Hermann Giesecke

Methodik des politischen Unterrichts

München: Juventa-Verlag 1973

2. Kapitel:

Gefährdungen der Unterrichtskommunikation

© Hermann Giesecke
Inhaltsverzeichnis
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2. Kapitel:  Gefährdungen der Unterrichtskommunikation


Nur im Idealfall gelingt die Unterrichtskommunikation in vollem Umfange, was bedeuten würde: über die anzusteuernden Unterrichtsziele herrscht zwischen Lehrenden und Lernenden Einigkeit, und sie werden in der in Aussicht genommenen Zeit auch tatsächlich realisiert, ohne daß Schwierigkeiten auftauchen, die Umwege erforderlich machen. Könnten wir immer von diesem Idealfall ausgehen, so würde sich die didaktische wie die methodische Problematik erheblich reduzieren und im Extremfalle sogar ganz verschwinden. Tatsächlich jedoch ist die Praxis des Unterrichts gerade durch die ständige Gefahr des teilweisen oder ganzen Mißlingens gekennzeichnet. Etwas überspitzt ausgedrückt: Die methodische Theorie ist weniger eine Theorie über den gelungenen Unterricht als vielmehr eine Theorie über die Faktoren des möglichen Mißlingens und darüber, wie man die Zahl und das Ausmaß solcher Faktoren möglichst gering halten kann. Bevor wir uns den Inhalten der politischen Unterrichtskommunikation zuwenden, sollen daher mögliche Störfaktoren beschrieben werden.

Es mag zunächst verwundern, daß von diesen Schwierigkeiten gleich zu Beginn die Rede ist und nicht etwa erst am Schluß, wenn die einzelnen Aspekte der Kommunikation näher bestimmt sind. Uns liegt jedoch daran, von Beginn an von der Vorstellung wegzukommen, erst müsse das "Richtige" gedanklich entworfen werden, und dann könne man erst nach den Schwierigkeiten und Problemen fragen. Dies wäre eben kein praxisrelevanter Denktypus; so kann niemand denken, der praktische Probleme zu lösen hat. Für denjenigen, der Unterricht betreibt, ist nicht seine eigene Intention das erste und vorherrschende Problem, sondern, daß die Kommunikation nicht funktioniert und Schwierigkeiten enthält, und er wird sehr bald anfangen müssen, auch von diesen Schwierigkeiten her zu denken und zu handeln.

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Nun hat es wenig Sinn, bei solchen Störungen nach "Schuldigen" zu fahnden. Wenn im folgenden mögliche Störungen aus der Perspektive des Lehrers, des Schülers und schließlich der Institution beschrieben werden, so hat das praktische Gründe, weil sie so besser aufzuzählen und zu systematisieren sind. Tatsächlich jedoch sind sie eine Sache der Wechselwirkung, d. h. sie könnten fast alle auch von einer anderen Perspektive aus beschrieben werden. Der größte Anteil fällt im folgenden nur deshalb auf den Lehrer, weil er von seiner Funktion her - und nicht unbedingt auch als Verursacher - dafür die meiste Verantwortung zu tragen hat.

Hindernisse vom Lehrer aus

Vom Lehrer aus gesehen bieten sich vor allem folgende Probleme an:

1. Der Lehrer beherrscht fachlich nicht das, was er unterrichten soll. Dann wird er entweder sich der Anforderung des politischen Unterrichts überhaupt entziehen, oder er wird auf Gebiete hin überwechseln, die er beherrscht: auf Geschichte etwa oder auf andere, irgendwie mit Politik zusammenhängende Stoffe. Oder er erliegt gar der Versuchung, mit seinem "gesunden Menschenverstand" bzw. mit seinen "politischen Erfahrungen" den Unterricht bestreiten zu wollen. Solche fachlichen Defizite könnten zwar irgendeine Kommunikation ermöglichen, nicht jedoch eine solche, um die es hier im Rahmen der allgemeinen politischen Lernziele geht. In diesem Fall gäbe es keine objektiven Maßstäbe für die planmäßige Bearbeitung des Bewußtseins, vielmehr würde das vorhandene falsche Bewußtsein der Beteiligten nur sozial reproduziert und damit neu legitimiert, bzw. die Schüler würden bloße Meinungen des Lehrers übernehmen, die möglicherweise andere, aber nicht richtigere als die bisherigen sind. Wenn die Unterrichtskommunikation nicht unter dem Anspruch objekti-

