Hermann Giesecke
Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend
München: Juventa-Verlag 1981Teil III: Integration gegen Autonomie und Bindung: Die Hitlerjugend
© Hermann Giesecke
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis von Teil III III. Integration gegen Autonomie und Bindung:
Die Hitlerjugend .
Politisch-kulturelle Hintergründe
Die "Kampfzeit-HJ"
Die HJ als Staatsjugend
HJ-Erziehung
Politisch-kulturelle HintergründeDie viel diskutierte Frage, warum die Nationalsozialisten an die Macht kamen und wer dies hätte verhindern können, kann hier nicht im allgemeinen erörtert werden. Allenfalls einige Hinweise lassen sich dafür aus dem begrenzten Aspekt unseres Themas geben. Um die weitere Entwicklung verständlich machen zu können, sind jedoch wieder einige allgemeine Bemerkungen zur politisch-kulturellen Gesamttendenz nötig, in der sich die Jugend und ihre Organisationen damals befanden und auf sie so oder so reagieren mußten.
1. Die seit 1929 herrschende Weltwirtschaftskrise hatte für die Mittelschichten wie für die Arbeiterschaft verheerende Folgen. Massenarbeitslosigkeit und wegen der Finanznot des Reiches geringer werdende Arbeitslosengelder führten nicht nur zu wirtschaftlichem und sozialem Massenelend, sondern auch zum moralischen Verfall. Die Bereitschaft zu kriminellen und politischen Gewalttaten nahm zu, zumal, je länger die Krise dauerte, um so weniger Aussicht auf Besserung bestand. Das galt insbesondere auch für die jugendlichen Arbeitslosen. Die Loyalität der Bevölkerung zum Weimarer Staat, die selbst in den guten Jahren der Republik nur schwach ausgebildet war, wurde insbesondere bei den Mittelschichten und beim unteren Proletariat immer geringer, weil diesem Staat bzw. seinem "System" die Schuld für das Elend gegeben wurde, oder er zumindest als unfähig angesehen wurde, die Lage in den Griff zu bekommen. Der Loyalitätsverlust zeigte sich insbesondere im Anwachsen der radikalen, auf den Sturz der Republik zielenden Parteien KPD und NSDAP und im Rückgang der sogenannten "bürgerlichen Parteien". Die Auseinandersetzungen wurden auf den Straßen und in Versammlungssälen ausgetragen, durch Aufmärsche und Gegenaufmärsche und durch Gewalttaten, die zu einem
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beherrschenden Stilelement der "politischen Kultur" wurden. Zwar waren es die beiden radikalen Parteien, vor allem die Nationalsozialisten, die den anderen diesen Stil aufzwangen, aber sie konnten damit ja nur deshalb Erfolg haben, weil sie bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung auf Zustimmung stießen; die latente Gewaltbereitschaft war erheblich größer als die Zahl der Täter.
2. In diese zunehmende Militarisierung und Polarisierung wurde auch die junge Generation verwickelt. Selbst die unpolitischen oder doch parteipolitisch neutralen Jugendverbände wie die Bünde sahen sich seit etwa 1930 durch das politische Engagement ihrer Mitglieder unter Druck gesetzt, und nicht wenige ihrer Mitglieder wandten sich den radikalen Parteien und ihren Jugendorganisationen zu. Dabei spielte eine Rolle, daß zumindest die Jugend der Mittelschichten gegen Ende der Republik sich in einem neuen Generationstyp präsentierte.
Auf der Führertagung des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände 1928 in Homburg wurde über die "geistige Formung der Jugend unserer Zeit" (Maass 1931) diskutiert. Die Eindrücke und Beobachtungen der versammelten Führer und der Referenten stimmten weitgehend überein: Die neue Jugend, geprägt von Krieg und den Nöten der Nachkriegszeit, war nicht mehr "bewegt", sie war eher angepaßt, emotional kühl und distanziert, ohne tiefgehende geistige Interessen, aufs Praktische und Konkrete gerichtet, zugewandt der modernen Technik, der Arbeitswelt, den Massenmedien und den konventionellen Geselligkeitsstandards, also z. B. den modernen Gesellschaftstänzen, nicht mehr dem Volkstanz.
"Lebensbestand und Lebenserhaltung dieser Jugend waren in der Zeit ihrer Kindheit und Reife ... bedroht, leiblich, geistig, seelisch. Lebenssicherheit war ihnen ein unbekannter oder früh angezweifelter Begriff, 'Unordnung und frühes Leid' umso vertrauter, als in die Zeit der Bewußtwerdung Bürgerkrieg, Inflation, Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Berufsnöte fielen. Wie eine Reaktion und Selbsthilfe der Natur wirkt nun das, was sich bisher zu menschlichen Zügen dieser neuen Jugend gebildet und verdichtet hat: Jene instinktive Neigung und Fähigkeit, zunächst den äußeren Lebensstandard zu sichern und zu mehren; jenes Ergreifen des Nächstliegenden, die Abkehr von der Ferne; jener starke Sinn für Distanzierung, die in Kindheit
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und früher Jugend als Sicherung des Ich erprobt worden ist; jenes Abweisen von Erschütterungen, von gefühlsmäßiger Ergriffenheit, die man sich nicht leisten kann und zumuten darf, weil sie den Druck, unter dem man ohnehin schon lebt, nur noch verstärken; jenes Vermögen, Lebensfragen neutralisieren zu können, Fragen, deren Glaubwürdigkeit und Gültigkeit zwar bezweifelt, aber auch nicht verneint werden, Fragen, die man harmlos und ohne innere Belastung beiseite schiebt oder zurückstellt, als ob sie einen gar nichts angingen ..." (Maass, S. 1 ff.)
Beherrschend ist das Gefühl der Einsamkeit in der Masse. "Wir sind ein einsames Geschlecht, auch wo wir mitten in der großen Menge stehen. Dem widerspricht auch nicht, daß wir uns willig in Gemeinschaften einordnen; das ist nur das Äußere. Im Innern sind wir immer ganz allein", so heißt es in einem damals vielbeachteten Buch von Frank Matzke (1930, zit. n. Maass, S. 11). Wilhelm Flitner (1931) erklärt dieses Lebensgefühl in seinem Referat auf der Führertagung mit dem Prozeß der Verstädterung, der die Menschen loslöst von ihren Gemeinschaften, sie dafür mit dem "Gerät" des technisch-zivilisatorischen Fortschrittes umgibt:
"Je mehr man sich mit diesem Gerät umgibt, umso mehr wird man aus einem ländlichen zum städtischen Menschen, umso größer wird die Distanz zum Nebenmenschen, umso unabhängiger der einzelne. Die neuen Abhängigkeiten, in die er als die Nummer in einer Masse gerät, scheinen ihm besser als die Abhängigkeit, die er als Glied einer Familie, eines patriarchalischen Wirtschaftsbetriebs, als Nachbar in einer Gemeinde, hatte ... . So werden alle vom Schicksal ihrer Gemeinschaften freigemacht und an ein planetarisches Weltschicksal gebunden" (S. 28).
Hatte die bürgerliche Jugendbewegung gerade gegen das Technische, Rationelle und Rechnerische der modernen Gesellschaft sich gewandt und die Romantik alter "Gemeinschaften" dagegen beschworen, so identifizierte sich diese Generation gerade umgekehrt mit dieser Gesellschaft und entsagte allen romantischen Träumen. Aber diese anti-intellektuelle Haltung, der Verzicht auf jedes "Problematisieren" machte in Verbindung mit der trostlosen wirtschaftlichen und sozialen Perspektive auch anfällig für radikale Verführung. Erich Weniger glaubte in seinem Referat auf der Führertagung feststellen zu können, daß es die Radikalität als Einstellung war und nicht das überzeugte
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und durchdachte Eintreten für politische Konzepte und Ziele, die die Verführbarkeit ausmachte.
"Die wirtschaftliche Lage mit ihrer Existenzunsicherheit, die Aussichtslosigkeit der meisten Berufswege, die Fragwürdigkeit der gesellschaftlichen Stellung, alles das führt in der Jugend einen Zustand herbei, dessen Ausdruck die radikale Betätigung ist. Es wäre also ganz falsch, die in den Radikalismen vorgegebenen Willensrichtungen ohne weiteres als die bewegenden Tendenzen der radikalen Jugend zu nehmen und an sie anzuknüpfen. Sie gehören lediglich zu den Symptomen unserer Lage. Die wirkliche Willensrichtung dieser Jugend geht in ganz andere Richtung; auf Selbstbehauptung im Daseinskampf und auf Anteil an den Gütern des Lebens, und weil zu ihnen der Zugang gesperrt ist, sucht und findet man Befriedigung in radikaler Ideologie und Betätigung. Es hat darum Radikalismus als Massenbewegung geistig noch nie so wenig bedeutet wie heute, so viel er auch für den Augenblick verderben kann" (Weniger 1931, S.44 f.).
Weniger fordert die Jugendverbände - und darüber hinaus alle Erzieher - auf zum "Abbau des Radikalismus als prinzipieller Haltung" und zur Aufgabe der "Führerideologie", der Blick sollte sich statt dessen richten auf konkrete Verbesserungsmöglichkeiten, und die "Führer" sollten sich eher als "Funktionäre" fühlen, "im Dienste bestimmter sachlicher Aufgabenbereiche" (S. 49). Geboten seien "Verzicht auf den dauernden Appell, den Hinweis auf das Ideal, auf den Beginn mit Lehre und Verkündigung und auf das fortwährende Bekennen" (S. 50) und andererseits "Ausgang des Denkens von der Erziehungswirklichkeit und damit eben von den Zuständen und Verhältnissen statt von den Zielen und idealen Formen" (S. 50). Vier Jahre später kommt Hermann Schafft (1932) zu einer ähnlichen Einschätzung des jugendlichen Radikalismus. Die politische Entscheidung erwachse nicht aus sachlichen Erwägungen, sondern sie habe einen "verhältnismäßig zufälligen und instinkthaften Charakter".
"Es muß gehandelt werden, und es ist im Grunde nicht so wichtig, an welche Machtgruppe man sich eigentlich anschließt ... . Der Anschluß erfolgt so, daß man sich der Idee der Bewegung und der sie tragenden Organisation in unbedingter Hingabe verschreibt ... . Anstelle des Gespräches mit dem Gegner tritt Schlagring und Messer. Jenes Bewußtsein der Verbundenheit mit anderen in einer letzten Grundhaltung über die Unter-
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schiede der Richtung hinweg, wie es in den Anfängen der Jugendbewegung, war, ist fast völlig vernichtet"(S. 7).
Festzuhalten bleibt also in unserem Zusammenhang, daß aus den erwähnten Gründen zumindest ein wichtiger Teil der damaligen jungen Generation für eine Art von irrationaler Radikalität disponiert war und dafür, sich relativ kritiklos und gedankenlos in Dienst nehmen und sich "führen" zu lassen, und das waren gerade nicht die "Bündischen" - von deren Rolle noch zu sprechen sein wird - sondern solche Jugendliche, die gerade von den Traditionen der Jugendbewegung nicht mehr angesprochen wurden, oder die, wenn sie in Jugendverbänden waren, dies eher als einen Teil ihrer üblichen Freizeit ansahen, mit dem man sich jedoch allenfalls partiell identifizierte.
3. Der Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände hatte zwar 1929 einstimmig beschlossen, daß jeder ihm angeschlossene Verband sich zum "bestehenden Staat und seinen Organen" bekennen müsse (Kater 1977, S. 134), aber viele Jugendverbände bekannten sich öffentlich gegen den Weimarer Staat und sympathisierten mit der Hitlerbewegung. Die Zeitschrift "Die Jugendpflege", das offizielle Organ für die preußische Jugendpflege, widmete ihre Julinummer 1932 dem politischen Selbstverständnis einiger Jugendverbände. Für die evangelische Jugend schrieb z. B. Friedrich Duensing:
"Es ist also das politische Denken der evangelischen Jugend bestimmt von der grundsätzlichen Abkehr von den Kräften, die bislang das politische Geschehen in Deutschland bestimmen: Demokratie, das Vorherrschen der wirtschaftlichen Momente, das Bildungswesen mit seiner aufklärerischen Geistigkeit und der Idee der größtmöglichen Wohlfahrt aller, mit ihrer die moralischen Kräfte der Völker auflösenden Wirklichkeitsfremdheit. Der Ablehnung verfällt auch die Ablehnung der Partei als eines grundsätzlich liberalen Gebildes" (S.151) ... .
"Wenn der Kampf zwischen Brüning und Hitler uns den einen Sinn zu haben schien, daß dabei auf jeden Fall der liberale Staat von Weimar innerlich überwunden wurde, weil hinter beiden Männern religiöse Bindungen stehen, fügte es sich, daß sowohl Brüning wie Hitler eine starke Gefolgschaft in den Kreisen des jungen evangelischen Deutschland hatten, Brüning um seines Christseins willen, Hitler um seiner Volkhaftigkeit willen. Dabei stellt die religiöse Haltung Hitlers den Angelpunkt der Auseinandersetzung dar" (S.154).
