitglieder unter dem Motto: "Rote Jugend auf roter Erde". Hauptthemen waren Kampf für den Sozialismus und für den Völkerfrieden. Von "Weimar" bis "Dortmund" hatte die SAJ eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht, die mit der Entwicklung der Republik korrespondierte: Vom kulturellen Enthusiasmus wieder hin zum politischen Kampf - für die Republik, aber auch für die eigene Organisation.

"Es war nicht mehr die Jugend von Weimar, die hier (in Dortmund, H.G.) zusammenströmte. Aus den bunten jugendlichen Scharen in der schmucken Wanderkluft mit den Fiedeln und Gitarren waren straff organisierte, klassenbewußte Formationen des jungen Proletariats geworden. 20 000 Jungen und Mädchen marschierten in militärischer Ordnung durch die Straßen der Arbeiterstadt. An ihren Uniformen fehlten Koppel und Schulterriemen nicht, Klampfen und Geigen hatten Trommeln und Fanfaren weichen müssen" (Schneider 1952, S. 163).

Im Rahmen dieser Jugendtage wurden massenwirksame Symbole bzw. Symbolhandlungen entwickelt. In Nürnberg gab es z. B. einen kilometerlangen Fackelzug, in Hamburg eine Fülle von Festen und Feiern, in Dortmund eine Großkundgebung im Stadion "Rote Erde" sowie einen Stafettenlauf nach Brüssel, wo zur gleichen Zeit der Kongreß der sozialistischen Arbeiter-Internationale tagte.

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"Auf der Kampfbahn 'Rote Erde' übergab Erich Ollenhauer einem Arbeitersportler einen Stab mit einer Botschaft an die Internationale. Unter dem Gesang der 'Internationale', die die 70 000 im Stadion anstimmten, lief der Sportler einmal um die Bahn des Platzes, verließ ihn durch das Tor und übergab den Stab einem anderen Genossen aus einer langen Kette derer, die auf dem Wege nach Brüssel darauf warteten, die Nachricht zum Tagungsort der erwachsenen Arbeiter der Welt bringen zu können" (Lindstaedt, S.59).

Weitere symbolträchtige Handlungen waren die "Jugendweihe" anstelle der Konfirmation "mit voraufgehendem Unterricht, der ein ganzes Winterhalbjahr dauerte" (Schult 1956, S.193). Seit 1927 gab es "Parteiweihen", "in denen die 20jährigen aus der SAJ in förmlicher Weise in die Partei übernommen wurden" (Lindstaedt, S.194). (Seit 1926 war das Höchstalter für die Mitgliedschaft in der SAJ auf 20 Jahre heraufgesetzt worden, allerdings sollten danach zwei Altersgruppen gebildet werden.)

Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1931 fand der letzte Jugendtag in Frankfurt statt. Es war ein gutinszenierter Aufmarsch von ca. 20 000 zum großen Teil arbeitslosen Jugendlichen, und Paul Löbe sagte, sich "gegen den Krieg" (Motto) und für "Verständigung der Völker und Überwindung des Kapitalismus" einsetzend:

"Wir sind zuletzt durch die Straßen der Reichen gezogen, die Straßen, in denen keine roten Wimpel die Sympathie unserer Bewegung verkündeten, an Villen vorbei, aus denen Geld für die Faschisten fließt. Wehe ihnen, wenn dieser Wald sich gegen sie erhebt, weil sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben. Ihr könnt stolz sein auf Eure Leistung, gehet hin in alle Welt und lehret unsere Klassengenossen die Idee des Sozialismus" (zit. n. Lindstaedt, S.70).

Die Warnung nutzte bekanntlich nichts und der Massenaufmarsch von Frankfurt zeigte nur, daß die SAJ loyal zur Republik stand, daß sie "die einzige fraglos staatsbejahende Richtung der Jugendbewegung" (Pross, S. 265) war.

Was nun die innere Struktur der SAJ betrifft, so hatte sich die schon vor dem Krieg erkennbare Tendenz der Parteiführung, die Jugendbewegung in Jugendpflege zu überführen, auch jetzt wieder durchgesetzt. Hauptarbeit des Jugendverbandes sollte die sozialistische Erziehung sein, politische Aktionen sollte er nicht durchführen und eigene

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politische Stellungnahmen - außer zu jugendpolitischen Fragen - auch nicht erarbeiten, dafür war die Partei da. Die Führer der SAJ, Max Westphal und Erich Ollenhauer, haben diesen Standpunkt immer wieder vertreten. Das mußte zu Konflikten führen, wenn es um wichtige Streitfragen ging, die die Jugend unmittelbar betrafen. Ein solcher Fall trat z. B. ein, als die bürgerlichen Koalitionspartner der SPD 1928 beschlossen, einen Panzerkreuzer zu bauen. Darüber kam es zu heftigen Auseinandersetzungen in der SPD wie auch in der SAJ, denn die Arbeiterjugendbewegung war von Anfang an stark antimilitaristisch und pazifistisch orientiert. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen formulierte Max Westphal den Standpunkt der Partei zum Verhältnis von Partei und Jugendorganisation, wobei er durchaus Verständnis für die Empörung der Jungen zeigte, wie folgt:

"Der schon in den Vorkriegsjahren von der sozialistischen Jugendbewegung erarbeitete Standpunkt, daß die Jugendorganisation keine eigene Politik zu treiben habe, ist auch heute noch der unsrige. Die Jugendorganisation soll die schulentlassene Jugend gewinnen und sie mit der sozialistischen Bewegung in Verbindung bringen, sie im sozialistischen Geiste erziehen und später in die eigentliche politische Kampforganisation (ebenso natürlich in die wirtschaftliche) einreihen. Die Partei ist die politische Führerin aller Sozialdemokraten. Was die Sozialdemokraten wollen, wird in der Partei erarbeitet, und jeder, also auch jeder Jugendgenosse, der an der politischen Willensbildung der Partei teilnehmen will, soll dieses durch direkte Mitarbeit in der Partei tun" (zit. n. Lindstaedt, S.65 ff.).
 
 

Schließlich kam es 1931 zur Parteispaltung, neu gegründet wurde die sozialistische Arbeiterpartei (SAP), die auch eine eigene Jugendorganisation, den "Sozialistischen Jugendverband" (SJV) schuf. Beide Organisationen blieben aber ohne Bedeutung.

Der Konflikt zeigt, daß das schon vor dem Kriege sichtbare Problem ungelöst blieb, ob nämlich Jugendliche, die ja auch in der Partei noch kein Stimmrecht hatten, spezifische politische Interessen haben können, die von den Erwachsenenorganisationen nicht ohne weiteres und selbstverständlich mit vertreten werden. Wenn das so ist, dann muß die Jugendorganisation auch in die Lage versetzt werden, sich dazu selbständig zu äußern. Die Parteileitung jedoch sah in der Jugendorganisation letztlich nur die Nachwuchs-

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organisation, in der junge Leute erst einmal politisch "reif" werden sollten, um dann als Erwachsene sich am Parteileben zu beteiligen. Politische Hilfsdienste für die Partei zu leisten (z. B. Plakate kleben und Demonstrieren bei Wahlkämpfen) war nicht nur erlaubt, sondern auch erwünscht. Gegen Ende der Republik, als sich die Wahlen häuften, überlagerte der Einsatz in Wahlkämpfen und für Demonstrationen alle anderen Aktivitäten, vor allem auch das "Jugendleben". Die SAJ wurde Teil der "Eisernen Front", eines Kampfbundes, zu dem sich die republikanischen Verbände angesichts des heraufkommenden Faschismus zusammengeschlossen hatten, und viele Mitglieder wurden in gewalttätige politische Auseinandersetzungen verwickelt. Die Strategie der Parteiführung, die Jugendlichen aus den politischen Auseinandersetzungen herauszuhalten und sie nicht zu früh zu "verheizen", ließ sich am Ende nicht mehr halten, denn spätestens seit 1928 diktierten die Nationalsozialisten Stil und Themen der Auseinandersetzung.

Von ihrem eigenen Verständnis her wollte die SAJ eine Massenorganisation sein, ging es doch darum, möglichst viele Jugendliche für die Idee des Sozialismus und für die Partei zu gewinnen. Tatsächlich jedoch erfaßte sie höchstens 2 bis 3 Prozent der jugendlichen Arbeiter, und davon vor allem solche, die aufstiegsorientiert waren und verbürgerlichen wollten (Pross, S. 265). Nur ein kleiner Kern der Mitglieder war wirklich politisch interessiert. Der Mehrheit ging es um die geselligen Möglichkeiten, und nicht zufällig erlebte die SAJ ihren größten Aufschwung nach dem Jugendtag von Weimar. Durch ihre Bestimmung als Nachwuchsorganisation für eine politische Partei war die Zahl der potentiellen Mitglieder von vornherein begrenzt. Wie aber schon erwähnt, gab es noch andere sozialistische Organisationen, deren Mitgliederzahl insgesamt doch den Begriff "Massenorganisation" rechtfertigt.

"Wir müssen uns in verschiedenen Sprachen an die arbeitende Jugend wenden. Zu denen, deren Fühlen und Denken von der eigentlichen Massenbewegung unserer Zeit, dem Sport, erfaßt ist, sollten wir durch die Arbeitersportvereine reden und zu denen, deren Interesse in erster Linie auf die berufliche Fortbildung gerichtet ist, durch die Berufsorganisation. Wir als SAJ werden in erster Linie den Kampf um jene Jugend zu führen

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haben, die Anteil am politischen und kulturellen Geschehen unserer Zeit nimmt" (zit. n. Schneider, S. 164), sagte Erich Ollenhauer 1930.
 
 

2. Die Jungsozialisten

Die Erwartung der Partei, daß die Mitglieder der Jugendorganisation, wenn sie 18 bzw. 20 Jahre alt wurden, in der Partei tätig würden, hat sich immer nur zum kleinen Teil erfüllt. Schon auf dem Parteitag in Chemnitz 1912 stellte ein Redner fest, "daß die jungen Leute von 18 Jahren vielfach in die bürgerlichen Sportvereine gehen, wo sie das, was sie bis dahin gelernt haben, schnell wieder mit dem Fußball und sonstigen Spielen in die Luft hineintrampeln. Sie sind dann für uns verloren, und was wir mühsam aufgebaut, ist vernichtet und unser Geld ist flöten gegangen!" (zit. n. Tilsner-Gröll, S. 49).

Darin kam zum Ausdruck, daß für die meisten Jugendlichen politische Motive für die Mitgliedschaft im Jugendverein nicht die wichtigsten waren, daß vielmehr die Freizeitmotive dominierten. Viele junge Leute hatten daher wenig übrig für "die Zahlabende in trüben Bierstuben, die sich Stunde um Stunde mit undurchsichtigeren Tabakswolken füllten, für die steifen Versammlungsallüren, für die immer wiederkehrenden Debatten, wo abgegriffene Gemeinplätze in ausgefahrenen Gedankengleisen hin- und herglitten, und für die Feste mit überreichem Alkoholgenuß und zweifelhaften Zerstreuungen aus dem Kulturschatz des Spießbürgertums" (Lepinski, S. 41).

Andererseits aber stellte sich für manche junge Erwachsene das Problem, das wir schon von der bürgerlichen Jugendbewegung her kennen, ob nämlich die Impulse aus den Jugendorganisationen nun - im jungen Erwachsenenalter - nicht irgendwie weitergeführt werden könnten, und dafür war die Kultur der Parteiarbeit in der Tat wenig geeignet. Solche jungen Erwachsenen, die sich Jungsozialisten nannten, hatten offenbar das Bedürfnis, die nach dem Kriege verspürte Sinnkrise noch ein wenig zu reflektieren, anstatt sich sofort in der konkreten Parteiarbeit zu versuchen. Ihre Gedanken waren eine merkwürdige Mischung aus Freideutschtum und Marxismus, aus der die Vorstellungen über den "Sozialismus als Kulturbewegung" ent-

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standen, die den "Geist von Weimar", des Jugendtages von 1920, auch mitprägten. Auf dieser von den Jungsozialisten stark mitgetragenen Veranstaltung gaben sie folgende programmatische Erklärung ab:
 
 

"Wir Jungen in der sozialdemokratischen Partei beginnen, uns unserer selbst bewußt zu werden. Wir fühlen, daß wir anders geartet sind als die Alten, daß wir unsere besondere Aufgabe zu erfüllen haben. Wir verkennen nicht, was die Alten geleistet haben. Wir lehnen es auch nicht ab, von ihnen zu lernen. Aber wir wollen mehr, wir wollen Höheres. Wir beginnen zu erkennen, daß der politische und wirtschaftliche Klassenkampf nicht genügt, um den Sozialismus zu verwirklichen. Eine neue Welt braucht neue Menschen. Wir wollen neue Menschen, wahre Sozialisten werden ... . Bedeutende politische Forderungen der Partei sind erfüllt, die wirtschaftliche Neugestaltung ist ein Gegenstand praktischer Tagesarbeit geworden, Kulturfragen verlangen eine Lösung" (zit. n. Tilsner-Gröll, S. 50).

Auf dem Parteitag in Kassel wurde die Bewegung von der Partei anerkannt: "Der Parteitag begrüßt mit lebhafter Freude die geistige Regsamkeit der Jungsozialisten und ihr Streben nach Erringung innerer Selbständigkeit". Aber das Verhältnis zur Partei blieb unklar und prekär, da die Partei in den Jungsozialisten die Tendenz zu einer Sonderorganisation vermutete. Auf der Bielefelder Konferenz der Jungsozialisten 1921 wurde ein von Heinrich Schulz entwickelter Kompromiß angenommen:

"Die in Bielefeld versammelten Jungsozialisten erklären, daß sie als politisch denkende und handelnde Menschen mit Herz und Hirn der SPD angehören. Darüber hinaus suchen sie in der jungsozialistischen Bewegung und in unmittelbarem Austausch mit Gleichgesinnten eine Bereicherung ihres persönlichen Lebensgefühls- und -bewußtseins, wovon sie in weiterer Auswirkung eine Bereicherung des Sozialismus erhoffen" (Lepinski, S.15).

Zum Konflikt kam es, als die im Zuge der Ruhrbesetzung einsetzende nationalistische Welle auch die Jungsozialisten erfaßte. Ostern 1923 traf sich eine nationalorientierte Gruppe der Jusos in Hofgeismar. Sie bekannte sich zu Staat, Volk und Nation und verstand den Sozialismus als ideelles Konzept für die Herstellung einer "Volksgemeinschaft". Dieses Konzept wiederum provozierte eine Gegenbewegung durch die sogenannten "Hannoveraner". Auf der Reichskonferenz der Jungsozialisten 1925 in Jena kam es zum Bruch. Die Kontroverse wurde durch Hermann

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Heller für die "Hofgeismarer" und von Max Adler für die "Hannoveraner" theoretisch fundiert für die heftige Diskussion. Gegen den Widerstand der Hofgeismarer wurde folgende Resolution verabschiedet:

"Die Jungsozialisten als politische Jugend lehnen die nationale Romantik in jeder Form entschieden ab. Von der bloßen Betonung der republikanischen Staatsnotwendigkeiten mit den daraus resultierenden Konzessionen an das bürgerliche Denken befürchtet die Reichskonferenz eine Verwässerung des revolutionären proletarischen Klassenkampfes. Die heutige Demokratie stützt sich nur auf die Gleichwertigkeit des Stimmzettels, läßt jedoch die ökonomische Ungleichheit der Menschen bestehen, sie verschleiert also nur die Klassengegensätze. Die Reichskonferenz ist sich darüber klar, daß das sozialistische Proletariat dem bürgerlichen Klassenstaat gegenüber keine staatspolitische Verantwortung übernehmen darf, wenn dies dem Interesse des internationalen Klassenkampfes widerspricht" (zit. n. Tilsner-Gröll, S.51).

Diese Erklärung war zumindest zwiespältig und geeignet, die Haltung der SPD zum Staat zu desavouieren. Durch diesen "Linksrutsch" wuchsen die Konflikte mit der Partei weiter. Auf dem Parteitag in Kiel 1927 wurde scharfe Kritik an den Jusos laut. In diesem Zusammenhang wurde auch die Altersgrenze für die SAJ von 18 auf 20 Jahre erhöht. Da die Jusos nur etwa 3500 bis 4000 Mitglieder hatten, konnte der Entzug von zwei Rekrutierungsjahrgängen durchaus personelle Folgen haben. Der Parteitag wiederholte die Erwartung, daß die Mitglieder der SAJ nach Überschreiten der Altersgrenze in die Partei eintreten. Im Jahre 1931 schließlich wurde die jungsozialistische Organisation durch die Partei aufgelöst. Trotz ihrer recht kleinen Mitgliederzahl stellte sie 1928 angeblich etwa ein Drittel der SAJ-Gruppenleiter; 90 Prozent der Jungsozialisten sind aus der SAJ gekommen (Tilsner-Gröll, S. 54).

Die Geschichte der Jungsozialisten zeigt, daß es der SPD in Weimar nicht gelungen ist, auch nur einen nennenswerten Teil der Mitglieder der Jugendorganisation SAJ anschließend in die Partei zu übernehmen. Und auch die "Zwischenlösung" der Jusos scheiterte. Dieses Problem, nämlich wie man die jungen Leute "bei der Stange halten" kann, so wird sich noch zeigen, haben die Nationalsozialisten erfolgreicher gelöst.

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3. Die Kinderfreunde-Bewegung

Nach dem Vorbild der schon vor dem Kriege entstandenen und zunächst rein fürsorgerisch orientierten österreichischen "Kinderfreunde-Bewegung´" wurden nach dem Kriege auch in Deutschland Kinderfreundegruppen gegründet. Sie entstanden zunächst spontan auf lokaler Ebene. Vertreter von Kindergruppen aus norddeutschen Städten gründeten im Juni 1923 eine "Arbeitsgemeinschaft norddeutscher Kinderfreunde-Organisationen".