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ver, d. h. aus wissenschaftlichen Maßstäben gewonnener intellektueller Gesichtspunkte steht, die für alle Beteiligten gelten, die jedoch der Lehrer in der Regel vorzuführen hat, dann kann sie auch keine emanzipatorische Dimension haben. Nichts wäre verhängnisvoller als die Meinung, methodische Kenntnisse könnten ein Ersatz für wissenschaRlich durchstrukturiertes Bewußtsein in der Sache sein. Erschwerend für den Lehrer ist, daß er im allgemeinen seine fachliche Kompetenz nicht nachweisen muß, solange er allein unterrichtet, weil die Schüler sie im allgemeinen nicht beurteilen können; deshalb wäre es wichtig, daß der Lehrer möglichst auch innerhalb oder außerhalb der Schule mit fachlich qualifizierten Personen über das kommuniziert, was er unterrichtet. Im übrigen soll man sich aber über die fachliche Sensibilität der Schüler nicht täuschen: Sie können zwar in der Regel die fachlichen Defizite des Lehrers nicht "beweisen", sie merken jedoch sehr wohl, ob der Lehrer von dem, was er unterrichtet, selbst genügend versteht oder nicht. Und sie empfinden es mit Recht als Täuschung, wenn ihre Zeit mit unqualifizierten Reden vergeudet wird. Vor allem für ältere Schüler wird die Schule zunehmend zu einer Last, und sie haben einen Anspruch darauf, daß sich der Unterricht wenigstens von der Sache her lohnt.

2. Der Lehrer beherrscht nicht die geeigneten Techniken der Vermittlung, also das, wovon in diesem Buch unter anderem die Rede ist. Es gelingt ihm also nicht, die sachlichen Zusammenhänge und Einsichten auf seine Schüler zu übertragen. Die Bedeutung dieser Fähigkeit wird teils unterschätzt (wie oft an den Universitäten), teils aber auch überschätzt (wie oft an den Pädagogischen Hochschulen). Wenn sich nämlich die Idealform der Kommunikation, wie sie eben geschildert wurde, realisieren ließe, so bedürfte es keiner besonderen Techniken der Vermittlung: der Lehrer würde Aussagen machen und die Schüler würden sie in der gemeinten Weise verstehen. Auch in diesem Falle gäbe es eine Technik der Vermittlung, etwa eine bestimmte Sprachstruktur, aber es wäre nun nicht nötig, damit eine Verstehensdifferenz zu überbrücken. Unter der Voraussetzung

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nämlich, daß der Lehrer hinsichtlich seines wissenschaftlich bearbeiteten politischen Bewußtseins gegenüber den Schülern einen Vorsprung hat, besteht das methodische Grundproblem darin, daß zwischen den Kommunizierenden eine Verstehensdifferenz angenommen werden muß, die nur durch eine angemessene methodische Organisation überbrückt werden kann. (Das damit zusammenhängende Problem, inwieweit die methodische Organisation auch die Sache konstituiert und verändert, soll später noch diskutiert werden; hier sei nur festgestellt, daß prinzipiell jede Aussage einer Technik der Vermittlung bedarf und insofern von dieser mit definiert wird.) Auch darauf, daß der Lehrer sein "Handwerk" versteht, haben die Schüler einen Anspruch, denn sie brauchen dessen Können ja, um ihre politische Existenz bearbeiten zu können.