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Graf Brockdorff-Ahlefeldt schreibt über die nationalistischen Bünde:
"Daß der Nationalsozialismus in einem so viel stärkeren Maße zum Problem für die Bünde wurde als die anderen Parteien, hat mehrere Gründe. Erstens fand er gerade die erwähnte Schicht der Jungmannschaft der Bünde vor, die ein Wirkungsgebiet für sich und den Bund nach außen suchte. Alle anderen Parteien erschienen mehr oder minder verkrampft und belastet mit einem Parteikampf vieler Jahre ohne greifbaren Erfolg, der Nationalsozialismus aber trat neu und unbelastet mit der Parole, den Kampf gegen diesen Parlamentarismus aufzunehmen, hervor. Zweitens aber zeigte sich sowohl in Haltung als auch in verschiedenen Zielsetzungen des Nationalsozialismus eine Verwandtschaft mit dem, wovon die Bünde immer wieder gesprochen und was sie herausgestellt hatten. Aktiver Nationalismus, 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz', die Beteiligung aller Stände an der nationalsozialistischen Bewegung, das Führerprinzip, worauf sie sich aufbaute, die militärische Organisation der Partei, der Schwung und die Hingabe, mit der sich ihre Mitglieder für ihre Sache einsetzten, in all diesen Dingen fanden die Menschen der Bünde Verwandtes und Gleichgeartetes. Aus der Erkenntnis, daß hier eine wirkliche Volksbewegung entstand, die doch vieles des in den Bünden Erstrebten und Geforderten zu verwirklichen schien, entstand in den Bünden die Frage, ob man nicht zugunsten der größeren, allgemeinen Bewegung auf den eigenen Bund verzichten oder als Bund geschlossen sich der nationalsozialistischen Bewegung eingliedern sollte, um dort die Werte eigenen Bundeslebens für die gesamte Bewegung nutzbar zu machen" (S.157).
Sich eingliedern wollte man dann doch nicht, aber das wollte auch die Hitlerbewegung nicht, die selbständige Bünde in ihren Organisationen grundsätzlich nicht duldete.
"In den großen Bünden jedoch stehen sehr viele auch jetzt dem Nationalsozialismus durchaus positiv gegenüber, ihre Glieder der Mannschaft, die ja in den meisten Bünden über den Rahmen der Bünde selbst sich einen Wirkungskreis zu suchen als ihre Aufgabe ansehen, stehen oft auch aktiv in der NSDAP, ein Hineingehen der Bünde in die Partei wünschen jedoch auch sie meist nicht" (S.158).
Die hier angesprochene "Mannschaft", also diejenigen, die schon als Erwachsene im Beruf standen und in den Bünden keine rechte Funktion mehr hatten, waren übrigens ebenso wie die "Jungmannschaft" - die altersmäßig zwischen Jugendalter und Mannschaft stand - ein Rekrutierungspotential für die SA und noch mehr für die SS, weil die Hitler-Bewegung das Problem viel erfolgreicher als die
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Bünde gelöst hatte, welche Stellung die dem Jugendalter Entwachsenen in der Bewegung einnehmen sollten. Da waren SA und vor allem die elitäre SS angesichts der weltanschaulichen "Gleichgestimmtheit" durchaus attraktive Angebote (vgl. Kater 1977, S.149 f.).
In dem Beitrag, den Erwin Niffka für das erwähnte Heft der Zeitschrift "Die Jugendpflege" über den politischen Standort der katholischen Jugend schrieb, findet sich dagegen ein "Bekenntnis zum republikanischen Volksstaat" (S.162), zu den Parteien (S. 160), und zur Versöhnung mit anderen Völkern (S. 162).
Was diese Beispiele exemplarisch belegen, zeigt die Forschung im Ganzen: Ein großer Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hatte der Republik schon vor der Machtergreifung den Rücken gekehrt. Schon 1931 sollen z. B. 70 Prozent der Mitglieder im Bund deutscher Bibelkreise NS-Anhänger gewesen sein (Fischer 1932, S.48).
4. Der Stil der Radikalisierung und Militarisierung erfaßte mehr oder weniger alle Jugendverbände. Einige von ihnen versuchten, diesen Stil für die eigenen, z. B. religiösen Intentionen zu benutzen.
"So erließ der katholische Jungmännerverband für 1932 die Parole des 'Sturmjahres'. Unter der Losung 'Christusjugend an die Front' galt es in die Öffentlichkeit vorzustoßen. Im Zeichen des Christusbanners wurden Aufmärsche und Aufzüge inszeniert. Die einzelnen Landesteile verpflichteten sich auf einen 'Sturmmonat' und stellten einen genauen strategischen Plan auf. In den einzelnen Stadtteilen wurden Hausagitationen unternommen, auf dem Lande veranstalteten mehrere Dörfer zusammen einen 'Sturmtag' mit großen Kundgebungen.
In dem Bewußtsein der öffentlichen Meinung lebt eine aktive katholische Jugend. Überall in Stadt und Land wurde Christus bekannt. An Kundgebungen und Aufmärschen hat es nicht gefehlt, die Straße ist von uns beherrscht worden; wo Sturmkundgebungen stattfanden, waren sie nicht eine Angelegenheit der Jugend, sondern der ganzen Gemeinde." Vorzudringen galt es:
"Ins Schulland, ins Lappland (das Land der läppischen Unentschiedenheit und Unorganisierten), ins Neuland (wo bisher noch keine katholischen Gemeinden und Gruppen bestehen) und ins Feindesland (in die Reihen der anders- und ungläubigen Jugend)" (Fischer 1933, S. 43).
An die Stelle der Jugendbewegung und ihrer "jugendgemäßen" Formen und Inhalte war die marschierende Ko-
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lonne, zum Einsatz bereit, getreten, die nicht mehr diskutieren, sondern handeln wollte.
"Marschierende, einheitlich gekleidete Jungentrupps in geschlossenen, disziplinierten Reihen. Sie halten Gleichschritt, die Fahne an ihrer Spitze, die einmal die rote Fahne des kommenden sozialistischen Staates ist, oder Hakenkreuzfahne als Wahrzeichen des kommenden Dritten Reiches; ein andermal das Kreuz katholischer oder evangelischer Jugend oder die schwarze Fahne des Widerstandes gegen den Versailler Gewaltfrieden. Das Stehen und Marschieren in Reih und Glied ist allen Ausdruck ihres stärksten Lebensgefühls, bedeutet allen elementares Erlebnis, wirkt auf alle wie ein Rausch" (Fischer 1932, S.39 f.).
Wie schon vor dem Ersten Weltkrieg - nur um vieles schärfer - gab es nun einen "Kampf um die Jugend", bei dem sicherlich die kommunistischen und vor allem nationalsozialistischen Verbände durch ihre Agitation als Auslöser fungierten, aber keineswegs als alleinige Verursacher, und bei dem eine große Zahl von Jugendlichen sich nicht nur widerstandslos, sondern geradezu mit einer Überidentifikation in Dienst nehmen ließ. Nicht Emanzipation, sondern Integration war ein massenhaftes Generationsbedürfnis, bevor die HJ es allen Jugendlichen zur Pflicht machte.
Die "Hitler-Jugend. Bund Deutscher Arbeiterjugend" wurde auf dem ersten Parteitag der neugegründeten NSDAP im Juli 1926 in Weimar gegründet. Die Neugründung der Partei war nötig geworden, weil nach dem Hitlerputsch 1923 die Hitlerpartei und alle ihre Unterorganisationen verboten wurden, Hitler zu Festungshaft verurteilt wurde. Das Verbot betraf also auch die ersten, wenig erfolgreichen Ansätze, einen nationalsozialistischen Jugendbund zu gründen. Übrig geblieben nach dem Verbot von 1923 waren einige Gruppen, von denen eine unter Leitung von Kurt Gruber in Plauen zum Kern der neuen HJ wurde. Gruber wurde dann auch der erste Reichsführer der HJ.
Die HJ wurde der SA-Führung unterstellt, wodurch sie zu einer reinen Parteijugend wurde. Aber bereits im Frühjahr
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1927 gründeten fünf norddeutsche Gaue einen eigenen Jugendbund, der sich "Bund deutscher Arbeiter-Jugend" nannte. Diese neue Gruppe gehörte zum "sozialistischen" Flügel der HJ; zusammen mit Teilen der SA bildete sie die "sozialistische" Komponente der Bewegung. Diese Richtung schaltete Hitler Zug um Zug aus, ihr endgültiges Ende kam mit der Ermordung des SA-Führers Röhm und zahlreicher anderer SA-Führer in der sogenannten "Röhm-Affäre" 1934. Die Spaltung war für die HJ ein Rückschlag, und auch der Neugründung war zunächst wenig Erfolg beschieden. Zudem hatte die Unterstellung der HJ unter die SA zur Folge, daß zum 9. November eines jeden Jahres (Jahrestag des Hitlerputsches) alle 18 Jahre alten Hitler-Jungen in die SA einzutreten hatten. Erst Ende 1927 gelang es Gruber durchzusetzen, daß die in der HJ gebrauchten Führer nicht in die SA einzutreten brauchten. Dadurch bekam die HJ eine gewisse Möglichkeit zur Entwicklung eines eigenen Jugendlebens. "Das dauernde Mitmarschieren mit SA und Partei hörte endlich auf. Die Jungen fingen an "auf Fahrt zu gehen", ihren eigenen Heimabend abzuhalten - ganz auf ihre Weise", schrieb Gruber 1930 (zit. n. Brandenburg, S. 34).
Ende 1928 versuchte Baldur von Schirach, gerade zum Führer des NS-Studentenbundes ernannt, die rechten Bünde, die dem Nationalsozialismus ideologisch ohnehin nahe standen, unter Angebot von Führungspositionen für die HJ zu gewinnen, um mit einer "jungen Front" die Isolation der HJ aufzuheben. Aber Gruber setzte sich mit der Meinung durch, zwischen dem elitären Selbstverständnis der Bünde und der HJ könne es keine Gemeinsamkeiten geben (Brandenburg, S. 35 ff.). Die Folge war, daß die HJ im Unterschied zum NS-Studentenbund zunächst relativ isoliert blieb und bis 1932 wenig Mitgliederzuwachs erhielt. Ein Antrag der HJ auf Mitgliedschaft im Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände im Herbst 1929 wurde mit der Begründung abgelehnt, die HJ sei erklärtermaßen weder zur Kooperation mit anderen Jugendverbänden bereit, noch sei sie bereit, den bestehenden Staat und seine Organe zu achten, was gemäß der Satzung für die Mitgliedschaft Voraussetzung sei. Im Oktober 1931 trat Gruber überraschend zurück - offenbar nicht freiwillig. Sein Nachfolger als Führer der HJ wurde Adrian
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Theodor von Renteln, der Reichsführer des NS-Schülerbundes. Die Reichsstelle und Reichsgeschäftsführung der HJ wurde von Plauen nach München verlegt, mit dem Rücktritt Grubers war die "sozialistische" Komponente in der HJ-Führung praktisch ausgeschaltet.
"Kurt Gruber war ein Prototyp jener Vertreter der jungen Nachkriegsgeneration, deren Leben und Wirken im politischen Kampf und Aktivismus aufging, die Beruf, Familie, Privatleben dem Einsatz opferten. Für wenige Jahre war er durch die Unruhe der Zeit aus der Namenlosigkeit der Masse hervorgehoben worden. Er verschrieb sich mit Leib und Seele der NSDAP. Dann wurde er wieder zurückgeworfen in das Einerlei des Alltags, in dem er sich nicht mehr zurechtfinden konnte und in dem er nichts mehr leistete" (Brandenburg, S.44).
Am 30. Oktober 1931 wurde Baldur von Schirach von Hitler zum "Reichsjugendführer der NSDAP" ernannt. Er war nun in der Parteizentrale zuständig für die Jugendangelegenheiten aller drei NS-Jugendverbände: NS-Studentenbund, HJ, NS-Schülerbund.
Unabhängig von der HJ waren nämlich weitere NS-Jugendorganisationen entstanden. Im Jahre 1925 gründeten die beiden Jurastudenten Wilhelm Tempel und Helmut Podlich den "NS-Studentenbund", der wie die HJ zunächst einen sozial-revolutionären Einschlag hatte. Auf dem zweiten Reichsführertag 1928 wandte sich Hitler jedoch in einem Referat über "Studenten und Politik" gegen die sozialistischen Tendenzen im NS-Studentenbund. Als Tempel wegen Beendigung seines Studiums zurücktreten mußte, ernannte Hitler am 20. Juli 1928 den 21jährigen Baldur von Schirach zum Reichsführer des NS-Studentenbundes. Unter seiner Führung hatte der Bund zunehmenden Zulauf - nicht zuletzt wegen der aggressiven Agitation gegen jüdische und sonstwie politisch unbeliebte Hochschullehrer und wegen Schlägereien mit andersdenkenden Studenten. Nun wurde der Sitz des Bundes ebenfalls nach München verlegt, und damit die "sozialistische" Komponente ausgeschaltet. In seiner 1929 erschienenen Schrift "Wille und Weg des NS-Studentenbundes" hofiert Schirach die schlagenden Verbindungen und stellt ihre "Auslese des Menschenmaterials"auf die gleiche Stufe mit dem eigenen Bund (Brandenburg, S. 47).
Seit 1929 entstanden vor allem in Nord- und Mittel-
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deutschland NS-Schülergruppen, die unter Leitung von Adrian von Renteln im NS-Schülerbund zusammengefaßt wurden. Er sollte in den Gymnasien für den Nationalsozialismus werben. Ähnliche Versuche an den Berufsschulen scheiterten.