"Sie fanden es unverantwortlich, 'daß die Arbeiterschaft die Erziehung ihrer Kinder den Klassengegnern anvertraut'. Sie forderten 'von Partei- und Gewerkschaftszentralen die Schaffung selbständiger sozialistischer Erziehungsorganisationen, in denen das proletarische Kind, umgeben von sozialistischen Erziehern, für die Aufgaben der Arbeiterklasse heranreift'. Ähnliche Konferenzen und Zusammenschlüsse fanden etwa zur gleichen Zeit in Gera für Thüringen, in Berlin und Dresden, statt. Im Dezember 1924 beschlossen 80 Vertreter aus 30 Städten in Rheinland-Westfalen das Gleiche" (Schult 1954, S. 237).

In Reaktion auf diese spontanen Gründungen rief Heinrich Schulz im Auftrage des Parteivorstandes zum 13. November 1923 eine Konferenz der interessierten Kreise nach Berlin ein. Das Ergebnis war die Gründung der "Reichsarbeitsgemeinschaft der deutschen Kinderfreunde". Gemäß den ebenfalls dort verabschiedeten "Richtlinien" sollte sie alle auf dem Gebiet der Kindererziehung wirkenden Arbeiterorganisationen zusammenfassen, "so weit sie nach allgemeinen sozialistischen und wissenschaftlich-pädagogischen Grundsätzen ihre Erziehungstätigkeit ausüben". § 2 nennt die Aufgaben im einzelnen:

"a) Heranbildung der Arbeiter und Arbeiterinnen zu sinnvoller Betätigung auf dem Gebiet der Kindererziehung im Geiste der Selbsthilfe und Selbstverantwortung.
b) Einwirkung auf den Ausbau aller staatlichen und kommunalen Kindererziehungseinrichtungen und Nutzbarmachung der öffentlichen Mittel für diesen Zweck.
c) Zentralisierung aller Aufgaben der angeschlossenen Vereinigungen, die wegen ihres gemeinsamen Charakters wirksamer zentral bearbeitet werden können. Verständigung über eine Aufteilung aller Kindererziehungsaufgaben, Schaffung von Kindererziehungseinrichtungen und Beteiligung an bestehenden.

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d) Statistische und sonstige wissenschaftliche Erfassung der Jugendwohlfahrts- und Erziehungsaufgaben.
e) Schaffung eines Organs für Erziehungsfragen und einer Kinderzeitung" (Schult 1954, S. 237 f.).

Unterhalb der Reichsarbeitsgemeinschaft sollten Bezirksarbeitsgemeinschaften und örtliche Arbeitsgemeinschaften eingerichtet werden. Die örtlichen Arbeitsgemeinschaften sollten an den öffentlichen, staatlichen und kommunalen Kindererziehungseinrichtungen mitwirken und in Ergänzung bestehender Einrichtungen Kinderwanderungen, Spiele, Reigen und Volkstänze im Freien, regelmäßige Unterhaltungen und Beschäftigungen im Zimmer, Gesang und Musikabende, Bastel- und Handfertigkeitsabende, regelmäßige Turn- und Schwimmstunden sowie Film und Theaterführungen und Feste und Feiern anbieten. Mitarbeiten sollten "alle in Betracht kommenden Organisationen und Kreise (Gewerkschaften, Bildungsausschüsse, Arbeiterjugend, Jungsozialisten, Frauen, Lehrer, Elternbeiräte, Arbeitersportvereine)".

Von der organisatorischen Struktur her handelte es sich bei der Kinderfreundebewegung in Deutschland also um eine Art von Gemeinschaftswerk aller in Frage kommenden Arbeiterorganisationen. Die Bewegung nahm einen raschen Aufschwung und zählte 1929 ca. 150000 Kinder unter 14 Jahren. Nach dem Vorbild der Pfadfinder waren die Gruppen in zwei Altersklassen unterteilt: die jüngern "Jungfalken" und die älteren "Roten Falken". Ebenfalls nach Pfadfindervorbild wurden diesen Gruppen anschauliche und dem kindlichen Verständnis angemessene "Gebote" gegeben.

"Gebote und Aufgaben der Jungfalken und der Roten Falken
Wir Jungfalken (Gebote und Geist)
1. Wir sind Arbeiterkinder. Wir sind stolz darauf.
2. Wir sind gute Genossen. Wir sind hilfsbereit.
3. Wir stehen fest zusammen. Wir halten Ordnung. Wir sind keine Spielverderber.
4. Wir sind zuverlässig.
5. Wir sagen mutig unsere Meinung. Wir reden niemals hinter dem Rücken über andere.
6. Wir trinken keinen Alkohol, rauchen nicht und lesen keine schlechten Bücher.
7. Wir zerstören nichts mutwillig. Wir schützen die Natur.

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8. Wir halten unseren Körper sauber und gesund.
9. Wir wollen Rote Falken werden.

Was wir Jungfalken wollen ...
1. Wir Jungfalken wollen wissen, wie die Arbeiterbewegung aufgebaut ist und wer ihre Vorkämpfer waren.
2. Wir wollen drei Kampflieder und drei Wanderlieder singen können.
3. Wir wollen wissen, wie ein Zelt gebaut wird.
4. Wir wollen schwimmen lernen.
5. Wir wollen uns im Gelände zurechtfinden können.
6. Wir wollen lernen, was wir bei Unglücksfällen zu tun haben.
7. Wir wollen nähen, flicken und stopfen können.
8. Wir wollen Handball, Schlagball und Völkerball nach den Regeln des Arbeiter-Turn- und Sportbundes spielen können.

Wir Roten Falken (Gebote und Geist)
1. Wir Roten Falken bekennen uns zur Arbeiterklasse und treten für sie ein.
2. Wir beschimpfen und verleumden niemand.
3. Wir sind gute Genossen. Wir halten Disziplin und sind zuverlässig.
4. Wir sind Arbeiterkinder. Arbeiterjungen und Arbeitermädel gehören zusammen.
5. Wir sind hilfsbereit.
6. Wir schützen die Natur und achten alles, was zum Nutzen der Gesellschaft geschaffen wird.
7. Wir meiden und bekämpfen den Alkohol- und Nikotingenuß. Wir lesen nur gute Bücher.
8. Wir halten uns sauber und gesund.
9. Wir wollen Rote Falken der sozialistischen Jugendbewegung werden.
Was wir Roten Falken wollen ...
1. Wir Roten Falken kennen und erfüllen die Aufgaben der Jungfalken.
2. Wir helfen den Jungfalken.
3. Wir wollen die sozialistische Arbeiterbewegung und ihre Einrichtungen kennen.
4. Wir wollen die Republik und ihre Einrichtungen kennen.
5. Wir wollen Wanderkarten und Fahrpläne lesen und uns im Gelände zurechtfinden können.
6. Wir wollen bei Unglücksfällen helfen können.
7. Wir wollen Rettungsschwimmen üben. (Zit. n. Löwenstein, 1976, S. 424 f.).

Die Kinderfreunde-Bewegung zog das Interesse sozialistisch-engagierter Pädagogen auf sich; an ihrer Praxis entfaltete sich eine spezifische sozialistische Erziehungstheorie, formuliert von Autoren wie Anton Tesarek, Max Winter,

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Otto Felix Kanitz - alle Österreicher - und Kurt Löwenstein, "Cheftheoretiker" der deutschen Bewegung, der sie von 1923 bis 1933 als Bundesvorsitzender leitete.

Die Österreicher waren etwas radikaler in ihren Vorstellungen, neigten mehr zu kommunistischen Vorstellungen als die Deutschen, vor allem übten sie harte Kritik an der Erziehungsfunktion der proletarischen Familie, die selbst ein Ort reaktionärer Klassenerziehung sei und das bürgerliche Denken bei den proletarischen Kindern reproduziere. Die Österreicher schalteten die Eltern weitgehend aus und beschränkten sich auf Elternabende. Die deutschen Autoren hielten sich da zurück, indem sie das pädagogische Problem der proletarischen Familie möglichst gar nicht erst zum Thema machten.

Das pädagogische Grundkonzept (vgl. Löwenstein 1929) war etwa das folgende: Das Arbeiterkind erlebt täglich, daß es ihm nicht nur schlechter geht (Ernährung, Kleidung, Wohnung) als dem bürgerlichen Kind, es wird vielmehr auch als "schlechter" angesehen. Es übernimmt diese Interpretation und lernt sich dabei als minderwertig fühlen, es entwickelt Minderwertigkeitskomplexe. Dem kann sich das einzelne Kind nicht entziehen, aber in den Kindergruppen unter seinesgleichen entfällt diese Erfahrung, können gegenteilige Erfahrungen gemacht werden.

"Wenn diese Kinder in den Gruppen von der Bedeutung der Arbeiter hören, wenn ihnen der gewaltige organisatorische und kulturelle Aufstieg der Arbeiterschaft nähergebracht wird, wenn ihnen von den Kämpfen, den Sorgen und den Erfolgen der Arbeiterklasse mit der Begeisterung und Wärme derer erzählt wird, die in diesen Sorgen und Erfolgen leben, dann wächst in ihnen das Selbstbewußtsein ihrer Klasse, dann wird in ihnen der Wunsch lebendig, auch einmal ein Befreier ihrer Klasse zu werden. Dann wachsen sie selbst an der Größe dieser Aufgabe, dann fällt das Gefühl der Ohnmacht von ihnen, das sie als einzelne haben müssen. Sie vergessen sich selbst und ihre Lage und werden Teile einer überpersönlichen, gesellschaftlichen Macht. Die roten Wimpel, die diese Kinder bei ihren Wanderungen und bei den Festen der Arbeiterschaft tragen, werden ihnen zu Symbolen des Erlebnisses ihrer Klasse" (Löwenstein 1929, S. 143).

Der Entwicklung eines solchen Selbstwertgefühls - und nicht etwa nur einer abstrakten Idee von "Demokratie" - dient auch die innere Demokratisierung der Gruppe, das hohe Maß an Mitbestimmung und Mitverantwortung.

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"Es ist selbstverständlich, daß grundsätzlich persönliche Autoritäten abgelehnt werden. Auch der Helfer der Kindergruppen ist nur ein Funktionär neben den Funktionären aus den Reihen der Kinder. Daß Helfer und Kinder durchgängig sich mit dem Vornamen und dem demokratischen "Du" anreden, entspricht der gleichen Tendenz. Durch die Übertragung befristeter Funktionen, von deren gewissenhafter Durchführung oft genug das Wohlbefinden der Gruppe abhängt, wird Verantwortlichkeitsbewußtsein herangezogen. In der Kinderfreunde-Bewegung wird stark unterschieden zwischen Pflichterfüllung einer autoritativ und meistens auch persönlich aufgetragenen Aufgabe und der Verantwortung in der selbständigen Durchführung eines von der Gruppe festgelegten Zweckes. In der Mannigfaltigkeit der sich natürlich gebenden Aufgaben wird allgemein der Grundsatz verfolgt, die Kinder an die Formen demokratischen Lebens zu gewöhnen und sie als verantwortliche Glieder in Gemeinschaftsaufgaben einzuordnen" (Löwenstein 1929, S.154).

Die sozialistischen Pädagogen hofften, auf diese Weise die politische Intention - Heranbildung eines sozialistisch orientierten Nachwuchses schon "von Kindesbeinen an" - mit einem der Altersstufe angemessenen pädagogischen Konzept zu verbinden, das nicht abstrakt und nur verbal, sondern durch die Art des Gemeinschaftserlebnisses die Idee des Sozialismus als Erlebnis und Erfahrung aufleuchten ließ. Forum der pädagogischen Diskussion war die seit 1921 erscheinende und von Kanitz redigierte Zeitschrift "Sozialistische Erziehung". Die Helfer, für die eine umfangreiche Fortbildungsarbeit entwickelt wurde, kamen durchweg aus der SAJ, sie fanden hier eine interessantere Aufgabe als in der Parteiarbeit. "Ihre Tätigkeit in den Gruppen und Horden war sehr zeitraubend; denn jede Gruppe oder Horde hatte wöchentlich drei oder vier Zusammenkünfte. Sonntag hatte ein Helfer sozusagen den ganzen Tag 'Dienst'" (Schult, S.243).

Herausragende - und auch von den Gegnern bewunderte - Veranstaltungen waren die "Kinderrepubliken" - Ferienlager mit mehr als 1000 Kindern. In diesen Lagern wurden neben den üblichen "jugendgemäßen" Formen und Inhalten parlamentarische Formen der Mitbestimmung der Kinder und ein neues "anti-autoritäres" Beziehungsmodell zwischen Kindern und Erwachsenen praktiziert. Auf diese Weise sollten die Kinder wie schon in ihren örtlichen Gruppen "Sozialismus" unmittelbar - wenn auch im Rahmen einer pädagogischen Provinz - erleben können.

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Das erste große Zeltlager fand im Sommer 1927 in der Nähe von Kiel statt. Andreas Gayk, der es organisierte, schrieb darüber:

"Als die Kieler Kinderfreundehelfer von ihrer Reicharbeitsgemeinschaft den Auftrag bekamen, ein Zeltlager durchzuführen, das zugleich einen revolutionären pädagogischen Gedanken verwirklichen sollte, da war sich niemand darüber im Zweifel, welch ein Wagnis ein solches Unternehmen war. Einmal organisatorisch: 2000 Kinder, das war gleichbedeutend mit der Einwohnerschaft einer kleinen Stadt. Alle wirtschaftlichen, hygienischen und sozialen Voraussetzungen mußten geschaffen werden, ohne die das Zusammenleben so vieler Menschen unmöglich ist. Mehr noch pädagogisch: Mißlang der Versuch, den Arbeiterkindern eine Erziehungsumwelt zu schaffen, in der sie die Sozialregeln einer demokratischen Ordnung tätig, mitgestaltend und mitverantwortlich begreifen konnten, so war die tragende Idee der Rote-Falken-Bewegung kompromittiert. Mit einem mitleidigen Lächeln sahen die Gegner der Rote-Falken-Bewegung deshalb diesem ungewöhnlichen Ereignis entgegen.
Was Unzählige für unmöglich gehalten hatten, gelang. Am 17. Juli 1927 nachmittags marschierten 2000 rote Falken in Seekamp ein. Wenige Stunden später wurde die rote Fahne der Kinderrepublik gehißt. 2000 Kinder hatten in bienenhaftem Fleiß ein kleines Wunder vollbracht. Wo vor wenigen Stunden eine kahle Wiese lag, war eine große, wohlgegliederte Zeltstadt entstanden" (zit. n. Schult, S.247).

Nach dem Muster von "Seekamp" wurden weitere "Kinderrepubliken" in den Sommerferien eingerichtet, darunter 1932 ein internationales Lager mit 900 Kindern aus Frankreich, Belgien, Deutschland und der Schweiz in der Nähe von Paris.

Die Idee der Kinderlager wurde nun auch von anderen aufgegriffen, vor allem von Katholiken, die zwar die Lager der Kinderfreunde aus weltanschaulichen Gründen kritisierten, aber dann als Konkurrenz die "katholische Reichsarbeitsgemeinschaft Kinderwohl" gründeten.
 

Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands

Die revolutionäre Jugend, die sich schon im Kriege gegen die offizielle sozialdemokratische Politik gewandt und bei Kriegsende sich an Streiks und Massendemonstrationen beteiligt hatte, fühlte sich als "Avantgarde" des Klassenkampfes. Als die Kommunistische Partei nach dem Kriege einen eigenen Jugendverband gründete, unterstützte sie

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diese Tendenz zunächst, zumal sich erwies, daß im Rahmen der schon vor dem Krieg gegründeten Kommunistischen Internationale der revolutionäre Elan der Jungen in anderen westlichen Ländern die Mobilisierung der erwachsenen Arbeiter für die Kommunistische Partei begünstigte. Edwin Hoernle, "Cheftheoretiker" der KPD für schulpolitische und Erziehungsfragen, schrieb ganz in dieser Stimmung 1919:

"Im illegalen Kampf gegen die Säbeldiktatur, in der gesamten Friedenspropaganda, in der revolutionären Aufrüttelung der Massen, in den ersten Streiks, die den Burgfrieden brachen, haben 16- bis 17jährige Arbeiterburschen und -mädchen ihren Mann gestanden, kühner, zäher, furchtloser als die meisten Alten. Seit dem 9. November bilden sie den Sturm und Drang in der revolutionären Arbeiterschaft, was die bürgerlich-mehrheitssozialistische ingrimmig unterstreicht, wenn sie bei jedem Streik, jeder Demonstration mit verächtlicher Geste erklärt: Die Teilnehmer waren meist halbwüchsige Burschen und Mädchen. So mancher Jugendgenosse hat seinen Idealismus mit dem kostbaren Herzblut bezahlen müssen; in den Gefängnissen zählt die Jugend zu den trotzigsten Rebellen. Nur hochmütiger Dünkel, der die wahren Verhältnisse absichtlich verkennt, kann von dieser Jugend heute noch verlangen, daß sie sich bescheiden der Führung einer Partei, und sei es der radikalsten, unterwirft. Die Jugend erfüllt eine ganz bestimmte, besondere Aufgabe innerhalb der gesamten Arbeiterbewegung als Ferment, als vorantreibende Kraft, als sicherster Hort selbstlosen Opfer- und Wagemuts, ... die sozialistische Jugendbewegung erhebt mit Recht den Anspruch, als selbständiges, gleichberechtigtes Glied der allgemeinen Schlachtordnung des kämpfenden Proletariats eingereiht zu sein. Sie kann nicht außerhalb der Parteien stehen, sie darf aber ebensowenig untergehen in der Partei" (Hoernle 1958, S. 40).