3. Der Lehrer errichtet zwischen sich und den Schülern - in der Regel unbewußt - emotionale Kommunikationssperren. Da dieses Problem nicht spezifisch für den politischen Unterricht ist, kann es hier auch nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Es reicht in tiefenpsychologische Dimensionen hinein und hat unter anderem damit zu tun, daß der Lehrer in seinen Schülern seiner eigenen Kindheit wiederbegegnet und daß er unbewußt dazu neigt, die unerledigten Probleme und Konflikte seiner Kindheit auf die Schüler zu übertragen. Dies kann - je nach der Art seiner Gefühle und der seiner Partner - fördernde Wirkungen, z. B. zusätzliche Lernmotivationen, haben, aber auch hindernde wie Ängstlichkeit, Unsicherheit und unbewußte Proteste auf seiten der Schüler. Außerdem haben sozialpsychologische Forschungen gezeigt, daß alle Menschen auch in primär sachbezogenen Kommunikationen Bedürfnisse befriedigen wollen, die mit der zur Debatte stehenden Sache nicht unbedingt etwas zu tun haben müssen, ja, für die die "Sache" unter Umständen nur ein unbewußter Vorwand ist. Befriedigt werden will etwa das Bedürfnis nach Anerkennung, nach Liebe, nach Selbstdarstellung oder nach emotionaler Zuwendung überhaupt (vgl. Brocher, 1967). Diese Probleme sind deshalb so kompliziert,

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weil die Gründe und die Inhalte der wechselseitigen Projektionen und Erwartungen unterhalb der Bewußtseinsschranke verlaufen und daher nur schwer bearbeitet werden können.

4. Davon absetzbar - obwohl damit zusammenhängend - ist das weitere Problem, daß der Lehrer mit seinem äußeren Verhalten Kommunikationsschwierigkeiten und Kontaktschwierigkeiten hat. Hierbei handelt es sich um Barrieren, die nicht spezifisch für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen sind, sondern ebenso den Kontakt mit Erwachsenen erschweren. So kann es sein, daß ein Lehrer ganz anders wirkt, als er selbst möchte, daß seine Stimme ungewollt einen Unterton hat, der beim Partner Angst mobilisiert und anderes mehr. Solche Kontaktschwierigkeiten können - sofern sie nicht pathologische Ursachen haben - verhältnismäßig leicht ins Bewußtsein genommen und durch Training beseitigt werden.

Allerdings sollte angemerkt werden, daß die letzten beiden Punkte auch nicht überbewertet werden müssen. Im allgemeinen ist eine "therapeutische" Aufarbeitung dieser unbewußten Kommunikationsbarrieren nicht nötig, weil sie durch die Erfahrung ständiger Wiederholung bei den Partnern oft "von selbst" ins rechte Licht gerückt werden. Dennoch sollte sich jeder Lehrer durch Befragung seiner Bekannten und Freunde versichern, ob er nach deren Eindruck über eine "mittlere Kontaktfähigkeit" verfügt.

5. Der autoritäre Führungsstil des Lehrers steht im Widerspruch zu den politischen Lernzielen und macht diese dadurch unglaubwürdig. Auch dieses Problem hat unbewußte Dimensionen, aber oft auch sehr vordergründige: fachliche Unsicherheit z.B., die sich nicht aufdecken lassen will. Überhaupt verweist autoritäres Verhalten immer auf Defizite der Persönlichkeitsstruktur. Auch hier ergibt sich unter Umständen eine ganze Palette von Schwierigkeiten. Wir wissen inzwischen, daß ein autoritärer Führungsstil Lernmotivationen hemmt und den Schüler aggressiv oder resignativ gegen den Lehrer, seinen Unterricht oder die Schule überhaupt macht. Dies gilt allgemein, ohne Rücksicht auf

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ein bestimmtes Fach oder einen bestimmten Stoff. Für den politischen Unterricht jedoch kommt noch ein Argument hinzu: Hier würde ein autoritärer Stil des Lehrers unmittelbar zu einem Politikum, insofern er nämlich die Schüler an der Ermittlung ihrer politischen bzw. politisch relevanten Interessen hindern würde, indem er die emotionalen und intellektuellen Kapazitäten der Schüler auf die Bewältigung der Unterrichtskommunikation hin ablenkt.