Seit 1927 entstanden nationalsozialistische Mädchengruppen, die sich meist "Schwesternschaften" nannten. Um diese Bewegung organisatorisch zu vereinheitlichen, wurde im Juli 1930 der Bund Deutscher Mädel (BDM) gegründet, der seit Juli 1932 als einzige NS-Mädchenorganisation galt. Im Jahre 1933 hatte der BDM ca. 19 000, die Jungmädchen (10 bis 14 Jahre) ca. 7000 Mitglieder (Brandenburg, S. 52).
Am 13. April 1932 verbot der Reichspräsident von Hindenburg auf Vorschlag von Reichswehr- und Innenminister Groener die SA und SS. "Groeners Ziel war, in einem staatlich geförderten, allgemeinen Wehrsportverband alle Wehrverbände einschließlich SA, Stahlhelm und Reichsbanner zusammenzufassen. Damit sollte zugleich dem politischen Straßenkampf ein Ende bereitet werden" (Brandenburg, S. 120).
Da die HJ der SA unterstand, war sie von diesem Verbot mitbetroffen. Aber am 30. Mai 1932 mußte Reichskanzler Brüning zurücktreten und auch Groener mußte gehen. Der neue Reichskanzler von Papen hob das SA-Verbot am 17. Juni 1932 wieder auf. Am 13. Mai hatte Hitler alle NS-Jugendorganisationen von Schirach unterstellt und ihre Unterstellung unter die SA aufgehoben. Schirach übernahm nun auch die Führung der HJ.
Aber noch einmal drohte vorher Gefahr für die HJ. Papen griff nämlich Groeners Idee wieder auf, den Wehrverbänden eine auf den ganzen Staat bezogene Aufgabe zu geben. Am 13. September 1932 wurde durch Erlaß des Reichspräsidenten ein "Reichskuratorium für Jugendertüchtigung" gebildet. Wäre jedoch eine "Einigung der Jugend" auf diese Weise erfolgt, so wäre die HJ schon gegenüber den Bünden in einer Minderheit geblieben - ein Jugendverband unter vielen anderen. Schirachs Antwort war ein "Reichsjugendtag der HJ" am 1./2. Oktober 1932 in Potsdam. Aus allen Teilen Deutschlands kamen 70 000 Jugendliche, darunter 15 000 Mädchen, zusammen und marschierten nach einer Rede Hitlers sieben Stunden an
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ihrem Parteiführer vorbei. Die Machtergreifung verhinderte, daß die Idee des "Reichskuratoriums" realisiert wurde.
Zur Entwicklung der NS-Jugendverbände bis 1933 läßt sich zusammenfassend folgendes sagen:
1. Die NS-Jugendverbände entstanden nicht durch Initiativen der Parteiführung, sondern wie andere Verbände auch, indem nämlich Führer Gruppen gründeten, die sich "nationalsozialistisch" nannten und sich der Hitlerbewegung anschließen wollten. Die Partei griff diese Initiativen auf, brachte sie in eine Organisationsform, die dem "Führer-Prinzip" entsprach, und suchte sie für ihre Zwecke zu verwenden. Dieser Zweck war die Machtergreifung, und dafür konnten die Jugendorganisationen in zweierlei Weise mitwirken: als Hilfstruppe der SA bei Aufmärschen und sonstigen Propagandaaktionen und durch Agitation innerhalb der Jugend, z. B. in den Schulen, Universitäten und in den Bünden. Diesen Zielen blieb das "Jugendleben" weitgehend untergeordnet.
2. Die Wirkung der HJ in der jungen Generation beruhte nicht darauf, daß sie zu einer Massenorganisation geworden wäre, sondern darauf, daß sie durch ihre Agitation, durch ihr öffentliches Eintreten für die nationalsozialistische Idee - im Unterschied zur elitären Abgeschiedenheit der Bünde - und durch einen geschickt propagierten "Helden-Mythos" um die eigenen Opfer (Organisationsverbot, Verweise von der Schule, Verletzte und Tote) sich im vorhin skizzierten neuen Generationstyp ein breites "Sympathisanten-Feld" schaffen konnte. Sie sprach diese Generations-Gestimmtheit an: die Feindschaft gegen die Republik und ihre Werte, die Bereitschaft, sich einer Führung zu unterwerfen, zu handeln statt zu "problematisieren", sich gehorsam für eine Sache - gleichsam für ein "Über-Ich" - in Dienst nehmen zu lassen. Dem entsprach auch der Ton ihrer Zeitschriften:
"Von allen anderen Jugendzeitschriften unterscheiden sie sich durch ihre scharfe Polemik, ihre etwas polternde und unduldsame Art, mit der jeder anderen Richtung abgesprochen wird, daß auch sie das Beste der Nation will. Alle Probleme werden
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einseitig und vereinfacht dargestellt. Mit Worten wie 'Blutsauger', 'Vaterlandsverräter' wird der Gegner abgetan" (Fischer, 1930, S. 344).
Gerade der unbedingte Führungsanspruch Hitlers, dessen Totalitätsanspruch sich keineswegs mit dem Führerkonzept der Bünde deckte, hatte Anziehungskraft.
"Der Jugend trat diese Forderung eines unbedingten Führertums in einem Zeitpunkt entgegen, in dem alle anderen Gruppen darauf warteten, was die Jugend von sich aus tun werde, und in dem kaum einer wagte, von der Jugend unbedingte Gefolgschaft zu verlangen. Diese Forderung entsprach aber gerade der Situation der Jugend, die der Relativität der sich bekämpfenden Anschauungen und der Vielzahl kleiner Führer überdrüssig, den überragenden Führer und die Unbedingtheit der Sache, in deren Dienst sich zu stellen sie bereit war, geradezu forderte" (Fischer 1930, S. 351).
Zudem präsentierte sich die NS-Bewegung als "junge", die das "Alte" zu bekämpfen sich anschickte, und "alt" war alles, was man ablehnte: die Eltern, die Republik, der Kapitalismus, der Klassenkampf, die Parteien usw. Die NS-Bewegung stellte sich als jung und unverbraucht dar, noch nicht korrumpiert durch jahrelange parlamentarische Auseinandersetzungen und Koalitionen. Zudem trat der Nationalsozialismus nicht als Partei auf, sondern als "Bewegung" mit dem Ziel, die innere Einheit des Volkes wieder herzustellen und die "Mißstände" der Gegenwart zu beseitigen.
3. Von dieser Position aus konnte die HJ die anderen Jugendorganisationen, insbesondere die Bünde und die konfessionellen Gruppen, als bloß partikulare attackieren, die selbst zur Zerrissenheit des Volkes beitrügen, und dagegen die Vision einer geeinigten Volksjugend setzen. Diese Vision war zwar bündisch, also nicht neu, aber gerade die Bünde hatten sie nicht realisieren können.
Dazu kam, daß die HJ sich ein "sozialrevolutionäres" Image verschafft hatte und im Vergleich zu den elitären Bünden sich gezielt an die proletarische Jugend wandte, um sich als "Volksjugend" zu präsentieren. Daß die Führung gerade diese "revolutionären" Tendenzen längst ausgeschaltet hatte, dürfte an der "Basis" der HJ kaum bemerkt worden sein. Dort konnte man vielmehr feststellen,
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daß die HJ im Vergleich zu fast allen anderen Jugendverbänden einen relativ hohen Anteil an Jugendlichen aus der Arbeiterschaft und aus dem unteren Mittelstand hatte (Kater 1977, S. 146). Nach Klönne (1955, S. 40) handelte es sich dabei einerseits um Jugendliche aus den proletarisierten Mittelschichten und andererseits um Jugendliche ohne Lehrstelle bzw. Arbeitsverhältnis. Seine "These vom nicht eigentlich 'proletarischen', sondern 'proletarisierten' Charakter der Kampfzeit-HJ" dürfte immer noch gültig sein, d. h. an den Kern der in den traditionellen Arbeiterorganisationen beheimateten Arbeiterschaft dürfte die HJ kaum herangekommen sein. Dafür aber engagierten sich Angehörige der HJ sozialpolitisch, und zwar im Sinne unmittelbarer Hilfen für verarmte Jugendliche und Kinder. HJ-Führer hielten z. B. stellungslose Jungarbeiter, Lehrlinge oder kleine Angestellte über Wasser, "so daß der HJ - ähnlich wie mancherorts der SA - der Ruf einer karitativen Vereinigung vorausging" (Kater 1977, S. 148).
4. Daß das "Sympathisanten-Feld" erheblich größer war als die Mitgliedszahlen der HJ, hatte sicher eine ganze Reihe von Gründen: Einer davon war, daß vielen Bürgerlichen die HJ und ihr Auftreten als zu "proletarisch" erschien, so daß man zwar mit den Zielen einverstanden war, aber nicht mit den Methoden. Andererseits hatten die Partei- und die HJ-Führung deutlich werden lassen, daß man später, nach der Machtergreifung, "nicht nur Kämpfer, sondern auch Köpfe" brauche, was gerade der verunsicherten bürgerlichen Jugend "Karriere-Perspektiven" eröffnete. "Gegen Ende der Weimarer Republik wußte jeder bündisch organisierte Junge ganz genau, daß ihm auf dem Umweg über die HJ der Anschluß an die SA oder sogar SS in verantwortlichen Positionen sicher war, wenn er es nur wollte" (Kater 1977, S. 148 f.). Inwieweit eine derartige Karriere-Perspektive bei Jugendlichen damals vorhanden war und ob und wie sie zur Leidenschaftlichkeit und "moralischen Uneigennützigkeit" des Kampfes gepaßt hätte, muß jedoch offenbleiben.
5. Jedenfalls war die offene und sehr vage und im Unterschied etwa zu den Kommunisten völlig "untheoretische" Ideologie des Nationalsozialismus geeignet, sehr unter-
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schiedliche Interessen und Gruppen zunächst einmal unter sich zu vereinigen und zu suggerieren, daß in der künftigen "Volksgemeinschaft"schon jeder zu seinem Recht kommen werde.
6. Angesichts der Folgen, die der Nationalsozialismus schließlich hatte - —nicht zuletzt für die spätere junge Generation selbst - fällt eine Beurteilung der HJ immer noch schwer. Jedoch muß man wohl zwischen der "Kampfzeit" und der Zeit nach der Machtergreifung unterscheiden. Den meisten Menschen Anfang der dreißiger Jahre war nicht klar - und das galt insbesondere für die Jugendlichen jener Generation - daß es unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen keine humane Alternative zu einem demokratisch verfaßten Staat gibt, und für das, was Faschismus wirklich ist, lagen keine Erfahrungen vor. Damals war jedenfalls für eine große Zahl von Menschen der Eindruck vorhanden, daß es nur noch besser werden könne, und wenn dies nur in einem neuen Volksstaat möglich sei, für den sich politisch-aktiv offensichtlich nur die Hitlerbewegung einsetzte, dann sahen viele eben keinen Grund, eine demokratische Staatsverfassung zu retten, die den meisten von ihnen wenig mehr als Not und Zukunftsangst gebracht hatte. Diese Einstellung hatte sicher viel mit politischer Ignoranz zu tun, aber wenig mit dem, was der Faschismus dann wirklich war: Mord, Terror, Unterdrückung, Krieg. Sieht man unter dieser Voraussetzung die "Kampfzeit-HJ", dann läßt sich einmal sagen, daß sich eine Führerspitze herausgebildet hatte, in der Typen der "verlorenen Generation" wie Gruber abgelöst waren von Emporkömmlingen wie von Schirach und Nabersberg, die längst vor der Machtergreifung in sehr jungen Jahren eine Position hatten, um die die übrigen Gleichaltrigen sie nur beneiden konnten. Deren Motive sind jedoch zu unterscheiden von denen der jugendliche Mitglieder.
So erklärte ein Hitlerjunge nach dem Krieg:
"Weder mein Vater noch irgendwer sonst hat mich dazu gedrängt, in die Hitlerjugend einzutreten. Ich hatte mich selbst dazu entschieden, weil ich einfach in einem Jungenverein sein wollte, wo ich ein nationalsozialistisches Ideal verfolgen konnte. In der Hitlerjugend gab es Zeltwanderungen und Gruppentreffen. Ich war Nr. 9 in der Thalburggruppe, als ich 1930 eintrat.
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Wir stammten aus allen Bevölkerungsschichten, die meisten allerdings aus Kleinbürger- und Arbeiterkreisen. Soziale oder Klassenunterschiede wurden nicht gemacht, und das gefiel mir. Eine direkte oder offenbar politische Schulung kam erst später - als Hitler an der Macht war. Die Hitlerjugend von Thalburg wuchs rasch an, ohne sich wirklich um neue Mitglieder zu bemühen. Ich glaube, die meisten Jungen traten aus denselben Gründen ein wie ich. Sie suchten einen Ort, wo sie andere Jungen treffen und gemeinsam aufregende Dinge tun konnten. Denn es war ja die Arbeitslosenzeit, und da gab es eine Menge übler Einflüsse ringsrum, denen anständige Jungen aus dem Wege gehen wollten. Jedenfalls glaube ich nicht, daß der politische Faktor für den Beitritt der meisten ausschlaggebend war. Wir marschierten natürlich in Umzügen und haßten die SPD, aber das war ganz allgemein und nichts besonderes - es gehörte einfach dazu. Wir waren uns unserer Taten nie so recht bewußt, aber wir hatten unseren Spaß und kamen uns auch wichtig vor" (zit. n. Koch, S. 144).