Auch auf dem linken Flügel der Arbeiterbewegung schien also eine neue Jugendbewegung zu entstehen. Aber sie fand schon 1921, auf dem 2. Weltkongreß der Kommunistischen Jugend-Internationale in Moskau, ihr Ende. Die Jugendorganisationen wurden den kommunistischen Parteien unterstellt. Seitdem blieb der kommunistische Jugendverband der Parteiführung auch in Deutschland untergeordnet. Hintergrund dieses Beschlusses war die ideologische Wende von der "Weltrevolution", die nicht mehr in greifbarer Nähe schien, zum "Sozialismus in einem Land": Die Weltrevolution sei einstweilen nicht zu erreichen, jetzt komme es darauf an, den in der Sowjetunion erreichten

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Sozialismus zu verteidigen und auszubauen. Deshalb müsse die Sowjetunion die Führung der Kommunistischen Internationale wie auch der Kommunistischen Jugend-Internationale übernehmen, um die jenem Ziel entsprechende Strategie entwickeln zu können. Für selbständige und autonome Arbeit der einzelnen kommunistischen Parteien wie auch ihrer Jugendorganisationen war da kein Raum mehr. Die Frage nach der "Autonomie" der Jugendbewegung wurde also politisch-taktisch entschieden.

Während der ganzen Weimarer Zeit litt der Kommunistische Jugendverband unter seiner Abhängigkeit von Moskau, unter politischen Verfolgungen und Verboten, unter mangelnder Flexibilität und unter einem chronischen Mangel an pädagogisch geeigneten Mitarbeitern. Dem politischen Kampf gegen die Republik wurde Vorrang eingeräumt, die pädagogischen Aufgaben waren sekundär, blieben untergeordnet. Sowohl die bürgerliche Jugendbewegung wie auch die sozialdemokratischen Formen der Jugendarbeit wurden als "bürgerliche Ideologie" abgelehnt und bekämpft, da sie nur den Klassenkampf behindern. Willi Münzenberg, einer der Mitbegründer der Kommunistischen Jugend-Internationale, hatte schon 1921 den Unterordnungsbeschluß entschieden bekämpft, und wollte den Weltkongreß gar nicht erst in Moskau, sondern in Westeuropa stattfinden lassen. Im Jahre 1930 riet er dem ZK der KPD, den Jugendverband aus der Isolierung herauszuführen und die Jugend dort aufzusuchen, wo sie spielte:

"Wir Kommunisten werden in der Jugendarbeit - das beweist die Tätigkeit des KJD - keinen Erfolg haben, solange der Jugendverband mit der Partei organisatorisch verbunden ist. Wir werden bei den Massen der Jugend keinen Erfolg haben. Wir müssen unser Organisationsprinzip unter der Jugend aufgeben. Wir sollten den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands offiziell liquidieren und an seine Stelle eine von der Partei nach außen unabhängige, durch von uns ausgebildete Leute geführte Organisation setzen, die die Jugend dort aufsucht, wo sie sich bei Spiel, Sport und Arbeit aufhält" (zit. n. Pross, S. 408).

Den kommunistischen Kindergruppen war ebenfalls und aus ähnlichen Gründen im Vergleich zur sozialdemokratischen Kinderarbeit wenig Erfolg beschieden. Das Ziel, Kinder auf ihre Weise am Klassenkampf zu beteiligen, das proletarische Kind zum Beispiel im Schulkampf einzuset-

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zen, fand wenig Resonanz nicht nur in der "bürgerlichen Presse", sondern auch offensichtlich beim größten Teil der Arbeiterschaft.

Nach Angaben von Roger (1956) hatte 1923 vor dem zeitweiligen Verbot aller kommunistischen Organisationen die Kinderbewegung 30- bis 40 000 Mitglieder; nach dem Verbot seien zahlreiche Gruppen zerfallen, die Mitgliederzahl sei erheblich zurückgegangen (S.141). Die Kinderorganisation war unmittelbar mit dem kommunistischen Jugendverband verbunden und habe deshalb "die gleichen politischen und methodischen Fehler, die die Entwicklung der Jugendorganisation zur Massenorganisation behinderten", gemacht. "Die Abgeschlossenheit vieler Gruppen des kommunistischen Kinderverbandes von den übrigen Arbeiterkindern, dauernder Wechsel und unzureichende Schulung der Kindergruppenleiter, Schematismus und anderes mehr" (S.141) seien die Ursachen gewesen. Mehrere Jahre hindurch seien keine neuen Gruppen und kein Mitgliederzuwachs zu verzeichnen gewesen. Sogar das Plenum der kommunistischen Jugend-Internationale (KJI) monierte 1929:

»wir haben eine Krise in den entscheidenden Ländern: Deutschland, Frankreich und England ... nur eine entscheidende Wendung zur Massenarbeit, eine völlige Abkehr vom Sektierertum und von der Vereinsmeierei, eine grundsätzliche Änderung des jetzigen Arbeitssystems kann den Weg freimachen zur Vorwärtsentwicklung unserer Kinderbewegung zu Massenorganisationen" (S.142).

Danach scheint es durch pädagogisch-methodische Verbesserungen einen Aufschwung gegeben zu haben, denn Ende 1932 sollen 65 000 Kinder zur kommunistischen Kinderorganisation gehört haben. Allerdings sind solche Zahlenangaben aus Selbstdarstellungen mit Vorsicht zu behandeln.

Zusammenfassend läßt sich sagen:

1. Vor allem den Sozialdemokraten, weniger den Kommunisten, gelang es, eine nach Altersstufen gegliederte Organisation der Kinder und Jugendlichen aufzubauen und sich damit eine alterskontinuierliche Nachwuchsorganisation zu verschaffen: Kinderfreunde, Arbeiterjugend, (Jungsozialisten), Partei. Die Sozialisten erfanden also die Massenorganisation des Kindes- und Jugendalters und zwangen damit ihre Gegner - wie zum Beispiel die Kirchen und

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andere politische Parteien - zu ähnlichen Rekrutierungsversuchen.

2. Nur in den ersten Nachkriegsjahren gab es noch einmal so etwas wie eine proletarische Jugendbewegung. Danach gab es nur noch "Jugendarbeit" bzw. "Jugendpflege" - wenn auch unter spezifischen Gesichtspunkten. Es ist fraglich, ob man den kommunistischen Jugendverband eigentlich hier einordnen kann, weil er sich ganz überwiegend als politischer Kampfverband verstand. Aber das ist eine Interpretationsfrage. Die sozialdemokratische Jugendarbeit jedenfalls übernahm die jugendgemäßen Formen und versuchte, sie mit "sozialistischem Geist" anzufüllen. Für sie war die außerschulische Jugendarbeit eine Möglichkeit, die nach wie vor konservative Schule in ihren Wirkungen zu Korrigieren.

3. Eine Reihe von Problemen, die die Bündische Jugend auszeichneten, fand sich in der sozialdemokratischen Jugendarbeit nicht oder kaum: Jungen und Mädchen waren selbstverständlich gleichberechtigt, und die Emanzipation des Mädchens hatte hier wohl ihre größten Chancen in der damaligen Jugendarbeit - trotz des auch hier eher kleinbürgerlichen Klimas. Ferner war diese Jugendarbeit eher pazifistisch als militant, eher internationalistisch als nationalistisch und nicht minderheitenfeindlich, also z. B. nicht antisemitisch. Politisch stand sie zur Republik - wenn auch in dem Sinne, daß sie zu einer besseren, nämlich sozialistischen weiterentwickelt werden müsse. In den Organisationen galten parlamentarische Prinzipien - etwa des Wählens und Abwählens - was von den Bündischen belächelt wurde, aber den Kindern und Jugendlichen doch wohl mehr Verständnis für die Republik anbot als der Führerkult der Bündischen. Das Problem war nur, wie man unter den Bedingungen des Kapitalismus den Sozialismus lehren und vor allem erfahrbar machen konnte. Das Vorgehen der Kommunisten, die kapitalistische Ausbeutung schneidend zu kritisieren, nichts für so fortschrittlich zu halten, daß man damit paktieren dürfe, und alles Heil von der eigenen Machtübernahme zu erwarten, enthielt außer Kampf nichts, was dem Augenblick dienen konnte - außer der notwendigen Entspannung bei Tanz und Spiel.

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Die Sozialdemokraten dagegen wollten wenigstens die menschlichen Möglichkeiten des Sozialismus in ihren Gemeinschaften erfahrbar machen: durch nicht-autoritären Umgang zwischen den Generationen und durch gleichberechtigten Umgang der Geschlechter.
 
 

Bürgerliche Sozialisation und sozialistische Erziehung

1. Wenn die Bemerkung von Harry Pross stimmt, daß insbesondere die Jugend der aufstiegsorientierten Facharbeiterschaft, die sich verbürgerlichen wollte, in der SAJ zu finden war, dann ließe sich umgekehrt schließen, daß im kommunistischen Jugendverband vor allem die untere Schicht der Arbeiterschaft zu finden war, die eine derartige Perspektive nicht hatte oder wollte.

Dehn (1929a) erwähnt, daß in den Fortbildungsschulklassen sich die Mitglieder von Jugendverbänden sehr unterschiedlich verteilten.

"Bei Ungelernten guter Qualität (man unterscheidet nach der Schulklasse, aus der der Abgang stattgefunden hat, A-, B-, C- Qualität) hört zunächst die Zugehörigkeit zu christlichen Vereinen fast ganz auf, dafür nimmt die Zahl der KJ-Mitglieder, die in den gelernten Klassen nur sehr spärlich vertreten sind (vielleicht gesteht man hier die Mitgliedschaft auch nicht immer ein) etwas zu. Bei Ungelernten schlechter Qualität gibt es überhaupt nur noch wenig Mitglieder von Jugendvereinen, wenn man von Sportgruppen absieht. Es ist hier eigentlich nur noch die KJ vertreten" (S. 43).

Wenn unsere schon früher entwickelte These stimmt, daß die Phase der Pubertät nur dann sinnvoll bzw. nötig ist, wenn auch die Lebensperspektive offen ist, also wenigstens bis zu einem gewissen Grade der individuellen Entscheidung unterliegt, dann könnte die Bedeutung der sozialdemokratischen Jugendarbeit darin gelegen haben, eben diesem aufstiegsorientierten Teil der Arbeiterjugend, der an Revolution nicht interessiert sein konnte, ein entsprechendes Angebot für die Jahre der Pubertät zu machen. Aus diesem Bedürfnis wäre auch die nach 1920 noch vorhandene idealistische Zukunftserwartung zu erklären, so wie andererseits das weitgehende Heraushalten der Parteipolitik aus der Jugendarbeit. So war auch bei den Theoretikern der Jugendarbeit, z. B. bei Löwenstein, das Bedürf-

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nis zu erkennen, die Zukunftsperspektiven des "Sozialismus" nicht mit einer politischen Partei zu verknüpfen, sondern sie für das aus der gesellschaftlichen Entwicklung selbst erwachsende Allgemeine zu erklären: Der Sozialismus erwachse notwendig aus den gesellschaftlichen Entwicklungen, und wer das nicht erkenne, sei eben rückständig. Allerdings ist schwer zu beurteilen, welche Kraft diese Perspektive gegen Ende der Republik noch hatte. Jedenfalls scheint es einen engen Zusammenhang zu geben zwischen Verbürgerlichung und Pubertät in der Arbeiterjugend.

Anders scheint die Lage im kommunistischen Jugendverband gewesen zu sein. Ihm hat man damals vorgeworfen, er mißbrauche Kinder und Jugendliche für den politischen Kampf, ohne die kind- und jugendgemäßen Bedürfnisse zu beachten. Dabei wird allerdings unterstellt, daß Jugendliche als Jugendliche derartige Bedürfnisse nach jugendgemäßem Leben hätten. Viel spricht jedoch dafür, daß die im kommunistischen Jugendverband organisierten Jugendlichen derartige Bedürfnisse gar nicht hatten, weil ihnen die entsprechende Perspektive (noch) fehlte. Hätte es die KPD bzw. ihren Jugendverband nicht gegeben, so wäre es wenig wahrscheinlich gewesen, daß diese Jugendlichen sich in der sozialdemokratischen Jugendarbeit wohlgefühlt oder sich überhaupt dorthin begeben hätten. Wenn diese Überlegung zutrifft, dann hätten die Kommunisten seinerzeit Jugendarbeit geleistet für solche Kinder und Jugendlichen, die sonst nicht ansprechbar gewesen wären, und deren Perspektive wenig mehr enthielt als die Alternative von Apathie oder Revolution. Jedenfalls muß die Spaltung und Polarisierung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokratie und Kommunismus tiefere Ursachen gehabt haben als ideologische Meinungsverschiedenheiten und Rivalität der Apparate; sie kann letzten Endes nur auf einer sozialen, ökonomischen und kulturellen Spaltung der Arbeiterschaft selbst beruhen. Daß andererseits die Tendenz zur Verbürgerlichung und damit auch zur Jugendarbeit eine gewisse Verführung auch für die kommunistischen Anhänger darstellte, zeigen die heftigen und immer wiederholten ideologischen Abgrenzungsversuche. Was diese jedoch als bloßen Unterschied der Gesinnung mißdeuteten (richtige und falsche ideologische Linie), war längst zum gewichtigen sozia-

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len Unterschied geworden: Es gab einen besser gestellten und einen weniger gut gestellten Teil der Arbeiterklasse mit daraus resultierenden unterschiedlichen Perspektiven und Interessen.

2. Das didaktische Konzept der Kommunisten war, daß man durch und im Kampf lernen müsse. Dies ist trotz des Enthusiasmus, den ein solches Konzept auch Anfang der siebziger Jahre wieder gefunden hat, für sich genommen eine verhältnismäßig primitive Lernfigur, die die Ausdifferenzierung von Denken und Handeln, von systematischem und aktualisiertem Denken noch nicht kennt, sondern der abstrakten Komplexität des Augenblicks verhaftet bleibt, von ihm in Wahrheit keine Distanz gewinnen kann. Sie kann so nur Ersatz für aufgeklärtes Bewußtsein sein, nicht dieses selbst. Die Ergebnisse wären ja auch chaotisch gewesen, wenn sie nicht tatsächlich jeweils von der Parteiführung formuliert bzw. interpretiert worden wären. Den Schriften von Hoernle kann man entnehmen, daß seine Anhänger wenig bildungswillig waren und er ihnen auch wenig systematische Kenntnisse zumutete. Aus der Perspektive der Betroffenen heißt das jedoch, daß ihnen die KPD gerade deshalb ein Angebot machte, mit dem sie sich identifizieren und aus dem sie in ihrer perspektivlosen Lage Selbstbewußtsein gewinnen konnten, an dessen Herstellung sie nach ihren Kräften auch mitwirken konnten.

Im Prinzip argumentierten - zumindest in der Theorie - die Kommunisten ähnlich wie die "Kinderfreunde". Auch ihnen ging es darum, den Arbeiterkindern und Jugendlichen innerhalb der eigenen Organisation Selbstbewußtsein gegen das in ihrer gesamten sozialen Lage entstehende Minderwertigkeitsgefühl zu verschaffen. Nur ist eben zweifelhaft, ob die Klientel des Kommunistischen Jugendverbandes (KJV) für die Methoden der "Kinderfreunde" hätte ansprechbar sein können, denn das z. B. in den Kinderrepubliken erfahrene neue Selbstbewußtsein konnte nur dann mehr sein als eine Art von pädagogisch arrangiertem "Urlaubserlebnis" - —was die Kommunisten diesen Unternehmungen vorwarfen - wenn es zu Hause wenigstens einen kleinen Handlungsspielraum gab, in dem dies Wirkung zeigen konnte. Für die im KJV organisierten Kinder

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und Jugendlichen schien aber im allgemeinen dieser Spielraum mit einer entsprechenden Perspektive nicht vorhanden gewesen zu sein, und dann wäre ein Aufenthalt in einem solchen Lager eher frustrierend und entfremdend gewesen.

Die Kommunisten boten Identität durch fast totale Identifikation an. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Hoernle sein Konzept vom "Kind als Kämpfer" gegen den Vorwurf rechtfertigt, er mißbrauche Kinder für die Zwecke seiner politischen Partei.

"Das kämpfende proletarische Kind war schon lange vorhanden, ehe es einen Kommunisten gab, der sich seiner annahm. Der Kampf des Kindes ist so alt wie die Ausbeutung des Kindes, wie die Unterdrückung und Brutalisierung des Kindes. Er ist die natürliche Reaktion der Kinder gegen das Verbrechen, das der Kapitalismus, das unverständige Eltern, reaktionäre Lehrer Tag für Tag an Seele und Körper der Arbeiterkinder verüben.

Allein dieser Kampf verlief bisher regellos, vereinzelt und unglücklich. Das proletarische Kind kämpfte, kämpfte aus innerer und äußerer Not, kämpfte, ohne Weg und Ziel zu wissen, ohne Hilfe, Rückhalt und Verständnis bei den Erwachsenen zu finden. Es ging aus diesem Kampf hervor, geistig verkrüppelt, moralisch geknickt; nur wenige heilten später die Wunden aus. Das ausgebeutete, mißhandelte, systematisch vom Dienstherrn, von Eltern, vom Lehrer gequälte Kind wehrt sich, so gut es kann. Es sucht die Schule zu hintergehen (schwänzt), es ersinnt tausend kleine Tücken und Listen, Ausreden und Beschönigungen, um die Strafe abzuwenden, es flüchtet zu dem unsauberen Mittel des Petzens, des Spitzeltums, um für sich selber eine günstige Position zu schaffen. Die besten Kinder werden trotzig, bockig, verschlossen ... . Ist es ein Wunder, daß unsere Kinder als geistige Krüppel, als moralisch defekt diese Schulen und Werkstätten und das ach so 'traute Heim' verlassen? Ist es ein Wunder, daß sie unehrlich, diebisch, tückisch und hinterlistig werden? Sie müssen es ja, um unter der Peitsche der Ausbeutung und der Sklaverei, um in Armut und Fron nicht ganz zugrunde zu gehen! ... . Das Neue, das wir Kommunisten aussprechen, ist dies: Der Kampf der Kinder darf sich nicht länger bewegen im Dunkel des Unterbewußtseins, in der Vereinzelung, in der ungeleiteten, regellosen, verzweifelten und deshalb demoralisierenden Art tierischer Selbsthilfe. Nein, der Kampf unserer ausgebeuteten, unterdrückten, mißhandelten Kinder soll ans Licht gezogen, soll bewußt organisiert und solidarisch geführt werden, als Teilkampf im Klassenkrieg der arbeitenden Klasse. Er soll mitgeführt werden von dem gesamten revolutionären Proletariat. Erst dadurch retten wir unsere Kinder vor dem Untergang in Lüge, Tücke, Feigheit, Duckmäuser- und Stänkertum, Verzweiflung und Verbrechen, indem wir eine neue Lebensbejahung

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in ihnen wecken, das große Erlebnis der Arbeitersolidarität, des solidarischen Kampfes gegen die Unterdrücker" (Hoernle 1958, S. 82-84).