6. Der Lehrer ignoriert die spezifischen (politischen) Interessen seiner Schüler und will ohne Rücksicht darauf das im Unterricht durchsetzen, was er für wichtig hält und was vielleicht objektiv auch wichtig ist. Dann nimmt er die Schüler nicht als Partner, die bereits ihre eigenen politischen Interessen haben, sondern bloß als Lernende, die das, was sie jetzt lernen, eigentlich erst später brauchen. Auch hier können wieder ganze Komplexe von Vorstellungen eine Rolle spielen. So etwa die Meinung, die Schule sei überhaupt politisch-exterritorial, und "Politik" verunreinige nur den pädagogischen Auftrag; oder die Auffassung, das Jugendalter könne noch gar nicht über eigene, gar politisch relevante Interessen verfügen. Tatsächlich jedoch setzt ein politischer Unterricht notwendig voraus, daß seine Adressaten bereits in dem Augenblick, wo unterrichtet wird, eigene politische bzw. politisch relevante Interessen haben.

7. Es gelingt dem Lehrer nicht, den Schüler für den Stoff oder das Thema zu motivieren. Motivieren heißt in unserem Zusammenhang, die objektive Bedeutung des Themas für die subjektiven Interessen und Lebensperspektiven erfahrbar zu machen. Voraussetzung dafür ist, daß der Lehrer sich nicht nur auf die gerade geäußerten Interessen der Schüler verläßt, die ja in gewissem Umfang durch die Sozialisationsinstanzen manipuliert sind, sondern diese gleichsam auf die Probe stellt, um durch ihre Bearbeitung die fundamentalen Interessen und Bedürfnisse sichtbar werden zu lassen. Die wirklich wichtigen und fundamentalen Motivierungen kann der Lehrer nicht herstellen, er kann nur dazu verhelfen, daß sie als undeutlich vorhan-

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dene stärker ins Bewußtsein treten. So gesehen ist das Verbum "motivieren" nur intransitiv zu verwenden, d. h. nur so, daß jemand sich selbst motiviert, aber nicht von anderen motiviert wird. Dazu ist nötig, den Schüler nicht nur als Individuum zu sehen, sondern im Kontext seiner schichten- und klassenspezifischen Sozialisation, die ja die Motivationsstruktur weitgehend präformiert hat. Für einen Hauptschüler z. B., der demnächst Lehrling oder Arbeiter sein wird, ergibt sich in wichtigen Fragen eine ganz andere Motivationslage als für einen gleichaltrigen Oberschüler, dessen Perspektive vielleicht das Hochschulstudium ist. Verallgemeinern läßt sich aus diesem Beispiel, daß für die Motivationsinhalte und -richtungen nicht nur die bisherige Sozialisation von Bedeutung ist, sondern auch die reale gesellschaftliche Perspektive des Schülers. Daraus folgt, daß Motivierungen unter Umständen auch von unterschiedlichen Stoffen bzw. unterschiedlichen Befragungen der politischen Stoffe (Kategorien) abhängig sind. Für den Hauptschüler als künftigen Arbeiter z. B. ist weniger interessant, wie ein Gesetz gemacht wird, da er selbst kaum in die Verlegenheit kommen wird, daran mitzuwirken; interessanter ist für ihn wahrscheinlich, wie man Gesetze optimal für die eigenen Interessen ausnutzen kann.

8. Die eben erwähnte realgesellschaftliche "Perspektive" des Schülers, die je nach sozialer Herkunft unterschiedlich sein kann (vgl. die Ausführungen über "Parteilichkeit" in meiner "Didaktik" S. 190ff.), läßt im Sinne optimaler Motivierung geboten erscheinen, insbesondere der Erschließung und Ausschöpfung gegenwärtiger und künftiger Handlungsperspektiven (im Rahmen der Schülerrolle, der Lehrerrolle, der Arbeitsrolle usw.) genügend Raum im Unterricht zu geben.

9. Damit hängt zusammen die Selbstreflexion des Lehrers über seinen eigenen politisch-gesellschaftlichen Standort Die reale gesellschaftliche Perspektive des Schülers wird oft deshalb vom Lehrer verfehlt, weil sie in der Regel eine andere als die seine ist und weil der Lehrer als Mitglied des Mittelstandes dazu neigt, seine eigene gesellschaftliche Per-

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spektive nicht für eine partikulare, sondern für eine allgemeine zu halten (vgl. das Kapitel über das politische Bewußtsein der Lehrer in meiner "Didaktik der politischen Bildung" S. 62 ff.).