Und eine leitende BDM-Führerin erklärte später:
"Wenn ich den Gründen nachforsche, die es mir verlockend machten, in die Hitlerjugend einzutreten, so stoße ich auch auf diesen: Ich wollte aus meinem kindlichen, engen Leben heraus und wollte mich an etwas binden, das groß und wesentlich war. Dieses Verlangen teilte ich mit unzähligen Altersgenossen ... . Daß ich so lange am Nationalsozialismus festhielt, hängt mit Erlebnissen aus meiner frühen Kindheit zusammen. Es ist merkwürdig: Die 'sozialistische' Tendenz, die im Namen dieser 'Bewegung' zum Ausdruck kam, zog mich an, weil sie mich in der Opposition gegen mein konservatives Elternhaus stärkte. Im Gegensatz dazu wurde die nationale Tendenz mir bedeutsam, gerade weil sie dem Geist entsprach, der mich dort seit früher Kindheit durchdrungen hatte" (zit. n. Koch, S. 144 f.).
Es war damals durchaus normal, in die HJ wie in jeden anderen Jugendverband einzutreten. Von "Verführung" der Jugend kann man nur rückblickend sprechen, vom bösen Ende her, aber dann in keinem anderen Sinne, als man auch von der "Verführung" von Großindustriellen, konservativen Politikern und Kirchenführern sprechen müßte.
Schirach hatte am 22. Juli 1933 den Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände formell aufgelöst. Damit aber waren die anderen Bünde und Jugendverbände noch kei-
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neswegs beseitigt. Ihre Auflösung bzw. Eingliederung in die HJ erfolgte erstaunlich schnell und widerstandslos. Das lag weniger am Terror der HJ, wenn man von den sozialistischen und kommunistischen Jugendverbänden absieht, gegen deren Mißhandlung niemand einen Finger rührte. Zwar gab es zahlreiche örtliche Übergriffe von HJ-Einheiten, für die die Revolution noch nicht zu Ende war, aber die Ursachen der Auflösung waren andere.
Der Weg zur Staatsjugend verlief im wesentlichen wie folgt.
1. Nach dem Reichstagsbrand und dem daraufhin beschlossenen "Ermächtigungsgesetz" waren die "Sozialisten" und "Marxisten" dem Terror von SA und SS und der Unterdrückung durch die Polizei ausgeliefert. Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Verbote zerbrachen die Organisationen der sozialistischen Arbeiterjugend. Der kommunistische Jugendverband ging in den Untergrund. Viele Mitglieder aus beiden Arbeiterjugendorganisationen schlossen sich der neuen "Bewegung" an.
2. Die rechten Bünde schlossen sich Ende März 1933 zum "Großdeutschen Bund" unter der Führung von Admiral von Trotha zusammen, der über gute Beziehungen zur Reichswehr verfügte. Durch ihn hoffte man wenigstens eine gewisse Autonomie gegenüber der HJ behalten zu können. Mit Ergebenheitserklärungen, durch die praktisch Demokraten, Sozialisten und Juden ausgeschlossen wurden, versuchte man, die HJ rechts zu überholen. Ideologisch stand der Bund der HJ so nahe, daß primär wohl nur das elitäre Selbstbewußtsein der Einzelbünde einer Eingliederung in die "proletarische" Massenorganisation der HJ im Wege stand. Der Bund hatte nun etwa so viel Mitglieder wie die HJ und war deshalb eine ernstzunehmende Konkurrenz. Pfingsten 1933 veranstaltete der Bund ein großes Lager in Munsterlager, das auf Anordnung des Landrats von Uelzen aufgelöst wurde, weil "Unruhe in die Bevölkerung getragen werde" (Brandenburg, S.149).
Am 17. Juni 1933 wurde Schirach von Hitler zum "Jugendführer des deutschen Reiches" ernannt. In dem Erlaß heißt es:
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"Der Jugendführer des deutschen Reiches steht an der Spitze aller Verbände der männlichen und weiblichen Jugend, auch der Jugendorganisationen von Erwachsenen-Verbänden. Gründungen von Jugendorganisationen bedürfen seiner Genehmigung.
Die von ihm eingesetzten Dienststellen übernehmen die Obliegenheiten der staatlichen und gemeindlichen Ausschüsse, die ihre Aufgaben unter unmittelbaren Mitwirkung von Jugendorganisationen vollziehen" (zit. n. Brandenburg, S. 150).
Noch am Tage seiner Ernennung verfügte Schirach die Auflösung des Großdeutschen Bundes; Proteste von Trothas bei Hitler und Reichspräsident Hindenburg halfen nichts.
Das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und der bündischen Jugend war von einer Art wechselseitiger Haßliebe gekennzeichnet. Einerseits stimmten die ideologischen Grundpositionen weitgehend überein, andererseits fühlten sich die bündischen Führer als Elite. So schrieb Schirach über den "Großdeutschen Bund":
"Mich stieß vor allem die Ideologie ihres Bundes ab. Sie bezeichneten sich als Elite und uns als Masse. Wir waren die 'Volksjugend', sie die 'Auslesejugend'. Der nationalsozialistische Staat durfte eine solche Auffassung nicht dulden. Wenn die HJ die Volksjugend war, dann mußte in dieser Jugend tatsächlich alles vereinigt werden" (1934, S. 34).
Der Vorwurf war so abwegig nicht, denn ein Jahr zuvor hatte z. B. Werner Pohl über die "Auslese" in der bündischen Erziehung geschrieben: "Militärisch gesehen könnte man vielleicht in der bündischen Jugend die Offiziersanwärter, in den Jugendgruppen der anderen Verbände die Rekrutendepots sehen" (1933, S.67). Aber auch aus anderen Gründen hielt Schirach die Bünde für überholt:
"Nicht ich habe das Todesurteil der Bünde gesprochen - dieses Urteil wurde von der Wirklichkeit, vom realen Leben verkündet, unsere Zeit verlangt nicht nach einer Romantik der höheren Schüler am Lagerfeuer. Sie hat kein Verständnis für die intellektuelle Debatte der 17jährigen über den Sinn des Lebens, wenn diese Debatte in keinen Handlungen endet ... ."
Er habe den "Eindruck" gehabt, "als habe die Eigenart vieler prominenter bündischer Führer ausschließlich darin bestanden daß sie sich grundsätzlich nie die Haare schneiden ließen ... Sie lebten in einer Zeit, die es nicht mehr gab. Das beweist schon die Tatsache, daß sie keine Einstellung zur Technik und damit zum Arbeiterjungen hatten. Entsprechend hatte auch der Arbeiterjunge keine Einstellung zu ihnen. Das Symbol der Bünde war die Fahrt, das Symbol der HJ ist der Reichsberufswettkampf" (Schirach 1934, S. 48 f.).
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Andererseits hatte Schirach 1929 um die nationalistischen Bünde und ihre Führer gebuhlt, um sie in die HJ einzubeziehen. Nicht wenige bündische Führer waren schon vor 1933 der SA oder SS beigetreten, andere gaben nun Ergebenheitsadressen ab, den Anfang machten vier bedeutende Führer der Deutschen Freischar, also des "demokratischsten" der Bünde im März 1933 im "Völkischen Beobachter". Die meisten anderen Bünde folgten. Die Absicht, auf diese Weise die Autonomie der Bünde zu erhalten, und Opportunismus sind dabei im Einzelfalle schwer zu trennen (Kater 1977, S.163 ff.).
Aber es gab auch andere Stimmen. Der Führer der bündischen Reichsschaft, Kleo Pleyer, schrieb im Februar 1933: "Insofern die neue Regierung bündische Forderungen erfüllt, werden wir ihr sekundieren, insofern sie das Gegenteil tut, werden wir sie bekämpfen". Arthur Mahraun vom Jungdeutschen Orden zeigte sich im Februar 1933 "erschüttert über die Ideenlosigkeit und Inhaltlosigkeit" der Hitlerreden im Rundfunk. Und die Führer der dj. 1.11. erklärten am 31. März, daß sämtliche Nazis nach 14 Tagen aus ihrem Bund ausgeschlossen würden (Kater 1977, S.160 f.). Aber das war die Minderheit. Sieht man auf die ideologischen Gemeinsamkeiten, so "basierte der 'Widerstand' der Bündischen in den ersten Jahren des Dritten Reiches ... weniger auf einem ethischen Fundament, sondern er ergab sich erst als Ausdruck einer Trotzhaltung unter Menschen, die im Gerangel um Einfluß und Führerstellungen den vom Regime offiziell sanktionierten Machtträgern unterlegen waren" (Kater 1977, S.167).
3. Besonders anfällig für die Ideen der nationalsozialistischen Bewegung war die Führerschaft der evangelischen Jugend. Ende März 1933 gab die "Evangelische Jugend Deutschlands" unter dem Vorsitz von Erich Stange folgende "Erklärung" heraus:
"Eine neue Stunde deutscher Geschichte schlägt! Hart am Abgrund des Bolschewismus wurde Deutschland noch einmal zurückgerissen. Eine starke Staatsführung ruft alle Deutschen zu letzter Verantwortung. Die gottgesetzten Grundlagen von Heimat, Volk und Staat werden wieder neu erkannt. Das Volk steht auf. Eine Bewegung bricht sich Bahn, die eine Überbrückung der Klassen, Stände und Stammesgegensätze verheißt.
In dieser Stunde soll die evangelische Jugend Deutschlands wis-
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sen, daß ihre Führerschaft ein freudiges Ja zum Aufbruch der deutschen Nation sagt. Die Erkenntnis, daß es um eine Erneuerung der Lebensgrundlagen allen Volkstums geht, trifft das evangelische Jugendwerk im Herzstück seiner geschichtlichen Sendung und ruft es zum Einsatz von Gut und Blut. Evangelische Jugend weiß, daß in dieser Stunde die lebendigen Kräfte des Evangeliums allein Rettung und Erneuerung aus Verfall und Untergang bringen. So treten wir als evangelische Jugend erneut unter Gottes Befehlsgewalt und Verheißung. Der Heilige Gott richtet Zersetzung und Zerfall in Sitte, Beruf, Familie und Staat.
Darum kann die Haltung der jungen evangelischen Front in diesen Tagen keine andere sein als die einer leidenschaftlichen Teilnahme an dem Schicksal unseres Volkes und zugleich eine radikale Entschlossenheit, wie sie das Wort Gottes fordert" (zit. n. Brandenburg, S.139 f.).
Stange hatte schon vor 1933 der HJ den Weg in den Reichsausschuß freimachen wollen. Nun gaben viele Führer für ihre Organisationen "Ergebenheitsadressen" ab, die das Christentum mit dem Nationalsozialismus verquickten. Allerdings gab es auch Widerstand gegen den Kurs von Stange. Dies hing von der politischen und ideologischen Einstellung der jeweiligen Führer ab - wie überhaupt schwer auszumachen ist, inwieweit die Führer jeweils die Einstellungen und Erwartungen der Jugendlichen selbst repräsentierten. Erschwerend für die Entscheidung für oder gegen den Nationalsozialismus war, daß die evangelische Kirche selbst gespalten war durch die Abspaltung der "Deutschen Christen" unter ihrem Reichsbischof Ludwig Müller, die in Hitler den von Gott gesandten Führer sahen. Diesem Bischof Müller unterstellte sich Stange als "Reichsführer der evangelischen Jugend Deutschlands" am 3. Juli 1933. Da durch die Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 die "Deutschen Christen" in fast allen Gremien von den Kirchenleitungen bis zu den einzelnen Presbyterien die Mehrheit gewonnen hatten, schien die evangelische Jugendarbeit auch im neuen Staat gesichert. Aber Schirach forderte unbeirrt die Übernahme der evangelischen Jugend in die HJ. Der Reichsbischof Müller unterstützte ihn dabei, und am 19. Dezember 1933 wurde ein Abkommen über die "Eingliederung der evangelischen Jugend in die HJ" getroffen. Die Führer einiger evangelischer Jugendverbände entließen jedoch lieber ihre Jugendlichen, als sie in die HJ zu überführen.
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4. Weniger gefährdet erschien die Lage der katholischen Jugend. Im streng hierarchischen Episkopat war sie durch die Bischöfe besser geschützt. Zudem liefen die Verhandlungen Hitlers mit dem Vatikan über ein Konkordat. Als Schirach am 1. Juli 1933 die Geschäftsräume verschiedener katholischer Jugendorganisationen durch die Gestapo besetzen, Eigentum beschlagnahmen und die Jugendverbände verbieten ließ, drohte das Konkordat zu scheitern. Daraufhin wurde Schirach am 8. Juli dem Innenminister unterstellt, seine Kompetenzen wurden klar festgesetzt; einen Tag später wurde das Reichskonkordat in Rom paraphiert. Seitdem durfte die HJ nicht mehr eigenmächtig tätig werden, sondern hatte die ihr unliebsamen Tatsachen auf dem Dienstwege zu melden.
Für Hitler hatte das Konkordat nur eine taktische Bedeutung: Es kostete ihn wenig, war aber wichtig für seine Reputation nach innen wie nach außen. Immerhin gab es den katholischen Jugendverbänden eine Atempause. Am 29.Juli 1933 verbot Schirach die gleichzeitige Mitgliedschaft in der HJ und in einem konfessionellen Jugendverband, was die Mitglieder der katholischen Jugendverbände unter Druck setzen sollte.