Wenn man unterstellt, daß diese Interpretation zumindest in dem Sinne zutreffend ist, daß sie von den Betroffenen weitgehend so - nämlich als Gefühl "minderwertiger Existenz" - empfunden wurde, dann hätte man daraus natürlich eine ganz andere Konsequenz als Hoernle ziehen können, nämlich eine bürgerlich-sozialpädagogische: Es müsse diesen Kindern und Jugendlichen durch finanzielle und pädagogische Hilfen und durch eine Anhebung ihrer schulischen Möglichkeiten eine Verbesserung ihrer Lebenslage angeboten, werden, damit auch sie in die Lage versetzt werden, die erwünschte befriedigende kindliche Existenz in einem Schonraum zu führen. Aber erstens gab es diese Mittel damals nicht - es gibt sie bis heute nicht in erforderlichem Maße - und zweitens bleibt die Frage, ob diese Kinder und Jugendlichen damals auf diese Weise "emanzipationsfähig" gewesen wären, also eine befriedigende Identität mit diesen Hilfen hätten gewinnen können.

Stellt man sich also auf den Boden Hoernles, dessen These ja eigentlich ist, die Widerstandsform der "Verwahrlosung" in produktive politische Aktivität umzusetzen, dann erklärt sich das Scheitern dieses Konzepts wohl vor allem aus der ihm immanenten pädagogischen Schwierigkeit. Die erwünschte Wirkung, Selbstbewußtsein durch Kämpfen zu gewinnen, stellt sich ja nicht - und schon gar nicht bei Kindern - von selbst ein, sondern bedarf einer besonders sensiblen pädagogischen Begleitung, die gerade auch im Einzelfalle ermutigt, tröstet, deutet, erklärt. Da nutzt das Gefühl der Geborgenheit im Kollektiv allein wenig. Wenn so etwas aber überhaupt massenhaft zu organisieren ist - bis hin zu der Frage, welche Aktion ist zumutbar, welche würde überfordern usw. - dann zumindest im Regelfalle nicht von selbst noch unfertigen älteren Mitgliedern des KJV oder auch von Erwachsenen, die dies bei all ihren sonstigen Verpflichtungen "nebenbei" mal besorgen sollen. Es ist pädagogisch viel leichter, Kindern einen "Schonraum" zu verschaffen, wo sie spielen können und von Älteren geschützt werden.

Mit anderen Worten: Die Kommunisten haben damals die pädagogische Problematik ihrer eigenen Intention mystifi-

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ziert: Der Kampf sei der Vater aller Dinge und das Kollektiv werde schon für die richtige Entwicklung des einzelnen sorgen. Die Unterordnung pädagogischer Fragen unter die politische Intention mußte das Konzept vom "Kind als Kämpfer" zu einem praktisch uneinlösbaren Anspruch machen, so daß in vielen Fällen sicherlich nicht Selbstbewußtsein, sondern Geltungsdrang, Rechthaberei, Anmaßung und Doktrinarismus herausgekommen sein dürfte (was die Kritiker ja auch behaupteten), was nicht ausschließt, daß im späteren Erwachsenenalter diese "Jugendsünde" wieder korrigiert wurde.

3. Das Konzept vom "Kind als Kämpfer" war eine weitere (idealtypische) Variante des pädagogischen Bezugs, insofern es die wichtigsten Elemente einer pädagogischen Interaktion enthält: die Perspektive der "Verantwortung" für Gegenwart und Zukunft des Kindes, eine Definition der Besonderheit seiner Existenz und seiner Lernmöglichkeiten und eine Zielbestimmung für die Persönlichkeitsentwicklung ("Kommunist").

Im Vergleich zum sozialdemokratischen Konzept wird deutlich, wie sehr die Bestimmung des pädagogischen Bezuges abhängt von dem Perspektiven-Spielraum, den man der Entwicklung des Kindes einräumt. Die sozialdemokratische Variante des pädagogischen Bezuges war die Vorstellung vom "Kind als kleinem Genossen". Grundsätzlich galt das Kind als gleichberechtigter Genosse, aber eben als "kleiner", der noch nicht alles kann, und der bei manchem auf die Hilfe der "Großen" angewiesen ist; dieser Vorsprung gibt dem "Großen" jedoch keine besondere Autorität, sondern verpflichtet ihn zu "solidarischem" Verhalten, also eben nicht zu einem besonders "kindbezogenen", sondern zu einem solchen, wie es gegenüber jedem Genossen angebracht ist. Die Autorität des pädagogischen Bezuges ist hier prinzipiell wechselseitig, d. h. sie ist abgeleitet aus der "Funktion", die jeweils im Rahmen und im Namen der Gemeinschaft ausgeübt wird, kann also durchaus auch vom Kind (als "Funktionär") in Richtung auf den Erwachsenen wirken.

Der wichtigste Unterschied zum kommunistischen Konzept bestand darin, daß das pädagogische Feld einen eigenen Stellenwert bekam, nicht als Teil des politischen Feldes

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gesehen wurde, und daß - daraus folgend - die Entwicklungsperspektive des Kindes und Jugendlichen offengehalten wurde: Man erwartete und hoffte zwar, daß das Kind später als "Kämpfer für den Sozialismus" tätig sein würde, versuchte aber nicht, es darauf hin schon festzulegen. Dies jedoch - um es noch einmal zu betonen - hatte nur Sinn, insofern auch die tatsächliche Perspektive bis zu einem gewissen Grade offen war, z. B. durch die Möglichkeit des beruflichen oder schulischen "Aufsteigens".

Im Unterschied also zum kommunistischen Angebot einer Identität durch totale Identifikation mit dem Kollektiv und mit der es tragenden Idee konnten die Sozialdemokraten nur die Identifikation mit einer (relativ vagen) Idee ("Sozialismus") anbieten, die viel weniger mit einem Kollektiv (z. B. der SPD) verbunden war. Es war also ein gewisses Maß an Ich-Stärke und Autonomie erforderlich, beides sollte in der solidarischen Gemeinschaft durch die Übernahme wechselnder Funktionen und damit durch das Ausprobieren wechselnder Fähigkeiten erworben werden.

4. Im Unterschied zum bündischen Konzept war das der Sozialisten nicht männerspezifisch, wenn man nicht Politik überhaupt für männerspezifisch hält. Die in den sozialistischen Jugendgemeinschaften vorfindbaren Themen und Regeln des Gemeinschaftslebens mußten per se nicht für Mädchen uninteressant sein. Koedukation war ein Prinzip, das sich aus der gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Frau ergab, von früh an sollte die Gleichberechtigung von Mann und Frau erlebt und praktiziert werden. Für die Kindergruppen war das offensichtlich auch kein Problem. Das änderte sich im Jugendalter.

Neben den üblichen moralischen Bedenken wurden auch grundsätzliche geltend gemacht. Die Frage war, ob Mädchen in den durchweg von Jungen geführten Gruppen zum Zuge kommen könnten, ja, ob die Gleichberechtigung der Frau, also ihre Emanzipation, nicht in eigenen Mädchengruppen besser zu realisieren sei, weil die Mädchen hier nicht in Konkurrenz zu den Jungen stünden und in der Gefahr, sich an diese bloß "anzulehnen", sondern in eigener Verantwortung ihre Gruppe gestalten könnten (Schneider, S.165 ff.; Schult, S. 183 f.).

Eine ähnliche Argumentation fanden wir schon bei den

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Bündischen, dort allerdings verbunden mit traditionellen Rollenklischees. Manches scheint dafür zu sprechen, daß zumindest eine ganze Reihe von Mädchen aufgrund ihrer traditionellen Sozialisation gewohnt war, die Männer entscheiden zu lassen und eher auf eine Paarbeziehung als auf eine Gruppenbeziehung zuzusteuern. Oft gingen sie auch nur "ihres Jungen" wegen mit zur Gruppe.

Josefa Fischer (1933a), eine profunde Kennerin der damaligen Jugendarbeit, weist auf die von den Jungen unterschiedene Interessenlage der Mädchen hin. Das Mädchen bevorzuge nicht die intellektuelle Bildungsveranstaltung, sondern die Erziehungsgemeinschaft, in der es praktisch und mit unmittelbarer Sinnerfüllung tätig sein könne. "Die Interessenskala der weiblichen Jugend" beginne "im Bereich des Menschlich-Religiösen", erreiche "im Politischen" einen "Tiefpunkt", "während Sport und Beruf dazwischen liegen" (S. 20). Mädchen würden "durch die unerfreulichen Methoden des politischen Kampfes abgestoßen".

"Alle politischen Willensäußerungen der Mädchenverbände betonen immer das Verbindende, für die Gesamtheit Notwendige. Sie zeigen eine starke Abneigung gegen Mißbrauch parteimäßiger Machtmittel. Im Allgemeinen läßt sich beobachten, daß die weibliche Jugend, die einmal eine politische Entscheidung getroffen hat, mit fast fanatischem Eifer zu ihrer Entscheidung steht, während sie vor dieser Entscheidung ihrer Natur nach ein weniger bereitwilliges Rekrutenmaterial für die politischen Verbände ist" (S. 12).

Möglicherweise zeigt sich hierin das erlernte Muster der Gattenwahl bzw. der Familiengründung, transponiert auf den politischen Verband.

Interessant sind in diesem Zusammenhang Fischers Hinweise auf die jugendliche Arbeiterin, über die es die ersten Untersuchungen gab (Rada 1931; Franzen-Hellersberg 1932). Ausgerechnet im kommunistischen Jugendverband, wo sie einen Anteil von ca. 15 Prozent gehabt habe, scheint sie eine unbedeutende Rolle gespielt zu haben.

"Die Mädchen entstammen relativ häufig der bürgerlichen Schicht, die jugendlichen Arbeiterinnen sind dagegen erfahrungsgemäß oft Durchgangspublikum im Jugendverband. Wer hier standhält, meint es ernst. Es sind zumeist heroisch eingestellte Mädel von fanatischer Einsatzbereitschaft, die verglichen mit den Jungen in ihrer Mehrzahl eine starke Auslese darstellen" (S. 12 f.).

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Andererseits zeigen die Untersuchungen, "daß für weite Kreise der proletarischen (weiblichen, H. G.) Jugend neben der Schule der Verein der einzigste Ort ist, der sie über den trübseligen Alltag hinausführt, die einzige Quelle geistiger Anregung und innerer Orientierung, die einzige Stelle, an der sie ungehindert jung sein darf. Der Jugendverein schenkt ihr Freuden in der Natur, im Spiel und Lied, um die Gleichaltrige in der gleichen Schicht betrogen werden" (S. 20).

Auf diesem Hintergrund kritisiert Fischer dann die sozialistische und kommunistische Jugendarbeit:

"Die sozialistische Arbeiterjugend kennt nur ein Menschheitsbild, aber kein spezifisch weibliches Vorbild an. Die junge Arbeiterin kämpft in einer Front mit den männlichen Gefährten um den sozialistischen Staat. Die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung wird hier nicht gesehen. Wohl auf diesen Umstand ist es zurückzuführen, wenn in diesen Reihen die Mädelfrage nicht zur Ruhe kommen will. Die stärkere Passivität der Mädchen wird weniger auf die geübten Arbeitsmethoden als auf die angeblich noch nicht überwundenen Minderwertigkeitsgefühle des weiblichen Geschlechts zurückgeführt. Die mangelnde Mitarbeit der Mädchen ist m. E. in der Hauptsache in dem Programm selbst begründet, das durch seine Abstraktheit, seine kämpferischen Forderungen und besonders durch seine materialistische Fundierung mehr den intellektuellen, weniger aber den breiten Kreisen der weiblichen Jugend entspricht. Bei der kommunistischen Jugend treten die weiblichen Belange gegenüber dem gemeinsamen Ziel noch stärker zurück, man erkennt eigentliche Wesensunterschiede zwischen den Geschlechtern nicht an, und sieht ihr momentanes Vorhandensein nicht im Essentiellen, sondern führt es lediglich auf Gewöhnung und Erziehung zurück" (S. 23).

Richtig an dieser Kritik ist sicher, daß der politische Jugendverband vor allem nach dem Ende des "Geistes von Weimar" den Mädchen wenig anbot, was ihnen zu einer spezifischen Identität verhelfen konnte.

Dafür wäre möglicherweise eine eigene "sozialistische Mädchenbewegung" nützlicher gewesen, in der die Mädchen eher hätten lernen können, sich von der erworbenen Fixierung auf den Jungen, auf die Paarbeziehung, auf möglichst frühe Heirat, auf die Rivalität mit anderen "Konkurrentinnen" zu emanzipieren und auch ihren eigenen Zugang zum Politischen zu artikulieren und einzubringen. "Das Politische" jedenfalls konnte nicht das "didaktische Zen-

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trum" ihres jugendlichen Lebens sein, eher war es schon der Beruf oder der Sport, was sich an den verhältnismäßig hohen Mitgliederzahlen zeigt. So hatten die Jugendgruppen des Verbandes der weiblichen Handels- und Büroangestellten (VWA) 24 000 Mädchen, die Jugendgruppen im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) 30 000 und der Arbeiter-Turn- und Sportbund gar 128 000 Mädchen (Fischer, S. 16 ff.).

Die SAJ blieb jedoch beim Prinzip der Koedukation, ließ aber Mädchengruppen zu und bot den Mädchen besondere Veranstaltungen an - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Tatsache, daß die Frauen überwiegend bürgerlich wählten und man sich gezwungen sah, die Arbeiterinnen besser politisch anzusprechen (Schneider, S. 166 f.).

5. Wie schon bei den Bündischen so wurden auch für die SPD diejenigen zum Problem, die der Jugendgruppe entwachsen waren, aber ihr "Moratorium" noch nicht verlassen wollten, sondern noch frei und ungebunden die politischen Sinnfragen weiter verfolgen wollten. Wie das Schicksal der Jungsozialisten zeigt, wurde die Partei damit nicht fertig. Es gelang ihr nicht, einen Spielraum, einen gedanklichen "Experimentierraum" zuzulassen bzw. zu schaffen, in dem eine Kontroverse wie die zwischen den "Hofgeismarern" und den "Hannoveranern" ohne politische Konsequenzen ausgetragen werden konnte. Vielleicht zeigt dies auch einfach die Grenzen eines politischen Verbandes, der ja dazu tendiert, Meinungen als Macht zu sehen, und durch Abstimmungen und organisatorische Maßnahmen sich vor "Abweichungen" zu schützen bzw. - wie in unserem Beispiel - Abweichungen durch Mehrheiten zu definieren. Dieses Problem haben alle politischen Parteien mit ihren Jugendorganisationen bis heute.

Rein formal kann man dieses Problem einfach lösen - und so wurde es auch meistens gelöst - indem man darauf verweist, daß jemand, der die Grundpositionen eines Parteiprogramms verläßt, eben auch nicht mehr Mitglied sein kann. Aber einmal ist die Frage, ob eine politische Partei nicht im eigenen Interesse dafür sorgen muß, daß Impulse aus den nachwachsenden Generationen, die eben dazu neigen, politische Grundprobleme ihrer Zeit neu zu durchdenken, produktiv auf sie einwirken können. Andererseits

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stellt sich die Frage, ob es nicht auch zu den staatspolitischen Aufgaben einer demokratischen Partei gehört, kritisches Potential aus den nachwachsenden Generationen möglichst an sich zu binden, um z. B. politische Radikalisierungen zu verhindern. Dafür war jedenfalls das einfache Organisationsmodell der SPD - erst ist man Mitglied des Jugendverbandes, dann tritt man in die Partei ein - nicht geeignet.

Dieses Modell grenzte auch die inhaltlichen Möglichkeiten der Jugendarbeit erheblich ein, insofern eine Reihe von Freizeitinteressen nicht zur Geltung kommen konnte. Das führte z. B. dazu, daß sich Jugendliche anderen Arbeiterorganisationen anschlossen, was die Einheitlichkeit der sozialistischen Bildungsarbeit auf die Dauer in Frage stellen mußte. Ollenhauer beklagte sich im Jahre 1930:

"Schrebergartenvereine, Arbeiterangler, Arbeiterbriefmarkensammler und ähnliche Organisationen versuchen eine eigene Jugendbewegung ins Leben zu rufen. Diese Organisationen zur Befriedigung spezieller Wünsche und Liebhabereien sollten sich auf ihr enges Arbeitsgebiet beschränken und die Hände von der Jugend lassen" (zit. n. Eberts, S. 147).
 