Will der Lehrer also die Kommunikationsbarrieren so gering wie möglich halten, muß er sich folgende Fragen stellen:

1. Habe ich mich selbst genügend informiert über das, was unterrichtet werden soll, so daß ich nicht nur den Schülern sachlich zutreffende Antworten geben kann, sondern auch mit einem erwachsenen Fachmann darüber diskutieren könnte?

2. Habe ich die richtigen Techniken der Vermittlung zum Abbau der Verstehensdifferenz zwischen mir und dem Schüler in optimaler Kombination eingesetzt?

3. Welche eigenen emotionalen Bedürfnisse übertrage ich auf die Schüler und wie reagieren diese darauf?

4. In welcher Weise gehe ich verbal bzw. nicht verbal mit den Schülern um, wie wirkt mein Verhalten und wie reagieren die Schüler darauf ?

5. Welchen Führungsstil wende ich an und wie reagieren die Schüler darauf ?

6. Welche politischen bzw. politisch relevanten Interessen der Schüler kann ich feststellen und wie habe ich diese bei der Unterrichtsplanung berücksichtigt?

7. Habe ich den Unterricht so organisiert, daß die Schüler sich im Kontext ihrer fundamentalen Bedürfnisse und Interessen dafür motivieren können?

8. Habe ich den Unterricht so organisiert, daß die realen gesellschaftlichen Perspektiven der Schüler bzw. ihre gegenwärtigen Handlungsspielräume optimal berücksichtigt wurden?

9. Wie sehe ich meine eigene gesellschaftliche Perspektive angesichts des Unterrichtsstoffes und habe ich diese den Schülern aufgezwungen?

Diese Fragen kann sich der Lehrer nicht jeden Tag und für jede Unterrichtsstunde vorlegen, sonst würde er "über-

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sensibilisiert" und auf diese Weise erst recht die Kommunikation problematisieren. Es genügt, wenn diese Fragen langfristig zum Leitmotiv seiner Selbstreflexion werden. Allerdings kann er die meisten von ihnen gar nicht allein beantworten, sondern er bedarf dafür der Hilfe anderer. Insbesondere die emotionale und Verhaltensdimension ist dem eigenen Bewußtsein nicht ohne weiteres zugänglich. Hilfe kann der Lehrer einmal von seinen Kollegen erbitten, die ihm ihre Beobachtungen mitteilen; und wo Team-Unterricht noch nicht realisiert ist, kann man auch Praktikanten um entsprechende Kontroll-Beobachtungen bitten - was nebenbei bemerkt das Verhältnis von Mentor und Praktikant weniger einseitig machen könnte. Vielfach bestehen bei den Lehrern Hemmungen, sich einer solchen kritischen Beobachtung zu öffnen. Solange solche Kontrollen jedoch nicht auf einem hierarchischen Gefälle beruhen, sondern wechselseitig unter Gleichberechtigten stattfinden, die sich zudem noch einigermaßen sympathisch sind (sonst gehen zuviel aggressive Verfälschungen in die Beobachtungen ein), kann auf diese Weise das berufliche Selbstbewußtsein nur gestärkt, nicht aber geschwächt werden. Und das oft zu hörende Urteil, man wisse über sein Verhältnis zur Klasse sowieso genügend Bescheid, ist inzwischen eindeutig als Illusion erwiesen: Niemand weiß von sich aus genau, wie er auf andere wirkt und was die anderen wirklich von ihm halten.