Der Kampf der Bischöfe und der Jugendverbände für die Erhaltung einer eigenen Jugendarbeit war jedoch keineswegs in erster Linie ein Kampf um Demokratie. In der katholischen Kirche waren auch solche politische Ideologien verbreitet, die dem Nationalsozialismus recht nahe kamen. Teile des katholischen Jungmännerverbandes zum Beispiel begrüßten den neuen Staat als Überwinder der Republik:
"Wir neudeutsche Jugend bejahen den neuen Staat:
a) als die Überwindung des Parteienstaates, der Deutschland in verschiedene unversöhnliche Lager und Fronten zerriß und so eine Volkwerdung unmöglich machte;
b) als die Überwindung des liberalen Staates, der keine feste und allgemein verbindliche Weltordnung mehr kannte, sondern unter Politik nur noch den taktischen Kompromiß der verschiedenen Weltanschauungen verstand;
c) als eine Überwindung des parlamentarischen Staates, in dem es nur noch Verhandlung und Abstimmung, nicht aber letzte, klare Entscheidung und allein zu tragende Verantwortung mehr gab;
d) als eine Überwindung des Klassenstaates, in dem Interesse nackt auf Interesse stieß und der Wirtschaftskampf alle Formen des öffentlichen Lebens beherrschte.
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In dieser vierfachen Überwindung des alten Staates durch den neuen Staat sehen wir die echte deutsche organische Reichsidee gegenüber den westlichen Verabsolutierungen eines abstrakten Staates wieder zur Geltung kommen" (zit. n. Brandenburg, S. 143).
Es hatte sich also gezeigt, daß die NS-Bewegung wegen ihrer ideologischen "Vielseitigkeit" eine breite Zustimmung fand bis in den Katholizismus hinein, und insofern gab es eigentlich wenig Argumente dafür, die katholischen Jugendorganisationen nicht in die HJ aufgehen zu lassen; Widerstand dagegen konnte so gesehen ja nur bedeuten, daß man das Werk der Einigung des Volkes verhindern und an der eigenen partikularen Bestrebung festhalten wollte. Die Sozialisten und Kommunisten wurden verboten und verfolgt, was kaum jemand außer sie selbst für falsch hielt; die Bünde vertraten ohnehin weitgehend NS-Ideologien; die evangelische Jugend hatte sich mit mehr oder weniger Skrupel gleichschalten lassen, lediglich die katholische Jugend konnte ihre Position - unter vielen Schikanen und Drohungen - bis März 1939 wenigstens prinzipiell behaupten, dann mußte sie sich auf rein kirchliche Arbeit (z. B. "Meßdiener-Schulung") beschränken.
Das hohe Maß an geistiger, moralischer und politischer Übereinstimmung mit den Vorstellungen des Nationalsozialismus war der wirkliche Grund für die Auflösung der Jugendverbände, und in diesen Zusammenhang paßt auch die früher skizzierte "Ideologie der Jugendpflege".
Diese hohe Übereinstimmung war in einem objektiven, nämlich ideologiekritischen Sinne vorhanden, und das war entscheidend dafür, daß damals (1933) dem Widerstand gegen die "Gleichschaltung" - nach der Ausschaltung, Verhaftung, Ermordung oder Vertreibung der "Linken" - die moralische Grundlage für einen machtvollen Einsatz fehlte. Die HJ hatte damals ja nur insofern die Macht zu ihren Aktionen, als man sie ihr nicht streitig machte. Zudem handelten die Jugendverbände nicht gemeinsam, jeder wollte für sich ein Stück seiner Autonomie behalten. Der hohen ideologischen Übereinstimmung widersprach nicht, daß viele subjektiv genügend Motive hatten, nicht mit der HJ zu paktieren: Kritik am Stil der Machtdurchsetzung, an der Auflösung des eigenen Verbandes, gelegentlich auch eine hinreichende Vorstellungskraft darüber,
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was dieser Faschismus in Zukunft bedeuten könnte. Durch Bekundung von Ergebenheit weitere Duldung der eigenen Arbeit zu erreichen, war dennoch eine durchaus naheliegende Handlungsweise. Verbreitet war auch die Hoffnung, bei formeller Übernahme in die HJ unter deren Dach die eigene Arbeit relativ autonom weiterführen zu können. So gingen manche bündischen Führer mit ihren Gruppen ins "Jungvolk" (10-bis 14jährige in der HJ), das noch im Aufbau begriffen war und das sie nach ihren Vorstellungen zu gestalten hofften. Paradoxerweise erkannten jedoch die Jugendverbände und ihre Führer - von den Linken abgesehen - nicht, daß sie eben diejenigen Prinzipien der demokratischen Staatsverfassung und der ihr zugrundeliegenden Rechts- und Toleranzprämissen in ihrer Übereinstimmung mit der Ideologie der Hitlerbewegung aufgaben, aufgrund derer allein ihre Autonomie und ihr verbandliches Lebensrecht zu garantieren gewesen wären.
Aber der Monopolanspruch der HJ mußte nicht nur gegenüber den anderen Jugendorganisationen durchgesetzt werden, sondern auch gegenüber anderen Führern in der eigenen Bewegung. Robert Ley hatte z. B. als Führer der Deutschen Arbeitsfront (DAF) die Gewerkschaften und damit auch im Prinzip deren Jugendarbeit übernommen. Die Reichswehr hatte immer schon Pläne für eine vormilitärische Ausbildung der Jugend, und von Tschammer und Osten hatte die Sportorganisationen einschließlich ihrer Jugendabteilungen übernommen. Jedem war daran gelegen, für seinen Bereich auch jeweils Jugendliche ansprechen zu können, und es war zunächst gar nicht sicher, ob sich Schirach mit seinen Vorstellungen von der HJ als einziger Jugendorganisation des Nationalsozialismus durchsetzen würde.
An dieser Stelle sind einige Zwischenbemerkungen über das "Führer-Prinzip" und seine Folgen nötig. Zum Charakter der NS-Bewegung gehörte ja, daß sie als einziges klares Ziel die Erringung der ungeteilten Macht vor Augen hatte. Was im einzelnen mit dieser Macht dann positiv getan werden sollte, war weitgehend offen. Außer der planmäßigen Ausschaltung der politischen Gegner gab es nach der Machtergreifung zu vielen Fragen gar keine klaren Planungen. In diesen "offenen Raum" griffen nun die von Hitler ernannten Führer ein. Diese Führer setzten
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weitere Führer ein, so daß ein System von Gehorsam nach oben und Befehl nach unten entstand. Dabei sorgte Hitler immer für Rivalitäten, um seine einzigartige Position als Legitimation aller anderen Führer aufrechtzuerhalten.
Führer wurde man dadurch, daß man etwas "leistete", was Hitler positiv auffiel. Schirach z. B. verdankte seine Stellung unter anderem seinen Erfolgen beim NS-Studentenbund. Er mußte auch jetzt etwas "leisten", um seine Position halten und festigen und damit seine Vorstellungen von der Organisation der Jugend im nationalsozialistischen Staat durchsetzen zu können.
Er verbündete sich mit seinen potentiellen Rivalen, indem er mit der DAF den "Reichsberufswettkampf" und mit dem NS-Sportbund den "Reichssportwettkampf" organisierte. Vor allem aber waren die Probleme der inneren Konsolidierung zu lösen. Innerhalb eines Jahres war 1934 die HJ von circa 100 000 Mitgliedern auf über 3 000 000 angewachsen. Dieser Zuwachs brachte erhebliche Probleme. Die Organisation mußte durchschaubar gemacht werden. So wurden folgende Altersgrenzen eingeführt: Jungvolk (Jungen von 10 bis 14 Jahren); Hitlerjugend (Jungen von 14 bis 18 Jahren); Jungmädel (Mädchen von 10 bis 14 Jahren); Bund Deutscher Mädel (BDM) (Mädchen von 14 bis 18 Jahren). Durch das Aufsaugen anderer Jugendverbände war die Zusammensetzung der HJ sehr heterogen geworden, vor allem fehlten Führer; andererseits befürchtete die HJ-Führung eine Unterwanderung der HJ dadurch, daß vor allem aus der Bündischen Jugend ganze Gruppen mit ihren Führern nun in die HJ eingetreten waren und dort relativ autonom weiterbestanden. Deshalb galten die weiteren Jahre der inneren Konsolidierung. Dazu gehörte unter anderem eine intensive Führerschulung sowie die Festsetzung von Jahres-Parolen, für die Schulungsmaterial bereitgestellt wurde, und die eine gemeinsame ideologische Ausrichtung ermöglichen sollten: "Jahr der Schulung" (1934); "Jahr der Ertüchtigung" (1935); "Jahr des deutschen Jungvolks" (1936). Derartige Jahreslosungen wurden bis zum Ende des Krieges beibehalten.
Bis zum Jahre 1936 war die Hitlerjugend formell eine auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Jugendorganisation. Durch Gesetz vom 21. Dezember 1936 wurde sie zur Staatsjugend erklärt:
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"Von der Jugend hängt die Zukunft des deutschen Volkes ab. Die gesamte deutsche Jugend muß deshalb auf ihre künftigen Pflichten vorbereitet werden.
Die Reichsregierung hat daher das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird.
§ 1 Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefaßt.
§ 2 Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen
§ 3 Die Aufgabe der Erziehung der gesamten deutschen Jugend in der Hitlerjugend wird dem Reichsjugendführer der NSDAP übertragen. Er ist damit 'Jugendführer des deutschen Reiches'. Er hat die Stellung einer obersten Reichsbehörde mit dem Sitz in Berlin und ist dem Führer und Reichskanzler unmittelbar unterstellt.
§ 4 Die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften erläßt der Führer und Reichskanzler" (zit. n. Brandenburg, S. 180).
Dieses Gesetz machte die Mitgliedschaft in der HJ noch nicht zur Pflicht, was Schirach ausdrücklich betonte (Hitler-Jugend ... 1943, S. 28). Erst die zweite Durchführungsverordnung zu diesem Gesetz vom 1. Dezember 1939 verpflichtete alle Jugendlichen vom 10. bis zum 18. Lebensjahr, "in der HJ Dienst zu tun". Zugleich wurden die Erziehungsberechtigten verpflichtet, dafür Sorge zu tragen. Bis dahin hatte sich gezeigt, daß keineswegs die ganze Jugend freiwillig in die HJ strömte. Im Dezember 1935 war noch nicht einmal die Hälfte aller Jugendlichen erfaßt, bei Kriegsanbruch waren es zwei Drittel. Nach offiziellen Angaben der Reichsjugendführung sollen 1939 noch über drei Millionen Jugendliche rechtmäßig in anderen Jugendorganisationen gewesen sein (katholische, evangelische, jüdische und bündische) (Kater 1977, S. 170 f.). Die HJ war nicht nur eine Einheitsjugendorganisation, sondern faktisch auch Instanz der Jugendpflege, ferner koordinierte und initiierte sie jugendpolitische Maßnahmen und Aufgabenbereiche. Sie hatte Jugendsprecher in den Betrieben, die sich quasi-gewerkschaftlich der besonderen Interessen jugendlicher Arbeiter und Lehrlinge annehmen und auf die Einhaltung der Jugendschutzbestimmungen achten sollten. - Sie beteiligte sich mit eigenen Vertretern an Beratungen über jugendrechtliche Maßnah-
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men, sie vertrat die Interessen der Jugend in den Gemeinden usw. Sie führte erklärtermaßen (Hitler-Jugend ... 1943, S. 11) die sozialpolitische Tätigkeit des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände weiter, und ihre sozialpolitischen Initiativen und Leistungen trugen in den ersten Jahren vermutlich mehr zu ihrem öffentlichen Ansehen bei als die eigentliche Jugendarbeit.
Schon 1932 hatte die Reichsjugendführung ein "soziales Amt" eingerichtet, das bis zum Ende des Krieges bestehen blieb. Sein Leiter war der 1933 erst 20jährige Arthur Axmann, der aus dem Berliner Wedding stammte und 1940 Schirach als Reichsjugendführer ablöste (Schirach ging damals als Gauleiter nach Wien). Auf seine Initiative hin wurden schon 1933 Reihenuntersuchungen zur Gesundheitsfürsorge durchgeführt und wenn möglich nachgehende Maßnahmen wie Erholungsverschickung usw. eingerichtet. Im Jahre 1938 waren 4000 Ärzte und 800 Zahnärzte für den Gesundheitsdienst der HJ tätig, eine Million Jugendliche wurde untersucht (Hitler-Jugend ... 1943, S. 39).
Schon 1933 beteiligte sich die HJ am "Winterhilfswerk des Deutschen Volkes", das - bei immer noch sehr hoher Arbeitslosigkeit - immerhin fast 500 000 Reichsmark einbrachte, 1942/43 waren es dann fast 33,5 Millionen Reichsmark. Mit diesem Geld sollte bedürftigen "Volksgenossen" geholfen werden.