 

Die Jugendpflege

Die beiden bisher behandelten Formen der Jugendarbeit - die Bündische Jugend und die Arbeiterjugendbewegung - repräsentierten nur eine Minderheit der in Verbänden organisierten Jugendlichen. Nach einer Erhebung des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände (RddJ) im Jahre 1927 waren von etwa 9,1 Millionen Jugendlichen 3,6 Millionen den Verbänden des RddJ angeschlossen, also etwa 40 Prozent. Bei den männlichen Jugendlichen waren es 54 Prozent, bei den weiblichen 26 Prozent. Sie verteilten sich wie folgt auf die einzelnen Verbandsgruppen:

595 000 Evangelische Verbände
881 000 Katholische Verbände
56000 Sozialistische Verbände
401 000 berufsständische Verbände
4000 jüdische Verbände
44 000 politische Verbände
29000 Bündische Gruppen

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1 577000 Verbände der Leibesübungen
544 000 sonstige Verbände (n. Zwerschke, S. 246).

Angesichts dieser Zahlen kann man sich fragen, ob man zumindest seit der zweiten Hälfte der Weimarer Zeit überhaupt noch von einer Jugendbewegung sprechen kann oder nicht besser überhaupt von Jugendarbeit bzw. Jugendpflege sprechen soll. Die "Erfindungen" der Jugendbewegung waren gemacht; was übrig blieb, war eine massenhafte Organisation auf der Grundlage jener Erfindungen. Jugendarbeit war Jugendpflege geworden, veranstaltet von Erwachsenen für Jugendliche. Das gilt auch für die Bünde; Unterschiede bestanden eigentlich nur im Hinblick darauf, wie nah oder fern eine Jugendorganisation einem Erwachsenenverband stand.

In dem Maße, wie Jugend als soziale Gruppe sich von den Determinanten ihrer sozialen Herkunft und zugleich von deren früher ziemlich eindeutigen gesellschaftlichen Perspektiven löste und in eben jenes "Moratorium" geriet, kurz gesagt, wie die familiäre Herkunft nicht mehr bruchlos auch die Zukunft des einzelnen bestimmte, in eben diesem Maße stand das Jugendalter nun für andere Vergesellschaftungen durch andere Erwachsene zur Disposition. Gerade die relative Autonomie des Jugendalters ermöglichte den Zugriff. Der Sohn aus katholischer Familie konnte von den Kommunisten geworben werden, die Tochter aus traditionellem Arbeitermilieu konnte zu einem Jugendverband des "Klassenfeindes" stoßen und für jenes unwiderruflich verloren sein. Die "Selbstbestimmung" mußte Versuche zu ihrer Fremdbestimmung geradezu herausfordern, wollte ein Erwachsenenverband nicht im Hinblick auf den Nachwuchs den kürzeren ziehen. Die Vorkriegsauseinandersetzung um die Arbeiterjugendlichen - ob sie nun für die Arbeiterorganisationen geworben werden konnten oder von bürgerlichen Jugendpflegevereinen - war schon ein Vorspiel davon, allerdings unter verhältnismäßig klarer "Klassenlage" und unter den Bedingungen sehr geringer vertikaler Mobilität. Nun wurde der Kampf der Erwachsenen um die Jugend allgemein, die Selbstbestimmung wird zur Integration benutzt. Gerade die jugendbewegten Erfindungen bieten sich nun zur Manipulation an, ihre "Ritualisierung, die Einschleifung jugendbewegten Lebensstiles zu Dauerformen" ist "Voraussetzung ständiger Be-

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einflußbarkeit und Konditionierung" (Linse 1978, S. 47). Auf diesem Hintergrund müssen auch die Bemühungen der staatlichen Jugendpflege gesehen werden. Wie schon vor dem Kriege, so war der Staat dabei auch jetzt nicht der Initiator, sondern er griff nur Tendenzen auf, die er förderte und unterstützte.

Der schon erwähnte Erlaß von 1911 hatte bereits die Gründung lokaler "Jugendpflegeausschüsse" auf Orts-, Kreis- und Bezirksebene angeregt, um die zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel zweckmäßig verteilen zu können.

Dieses Organisationsmodell wurde für Preußen nun weiter ausgebaut. Die Ausschüsse galten offiziell als "Selbstverwaltungskörperschaften der Jugendpflege" (Becker/Gildemeister, S. 20). Sie hatten keine obrigkeitlichen Befugnisse. Sie konnten sich ihre eigene Satzung geben. Einzige Bedingung war, daß - entsprechend der jeweiligen Verwaltungsebene: Ort, Kreis oder Bezirk - die zuständigen Verwaltungsvertreter ihm angehören mußten. Aber irgendwelche Paritätenregelungen gab es nicht.

Die untere Ebene war der Orts- bzw. Stadtausschuß für Jugendpflege. Ihm gehörten an: der Gemeindevorsteher als Mitglied und Vorsitzender, Vertreter der angeschlossenen Jugendverbände, Kreisjugendpfleger(in), vom Ausschuß selbst vorgeschlagene Einzelpersönlichkeiten und Vertreter der Gemeindevertretung bzw. Stadtverordnetenversammlung. In diese Ausschüsse sollten alle örtlichen Jugendvereinigungen aufgenommen werden, "denen es um ernstgemeinte erzieherische Beeinflussung ihrer Mitglieder auf körperlichem, geistigem und sittlichem Gebiet ... ,um ihre Heranbildung zu deutschen Menschen, verantwortungsbewußten Staatsbürgern und vom brüderlichen Geist und sozialen Gemeinsinn erfüllten Volksgenossen zu tun ist" (Becker/Gildemeister, S. 26 f.). Jugendgruppen dagegen, die "staatsfeindlich eingestellt sind" ("kommunistische und nationalsozialistische Vereinigungen"), oder lediglich politische oder parteipolitische Ziele verfolgen, durften nicht aufgenommen werden. Sie blieben damit auch von staatlichen Vergünstigungen ausgeschlossen. Auch rein lokale Gruppen, die nicht Mitglied eines größeren Verbandes waren, konnten aufgenommen werden

Der Kreisausschuß für Jugendpflege ist ähnlich zusammen-

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gesetzt und hat - für eine größere Region - ähnliche Aufgaben wie der Ortsausschuß. Der Bezirksausschuß ist dem Regierungspräsidenten zugeordnet. "Er vereinigt in sich die freien Verbände, soweit sie Jugendpflege im Sinne der ministeriellen Richtlinien treiben, die Jugendbewegung, die Behörden und Körperschaften, die die Jugendpflege fördern und auf einzelnen Gebieten der Jugendpflege erfahrene Männer und Frauen" (Becker/Gildemeister, S. 31).

Beauftragte des Staates waren die Bezirks- bzw. Kreisjugendpfleger, die die Arbeit der Ausschüsse koordinieren und die Verbindung zu den zuständigen Regierungsstellen herstellen sollten. Zu ihren Aufgaben gehörten unter anderem die Organisation von Fortbildungsveranstaltungen wie überhaupt das Aufgreifen überverbandlicher Aufgaben. Sie waren überwiegend Lehrer; als Bezirksjugendpfleger waren sie meist hauptamtlich, auf der Kreisebene durchweg nebenamtlich - sie erhielten meist nur eine Unkostenpauschale - tätig. Da sie nicht beamtet waren und deshalb auch nicht dem üblichen Behördenreglement unterstanden, konnten sie verhältnismäßig selbständig wirken. Andererseits hatten sie auch keine obrigkeitlichen Befugnisse und waren deshalb im wesentlichen auf ihre persönliche Überzeugungskraft angewiesen. Ein Vorschlag des Städtetages 1928, zumindest für große Städte beamtete Jugendpfleger einzustellen, konnte schon aus finanziellen Gründen nicht realisiert werden. Immerhin stieg die Zahl der Kreis- und Bezirksjugendpfleger in Preußen von 392 im Jahre 1919 auf 1069 im Jahre 1929.

Die Jugendpflegezuschüsse des Staates bestanden aus "Bezirksanteilen" und "Zentralmitteln". Die "Bezirksanteile" wurden den Regierungsbezirken zur selbständigen Verfügung überwiesen. Beihilfen unter 1000 Reichsmark mußten aus diesen Mitteln bestritten werden. Die "Zentralmittel" wurden vom zuständigen Ministerium für Volkswohlfahrt verteilt.

"Zum 15. April, 15. Juni und 15. September jedes Jahres werden dem Minister von den Regierungspräsidenten Vorschläge für Beihilfen aus dem Zentralfond in Form einer Sammelliste nach vorgeschriebenem Muster vorgelegt. Für die Sammellisten hat der Minister eine eingehende Äußerung darüber vorgeschrieben, ob ein Bedürfnis zur Durchführung des geplanten Vorhabens und zur Gewährung einer staatlichen Beihilfe besteht. In jedem Fall ist auch der Betrag der befürworteten Bei-

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hilfe genau anzugeben. Die Einzelanträge sind in der Liste nach Maßgabe ihrer Dringlichkeit geordnet aufzuführen" (Becker/Gildemeister, S.63).

Zu verteilen waren von 1925 bis 1931 an "Beihilfen" jährlich drei Millionen Mark, dazu kamen noch "Darlehen" zwischen 700 000 und 900 000 Reichsmark jährlich. "Beihilfen" konnten im Prinzip alle Träger von Jugendpflegemaßnahmen erhalten, also nicht nur die Verbände, sondern auch die Orts- und Kreisausschüsse selbst. Entsprechende Anträge mußten vom Orts- oder Kreisausschuß - versehen mit einer Stellungnahme von ihm und vom Jugendpfleger - an den Regierungspräsidenten geschickt werden.

Gefördert wurden nicht laufende Kosten, sondern "Einrichtungen" wie Beschaffung, Erweiterung und Instandsetzung von Heimen sowie Beschaffung von Geräten wie Filmgeräte, Nähmaschinen, Musikinstrumente usw.. Personalkosten durften aus diesen Mitteln nicht bestritten werden. Verlangt wurde außerdem durchweg eine angemessene Eigenleistung, die auch in aufgewendeten Arbeitsstunden nachgewiesen werden konnte. Und natürlich gab es auch schon den "Verwendungsnachweis" für die erhaltenen Mittel.

Im Vergleich zur gegenwärtigen Jugendarbeit fällt auf, daß in der Weimarer Zeit die öffentliche Hand keine Personalausgaben finanzierte - und so auch keine pädagogische Professionalisierung initiierte - und verhältnismäßig hohe Ansprüche an die Eigenleistung stellte. Die Bürokratisierung war offensichtlich weniger entwickelt als heute, obwohl gegen Ende der Republik darüber bereits Klagen laut wurden (Ehrhardt 1930).

Das im Jahre 1922 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) hatte für die Jugendpflege wenig praktische Bedeutung. Es war im wesentlichen von den Aufgaben der Jugendfürsorge her konzipiert. Das zu diesem Zweck geschaffene Jugendamt als Basisbehörde sollte zwar nach § 4 auch Jugendpflegeaufgaben wahrnehmen, wobei allerdings die privaten Träger Vorrang hatten. Aber nach der Notverordnung von 1924 bestand für die Träger der Jugendhilfe keine Verpflichtung mehr, die in § 4 bezeichneten jugendpflegerischen Aufgaben durchzuführen.

Das RJWG war jedoch in grundsätzlichem Sinne von Be-

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deutung, insofern es nämlich die Jugendpflege in den Rahmen der Staatsaufgaben einordnete. Im Artikel 119 der Weimarer Verfassung werden Recht und Pflicht zur Erziehung der Kinder "zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" betont. Die "staatliche Gemeinschaft" erhält das Recht zur Überwachung. Und im Artikel 120 heißt es: "Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung zu schützen ... ". Beide Artikel zusammen ergeben, daß der Staat im Bereich der Erziehung nur bewahrend tätig werden kann, legitimiert ist er nur dann, wenn es um die Abwendung von Verwahrlosung geht. Das RJWG führte dieses Prinzip weiter:

"§ 1: Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ... . Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, tritt, unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit, öffentliche Jugendhilfe ein".

"§ 2,2: Die öffentliche Jugendhilfe umfaßt alle behördlichen Maßnahmen zur Förderung der Jugendwohlfahrt (Jugendpflege und Jugendfürsorge)".

Demnach kann Jugendpflege als Teil der öffentlichen Jugendhilfe nur angeboten werden, wenn der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird.

"Jugendpflege ist damit nicht als eine durch die gesellschaftliche Entwicklung allgemein notwendig gewordene Ergänzung der Erziehung in Familie, Schule und Beruf bestimmt worden, sondern deutlich als Ersatzerziehung in besonderen Fällen.

Damit fällt das RJWG hinter die Bestimmungen der preußischen Erlasse von 1911 und 1913 zurück, denn dort war die Jugendpflege als Angebot und Anspruch an die Gesamtheit der jungen Generation verstanden worden. Damit wird Jugendpflege auf eine eng begrenzte prophylaktische Fürsorge reduziert. Sie ist im Sinne dieses Gesetzes nicht mehr allgemeiner öffentlicher Erziehungsbereich, wie das noch in den preußischen Nachkriegserlassen deutlich erkennbar war" (Wedekind, S. 238).

Die Jugendverbände waren damit einverstanden, daß ihre Arbeit nicht unter dieses Gesetz fiel. Der Ausschuß der deutschen Jugendverbände stellte in einer Petition an den Reichstag klar, daß weder "Jugendbewegung", also die von Jugendlichen selbst geleiteten Vereine, noch "Jugendführung", also die durch Erwachsene geleiteten Vereine, unter den Begriff der vorbeugenden Jugendhilfe fallen

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könnten (Wedekind, S. 238). Das sollte unter anderem durch eine begriffliche Änderung deutlich werden: Den Begriff "Jugendpflege" ersetzten die Verbände für ihre eigene Arbeit durch "Jugendführung", davon ausgehend, daß mit "Jugendpflege" nur noch die im RJWG bezeichneten Aufgaben des Jugendamtes zu verstehen seien.

Die Tatsache, daß damit die staatlich zu fördernde Jugendarbeit negativ beschrieben wurde, nämlich als Prophylaxe gegen Verwahrlosung, fiel wegen der Finanznot des Reiches in der Weimarer Republik nicht weiter ins Gewicht, bestimmte aber das Selbstverständnis der staatlichen Jugendpflege bzw. war dessen Ausdruck. Für die Einordnung der Jugendverbände bedeutete dies, daß die Verbände als solche für den Staat nicht interessant waren, sondern nur, insofern sie eine bestimmte, vom Staat erwünschte Tätigkeit ausübten, die als Prophylaxe gegen Verwahrlosung gelten konnte. Andere Tätigkeiten, z. B. politische, die vielleicht den eigentlichen Kern der Arbeit im Selbstverständnis des Verbandes ausmachten, waren für den Staat als solche nicht interessant.

Über den "Geist" der Jugendpflege nach 1918 gibt gleichsam exemplarisch Aufschluß die "Denkschrift des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt über die staatliche Förderung der Jugendpflege in Preußen" (1925). Sie ist deshalb besonders aufschlußreich, weil sie nicht nur in der Form von Erlassen, sondern auch in einer zusammenhängenden Darstellung Ziele und Motive der Jugendpflege nach dem Kriege zum Ausdruck bringt. Sie geht aus von einem neuen "Jugendproblem", das in den letzten Kriegsjahren und in den ersten Nachkriegsjahren entstanden sei.

"Die Beaufsichtigung zu Hause durch den Vater oder die Mutter fehlte in zahlreichen Familien oder wurde immer schwächer, die Betreuung durch Jugendvereine immer schwieriger ... . Dazu kam, daß viele im Berufsleben stehende Jugendliche hohe Löhne bezogen, ehe sie gelernt hatten, mit Geld richtig umzugehen. Sie vergeudeten daher ihre Einnahmen für Näschereien, Tand und Nichtigkeiten. Der Sinn für Einfachheit und Sparsamkeit schwand immer mehr dahin, die allgemeine Moral, besonders auch auf dem sexuellen Gebiete, war schweren Erschütterungen ausgesetzt ... .

Als der Krieg seinen traurigen Ausgang genommen hatte und die Staatsumwälzung das Land in schwerste Wirren versetzte, als blutige Aufstände, Unruhen und Plünderungen an der Ta-

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gesordnung waren und revolutionärer Geist sich allenthalben breitmachte, waren Teile der Jugend nur zu gern bereit, jede Autorität abzulehnen und blindlings denen zu folgen, die ihr schrankenloses Sichausleben predigten" (S. 11 f.).
 

Der Grundtenor ist unüberhörbar: Massenhafte, durch Entwicklungen in der Politik und im Konsumbereich verursachte "Verwahrlosung" droht, gegen die die neue Jugendpflege antreten muß. Im Rahmen dieser Grund-Diagnose sind vor allem folgende Aspekte von Interesse, die in der Denkschrift angesprochen werden.

1. Die Jugendpflege wird begründet durch die nach dem Kriege nötig gewordenen Aufbauaufgaben, die ohne den Einsatz einer "gesunden und starken Jugend" nicht zu leisten seien. Diese Hoffnung auf die Jugend verbindet sich mit der anderen, daß sie in der inneren politischen Zerrissenheit die Einheit des Volkes wahren könne. So heißt es in einem Erlaß vom 17. 12. 1918:

"Die Jugendpflege hat eine ihrer vornehmsten Aufgaben in der Gegenwart darin zu erblichen, daß sie nach Möglichkeit zur Wiederherstellung der inneren Einheit unseres Volkes beizutragen und zu diesem Zweck einen einmütigen, brüderlichen Geist unter der heranwachsenden Jugend zu fördern sucht" (S. 12).

Diese Begründung wird auch in den folgenden Erlassen durchgehalten.

2. Die Denkschrift knüpft an die Vorkriegserlasse an, ohne zu erwähnen, daß diese ja nicht zuletzt zur Zerschlagung der Arbeiterjugendbewegung dienen sollten. Gelobt wird die positive Jugendarbeit, die durch jene Erlasse ermöglicht und leider durch den Krieg unterbrochen worden sei. Deshalb geht das Bestreben des Ministeriums - zunächst des Kultusministeriums, seit dem 1.11.1919 des Ministeriums für Volkswohlfahrt - vor allem dahin, die vorhin erwähnten lokalen Organisationsformen wieder zu etablieren.