Hilfe bei dieser Selbstreflexion soll der Lehrer jedoch vor allem auch von seinen Schülern erbitten; denn sie sind ja in erster Linie die Betroffenen und sollten deshalb aktiv an der Oberwindung der Kommunikationsschwierigkeiten beteiligt werden. Dazu gehört zunächst ein Kommunikationsklima, in dem sachliche und auch persönliche Kritik möglich wird. Es wird vor allem dadurch bestimmt, daß Angst (vor dem Lehrer, aber auch vor anderen Schülern) möglichst vermindert wird, daß Lob den Tadel überwiegt, daß ermuntert und geholfen wird und daß vor allem Schwächere nicht noch zusätzlich in Scham und Zweifel gestürzt werden. Ist ein solches Klima hergestellt, kann der

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Lehrer durchaus wenigstens einen Teil der zu seiner Selbstreflexion gehörenden Fragen mitteilen, um auf diese Weise die Schüler auch an der rationalen Bearbeitung der Kommunikationsprobleme zu beteiligen. Vorsicht ist nur geboten bei denjenigen Dimensionen, die in die persönliche Intimität des Lehrers (und natürlich auch des Schülers) hineinreichen, weil eine "Mitverantwortung" dafür die Schüler überfordern dürfte und weil damit überhaupt die gemeinsame Reflexion eine pseudo-therapeutische Schlagseite bekäme. Ein Mindestmaß an persönlicher Distanz dient hier wie überall dem beiderseitigen Schutz und das Augenmerk sollte gerichtet bleiben auf die Lösung klar erkennbarer Kommunikationsprobleme.

Die Erfahrungen mit Kommunikationsschwierigkeiten im Unterricht sollten zudem auch Motivierung genug sein, die ihnen zugrunde liegenden sozialpsychologischen Mechanismen auch systematisch zum Thema des politischen Unterrichts zu machen. Dies könnte einmal von der unmittelbaren Betroffenheit distanzieren - die ja auch Lernprozesse verhindern kann - , und zum anderen werden die unmittelbaren Erfahrungen der gemeinsamen Selbstreflexion erst dann für künftige Fälle verfügbar, wenn sie in Distanz zur Unmittelbarkeit systematisch dem Bewußtsein zur Verfügung stehen.

Barrieren vom Schüler aus

Die eben beschriebenen Kommunikationshindernisse lassen sich selbstverständlich auch aus der Perspektive der Schüler beschreiben und somit umkehren. Während es sich dabei aber um solche Schwierigkeiten handelte, die in erster Linie der Lehrer zu verantworten hat und die er grundsätzlich ändern kann, gibt es auch aus der Perspektive des Schülers einige wichtige Hindernisse, die der Lehrer nicht einfach beseitigen kann, denen er sich aber gleichwohl helfend zuwenden muß.

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1. Es kann sein, daß die intellektuellen Fähigkeiten des Schülers für die Anforderungen des politischen Unterrichts einfach nicht ausreichen. Dabei spielt es für die praktische Seite des Problems keine Rolle, ob dieser Mangel zur ursprünglichen Erbausstattung des Betroffenen gehört oder im Verlauf seines bisherigen Lebens gelernt wurde. In den meisten Fällen dürfte es so sein, daß der Schüler schon vom Elternhaus her zu wenig begabt worden ist. Entscheidend ist, daß Lehrer und Mitschüler mit dieser Disposition rechnen müssen. Nun liegt es für den Lehrer nahe, einen Schüler verhältnismäßig schnell so einzuschätzen, weil ihm dies genauere Analysen erspart und sein Schuldbewußtsein vermindert. Ein solch schwerwiegendes Urteil über die prinzipiellen intellektuellen Fähigkeiten eines Schülers sollte ein Lehrer niemals allein fällen, also ohne gründliche Erörterung mit anderen Kollegen bzw. ohne entsprechende Testuntersuchungen.