Im Jahre 1934 wurde die Freizeitpolitik des aufgelösten Reichsausschusses fortgeführt. Die HJ setzte die Betriebe unter Druck, von sich aus vernünftige Urlaubsregelungen zu gewähren. "So wurden schon damals die Mindestbestimmungen des Jugendschutzgesetzes von 1938 eingeführt, und viele Betriebe gingen auch darüber hinaus, indem sie 24 Arbeitstage für das 15., 18 für das 16., 15 für das 17. und 12 Arbeitstage für das 18. Lebensjahr vorsahen" (Hitler-Jugend ... 1943, S. 21). Das dürfte aufs Ganze gesehen zwar übertrieben sein, aber die HJ brauchte die Freizeit für eines ihrer wichtigsten Erziehungsmittel: das Zeltlager. Im Sommer 1933 waren in 450 Zeltlagern rund 100 000 Jugendliche; 1935 in 1789 Zeltlagern fast 500 000; 1936 waren es 1977 Lager mit 560 000 Teilnehmern (nur Jungen; die Mädchen gingen in Jugendherbergen). Von diesen waren immerhin 62,5 Prozent berufstätige Hitlerjungen, die dafür ja Urlaub bekommen mußten.
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Im Jugendschutzgesetz von 1938 - der ersten reichseinheitlichen Urlaubsregelung überhaupt - wurde nicht nur der Urlaub für Jugendliche geregelt, sondern auch die Kinderarbeit verboten, das Schutzalter auf 18 Jahre erhöht, die Berufsschulzeit als Arbeitszeit angerechnet, Nacht- und Sonntagsarbeit verboten - alles Forderungen des alten Reichsausschusses.
Aus der Sicht des einzelnen Jugendlichen stellte sich die HJ als eine umfassende Fürsorge-Institution dar: Jugendvertretung im Betrieb und in der Schule, Berufsberatung, Berufsförderung, Jugendberatung, Jugendschutz usw. gehörten zu ihren Arbeitsgebieten. Im Unterschied zur Weimarer Republik, die kaum etwas für die Jugend getan hatte, brachten die Jahre von 1933 bis 1939 unbezweifelbare Fortschritte für Jugendliche - gerade auch für erwerbstätige. Die HJ verschaffte sich Einfluß und Mitsprache in allen Lebensbereichen, die für die jugendliche Existenz von Bedeutung waren. Das war nicht nur Machtstreben, sondern auch die Verwirklichung einer Idee, nämlich der Idee von der Jugend als eigenem "Stand" im Volksganzen, die fähig sei, sich selbst zu führen.
Das war zweifellos Schirachs Idee, und ihre Kehrseite war natürlich die totale Integration der Jugend in die Gesellschaft. Ganz in diesem Sinne hatte Schirach 1936 aus Anlaß des Hitlerjugendgesetzes in einer Ansprache an die Eltern den Gegensatz der Generationen für überwunden erklärt (Hitler-Jugend ... 1943, S. 28). War die Jugend ein eigener, sich selbst führender "Stand" im Volke, zumal einer, der in sich die Überwindung der Klassenschranken repräsentierte, dann hatte er einerseits auch "Dienste" für das eigene Volk zu verrichten (HJ-Dienst; Wehr- und Arbeitsdienst seit 1935; seit dem Kriege [1939] auch "Jugenddienst"); andererseits mußten dann auch wenigstens im Prinzip Selbstausschlüsse ganzer Gruppen verhindert werden ("bündische Umtriebe"); besondere Interessen, z. B. musisch-kulturelle, hauswirtschaftliche usw. durften dann nur im Rahmen der HJ realisiert werden. Denkt man sich einmal in diese ebenso simple wie anschauliche Idee von der Jugend als selbstgeführtem Stand hinein, dann bekommt die immense Aktivität der HJ bis zum Kriege durchaus Logik und Sinn.
Da gab es also, wie schon erwähnt, verschiedene "Dienste"
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des Standes. Dazu gehörte auch der schon 1934 eingeführte "Streifendienst" der HJ, eine Art von "Standespolizei": Er kontrollierte das Verhalten Jugendlicher in der Öffentlichkeit und die Einhaltung von Jugendschutzbestimmungen in der Freizeit, außerdem sollten feindliche Gruppenbildungen aufgespürt werden. - Ein "Stand" braucht aber auch seine symbolische Selbst-Repräsentation, z. B. Fahnen, Aufmärsche, Rituale usw., die zugleich seine Verbundenheit mit dem "Ganzen" erlebbar machen, z. B. Aufmärsche bei den Reichsparteitagen und bei sonstigen öffentlichen Anlässen. Schirachs Idee hätte es auch widersprochen, wenn sich ein Junge seine Gruppe oder seinen Führer hätte aussuchen können. Und wenn man davon ausging, daß die Frau eine vom Mann unterschiedene Rolle, nämlich im wesentlichen auf Küche und Kinder fixiert, zu spielen habe (was ja schon die Intention der staatlichen Jugendpflege in Weimar war), dann war es nicht unlogisch, ein "weibliches Pflichtjahr" als besonderen weiblichen "Dienst" einzuführen (1938), bei dem unter anderem hauswirtschaftliche und kinderpflegerische Fähigkeiten gelernt werden sollten. (Volkswirtschaftlich gesehen ergab diese Maßnahme natürlich ein Heer billiger Dienstmädchen, aber es ist die Frage, inwieweit dies damals empfunden wurde.) Ebenso lag es in diesem Zusammenhang nahe, den 17- bis 21jährigen Mädchen als Alternative zum üblichen BDM-Dienst das BDM-Werk "Glaube und Schönheit" (1938) anzubieten, das die Mädchen in Arbeitsgemeinschaften für Gymnastik, Hauswirtschaft und andere Interessengebiete zusammenfaßte.
Zu den "Diensten" der Jugend für das "Volk" gehörten in den Friedenszeiten zahlreiche Sammelaktionen.
Am 1. Mai 1939 zählte die HJ 765 000 Führer und Führerinnen, wovon 8017 hauptamtlich tätig waren. Dann kam der Krieg. "Die Deutsche Jugend hat ihn nicht mit lärmender Begeisterung begrüßt, aber sie ist ihm gefaßten Herzens und mit Zuversicht begegnet" (Hitler-Jugend ... 1943, S. 41), heißt es mit bemerkenswerter Zurückhaltung in der Selbstdarstellung der HJ aus dem Jahre 1943.
"Alle Arbeit hatte nunmehr allein der Kriegführung zu dienen. Es kam nicht mehr darauf an, neue Ideen zu verwirklichen und die Planung auf immer weitere Aufgaben zu erstrecken, sondern es galt allein, den Stand der Arbeit zu halten und im übrigen
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den Erfordernissen des Krieges gerecht zu werden. Der Krieg diktierte, was in der Jugendarbeit zu geschehen hatte" (S.41).
Die Jugenddienstordnung von 1939 ermöglichte nun den Kriegseinsatz aller 10- bis 18jährigen. Dabei wurde versucht, zwischen Alter und Geschlecht bei den Aufgaben zu differenzieren. Herausragende Tätigkeiten waren die Ernteeinsätze sowie zahlreiche Sammelaktionen, Botengänge und Kurierdienste, Mithilfe beim Roten Kreuz, bei der Post und bei anderen Behörden. Für die Mädchen kamen vor allem hauswirtschaftliche und soziale Hilfsdienste in Frage sowie Einsatz im Gesundheitsdienst. Auf Vorschlag der Hitlerjugend wurden jedoch regelrechte Dienstverpflichtungen von Jugendlichen vor Vollendung des 16. Lebensjahres ausgeschlossen; Mädchen unter 18 Jahren sollten nicht an auswärtige Orte dienstverpflichtet werden; der Jugendschutz sollte auch hinsichtlich des Urlaubsrechts erhalten bleiben (Hitler-Jugend 1943, S. 48). Je länger jedoch der Krieg dauerte, um so weniger waren solche Absichten durchzuhalten. Ein wichtiges Betätigungsfeld im Kriege wurde für die HJ die Kinderlandverschickung (KLV). Seit 1940 wurden Kinder und Jugendliche - oft ganze Schulen mit ihren Lehrern - aus bombengefährdeten Gebieten in Lager verschickt, die in ländlichen Gebieten errichtet wurden und von einem Lehrer und einem HJ-Führer geleitet wurden. Die Lehrer waren für den Unterricht zuständig, die HJ für die außerschulische Freizeitgestaltung. Ende 1942 waren es rund 2000 Lager mit etwa 100 000 Jungen und Mädchen (S. 53). Eine Reihe dieser Lager wurden 1944/45 von der Roten Armee überrannt, weil sie nicht rechtzeitig geräumt worden waren.
Gegen Ende des Krieges wurden Hitlerjungen auch militärisch eingesetzt, bei der Flak sowohl als auch gegen die anrückenden Truppen der Alliierten. Zu einer traurigen, aber durchaus symbolischen Berühmtheit gelangte dabei die aus Hitlerjungen zusammengestellte "SS-Panzerdivision Hitlerjugend", die innerhalb weniger Wochen in der Normandie gegen die Alliierten Truppen buchstäblich "verheizt" wurde. Reichsjugendführer Axmann erklärte noch am 28. März 1945 mit dem damals üblichen Pathos:
"Aus der Hitlerjugend ist die Bewegung der jungen Panzerbrecher entstanden ... es gibt nur Sieg oder Untergang. Seid
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grenzenlos in der Liebe zu Eurem Volk und ebenso grenzenlos im Haß gegen den Feind. Eure Pflicht ist es, zu wachen, wenn andere müde werden; zu stehen, wenn andere weichen. Eure größte Ehre sei aber Eure unerschütterliche Treue zu Adolf Hitler!" (zit. n. Koch 1979, S. 371).
Da Sieg schon lange nicht mehr in Frage kam, blieb nur noch der selbstmörderische Untergang.
Aus dem Bild des fanatisch und selbstmörderisch kämpfenden Hitlerjungen könnte man auf den ersten Blick schließen, daß die HJ-Erziehung in diesem Typus nicht nur ihre höchste Erfüllung gefunden habe, sondern daß er auch das notwendige Ergebnis dieser Erziehung gewesen sei. Jedoch ist Vorsicht geboten. Erstens nämlich handelt es sich um eine Minderheit, die zum Teil nicht einmal freiwillig in den Kampf ging. Zweitens war seit fünf Jahren Krieg, der von beiden Seiten mit nie gekannter Brutalität geführt wurde. Kinder und Jugendliche hatten z. B. zum großen Teil eigene Erfahrungen mit Luftangriffen, und die nationalsozialistische Greuelpropaganda konnte ihnen angesichts solcher Erfahrungen ausmalen, was geschehen würde, wenn Deutschland den Krieg verlieren würde. Zweifellos hatte die HJ-Erziehung bestimmte Dispositionen geschaffen, von denen noch die Rede sein wird, aber in den letzten Kriegsjahren konnte von einer planmäßigen Erziehungsarbeit kaum noch gesprochen werden, die meiste Zeit wurde mit kriegsbedingten "Einsätzen" verbracht. Die "Erziehung" übernahm der Krieg selbst mit seinen Auswirkungen und eine Propaganda, die sich gar nicht mehr speziell an die Jugend wandte, sondern an alle Bewohner - nicht zu vergessen die Erfahrungen, die durch die tägliche Anstrengung ums Überleben in den Familien entstanden.
Wenn man also die erzieherische Bedeutung der HJ würdigen will, dann muß man die Vorkriegszeit betrachten. Dazu einige mir wesentlich erscheinende Aspekte.
1. Die "Ideologie" des Nationalsozialismus war so dürftig, daß sie nicht einmal für die "weltanschauliche Schulung" mehr hergab, als die unablässige Wiederholung der
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selben Sprüche: Der Gegner sei das Weltjudentum; der Sieg gehöre immer dem Stärkeren; um stärker als der Gegner zu sein, müsse man sich körperlich fit und das Blut "rein" halten und militärische Fähigkeiten trainieren. Vor allem müsse das Volk einig sein und jeder den ihm zugewiesenen Platz ausfüllen; Einigkeit, Wille und Macht des Volkes repräsentiere der Führer.
Hinzu kam ein "Geschichtsbild", das die Vorzüge der arischen Rasse zeigte, Hitler und die NSDAP im besten Lichte erscheinen ließ und das Deutschlands Feinde bloßstellte. Dies konnte je nach politischer Aktualität variiert werden. Schon 1934 hatte die Reichsjugendführung begonnen, für die vier Gliederungen der HJ im 14-Tage-Abstand Schulungsmappen für die Heimabende herauszugeben, die Thema und Art der Durchführung vorschrieben. Hinzu kam einmal wöchentlich die Rundfunksendung "Stunde der jungen Generation", die vor allem geschichtliche Themen in Hörspielform brachte. Aber die Ideologie gab nichts her, man konnte sie nur zur Kenntnis nehmen. Melitta Maschmann schreibt im Rückblick:
"Die Heimabende, zu denen man sich in einem dunklen und schmutzigen Keller traf, waren von einer fatalen Inhaltslosigkeit. Die Zeit wurde mit dem Einkassieren der Beiträge, mit dem Führen unzähliger Listen und dem Einpauken von Liedertexten totgeschlagen, über deren sprachliche Dürftigkeit ich trotz redlicher Mühe nicht hinweg sehen konnte. Aussprachen über politische Texte - etwa aus "Mein Kampf" - endeten schnell in allgemeinem Verstummen" (S. 17).