3. Die Bindung der Jugendpflege an Werte wie "Vaterlandsliebe" und "deutsches Wesen" blieb aufrechterhalten, verbunden mit dem Hinweis, daß "Parteipolitik" nicht gefördert werden könne. So heißt es in einem Erlaß vom 20. 11.1919:

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"Jede ernstgemeinte Jugendpflege werde ich ohne Ansehen der Religion (Konfession) und der politischen Stellung der Beteiligten gern auf alle mir mögliche Weise, auch durch Beihilfen aus dem meinem Ministerium übertragenen Jugendpflegefonds, zu fördern bemüht sein. Dabei glaube ich im Sinne aller Richtungen und Parteien zu handeln, wenn ich dafür eintrete, daß Parteipolitik von der Jugendpflege ferngehalten wird. Wohl aber kann und soll die Jugendpflege dazu beitragen, daß die deutsche Jugend, einerlei, ob ihre Wiege in der Hütte oder im Schloß stand, dem Vaterland in seinem tiefen Unglück erst recht Liebe und Treue bewahrt und deutsches Wesen hochhält. In ihren Reihen muß brüderlicher Geist walten, der unbeschadet allgemeiner Menschenliebe zunächst in jedem deutschen Volksgenossen den Freund und Bruder zu achten und zu lieben lehrt. Die Jugend soll willig und tüchtig werden, ihre Pflichten gegenüber dem Volksganzen gewissenhaft und in opfermütigem Gemeinsinn zu erfüllen" (S. 13).

Das Interesse des Staates daran, gegenüber den einzelnen Verbänden das "Gemeinsame", das "Gemeinwohl" geltend zu machen, ist neu, so vor dem Ersten Weltkrieg nicht zu finden, und bekommt in der Republik zunehmende Bedeutung. In einer offiziellen Schrift aus dem Jahre 1932 (Becker/Gildemeister 1932) heißt es, "daß die staatliche Förderung der Jugendpflege ihr eigenes Erziehungsideal hat ... die Jugendpflegearbeit des Staates ist nicht nur Pflege der Jugend um der Jugend, sondern Pflege der Jugend um des Volkes willen ... ihm kommt es vor allem darauf an, das Gemeinsame im deutschen Volke herauszustellen und die gemeinschaftsbildenden Kräfte in der Jugend zu wecken und zu pflegen" (S. 3). Erich Weniger versuchte diesen Anspruch pädagogisch umzusetzen mit dem Bild vom "Burgfrieden des Jugendheims": Im Jugendheim dürfe es keine politische Betätigung geben, gerade deshalb könnten sich aber die sonst verfeindeten politischen Gruppen dort treffen und sich bemühen, einander zu verstehen und das Gemeinsame ihrer politischen Wünsche und Vorstellungen zu entdecken. "Hier kann der Staat ... sich darstellen ... als Sachwalter des pädagogischen Willens aller ehrlich arbeitenden Erzieher und des Selbsterziehungswillens der Jugend ... ." (1928, S. 162). Und dem im staatlichen Auftrag tätigen Jugendpfleger war eine solche integrierende Funktion ausdrücklich zugedacht. "Nicht als Vertreter einer Gruppe oder von Interessen, sondern als Hüter und Bewahrer des tiefsten Sinnes der Volksge-

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meinschaft stehen die Kreisjugendpfleger(innen) im Volk" (Becker/Gildemeister, S. 39). Auch die Jugendpflegeausschüsse sollten "die Einzelvereine in ihrer Trennung, Beziehungslosigkeit, Überheblichkeit und Entfremdung zwingen, sich mit den Vertretern anderer Richtungen immer wieder an einen Tisch zu setzen" (Becker/Gildemeister, S. 20).

4. Die Jugendpflege geht unzweideutig vom Erziehungsinteresse des Staates, nicht oder allenfalls in zweiter Linie von den Problemen der Jugendlichen selbst aus. Deren Probleme werden vielmehr von jenem Interesse her definiert. "Verwahrlosung" droht vom Freizeit- und Konsumbereich her, nachdem die traditionellen Sozialisationsfunktionen von Familie, Kirche und Militär nicht mehr ausreichen. Alkohol, Nikotin, Sexualität, Schmutz und Schund und Kino waren die Gegner der Jugendpflege. Sie sollte der Kriminalität und Verwahrlosung vorbeugen durch Aufklärung und durch ihre Gegenangebote.

"Die wirkungsvollste Art, diesen Lastern entgegenzutreten, ist die Gewöhnung der Jugend an Turnen, Spiel, Sport und Wandern und an edle geistige Genüsse (Volkslied, Musik, bildende Kunst, wissenschaftliche Vorträge, Volkstänze, Laien- und Heimatspiele u.a.m.)" (Denkschrift ... , S. 19).

Jugendheime anstelle von Kneipen; gegen die "Flut von Schmutz und Schund in Wort, Bild, Theater und Kino" "mustergültige Theater- und Kinovorstellungen" sowie "billige gute Schriften" und jugendpflegerisches "Wanderkino"; gegen "die bei der Jugend so beliebten modernen Nigger-Tänze, deren Ausführung oft die Grenzen des Wohlanständigen überschreitet", sollen "Volkstänze" in den Wettbewerb treten. In dieser Zeit beginnt der Kampf der Jugendpflege gegen die "Verführung" der Jugend durch das unkontrollierte Freizeit- und Konsumsystem, der nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal zum Hauptinhalt der öffentlichen Jugendarbeit werden sollte.

5. Für die "Pflege der weiblichen Jugend" gab es spezifische Motive, die die Intentionen des "Mädchenerlasses" von 1913 wieder aufgriffen. Im Laufe des Krieges seien Frauen und Mädchen als Ersatz für die Männer in vielen

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Männerberufen tätig geworden, "mochten sie der Wesensart der Frau noch so wenig entsprechen. Die bedauerliche Folge davon war, daß die Mädchen ihrer eigentlichen Bestimmung immer mehr entzogen wurden, daß sie insbesondere sich aller hausfraulichen Betätigung entwöhnten ... . Der Hang, das erworbene Geld für Putz und Tand, auch für Alkohol und Nikotin auszugeben, nahm überhand, leichtsinnige Liebesverhältnisse waren an der Tagesordnung". Dies sei eine "betrübliche Entwicklung". "Denn von der Frau wird es vor allem abhängen, ob unserem Volk ein neuer Aufstieg beschieden ist. Das Mädchen ist als künftige Hausfrau und Mutter dazu bestimmt, Mittelpunkt einer Familie zu werden und Hort guter Sitte und wahrer Sittlichkeit zu sein" (Denkschrift ... , S. 30).

Um der kritisierten Tendenz zu begegnen, wurden spezifische Angebote gemacht und gefördert: Kurse für Spinnen, Weben, Nähen, Flicken usw. sowie allgemeine Haushaltungslehrgänge. Auch durch spezifische Formen der Leibesübungen (z. B. "rhythmische Gymnastik") sollten "gesunde Mädchen herangebildet werden, die dereinst die Mütter gesunder Kinder werden sollen" (Denkschrift ... , S. 39).

6. Die Jugendpflege wird außer in ihrer staatspolitischen Notwendigkeit - Heranwachsen einer "gesunden" Jugend zum künftigen Wohl des Volkes - auch als "vorbeugende" Tätigkeit begründet.

"Die vorbeugende Arbeit, die in der Jugendpflege mit staatlichen Beihilfen geleistet werden kann, stellt werbendes Kapital dar. Die Aufwendungen, die hierfür gemacht werden, ersparen dem Staate ein Vielfaches an Mitteln, die bereitgestellt werden müssen, wenn es sich darum handelt, kranke, verwahrloste oder schon dem Verbrechertum anheimgefallene Jugend in Krankenhäusern, Fürsorgeerziehungsanstalten und Gefängnissen unterzubringen. Gewaltige Summen müssen heute von Staat und Kommunalverwaltungen für diese Einrichtungen mit zweifelhafter Aussicht auf Erfolg aufgebracht werden" (Denkschrift ... , S. 45).

7. Die Jugendpflege soll auf die Dauer möglichst alle Jugendlichen umfassen (S. 46).

Nimmt man diese Aspekte zusammenfassend in den Blick, so lassen sich leicht einige Probleme dieser gewaltig anwachsenden Jugendpflege ausmachen:

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1. Das sogenannte "Subsidiaritätsprinzip" blieb erhalten: Der Staat betreibt keine Jugendarbeit, er fördert sie nur - nicht nur mit direkten Zuschüssen, sondern auch durch indirekte Hilfen wie Fahrpreisermäßigung, Steuernachlässe und indem er preisgünstige Unfall- und Haftpflichtversicherungen ermöglicht. Das schon vor dem Kriege entstandene Problem, wer aus welchen Gründen staatliche Förderung erhalten kann und wer nicht, blieb bestehen. Partikulare politische Bestrebungen - also vor allem parteipolitische - konnten als solche nicht gefördert werden. Deshalb blieben auch die sogenannten »Wehrverbände" von der Förderung ausgeschlossen; ferner konnten solche Organisationen nicht gefördert werden, die erklärtermaßen nicht auf dem Boden der Republik standen, also die kommunistischen und nationalsozialistischen Verbände. Aber die an und für sich förderungsfähigen Organisationen konnten auch nicht einfach als solche gefördert werden, vielmehr mußte es einen öffentlichen Konsens darüber geben, welche ihrer Aktivitäten zu fördern wären. Gefördert werden konnten nur "jugendpflegerische Bestrebungen", und das waren nach dem Erlaß von 1911 "alle Bestrebungen, die der körperlichen, geistigen und sittlichen Stärkung und Weiterbildung der schulentlassenen Jugend dienen".

Aber wie schon vor dem Kriege, so konnte diese offene Formulierung auch jetzt nicht ausreichen. Es mußte deutlicher gesagt werden, was denn nun »förderlich" ist und was nicht. In diesem Zusammenhang ergab sich eine Art von öffentlicher "Sprachregelung", die in der zitierten Denkschrift deutlich zum Ausdruck kommt, und die nur deshalb nötig wurde, weil der Staat etwas finanzierte, was er nicht selber betrieb. Die ideologische Legitimationsgrundlage besteht aus einer Reihe von weithin gebilligten Common-sense-Meinungen (z. B. über die Rolle der Frau) in Verbindung mit den "jugendgemäßen" Erfindungen der Jugendbewegung. Interessant ist dabei zu beobachten, wie sich die Qualität dessen ändert, was kleine, keiner größeren Organisation bedürfende Gruppen für ihre Bedürfnisse erfunden hatten, wenn dies massenhaft und tendenziell für alle Jugendlichen organisiert werden soll.

Die ideologische Legitimation der staatlichen Förderung beruhte nun vor allem auf folgenden Annahmen:

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a) Gegenüber der partikularen Arbeit der Parteien und Verbände wird der gesamtstaatliche Bezug geltend gemacht: Die Jugendpflege mußte als überparteiliche Notwendigkeit begründet werden können. Dies geschah durch die These von der staatspolitischen Zukunftsbedeutung der jungen Generation überhaupt. Das Interesse des Staates an einer "gesunden" Jugend konnte unmittelbar evident erscheinen.

b) Diese positive These implizierte aber notwendig eine negative: Es mußte einen "Feind" geben, der die Jugend "krank" macht, wenn es nicht die Gegenmaßnahmen der Jugendpflege gibt. Dieser Feind durfte kein partikularer sein, der etwa nur von der einen oder anderen Gruppe als Feind betrachtet wurde, sondern er mußte von möglichst allen als solcher gesehen werden. Er fand sich in den modernen Erscheinungen der Freizeit- und Konsumgesellschaft, die als "Verführer" der jungen Generation galten: die Liberalisierung der Sexualität, "Schmutz und Schund" in den Massenmedien und im Amüsiergewerbe, Alkohol und Nikotin. Erstaunlicherweise wurde dieser Feind von den Jugendverbänden von rechts bis links akzeptiert - ohne daß allerdings dessen gesellschaftliche und ökonomische Entstehungs- und Strukturbedingungen analysiert oder gar begriffen wurden. Dieser Feind war ein moralischer, und genau dies war das Problem. Auch die frühe Jugendbewegung hatte ihren Feind, von dem sie sich distanzieren wollte, z. B. die hurrapatriotischen "alten Krieger". Aber des einen Feind blieb immer noch des anderen Freund. In dem Augenblick jedoch, wo der Feind von Staats wegen als allgemeiner, moralisch verwerflicher deklariert wird, wie in den Jugendpflegeerlassen nach 1918 und in der Denkschrift, wird er über kurz oder lang der allgemeinen moralisch begründeten Verfolgung preisgegeben. Nur Volksfeinde können doch ein Interesse daran haben, die Zukunft des Volkes durch Entsittlichung der Jugend zu beeinträchtigen! So hat die staatliche Jugendpflege, gezwungen zur öffentlichen Legitimation, dazu beigetragen, den Boden dafür zu bereiten, daß die "moralischen Verderber" mit einer Minderheit - den Juden - später wirkungsvoll identifiziert wurden.

Der eigentliche Inhalt der Jugendpflege war also der vorbeugende Jugendschutz vor Kriminalität und Verwahr-

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losung. Dieser Begründungszusammenhang kann als eine Art von Topos der Jugendpflege bis in die Gegenwart hinein betrachtet werden. Er hat sich als wirksamste öffentliche Argumentation erwiesen, wenn es darum ging, öffentliches Interesse für die Bestrebungen der Jugendpflege - und damit für die Bedeutung ihrer Träger - zu erwecken, obwohl bis zur Gegenwart strittig bleiben muß, ob jugendpflegerische Maßnahmen tatsächlich nennenswerte vorbeugende Wirkung haben können. Fraglich ist einmal, ob die Jugendpflege und im weiteren Sinne die Jugendarbeit überhaupt die so Gefährdeten wirklich erreicht; ferner, ob sie das, was ihnen fehlt, wirklich anbieten kann, z. B. soziale Integration, Identität und eine lohnende Perspektive.

c) Weniger deutlich als die negative Aufgabenbestimmung ist die positive. Sie wird im Grunde aus der negativen abgeleitet. "Jugendgemäßes Leben", kulturelle Volksbildung und Leibesübungen sind die wesentlichen Stichworte. In ihnen wurden wichtige Momente für die "Gesundheit" der Jugend erblickt, ohne daß dies durch pädagogische Theorien und Konzepte mehr als in Postulaten begründet worden wäre. Dies wäre allerdings auch nach dem Selbstverständnis der staatlichen Förderung Sache der einzelnen Verbände gewesen - abgesehen davon, daß die Jugendforschung noch in den Anfängen steckte (Sprangers "Psychologie des Jugendalters" erschien ein Jahr vor der "Denkschrift"!) und von daher auch noch keine Theorie erwartet werden konnte. Die Jugendpflege in der Weimarer Zeit war eine massenhafte Praxis ohne Theorie, gerechtfertigt durch jugend- und kulturpolitische Prämissen, nicht durch pädagogische. Eine pädagogische Theorie findet sich nicht einmal in dem Artikel "Jugendpflege" von Günther Dehn im "Handbuch der Pädagogik" (Band V) von Nohl/Pallat (1929). Allerdings wird in diesem Artikel deutlich, daß die Ziele der Jugendpflege oft keineswegs mit den Interessen der Jugendlichen übereinstimmten.

"An sich will diese Jugend doch in erster Linie in ihren Vereinen unterhalten werden. Sie will Sport treiben mit Spitzenleistungen und allen Schikanen eines moderne Sportbetriebes. Sie will Theater spielen, sie will Festlichkeiten veranstalten. Es herrscht in jedem Jugendverein so etwas wie ein geheimer Kampf zwischen dem Leiter, der die Jugend dem Vereinsziel zuführen will, und der Jugend, die eben durchaus etwas anderes will, und jeder, der in der Jugendpflege steht, weiß, daß in die

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sem Kampf durchaus nicht immer der Leiter siegt. Es gilt ja doch, die Jugend festzuhalten, und man hält sie fest durch Zugeständnisse an ihre Abwechslungs-, Sensations- und Unterhaltungsbedürfnisse. Es erhält so alle Pflegearbeit leicht etwas Uneinheitliches, Kompromißmäßiges, keineswegs der Idee, die über der Sache steht, Entsprechendes. Das Programm eines Familienabends mit seinen schlechten Theaterstücken, seinen sentimentalen Deklamationen oder gelegentlich sogar Couplets steht manchmal in merkwürdigem Widerspruch zu den hohen Worten der Festansprache" (S. 108).
 
 

Die Konkurrenz der Verbände führte zu einer Angleichung des Angebotes, die geselligen und unterhaltenden Aspekte des "Jugendbewegten" setzten sich durch. Das führte einerseits zur vielbeklagten "Verflachung" der Arbeit, gab aber den jugendlichen Gruppen andererseits auch eine gewisse Autonomie gegenüber den Intentionen der Erwachsenen Die Erwachsenen verloren den Kampf gegen das Vergnügen bei dem Bemühen, möglichst viele Jugendliche "bei der Stange zu halten". Die Freizeitinteressen der Jugendlichen setzten sich durch. "Die Vereine beginnen mit hohen Zielen oder auch mit irgendwelchen politischen Zwecken, und sie enden bei dem 'Vergnügen', dessen Rolle in Stadt und Land ja sattsam bekannt ist" (Weniger 1928, S. 156).