Hat aber ein Schüler immer wieder Mißerfolgserlebnisse, so bringt ihn das gegenüber dem Lehrer und den Klassenkameraden in eine unterprivilegierte Position, die er seinerseits irgendwie kompensieren muß, denn niemand kann eine solche Position einfach akzeptieren. Die Kompensation kann darin bestehen, daß der Betreffende seine Geltung in anderer Weise beansprucht: durch Stören des Unterrichts, durch Gruppenbildung gegen den Lehrer oder durch abweichendes und auffälliges Verhalten außerhalb der Schule. Wenn also eine Gruppe wie die Schulklasse nicht jedem einzelnen Mitglied einen angemessenen Anteil von Geltung verschafft, wird sehr schnell ihre Kommunikationsfähigkeit überhaupt bedroht. Selbst wenn also die Intelligenz eines bestimmten Schülers nicht verbessert werden kann, müssen ihm an denjenigen Stellen Chancen für seine Präsentation gewährt werden, wo seine begrenzten Fähigkeiten zum Zuge kommen können. Dabei spielen die später noch zu besprechenden Variationen der Unterrichtskommunikation eine große Rolle: Ein Schüler z. B., der sich in der systematischen verbalen Kommunikation schwer tut, hat vielleicht größere Chancen, im Rahmen der

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"Produktion" oder im Rahmen des "Rollenspiels" mitzuarbeiten.

2. Vieles jedoch, was auf den ersten Blick als Mangel an intellektueller Arbeitsfähigkeit erscheint, hat ganz andere Ursachen. Es kann nämlich sein, daß Schüler sich im sozialen Verband der Klasse bzw. der Schule nicht wohlfühlen und daß damit für die Arbeitskommunikation ähnliche Probleme wie die eben beschriebenen auftauchen. Je jünger eine Klasse ist, desto mehr unterliegt sie den bekannten gruppendynamischen Mechanismen: sie sucht Sündenböcke und Außenseiter als Objekt für die eigenen Aggressionen. Ein Kind, das durch sein Aussehen, seine Sprechweise oder seine Herkunft oder aus sonstigen "Gründen" dafür geeignet erscheint, wird schnell in diese Rolle gedrängt. Schon aus grundsätzlichen pädagogischen Erwägungen muß der Lehrer deutlich auf der Seite des Schwächeren stehen, und unter den Ansprüchen des politischen Unterrichts und seiner Ziele kommt es darauf an, Solidarität zu trainieren auch mit denjenigen, die einem aus welchen Gründen auch immer nicht sonderlich sympathisch sind, sich objektiv aber in der gleichen Lage befinden.

3. Ferner besteht die Möglichkeit, daß ein Schüler oder ein Teil der Klasse in den Themen und Gegenständen des Unterrichts ihre gegenwärtigen und künftigen politischen Perspektiven nicht zu erkennen vermögen. Es bleibt unklar, wozu ihnen dieser Unterricht nützlich sein soll. Dies kann der Lehrer durch eine didaktische und methodische Verbesserung zum Teil auffangen. Zu einem guten Teil jedoch hat diese Schüler-Einstellung Gründe, über die der Lehrer nicht vollständig verfügen kann: schichtspezifische und politische Erfahrungen und Motivationsrichtungen z. B., oder auch grundsätzliche, außerhalb der Schule erworbene und dort sozial nach wie vor fundierte defaitistische und resignative Einstellungen zur Politik überhaupt. Wie die letzten Jahre gezeigt haben, hängt das Schülerinteresse am politischen Unterricht von den allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt ab. Das Schülerinteresse ist in gewissem Maße eine Funktion der

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allgemeinen gesellschaftlichen Politisierung. Aus diesem Grunde hat die "Schuld" des Lehrers am Mißlingen der politischen Unterrichtskommunikation auch objektiv gesetzte Grenzen.

4. Fehlendes oder zu geringes Interesse der Schüler am politischen Unterricht kann aber, wie vielfältige Erfahrungen zeigen, auch mit einer mit der Schulzeit zunehmenden inneren Ablehnung schulischer Lern- und Kommunikationsbedingungen überhaupt zu tun haben und muß insofern nicht unbedingt aus speziellen Mängeln des politischen Unterrichts resultieren. Die Skepsis darüber, wie die Schule auf die Dauer auf Schüler und vor allem auf deren Motivationen wirkt, ist in den letzten Jahren wieder gewachsen. Eine allgemeine "Schulmüdigkeit" befällt vor allem die Abschlußklassen, deren Erwartungen auf das gerichtet sind, was nach der Schule folgt: z. B. auf den herannahenden Berufseintritt bzw. das Studium. Auch diese Barriere kann nur zum Teil durch verbesserte und interessantere Methoden überwunden werden.