Es war eine Ideologie, die man nur durch Glauben sich aneignen konnte, nicht durch irgendeine Form der geistigen Arbeit, von kritischer Erörterung ganz zu schweigen. Es ist schwer zu entscheiden, wieweit solche Glaubenssätze tragen konnten. Wahrscheinlich hing dies unter anderem ab von der jeweiligen psychischen Konstitution, also davon, wofür sie eigentlich gebraucht wurden. M. Maschmann zum Beispiel engagierte sich mit 17 Jahren in der HJ wegen einer enttäuschten Liebe.
"Der unglückliche Verlauf meiner ersten Liebe hatte mich in eine ausweglos scheinende Verzweiflung gestürzt. Jetzt empfand ich: Du bist gerettet. Künftig kann es nie wieder eine solche Krise für Dich geben, denn Dein Leben hat jetzt einen Sinn, der unabhängig von Dir selbst ist. Es ist nicht wichtig, daß Du glücklich bist, aber es ist wichtig, daß Du für Deutschland arbeitest" (S. 23).
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In diesem Falle konnten die ideologischen Glaubenssätze als eine immer wiederkehrende "Botschaft vom Über-Ich" benutzt werden, der man sich nur hingeben und unterwerfen mußte. Aber solche personenbezogenen Interpretationen müssen Spekulation bleiben. Wichtiger erscheint mir das geistige und intellektuelle Klima, das die weltanschauliche Schulung herstellte. Argumentieren, Denken, Besinnung, Reflexion waren praktisch ausgeblendet, hatten keinen Ort in der Jugendgruppe. Die intellektuellen Fähigkeiten wurden, wenn sie überhaupt angesprochen wurden, aufs Technisch-Instrumentelle gerichtet, auf das organisatorisch und sonstwie Machbare: Spektakuläre Ereignisse und Aktivitäten und der Rausch der zahlenmäßigen Erfolge ersetzten substantielles Nachdenken über den Sinn der Sache.
2. Für sich genommen bedeutet dies alles, daß damit eigentlich der Jugend die "klassische" Form der Pubertät verwehrt wurde, insofern ja gerade dafür unter anderem charakteristisch ist das "Problematisieren" vorgefundener Werte, Maßstäbe und Haltungen mit dem Ziel der je individuellen Version von Identität. Nun muß man allerdings bedenken, daß die HJ zwar neben Elternhaus und Schule sich als eigenständigen Erziehungsbereich begriff, daß aber schon rein zeitlich die Wirkungen der anderen Erziehungsträger - möglicherweise auch einer Kirche - größer waren. Es ist generell schwer abzuschätzen, für wieviele Jugendliche sich daraus produktive Spannungen - durchaus auch im Sinne von Loyalitätskonflikten - ergaben, die gleichwohl die in der Pubertät zu erbringenden Ich-Leistungen ermöglicht haben. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung kann man aber wohl sagen, daß die HJ nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Versuchung bot, den Problemen der Ich-Findung auszuweichen durch frühzeitige Identifikation mit einer das aktive Potential der jungen Persönlichkeit herausfordernden Idee bzw. Organisation.
3. Diese Tendenz wurde unterstützt durch den unermüdlichen, im wörtlichen Sinne "besinnungslosen" Aktivismus, der der HJ eigentümlich war. Heimabend, Dienst, Appell, Sammlungen und Wettkämpfe boten schier unbegrenzte
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Möglichkeiten für Aktivitäten. Damit ließen sich nicht nur persönliche Probleme verdecken, sie waren auch mit einem hohen Angebot von öffentlicher Anerkennung und Selbstbestätigungen verknüpft, dessen der Pubertierende so sehr bedarf. Noch nie zuvor wurden junge Menschen scheinbar so ernst und in die Verantwortung genommen. Aber das war eine Täuschung, und zwar eine allseitige. Zu Recht stellt Helga Grebing im Nachwort zu Maschmanns "Fazit" fest:
"Ohne Zweifel hat es diese Führungselite in Hochstimmung versetzt, in ihrer Arbeit gewisse Spielräume für Mut, Fantasie, Unternehmungsgeist und Verantwortung ausnutzen zu können. Nur fragten sie nicht danach, was diesen Tugenden eigentlich ihren Sinn gab. Sie glaubten an die Sinnerfülltheit ihres Daseins, getragen von einem Sendungsbewußtsein: im Auftrage Deutschlands zu handeln. Sie empfanden es als Auszeichnung, mithelfen zu können an der Gestaltung Groß-Deutschlands - bis zum Ural, wenn es sein sollte. Isoliert bzw. sich isolierend blieben sie ohne Einsicht und Gefühl dafür, daß sie ihren Untergebenen 'Gemeinschaft' diktierten, daß 'Opferbereitschaft' befohlen wurde und daß keine Jugendorganisation jemals weniger bei der Gestaltung ihrer Aufgaben mitgewirkt hat als die Hitler-Jugend" (S. 246 f.).
Aber auch das hauptamtliche Führerkorps erlag einer Selbsttäuschung. In wenigen Jahren war nämlich die Reichsjugendführung zu einer gewaltigen Bürokratie angewachsen, die Führer mußten immer neue Aktivitäten in einer Art von Selbstlauf inszenieren, und sie mußten sich dabei zwangsläufig verbrauchen. Das wird nicht nur in der Autobiographie von Maschmann deutlich, sondern auch in einer präzisen Charakteristik Schirachs durch Fest.
"Sein Studium hatte er, bald mit zahlreichen Funktionärsaufgaben belastet, nicht abgeschlossen, und offensichtlich ist diese scheinbare Äußerlichkeit nicht ohne Bedeutung für seine persönliche Entwicklung gewesen; immer wirkte er wie ein Student, unfertig im guten wie im schlechten Sinne: idealistisch, Iyrisch, studiert. Nie hat er es vermocht, zum wirklichen Repräsentanten der HJ zu werden, und wenn er schon nicht auf die Herkunft aus dem großstädtischen Arbeiter- oder Mittelstandsmilieu verweisen konnte, so entsprach seine äußere Erscheinung noch weit weniger dem Idealtypus des Hitlerjungen: Er war weder hart, noch zäh, noch flink, wie es die berühmte, von Hitler selbst formulierte Parole wollte, sondern ein großer, verwöhnter Junge aus gutem Hause, der den rauhen und zackigen Stil der Jungenkameradschaft bemüht kopierte. Seine ungepräg-
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ten, eher weichen Züge waren nicht frei von femininem Einschlag, und solange er im Amt war, wollten die Gerüchte über sein angeblich weißes, mädchenhaft eingerichtetes Schlafzimmer nicht verstummen. In der braunen Uniform wirkte er immer wie verkleidet. Mühsam stilisierte er sich zu verlangten Haltungen und lebte dem robusten Draufgängerideal des Hitlerjungen nach, das er selbst mitgeschaffen hatte, ohne ihm doch je entsprechen zu können. Dieses Bewußtsein hat schließlich seine ganze Persönlichkeitsstruktur verfälscht und ihr die unechten, erkünstelten Züge untermischt. Sein Pathos ebenso wie die Arroganz, die ihm vorgeworfen wurde, waren Folge jener unablässigen Verstellung, selbst die kameradschaftlichen Gesten wirkten prätentiös und auf hergeholte Weise leutselig" (Fest, S. 309).
4. Von Bedeutung waren also weniger die intentionalen Erziehungsaspekte, als vielmehr die funktionalen: Unter Umgehung der Vernunft und des Denkens wurden pädagogisch bedeutsame "Felder" in bestimmter Weise arrangiert. Dominant war dabei das militärische Grundmuster: Es gab nun "Einheiten" statt Gruppen, vorgegebene Führer, Befehl und Gehorsam und ein militärisches Dienst-Reglement. Dem war alles andere untergeordnet, z. B. Sport oder Singen und Musizieren. Es handelte sich um eine Art von Freizeitverbringung in der Sozialform des Militärs. Das mußte zu massiven Reduktionen führen. Einmal in sozialer Hinsicht, insofern eine Fülle anderer, eben nicht-militärischer Sozialbeziehungen ausgeblendet blieb. Der soziale Vorstellungs-, Erfahrungs- und Erlebnishorizont mußte so aufs Militärische sich reduzieren.
Die Reduktion betraf aber auch die kulturelle Dimension. Singen, Texten und Musizieren waren im wesentlichen zugeschnitten auf die Brauchbarkeit im Rahmen des militärischen Rituals, einschließlich der Massenkundgebungen und Feste. Künstlerische Qualität war auch vorher kein Merkmal der bürgerlichen Jugendbewegung, und so blieb es auch in der HJ. Allerdings blieb nun die Jugend von der zeitgenössischen Literatur, Musik und Kunst praktisch abgeschnitten. Wie alles, so wurde auch der musisch-kulturelle Bereich ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner Instrumentalisierbarkeit gesehen - nicht nur im Hinblick auf die organisatorischen Bedingungen, sondern auch im Hinblick auf die Rituale. Die "Kultur" der HJ war abgestimmt auf eine Emotionalität, deren Leitmotive Volk, Kampf, Held, Treue, Opfer und Tod waren.
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Der Nationalsozialismus setzte also nicht auf planmäßige Indoktrination des Bewußtseins, sondern auf die gefühlsmäßige Verankerung des einzelnen in den "Formationen", wie Hitler selbst es in einer Rede von 1938 beschreibt:
"Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes, als deutsch denken, deutsch handeln und wenn diese Knaben mit 10 Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK usw. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS usw., und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben" (zit. n. Fest, S. 311 f.).
5. Die "Formations-Erziehung" legte eine Haltung nahe, die die Inhalte der Hingabe im Grunde austauschbar machte, sofern nur das Gefühl der emotionalen und sozialen Integration gewahrt blieb; denn die Leitmotive der NS-Ideologie waren ohnehin so vage, daß sie entweder präzisiert werden mußten (was nicht geschah), oder "verkörpert" werden mußten durch die Person des Führers. Als diese "Verkörperung" - durch Hitlers Tod - entfiel, brach auch das Gefühl des Integriertseins zusammen und zurück blieb Leere. Andererseits mag diese eigentümliche Disposition - Integriertsein als Selbstzweck - vielen ehemaligen Nationalsozialisten das Einleben in die Demokratie nach 1945 erleichtert haben, solange jedenfalls in der ersten Phase der neuen Republik die Institutionen und Organisationen (z. B. Parteien und Kirchen) diesem Bedürfnis entgegenkommen konnten.
Jedenfalls war die HJ-Erziehung - so paradox es klingen mag - zutiefst unpolitisch in dem Sinne, daß politische Erfahrungen und politische Wertbildungen verhindert wur-
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den. Die Jugend wurde gesellschaftlich-politisch neutralisiert, innovierende Impulse der Jungen auf die Alten, also auf die neu etablierten Machtträger, waren praktisch ausgeschlossen.
6. Auch die HJ bot also der jungen Generation Identität durch Identifikation an, allerdings in einem spezifischen Sinne. Wir hatten gesehen, daß das Problem der Identität und damit der Kulturpubertät ja darauf beruhte, daß durch den sozialen Wandel für das Jugendalter ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum entstand, der durch je individuelle Verarbeitung ausgefüllt werden mußte. Der Nationalsozialismus beseitigte nun diesen Spielraum weitgehend dadurch, daß er das Jugendalter als eigentümliche Lebensphase abschaffte, indem er es zu einem "Stand" bzw. zu einer Formation machte, die sich von den anderen Formationen in nichts wesentlich unterschied. Schirachs Bemerkung vom Ende des Generationsgegensatzes meint genau dies. Nicht Bindung an gleichaltrige oder ältere Führer, noch individuelle Autonomie waren das Ziel, sondern Integration in wechselnden Einheiten. Damit hatte die Entwicklung der Jugendverbände einen Abschluß gefunden, der sich schon in der Weimarer Zeit abzuzeichnen begann. In dieser Zeit entstand "die massenhafte Ausbreitung jugendbewegter Lebensformen bei einer immer stärkeren Integration der Jugend in die Erwachsenenwelt selbst. Die ehemaligen Ansätze zu einer Gegen-Kultur verwandelten sich zu einem Sektor der Kultur der Erwachsenen" (Linse 1978, S. 39). In der Tat hatte die HJ eigentlich nichts von dem erfunden, was ihre Eigentümlichkeit ausmacht. Führerprinzip, Kluft, Rituale, Mythen, völkischer Antisemitismus, Liedgut usw. hatte sie von den Bünden übernommen, die altersspezifische Organisationsgliederung im wesentlichen von den Neupfadfindern, die Massenkundgebung mit ihren eigentümlichen Ritualen von den Sozialisten, und das Marschieren war ohnehin eine disziplinarische Notwendigkeit für jeden, der Massen von Jugendlichen auf die Straße bringen wollte. Grundlegende Klischees zum Beispiel über das Männlichkeits- und Weiblichkeitsideal bestimmten bereits die Vorstellungen der staatlichen Jugendpflege in der Weimarer Republik. Selbst der Absolutheitsanspruch war mehr oder weniger den frü-
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heren Jugendverbänden eigen - allerdings hätten bei weitem nicht alle diesen Anspruch wie die Hitlerjugend mit Gewalt durchgesetzt, wenn sie die Chance dazu gehabt hätten. Sogar die jugendpolitischen Maßnahmen der HJ waren bereits im Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände - und das heißt, als von allen Jugendverbänden gemeinsam getragene Forderungen - formuliert worden. Nicht ohne Grund konnte sich also die HJ als Erfüllerin und Vollenderin von längst erwünschten, aber im alten "System" nicht realisierbaren Forderungen und Hoffnungen verstehen. Das gab ihr - trotz ihrer Rechtsbrüche - in der Bevölkerung und in der jungen Generation eine nicht zu übersehende Legitimation.