2. Der eben beschriebene, durchaus problematische Konsens der staatlichen Jugendpflege darf jedoch nicht überinterpretiert werden. Die praktische Arbeit geschah in den einzelnen Verbänden, und die waren peinlich auf Nichteinmischung des Staates bedacht. So bot jener Konsens doch einen breiten Spielraum, in dem sich ganz unterschiedliche Gruppen und Verbände bewegen konnten. Das Verbot der parteipolitischen Betätigung erstreckte sich nicht auf die "Weltanschauung"; auch die Sozialisten - die Kirchen ohnehin -konnten in ihrer Jugendarbeit ihre Ideen zur Geltung bringen, ohne von der Förderung ausgeschlossen zu werden. Hinzu kam, daß die Förderung - im Unterschied zum Bundesjugendplan nach dem Zweiten Weltkrieg - damals viel zu gering war, als daß sie die Autonomie der Verbände gegenüber dem Staat hätte gefährden können. Auf dem Höhepunkt der Inflation 1923 und in den letzten Jahren der Republik (Weltwirtschaftskrise) fiel sie ohnehin praktisch aus. Für die unmittelbare Arbeit am wichtigsten waren eher die Fahrpreisermäßigungen, die er-

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heblich vermehrten Jugendherbergen und die lokalen Versammlungsmöglichkeiten (Jugendheime), die überwiegend von den Gemeinden oder den Verbänden selbst bezahlt werden mußten. Andererseits muß gesehen werden, daß die Verbände selbst - zusammengeschlossen im Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände - die Ideologie der Jugendpflege bereits mitbestimmten. Ihr Interesse mußte es z. B. sein, quantitativ zu expandieren und tendenziell alle Jugendlichen zu erfassen. Zum Interesse des Staates an der "Gesundheit" der Jugend kam das Interesse der Jugendpflegeverbände an der öffentlichen Legitimation ihrer Existenz und ihrer Arbeit.

3. Sieht man auf den Geist der Erlasse, so hat die Jugendpflege offensichtlich nicht die Emanzipation der Jugend gefördert, sondern sie umgekehrt wieder stärker an die traditionellen Erziehungsinstanzen zu binden bzw. sie ersatz- oder ergänzungsweise in einem neuen Erziehungsfeld - eben der Jugendarbeit - zu integrieren versucht. Dies kann nicht überraschen, denn die staatlichen Maßnahmen und ihre Begründungen müssen - sollen sie konsensfähig sein - relativ konservativ gehalten sein, "fortschrittliche" Ideen können nur in den Jugendverbänden selbst entstehen. Daß dies nicht geschah, lag nicht am Geist der Erlasse. Je größer die Verbände wurden, je mehr sie einer funktionierenden Organisation bedurften, um so weniger allerdings konnten sie auch Spontaneität und Innovationen dulden oder gar anregen. In dem schon genannten resümierenden Artikel von Dehn scheint die Jugendpflege der Jugendverbände über weite Strecken bereits Teil des Freizeitsystems zu sein, an kommerziellen Leitbildern orientiert, aber preisgünstiger angeboten.

Dabei änderte sich die Bedeutung des "Erzieherischen". Der Staat förderte ja nicht die Vereine als solche, sondern diejenigen ihrer Maßnahmen, die er im Rahmen seines Bewahrungskonzeptes für erzieherisch wertvoll hielt. Dazu aber gehörte z. B. nicht die politische Tätigkeit der Vereine. Inhaltlich war das Erzieherische die Ermöglichung eines jugendgemäßen Lebens einschließlich Sport und Bildungsangebote. Damit aber war das pädagogisch Wertvolle erheblich reduziert, z. B. gerade im Hinblick auf das politische Engagement, das geradezu als Alternative zum

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pädagogischen Engagement gesehen wurde: Wer politisch arbeitete, bekam keine Förderung fürs Pädagogische - obwohl politische Arbeit selbst von hohem pädagogischen Wert sein kann. Die Folge war einerseits eine Diskreditierung von Politik und Parteipolitik, zum anderen aber auch eine gewisse Unehrlichkeit; denn als "Weltanschauung" war die Politik dann doch wieder zugelassen. Ob Völkische oder Sozialdemokraten, sie konnten unter den Maßstäben der staatlichen Jugendpflege sehr wohl ihre politischen Grundpositionen mit staatlicher Förderung in ihrer Jugendarbeit verbreiten, zumal die Bindung an eine Weltanschauung als pädagogisch wertvoll galt. Diese pädagogische Umformung des Politischen zur Weltanschauung ließ die konkreten politischen Realitäten aus dem Blick entschwinden und verstärkte die ohnehin vorhandene Tendenz, politische Fragen zu Gesinnungsfragen zu erheben.

Eine weitere problematische Folge war, daß das Pädagogische inhaltlich fixiert blieb auf eine Art von Teilkultur des Freizeitsystems. In dem Maße nun, wie die Freizeitinteressen der Jugendlichen die Jugendarbeit bestimmten, wurde das "Jugendgemäße" entsprechend umgeformt und das "bewahrende" Interesse der staatlichen Jugendpflege setzte sich durch: Zur Hauptsache wurde, daß möglichst viele Jugendliche überhaupt sich im sozialen Kontrollbereich der Jugendpflege aufhielten, dies wurde zum Sinn der pädagogischen Arbeit.

4. So gering die staatliche Förderung auch war, so begann sie doch Inhalt und Form der Jugendarbeit zu beeinflussen; denn schließlich mußte die "richtige" Verwendung staatlicher Mittel irgendwie "nachgewiesen" werden. Dies sei veranschaulicht an einem Erlaß betreffend "Grundsätze für staatlich unterstützte Jugendwanderungen außerhalb der Schulzeit" vom 7.2.1923. Da werden dem Wandern zunächst einmal Ziele gesetzt, die sich keineswegs von selbst verstehen:

"1. Die Jugendwanderungen sollen dazu beitragen, die Verbindung zwischen den Grenzmarken und dem Mutterlande aufrechtzuerhalten und das Gefühl unlösbarer Zusammengehörigkeit zu stärken....
2. Neben der Stärkung der Vaterlandsliebe, der Förderung der Gesundheit und der Weckung des Naturgefühls ist die durch die

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Anschauung unterstützte Belehrung eine wichtige Aufgabe der Jugendwanderungen. Infolgedessen wird es notwendig sein, die beteiligten Jugendlichen vor Beginn der Reise planmäßig durch Sachkundige über die geographischen, geschichtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse des zu besuchenden Gebietes sorgfältig zu unterrichten" (Denkschrift ... , S. 100 f.).

Dem muß auch das "Verhalten der Teilnehmer" entsprechen.

"Einmal muß unter den Jugendlichen selbst das Gefühl der Zusammengehörigkeit rege sein, andererseits soll ihr Auftreten in der Öffentlichkeit so sein, daß sie überall freudig begrüßt werden. Dazu wird der Gesang schöner Wander- und Volkslieder, die auch vorher einzuüben sind, wesentlich beitragen" (S. 101). Nach Beendigung der Fahrt ist "auf dem Dienstwege" "ein Bericht ... einzureichen, der folgende Angaben enthalten muß: Namen der Führer(innen) und Zahl der Jugendlichen, Reiseplan und Reisedauer, Eisenbahn- und durchschnittliche tägliche Verpflegungskosten, gemachte Erfahrungen und besonders erwähnenswerte Beobachtungen" (S. 102).

Ein Vergleich mit den Wanderungen der frühen Wandervögel zeigt deutlich, welche Veränderungen die staatliche Förderung mit sich brachte.
 
 

Der Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände

Die Jugendpflege bzw. die Jugendarbeit war von Anfang an eine Sache gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, nicht des Staates. Das führte dazu, daß an der Basis, also auf der lokalen Ebene, entweder Träger miteinander konkurrierten, oder auch, daß wenig oder gar keine jugendpflegerischen Angebote vorhanden waren. Der Staat mußte aber schon aus Gründen der wirtschaftlichen Sparsamkeit daran interessiert sein, seine bescheidenen Fördermittel zweckmäßig einzusetzen. Aus diesem Grunde wurden die erwähnten lokalen Jugendpflegeausschüsse gebildet, die die örtlichen Initiativen koordinieren sollten. Die damit schon vor dem Kriege eingeleiteten Veränderungen waren bedeutsam; denn jetzt ging es nicht mehr nur darum, daß ein Jugendverband Mitglieder warb oder auch nicht - wie manche elitäre Bünde - sondern jetzt kam der Gesichtspunkt der Effektivität dazu: Die knappen Mittel mußten so wirksam wie irgend möglich sein und das hieß: möglichst viele Jugendliche zu erreichen. Da war die lokale

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Konkurrenz und Abgrenzung der Verbände ein Hindernis. In dem Maße nun andererseits, wie die Jugendverbände sich überregional organisierten, erhielten sie auch eine andere Qualität, als lediglich für die "eigentliche" Arbeit an der Basis nötig gewesen wäre. Sie erhielten nun eine überregionale, "gesellschaftliche" Öffentlichkeit, der gegenüber sie nicht einfach stumm sein konnten; die früher erwähnten Kampagnen zur "Judenfrage" und zur Homosexualität im Vorkriegs-Wandervogel hatten dies gezeigt. Die Verbände mußten nun ihr "Selbstverständnis" öffentlich begründen und legitimieren. Das geschah unter anderem durch eine Fülle von Zeitschriften und Verbandsblättern. Auf diese Weise entstand aber auch eine eigentümliche Argumentationsebene, die mit dem, was in der Jugendarbeit tatsächlich geschah, nur noch mehr oder weniger zu tun hatte.

Eine weitere Folge war, daß nicht nur die Basis, sondern auch die Spitzen der Verbände koordiniert werden mußten - da sie nun einmal da waren; denn der fördernde Staat brauchte für alle möglichen Regelungen einen gemeinsamen Partner, und umgekehrt war es zweckmäßig, wenn die Jugendverbände gemeinsam ihre Interessen gegenüber dem Staat vertreten konnten. Gleichwohl ging die Initiative zu einem Zusammenschluß eher von einem weniger nüchternen Motiv aus, nämlich von dem Gedanken, eine nationale Repräsentation der ganzen Jugend zu schaffen, was den Freideutschen ja nicht gelungen war.

Initiativ dafür war wieder die schon früher erwähnte Zentralstelle für Volkswohlfahrt, die für die Entwicklung der Jugendpflege vor dem Ersten Weltkrieg viel geleistet hatte. Seit dem Erlaß von 1911 hatte sie acht Jugendpflegekonferenzen veranstaltet, die dem Meinungs- und Erfahrungsaustausch der Verbände dienen sollten, bevor sie im April 1917 über hundert Jugendführer, diesmal einschließlich der bis dahin ausgeschlossenen Arbeiterjugend und einiger Bünde der Jugendbewegung, zu einer zehntägigen Arbeitstagung nach Eisenach einlud. Diese Konferenz bereitete psychologisch die Möglichkeit vor, nach dem Kriege, am 24. 6. 1919, den "Ausschuß der deutschen Jugendverbände" (ab 1926: Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände) zu gründen. Von den Mitgliedsverbänden wurde die Achtung des Weimarer Staates und seiner Organe gefordert, sie mußten mindestens 50 Orts-

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gruppen und mindestens 1000 Mitglieder zwischen 14 und 25 Jahren nachweisen und ihre Aufgabe hauptsächlich darin sehen, die Jugend körperlich, geistig und sittlich zu bilden. Die Autonomie der Verbände blieb unberührt, Beschlüsse konnten nur einstimmig gefaßt werden. Der Ausschuß verstand sich als öffentliche Vertretung der gesamten Jugend und ihrer Bedürfnisse und Interessen. Im November 1932 zählte er 117 Reichsjugendverbände mit insgesamt 4,75 Millionen Jugendlichen (Zwerschke, S.108).

Obwohl der Reichsausschuß nur einstimmige Beschlüsse fassen konnte, entwickelte er ein beachtenswertes sozialpolitisches Programm für die Rechte und Interessen der Jugend, insbesondere der Lehrlinge bzw. erwerbstätigen Jugend, mit dem er sich nachdrücklich in die sozialpolitische Diskussion, z. B. bei Gesetzentwürfen, einschaltete.

Im Jahre 1925 präsentierte er sein sozialpolitisches Programm der Öffentlichkeit:

" 1. Grundsätzliche Ausdehnung der Schutzbestimmungen für die Lehrlinge und die jugendlichen Arbeiter und Angestellten auf das Alter vom 14. bis zum vollendeten 18. Jahre;
2. drei Wochen bezahlte Ferien für erwerbstätige Jugendliche (einschließlich Lehrlinge) unter 16 Jahren und zwei Wochen bezahlte Ferien für erwerbstätige Jugendliche (einschließlich Lehrlinge) zwischen 16 und 18 Jahren;
3. Festsetzung einer Arbeitswoche von höchstens 48 Stunden (einschließlich des Fachunterrichts und der Zeit, die für Aufräumungsarbeiten beansprucht werden könnte);
4. Beginn der sonntäglichen Arbeitsruhe am Sonnabendmittag oder Gewährung eines freien Nachmittags in der Woche;
5. Festsetzung ausreichender Arbeitspausen;
6. Verbot der Nachtarbeit für Jugendliche" (Zwerschke, S.118).
 

Begründet wurden diese Forderungen vor allem mit folgenden Argumenten:

1. Es sei ungerecht, daß die nicht-erwerbstätigen Schüler genügend Schulferien hätten, während die erwerbstätige Jugend keinen Urlaub bekäme.

2. Es müsse Rücksicht auf die Wachstums- und Reifungsvorgänge des Jugendalters genommen werden; zu wenig Freizeit und zu lange Arbeitszeit ohne Urlaub behindere die gesunde körperliche, geistige und seelische Entwicklung.

3. Die Erwerbsarbeit müsse so bemessen und geregelt sein, daß die Bildungs- und Erziehungsbedürfnisse des Jugendalters befriedigt werden könnten.

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4. Arbeit und Freizeit müßten so ausgewogen sein, daß die Jugendlichen ein ihrem Alter entsprechendes jugendgemäßes Leben führen könnten.

5. In dem Maße, wie die Arbeit mechanisiert und damit sinnentleert werde und wenig Möglichkeiten zur Identifikation und Bildung biete, komme der Freizeit eine größere Bedeutung für die Erziehung des Jugendlichen zu; Arbeit sei kein Selbstzweck.

Das waren andere Töne als in der vorhin erwähnten staatlichen Denkschrift. Nicht die Freizeit selbst erschien als Problem, sondern eher ihr Mangel und überhaupt die soziale Situation der erwerbstätigen Jugend. Es kann nicht verwundern, daß Arbeitgeberverbände und Handwerkerinnungen diese Forderungen bekämpften. Die prinzipielle Begründung, daß es um das Wohl der Jugend und demgemäß um das des Volkes gehe, ließ sich jedoch schlecht abstreiten. Deshalb waren die Einwände eher praktischer Art: die Sache sei volkswirtschaftlich nicht tragbar und betriebstechnisch nicht durchführbar; außerdem würde die vermehrte Freizeit von den meisten nicht sinnvoll verwendet werden; nicht Muße, sondern Müßigkeit werde die Folge sein; auch seien nicht genügend Jugendführer und jugendpflegerische Einrichtungen vorhanden; die Jugendverbände müßten erst einmal die Garantie für eine vernünftige Verwendung der Freizeit übernehmen, bevor ihre Forderungen erfüllt werden könnten.

Aber die Forderungen des Reichsausschusses wurden von anderen Organisationen aufgegriffen. Es gelang dem Ausschuß, eine breite öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Den Höhepunkt erreichte die Öffentlichkeitsarbeit mit der Ausstellung "Das junge Deutschland", die vom 12. 8. bis 25. 9.1927 im Schloß Bellevue in Berlin stattfand und anschließend als Wanderausstellung durch Deutschland zog. Ein Jahr vorher war es dem Ausschuß gelungen, während einer Tagung in Berlin 29 weitere Organisationen zur Unterstützung seiner Forderungen zu gewinnen. In einem gemeinsamen Aufruf heißt es:

"Für die Freizeit der Jugend

Die unterzeichneten Organisationen haben sich in Berlin am 4. Februar 1926 im Plenarsitzungssaale des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates zu einer gemeinsamen Kundgebung für die Freizeit der Jugend zusammengeschlossen.

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Die unterzeichneten Organisationen haben es als ihre Pflicht betrachtet, das deutsche Volk, seine Reichsregierung und seine Landesregierungen, alle Träger der öffentlichen und freien Volkswohlfahrt sowie die deutsche Arbeitgeberschaft nachdrücklich und einmütig auf die schweren gesundheitlichen, erzieherischen und volkswirtschaftlichen Gefahren hinzuweisen, die der erwerbstätigen Jugend aus dem Mangel an Freizeit erwachsen. Sie halten es zur Abwehr der Gefahren für dringend notwendig, daß alsbald gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden, die den erwerbstätigen und in der Berufsausbildung stehenden Jugendlichen eine ausreichende tägliche Freizeit und einen ausreichenden jährlichen Urlaub gewähren. Überzeugt von dem Rechte der Jugend auf ein jugendhaftes Leben und überzeugt von der Tatsache, daß eine unzureichende Freizeit der Jugend die Erhaltung der deutschen Volkskraft gefährdet und einen Raubbau an dem Volksteile darstellt, von dem wir erst in Zukunft Leistungen erwarten müssen, überzeugt von diesen Tatsachen ersuchen wir die Reichsregierung, die Landesregierungen, die deutschen politischen Parteien und die deutsche Öffentlichkeit, sich für eine gesetzliche Erfüllung der folgenden Forderungen einzusetzen:

1. Grundsätzliche Ausdehnung der Schutzbestimmungen für die Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter und Angestellten auf das Alter vom 14. bis zum vollendeten 18. Jahre;
2. 3 Wochen bezahlte Ferien für erwerbstätige Jugendliche (einschließlich Lehrlinge) unter 16 Jahren und 2 Wochen bezahlte Ferien für erwerbstätige Jugendliche (einschließlich Lehrlinge) zwischen 16 und 18 Jahren;
3. Festsetzung einer Arbeitswoche von höchstens 48 Stunden (einschließlich des Fachunterrichts und der Zeit, die für die Aufräumungsarbeiten beansprucht werden könnte);
4. Beginn der sonntäglichen Arbeitsruhe mit Sonnabend-Mittag oder Gewährung eines freien Nachmittags in der Woche;
5. Festsetzung ausreichender Arbeitspausen;
6. Verbot der Nachtarbeit für Jugendliche.
Wir sind überzeugt, daß die Erfüllung dieser Forderungen der deutschen Volkswirtschaft nicht zum Nachteile, sondern vielmehr zum Vorteile wirkt, da eine ausreichende Freizeit die Jugendlichen an Leib und Seele zu kräftigen und dadurch ihre Arbeitsfreudigkeit und Leistungen zu heben vermag.

Wir unterzeichneten Organisationen werden uns mit allen Mitteln und durch Schaffung geeigneter Einrichtungen dafür einsetzen, daß die Jugendlichen ihre Freizeit förderlich verbringen" (zit. n. Zwerschke 1963, S. 262 f.).
 

Zur Vorbereitung der Ausstellung hatte der Reichsausschuß eine umfangreiche statistische Erhebung über die Aktivitäten der Jugendverbände, aber auch über die Lage der erwerbstätigen Jugend machen lassen, um die Berechtigung seiner Forderungen wissenschaftlich zu untermauern. Diese,

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erst 1929 vollständig veröffentlichte Erhebung (Mewes), hatte unter anderem folgende Ergebnisse:

1. 63 Prozent der befragten Jugendlichen arbeiteten bis zu 48 Stunden in der Woche, 9 Prozent mehr als 60 Stunden. In kleinen Gemeinden und auf dem Lande war die Arbeitszeit wesentlich länger: In Gemeinden unter 5000 Einwohnern mußten fast zwei Drittel der Jugendlichen über 60 Stunden arbeiten, in der Großstadt nur 8 Prozent (S.54).

2. 41,7 Prozent der Befragten hatten Sonnabends bis 14 Uhr Arbeitsschluß, 11,3 Prozent erst nach 7 Uhr abends. Im einzelnen: 73 Prozent der Jugendlichen in den gewerblichen Großbetrieben hatten bis 14 Uhr Feierabend, in den Mittel- und Kleinbetrieben arbeiteten 28 Prozent bis 14 Uhr und noch 12 Prozent nach 19 Uhr abends. Bei den kaufmännischen Berufen (u. a. Ladengeschäfte und Warenhäuser) arbeiteten nur 30 Prozent bis 14 Uhr, aber noch 21 Prozent nach 19 Uhr. Auch hier waren die kleinen Gemeinden am meisten benachteiligt, hier hatten nur 14 Prozent ab 14 Uhr Feierabend.

3. Die tägliche Arbeitszeit war durchweg länger als 8 Stunden und reichte bis zu 11 Stunden (S. 69 ff.).

4. 23 Prozent der Jugendlichen hatten keinen Urlaub, 16 Prozent bis 3 Tage, 8 Prozent 4 -5 Tage, 38 Prozent 6-8 Tage, 4 Prozent 9-10 Tage, 2 Prozent 11-14 Tage und 4 Prozent über 14 Tage. Fast der Hälfte der Jugendlichen, denen Urlaub gewährt wurde, wurde auch der Lohn weitergezahlt (S. 88 f.).

Diese Daten konnten die sozialpolitischen Forderungen des Reichsausschusses nur untermauern. Allerdings blieben diese von nur moralischer Bedeutung, denn bis zum Ende der Republik wurde keines der entsprechenden Gesetze verabschiedet - im Unterschied zu anderen Gesetzen, die die Jugendlichen vor Verführungen des Freizeitlebens schützen sollten.

Bereits 1920 wurde das "Lichtspielgesetz" verkündet. Danach durften Filme nur vorgeführt werden, wenn sie von einer der beiden Prüfstellen in Berlin und München ge-

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nehmigt worden waren. Filme für Kinder über 6 Jahren und für Jugendliche bis zu 18 Jahren bedurften einer besonderen Zulassung. Bei den Filmen, die für Jugendliche zugelassen werden sollten, mußten Jugendliche zwischen 18 und 20 Jahren als Sachverständige gehört werden, Begründung: die Jugend habe sich als führend im Kampf gegen minderwertige Filme erwiesen.

Im Jahre 1926 wurde das "Schund- und Schmutzgesetz" verkündet. Danach wurden auf Antrag der obersten Landesbehörden und Landesjugendämter durch zwei Prüfstellen in Berlin und München Schund- und Schmutzschriften in eine Liste aufgenommen. Eine Definition von "Schmutz und Schund" gab das Gesetz allerdings nicht. Die Prüfer sollten aus Kunst, Literatur und Buchhandel kommen und aus der Jugendwohlfahrt und den Jugendorganisationen. Eine indizierte Schrift unterlag erheblichen Vertriebsbeschränkungen, besonders für Jugendliche unter 18 Jahren. Ein 1922 entstandener Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Jugend bei Lustbarkeiten wird nicht mehr verabschiedet. Danach sollte Jugendlichen unter 18 Jahren Besuch und Beschäftigung bei öffentlichen Lustbarkeiten und Darbietungen untersagt oder beschränkt werden, wenn sittliche, geistige oder gesundheitliche Schädigung droht. Hatte der Reichsausschuß die beiden anderen Gesetze unterstützt, so lehnte er dieses ab. Er forderte statt dessen Unterstützung und Förderung der freien Jugendpflege und die Schaffung eines Jugendarbeitsschutzgesetzes (Hasenclever, S. 93 ff.)

In den letzten Jahren der Republik traten im Zuge der Wirtschaftskrise andere Probleme in den Vordergrund, vor allem das der massenhaften jugendlichen Arbeitslosigkeit. Im März 1931 gab es bereits ca. 732 000 jugendliche Arbeitslose. Anfang 1932 gab es ca. 100 000 Volksschüler und 20 000 Realschüler, die keine Lehrstelle bekamen, und von 40 000 Abiturienten konnten nur 10 000 studieren. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (RAA) gab zum 30.7. 1932 die Zahl der 15- bis 25jährigen Arbeitslosen mit 1 036 696 an (Schley, S. 102). Diese Massenarbeitslosigkeit traf die Gruppen der Jugendverbände unmittelbar; teilweise war mehr als die Hälfte der Mitglieder arbeitslos; die öffentlichen Mittel wurden erheblich reduziert; die Vereine mußten sich finan-

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ziell einschränken wie nie zuvor. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bzw. ihrer Folgen wurde zum Hauptthema der Jugendverbände und auch des Reichsausschusses. Dieser schlug den zuständigen Stellen unter anderem vor, "Ortsausschüsse für Erwerbslosenhilfe" zu gründen, denen alle einschlägigen Institutionen wie Arbeitsamt, Jugendamt, Berufsschulbehörde, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Wohlfahrtsverbände und Jugendverbände angehören sollten. Diese Ausschüsse sollten vor Ort die Hilfen für jugendliche Arbeitslose effektiv und koordiniert organisieren, z. B. Freizeit- und Bildungsveranstaltungen sowie berufliche Fortbildung anbieten. Soweit möglich sollten auch Arbeitsplätze und Lehrstellen vermittelt werden. Die organisatorischen Teile des Vorschlags wurden von den zuständigen Ministerien zwar akzeptiert, die dafür nötigen Mittel aber nicht zur Verfügung gestellt.

Gemeinsam mit drei weiteren Dachverbänden legte deshalb der Reichsausschuß im Januar 1932 unter dem Motto "Umbau - nicht Abbau" dem Innenminister ein "Notprogramm der Jugendhilfe" vor. Es enthielt eine Reihe von Vorschlägen und Forderungen, die dann weitgehend im "Notwerk der deutschen Jugend" realisiert wurden, das Reichspräsident und Reichsregierung am 24. 12. 1932 verkündeten. Nun wurden auch Mittel zur Verfügung gestellt: 9 Millionen Reichsmark.

Zweifellos hatte der Reichsausschuß an der Etablierung dieses "Notwerkes" erheblichen Anteil - sowohl durch seine unermüdliche Kritik der Sparmaßnahmen, die er gerade bei der arbeitslosen Jugend für verfehlt hielt, wie auch durch seine konstruktiven Vorschläge. Aber das "Notwerk" kam - inen Monat vor der "Machtergreifung" - zu spät für den Weimarer Staat.

Inzwischen war eine weitere Maßnahme zur Bekämpfung der jugendlichen Arbeitslosigkeit ins öffentliche Interesse gerückt: der "Freiwillige Arbeitsdienst" (FAD). Die Idee dazu kam von den Bündischen. Die Deutsche Freischar z. B. führte solche Arbeitslager schon seit 1925 durch, seit 1929 als sogenannte "Volkslager" mit Arbeitern, Bauern und Studenten. In diesen Lagern sollte die Idee der bündischen Erziehungsgemeinschaft als "Volksgemeinschaft" gelebt und erlebt werden. Vormittags wurde sechs Stunden gearbeitet, der Rest des Tages war vorgesehen für Diskus-

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sionen, Kulturprogramme und musische Veranstaltungen. Wichtige Prinzipien waren Freiwilligkeit und Selbstverwaltung durch die Teilnehmer.

Durch Notverordnung des Reichspräsidenten vom 5.7.1931 wurde die RAA mit der Förderung des FAD betraut (Schley, S.122 ff.). Gefördert werden konnten Arbeitsmaßnahmen, die einerseits gemeinnützig waren, andererseits in absehbarer Zeit sonst nicht erledigt werden würden. Diese Einschränkung sollte verhindern, daß der FAD zur Konkurrenz für den Arbeitmarkt wurde. Parteipolitische oder staatsfeindliche Tätigkeit war verboten. Die Teilnahme war freiwillig, d. h. die Unterstützung wurde bei Nichtteilnahme nicht entzogen. Der FAD sollte "Arbeitslosen, insbesondere solchen jugendlichen Alters, ermöglichen, ihre brachliegende Arbeitskraft ... in selbstgewählter ernster Gemeinschaftsarbeit ... zu betätigen und aus der Arbeit selbst sowie durch nebenhergehende Bildungsmaßnahmen körperliche und geistige Schulung zu empfangen" (Schley, S.123 f.) - so hieß es in den Richtlinien.

Die Freiwilligkeit des Arbeitsdienstes war nicht unumstritten. Schon im Januar 1931 fand beim Reichsarbeitsminister ein Gespräch zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Reichsausschuß statt über die Möglichkeiten einer Arbeitsdienstpflicht. Damals lehnte der Reichsausschuß sowohl den Pflichtdienst wie auch den FAD ab, außerdem stellte sich heraus, daß ein Pflichtdienst nicht zu finanzieren gewesen wäre. Die Ablehnung auch des FAD durch den Reichsausschuß dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, daß die einzelnen Jugendverbände in diesem Punkt äußerst unterschiedliche Positionen hatten. Extreme rechte Gruppen traten für einen Pflichtdienst ein, die Bünde für einen freiwilligen Arbeitsdienst, die sozialistischen Gruppen waren aus grundsätzlichen Erwägungen (z. B. "Ausbeutung") gegen beide Varianten. Nachdem die Politiker sich dann für den FAD entschieden hatten, konnte der Reichsausschuß sich auf die Prinzipien der Ausgestaltung des FAD konzentrieren.

Der FAD war ein großer Erfolg. Innerhalb des Jahres 1932 stieg die Zahl der in entsprechenden Projekten Arbeitenden von ca. 14 000 im Januar auf mehr als 285 000 im November (Schley, S. 127).

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Der Reichsausschuß setzte sich nun für eine Verbesserung der vorhandenen Regelungen ein. Er wollte aus dem FAD ein nach den Prinzipien der Jugendbewegung und Jugendführung gestaltetes Erziehungsfeld machen, das zwar aus der Not der Arbeitslosigkeit entstanden war, aber mehr sein sollte als bloß eine Art von Beschäftigungstherapie. Im Juli 1932 wurden neue Regelungen für den FAD eingeführt, die die Forderungen des Reichsausschusses in erheblichem Maße erfüllten. Förderungswürdig waren nun alle Personen unter 25 Jahren, so daß prinzipiell alle Jugendliche (z. B. auch Bauern und Studenten) teilnehmen konnten. Ferner wird die geistige und sportliche Bildung stärker betont und die Schulung von geeigneten Führern ermöglicht. Organisatorischer Ausdruck dieser "Pädagogisierung" war, daß der FAD nun nicht mehr in die Kompetenz der RAA, sondern in die eines dem Reich unterstellten "Reichskommissars" fiel.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in der Weimarer Republik sich eine Struktur der Jugendarbeit entwickelt hatte, die aus drei Ebenen bestand:

1. Die Jugendverbände mit unterschiedlicher innerer Struktur und Zielsetzung.

2. Die staatliche Jugendpflege, die die Arbeit der "freien Träger", also auch der Jugendverbände, förderte, und zwar nach den Prinzipien der "Subsidiarität", wobei diese unterschiedlich begründet wurde. Während die Träger sie als grundsätzliches Regulativ im Verhältnis zwischen Staat und Trägern ansahen, begründete die Administration sie eher von der Kostenersparnis her.

3. Die dritte Säule war die gemeinsame Organisation der Jugendverbände auf Reichs- bzw. Landesebene. Auf diese Weise konnten sie als Partner der Administration auftreten und dabei ihre eigenen Interessen wirkungsvoll zur Geltung bringen.

4. Damit war eine Organisationsstruktur entstanden, die nicht ohne Konflikte bleiben konnte. In der Weimarer Zeit allerdings kamen sie wegen der allgemeinen sozialen und

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wirtschaftlichen Nöte und wegen der relativ geringen finanziellen Förderung nicht zum Ausbruch. Bemerkenswert ist jedoch, daß jede dieser Organisationsebenen ihr eigenes Selbstverständnis entwickelte, also öffentlich vertretbare und auch öffentlich erwartete Aussagen zu den Stichworten Jugend-Gesellschaft-Staat machte. Die Bünde und Verbände setzten sich Ziele, mit denen sie Jugendliche warben und die "eigentliche" Jugendarbeit an der Basis organisierten. Die staatliche Förderung mußte, wie wir am Beispiel der "Denkschrift" sahen, zur Rechtfertigung ihrer Tätigkeit einen entsprechenden Begründungszusammenhang aufbauen, in dessen Mittelpunkt die These von der Identität von gegenwärtigem Jugendwohl und künftigem Staatswohl stand. Die Jugendverbände gemeinsam schließlich fanden ihr Selbstverständnis mit der Formel, daß sie die gemeinsamen Interessen und Bedürfnisse aller Jugendlichen gegenüber Staat und Öffentlichkeit zu vertreten hätten.

Betrachtet man diese aufwendige Organisationsstruktur und ihre Ideologien einmal aus der Perspektive der Jugendlichen an der Basis, also in den Gruppen, die da einen Aufenthaltsraum für ihre Heimabende brauchten und am Wochenende und in den Ferien (so vorhanden) "auf Fahrt gehen" wollten, so muß dieser Aufwand als geradezu gigantisch erscheinen. Gewiß bedürfen jugendpolitische Maßnahmen wie die sozialpolitischen Initiativen des Reichsausschusses einer entsprechenden politisch bedeutsamen Organisation. Aber erstens waren diese Maßnahmen gar nicht das vorherrschende Motiv für die Entstehung des Reichsausschusses, sondern eher sein Ergebnis, und zweitens muß man sich fragen, ob die politische Vertretung der Interessen des Jugendalters wirklich auf Dauer in dieser Weise erfolgen kann; denn schließlich sind diese Vertreter Erwachsene, die weder als gewählte Parlamentarier noch als Gewerkschaftler dafür ein Mandat bekommen hatten - schon gar nicht von den Jugendlichen an der Basis.

5. Nicht nur Erwachsene als Personen - wie besonders deutlich bei den Bünden - sondern auch Erwachsene als Repräsentanten von neuentstandenen Institutionen machen das Wohl und die Interessen Jugendlicher zur zentralen Grundlage ihrer eigenen Existenzberechtigung, so

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daß jenes von einem bestimmten Punkt der Entwicklung an eher Anlaß als wirklicher Inhalt des eigenen Handelns ist. Am Ende der Republik erscheint also die durch Faktoren des sozialen Wandels hervorgerufene Freisetzung der Jugendphase - zunächst für die nicht-erwerbstätige Jugend entstanden, für die anderen als wünschenswert gefordert - als ambivalentes Phänomen: einerseits als Chance für gesteigerte Möglichkeiten des Pubertätserlebnisses, andererseits als eine vorher nie gegebene Chance zur ideologisch prinzipiell beliebigen Integration und Manipulation von Jugendlichen. Welche Seite überwiegt, scheint vor allem von der integrativen Kraft der unmittelbaren Lebenswelt und ihrer Normen und Perspektiven abzuhängen. Je mehr die Jugendlichen als isolierte Individuen ohne verbindliche soziale Kontexte leben müssen, um so disponibler für "Erfassungen" scheinen sie zu sein. Vielleicht erklärt dies zu einem guten Teil auch den quantitativen Erfolg der Jugendarbeit in der Weimarer Republik. Immerhin aber blieben mindestens 60 Prozent der Jugendlichen diesen Angeboten fern.

6. Die Jugendarbeit war bereits Teil des Freizeitsystems geworden - nicht nur in dem Sinne, daß die "jugendgemäßen Erfindungen" wie das Wandern schon einen sehenswerten Konsummarkt abgaben. Vielmehr wurden auch die Erwartungen der Jugendlichen vom Vergleich zwischen "normaler" Freizeitmöglichkeit und den besonderen Angeboten der Jugendarbeit bestimmt - sei es, daß wie in der "Denkschrift" die übliche Freizeit als negatives Gegenbild gesehen wurde, sei es, daß die Angebote der Jugendarbeit einfach attraktiver waren. Welcher Jugendliche konnte z. B. verreisen, wenn nicht mit einer Jugendgruppe?

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