7. Wir hatten schon mehrmals auf die "Gleichgestimmtheit" zwischen dem Generationsgefühl der bürgerlichen Jugend am Ende der Weimarer Republik und der HJ hingewiesen. Nun ginge es sicher zu weit, zu behaupten, dieses Generationsgefühl sei die eigentliche Ursache für die HJ gewesen, aber man muß die - gewiß spekulative - Frage stellen, ob ohne den Kriegsausbruch die HJ nicht auf einen neuen "Sozialisationstyp" getroffen wäre, auf den sie sich neu hätte einstellen müssen, der möglicherweise wieder nach einem "Freiraum" oder nach intellektuell Anspruchsvollerem verlangt hätte. Spätestens ab 1937 wurde der aktivistische Leerlauf in der HJ zunehmend empfunden, und die Klagen über Disziplinlosigkeit und Desinteresse häuften sich. Zudem waren die Aufstiegschancen auf dem Weg über die HJ nicht mehr so groß wie am Anfang; denn die Führungspositionen waren im wesentlichen mit jungen Leuten auf lange Zeit besetzt. Größere Chancen eröffneten sich nun im Berufsbereich, denn es herrschte nun Mangel an qualifizierten Facharbeitern, und eine ordentliche Schul- und Hochschulausbildung, insbesondere im technischen Bereich, eröffnete mehr Aussichten als der Weg über die HJ.
Der inhaltlich wenig festgelegte Dynamismus des Nationalsozialismus war zwar geeignet für die Eroberung der Macht und für einen ersten Aufbau, aber sehr viel weniger für die Gestaltung des Alltags in einem konsolidierten und "befriedeten" Gemeinwesen. Das galt auch für die HJ, und insofern war "Krieg" möglicherweise die innere Logik
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eines solchen Herrschaftssystems, weil Ruhe und Frieden es irgendwann ausgehöhlt und ihm die Legitimation genommen hätten.
8. Die NS-Ideologie sah im (jungen) Menschen nicht ein eigenverantwortliches Individuum. Ihr antiliberaler Affekt war auch ein Affekt gegen die liberale Idee vom mündigen Individuum. Dem widersprach nicht die jugendpolitische Rührigkeit der HJ, denn die Fürsorge galt dem einzelnen nur, insofern er als nützliches und notwendiges Glied der "Volksgemeinschaft" gelten konnte. Wer einer solchen Erwartung nicht gerecht werden konnte, z. B. weil er behindert war, der traf auch nicht auf das fürsorgerische Interesse der HJ. Die damals pathetisch beschworene "Volksgemeinschaft" hatte also nicht nur ihre rassistischen Grenzen, insofern z. B. für Juden darin kein Platz war, ihre Solidarität mit den schwächeren Volksgenossen war auch nicht sonderlich entwickelt, sofern es sich nicht um schuldlos Arbeitslose oder um Kriegsverletzte handelte. Die in der HJ geprägte Sozialvorstellung bestand nicht nur in der schon erwähnten Reduktion aller denkbaren Sozialformen auf das militärische Modell. Hinzu kam vielmehr die Vorstellung von der biologischen Determiniertheit der sozialen Zugehörigkeit und der physischen und psychischen Konstitution. Diese Vorstellung schloß im Grunde jede ernsthafte soziale Verantwortung aus. Die Tatsache etwa, daß der eine Jude und der andere "Deutscher" war, ließ sich nur durch "Ausgliederung" und später Ermordung der "Anderen" "beseitigen", nicht etwa durch gemeinsames soziales Handeln produktiv gestalten. Deshalb gab es in einem strengen Sinne des Wortes auch kein solidarisches Handeln. Solidarität setzt voraus, daß die "Schwäche" des anderen, die es zu mildern gilt, als das jedem Mitglied der Solidargemeinschaft jederzeit mögliche eigene Schicksal angesehen werden kann. Dies wiederum setzt in irgendeiner Weise ein Verständnis des Menschen als "Selbstzweck" voraus. Biologistisches Denken jedoch kann weder moralisch noch praktisch eine solche Position einnehmen; gegenüber der "Natürlichkeit" der sozialen Gegebenheiten gibt es vernünftigerweise nur Unterwerfung, kein auf Änderung und Milderung zielendes Handeln.
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So gesehen konnte die HJ nicht zur sozialen Verantwortung erziehen, so sehr sie sich auch - nicht ganz zu unrecht - rühmte, in ihren Reihen die "Klassengegensätze" weitgehend überwunden zu haben. Selbst die Wohlfahrtsaktivitäten der HJ beruhten nicht auf einer regulativen Idee sozialer Verantwortung, denn derjenige, der heute noch eine Spende in die Sammelbüchse gegeben hatte, konnte morgen von der Gestapo abgeholt werden, ohne daß dies der Idee der "Volksgemeinschaft" irgendwie Abbruch getan hätte. Sozialpolitischer Aktivismus und Enthusiasmus muß also keineswegs per se schon ein pädagogisches Konzept von sozialer Verantwortung enthalten.
9. Überhaupt ist die Frage, ob in der HJ wirklich zu einer Art von persönlicher Verantwortlichkeit erzogen wurde. Einerseits mußten tatsächlich viele zum Teil recht junge Führer für "ihre" Leute Verantwortung übernehmen: sie führen, beaufsichtigen usw. Andererseits aber galt die Verantwortung nicht den Geführten oder ihren Eltern, sondern der Führungshierarchie der HJ. Es handelte sich um "Dienst", und die Verantwortung der Führer und Geführten reduzierte sich auf das, was innerhalb des Dienstreglements vorgesehen war. Verantwortung war also inhaltsneutral funktionalisiert, d. h. die inhaltlichen Anweisungen und Befehle hatten ihre Berechtigung nur in der Tatsache, daß sie von der zuständigen Stelle der Hierarchie erteilt wurden.
Das legt die Frage nach der Eigenart des pädagogischen Bezugs in der HJ nahe. Die Jugendbewegung hatte ja, wie wir sahen, zu diesem Punkt bedeutsame Neuerungen eingeführt. Wenn man bei der HJ überhaupt von einem "erzieherischen Verhältnis" sprechen kann, dann war es ungemein reduziert. Sowohl aus ideologischen Gründen wie auch aus Gründen des Dienstreglements - die Teilnahme an den Veranstaltungen der HJ war "Dienst" und keine Freizeit, oder genauer: für den "Dienst" in Anspruch genommene Freizeit! - war eine offene Kommunikation "über Gott und die Welt" nicht vorgesehen. Daß sie trotzdem durchaus zustandekommen konnte, wenn die Mitglieder der Gruppen entsprechend gut zueinander paßten, soll nicht bestritten werden. Aber dann waren sie eher verdächtig als unerwünscht; denn sie konnten nicht nur
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zu Widerstand führen, sondern auch dazu, die von außen (bzw. von oben) gegebenen Ziele und Erwartungen weniger wichtig zu nehmen. Verbindliche menschliche Beziehungen widersprachen dem System der HJ. Es war darauf ausgerichtet, "Persönliches", das ja zumal in den Jahren der Pubertät zum verhaßten "Problematisieren" führen mußte, für unwichtig zu erklären, also den "pädagogischen Bezug" auf bestimmte Rituale zu beschränken. Das in der Pubertät vorhandene Potential an Kritik und Rebellion wurde so nach außen gewendet, zum einen in die sportliche Ablenkung und zum anderen in den ständigen Aktivismus. Auf diese Weise wurde die Dynamik der Pubertät gleichsam gefahrlos für das gesellschaftliche System kanalisiert. Da aber im offiziellen Rahmen der HJ über nichts ernsthaft nachgedacht werden konnte - auch nicht über "Persönliches" - mußte dieses Bedürfnis der Familie bzw. dem Freundeskreis vorbehalten bleiben. Die HJ hat also gewissermaßen den Raum, der gerade erst für die problematischen Aspekte der Pubertät geöffnet worden war, diesem Bedürfnis wieder entzogen. Das scheint mir einer der folgenreichsten Aspekte der HJ-Erziehung gewesen zu sein, und es ist die Frage, wie diese Generation eigentlich mit diesen Bedürfnissen fertig geworden ist. Hat sie außerhalb der HJ dafür einen sozialen Ort gefunden, oder hat sie sie einfach verdrängt? Es wäre denkbar, daß die von der HJ betriebene Abschaffung der Pubertät als eines gesellschaftlichen Problems tiefe Spuren in der damaligen jungen Generation hinterlassen hat, insofern die Ich-Entwicklung und damit die Entwicklung angemessener sozialer Vorstellungen und Verantwortlichkeiten entscheidend geschwächt wurde. Insbesondere auch die emotionale Entwicklung, und damit die Entwicklung bedeutender mitmenschlicher Fähigkeiten, muß zu kurz gekommen sein.
Wenn es zutrifft, daß für jede Erziehungssituation Art und Ausmaß des pädagogischen Bezugs konstitutiv ist, dann wird fraglich, ob man bei der HJ überhaupt noch von "Erziehung" sprechen kann, oder ob es sich dabei nicht eher um eine Art von gewöhnender Sozialisierung gehandelt hat.
10. In diesem Zusammenhang muß auch etwas über den jugendlichen Widerstand gegen die HJ gesagt werden, den
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wir hier allerdings im Ganzen nicht würdigen können. Die Entscheidung, nach 1933 der HJ fernzubleiben, war für einen Jugendlichen mit erheblichen Risiken verbunden. Einmal hätte er sich fernhalten müssen von etwas, was öffentliche Geltung versprach, sich möglicherweise neue Freunde suchen müssen, und er wäre in seiner beruflichen Karriere voraussichtlich mehr oder weniger behindert worden. Dafür mußte man also schon sehr wichtige Gründe und vor allem auch stabile soziale und normative Stützen haben, z. B. Elternhaus, Freunde, oder kirchliches Engagement. So oder so mußte man sich also auf ein "alternatives Leben" einlassen, und zwar auf ein im Hinblick auf öffentliche Geltung und öffentliche Anerkennung depriviertes.
Wie sich dies auf die Sozialisation derjenigen ausgewirkt hat, die nicht der HJ beitraten - und das war 1939 immerhin noch ein Drittel - läßt sich pauschal nicht klären. Aber zumindest muß man vermuten, daß viele davon das erworben hatten oder dabei erwarben, was in der HJ keine Bedeutung hatte: Ich-Stärke und Autonomie. Und möglicherweise gewann in der Distanz zur HJ hier ein Generationsteil Profil, von dem wir viel zu wenig wissen, weil er sich öffentlich nicht artikulieren konnte. Wir wissen wohl etwas über bestimmte Gruppen, die wie die "weiße Rose" öffentlich angeklagt wurden. Aber sie dürften doch hinsichtlich ihres politisch-moralischen Engagements eine kleine Minderheit gewesen sein.
Der alltägliche Widerstand, der für unseren Aspekt der Identitätsfindung von Bedeutung ist, mußte nämlich gar nicht erst politisch motiviert sein. Sieht man sich das vorhin skizzierte Erziehungsprofil der HJ an, dann war es schon "Widerstand", wenn man andere kulturelle Interessen verfolgte, z. B. verbotene Literatur las und mit Freunden darüber diskutierte, und wenn man sich gegen das Freizeit-Monopol der HJ wandte, weil z. B. einfach nicht einzusehen war, wieso man nur im Rahmen der HJ und nicht auch wie früher mit ein paar Freunden auf Fahrt gehen durfte, und keine bündischen Lieder singen durfte. Solche Wünsche mußten gar keine politischen Motive haben, es waren schlichte Freizeitwünsche.
Eine Variante dieses "alternativen Lebens" war eine Art von "Mitläuferschaft unter Vorbehalt": Man machte in
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der HJ mit, soweit es sich nicht vermeiden ließ, versuchte aber, jenseits davon ein Stück privaten Freizeitlebens zu retten. Schwieriger wurde es, wenn man einem zwar formell noch nicht verbotenen, aber ständig bedrohten und schikanierten Jugendverband angehörte, wie der katholischen Jugend. Trotz allem Opportunismus der katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus waren die weltanschaulichen Positionen in wichtigen Fragen kaum zu überbrücken. Wer die Lehre des Katholizismus ernst nahm, mußte in einen Loyalitätskonflikt mit dem NS-Staat geraten - es sei denn, er nahm die Ideologie des NS ebenfalls instrumentell und in der Substanz nicht ernst. Diese Hinweise müssen hier genügen. Sie sollen zeigen, daß die HJ gerade durch ihren Absolutheitsanspruch diejenigen, die aus welchen Motiven auch immer auf Distanz zu ihr gingen, zwang, ihr Verhalten zu reflektieren und zumindest in einem taktischen Sinne auch zu "politisieren", um nämlich mit der eigenen Haltung "überleben" zu können. Jedenfalls gab es 1945 nicht nur eine von der HJ sozialisierte Jugend, sondern auch einen nicht geringen Teil von Jugendlichen, die durch eine mehr oder weniger große Distanz zu ihr sozialisiert worden waren.
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