Barrieren von der Institution aus

Nun ist jedoch unmittelbar evident, daß die Unterrichtskommunikation nicht einfach in das Belieben der Beteiligten gestellt ist, so daß ihr Gelingen lediglich vom guten Willen der Lehrer und Schüler abhinge. Schon aus der bisherigen Beschreibung war ersichtlich, daß für die Realität der Beziehungen über-persönliche, objektive gesellschaftliche Determinanten eine Rolle spielen, etwa die Faktoren der bisherigen Sozialisation sowie die jeweilige Schicht- oder Klassenzugehörigkeit. Weitere Determinanten sind zudem in den Bedingungen der jeweiligen pädagogischen Institution zu suchen, z. B. der Schule (für die Institutionen der "Jugendarbeit" vgl. meine Analyse in: Die Jugendarbeit, München 1971). Sie grenzen die Beliebigkeit der Lehrer-Schüler-Kommunikation vor allem in folgender Hinsicht ein:

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1. Die Lehrpläne und Richtlinien sind zwar gerade für den politischen Unterricht im allgemeinen verhältnismäßig offen gehalten, verpflichten den Lehrer aber gleichwohl zu bestimmten Stoffen und schränken dadurch die freie Bestimmung der Unterrichtsinhalte ein.

2. Da Schulbücher vom Ministerium genehmigt werden müssen, findet eine weitere Einschränkung statt, insofern hinsichtlich ihrer Konzeption dem Ministerium mißliebige Schulbücher nicht genehmigt werden. Der Lehrer kann zwar im Unterricht die Darstellung des Schulbuches korrigieren, aber dies verlangt eine zusätzliche didaktisch-methodische Vorbereitungsarbeit. Zwar kann der Lehrer auch andere Texte als Schulbücher im Unterricht verwenden - z. B. Taschenbücher - , aber ihre Anschaffung kann er von den Schülern bzw. von deren Eltern nicht ohne weiteres fordern.

3. Der Besuch einer Schule ist entweder Pflicht oder aus Gründen der künftigen Sozialchancen dringend geboten. Insofern müssen sich die Schüler den spezifischen Leistungsanforderungen - ganz unabhängig von deren Vernünftigkeit - zumindest solange einseitig unterwerfen, wie ihnen eine institutionell verankerte Mitbestimmung verwehrt ist. Die dabei entstehende Aggressivität hat folgerichtig Rückwirkungen auf die Lehrer-Schüler-Beziehung, insofern es naheliegt, dem Lehrer als dem sichtbaren Repräsentanten der Institution anzulasten, was er persönlich gar nicht zu verantworten hat. Sehr wahrscheinlich ist dadurch auch die sachliche Dimension der Beziehung berührt, insofern die fundamentale Erfahrung des einseitigen Objekt-Seins leichter auch in die politischen Sachverhalte transferiert wird, so, als sollten auch sie nur der Unterwerfung dienen.

4. Insofern der Lehrer Staatsbeamter ist, untersteht er einem bestimmten Weisungsverhältnis, wie es sich in zahlreichen Erlassen ausdrückt. Ganz unabhängig von deren Vernünftigkeit hat er sie wie überhaupt die Ansprüche der Institution gegen die Schüler durchzusetzen. Unabhängig ist er nur in der Wahl der Unterrichtsmethoden, aber auch

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nur insofern, als diese allgemein anerkannt sind; stößt er in methodisches Neuland vor, was meist mit einer kritischen inhaltlichen Intention verbunden ist, der die bekannten Methoden nicht mehr gerecht werden, so lassen Sanktionen und Pressionen nicht lange auf sich warten.

5. Überhaupt muß man sich klarmachen, daß Schule eine verhältnismäßig konservative gesellschaftliche Rolle spielt. Lediglich in wirklich revolutionären Situationen und auch dann nur für kurze Zeit - bis nämlich die neuen Machtverhältnisse etabliert sind - steht sie gleichsam mit an der Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts. Im allgemeinen jedoch werden fortschrittliche oder radikale Impulse in diese Institution so gemäßigt integriert, daß sie möglichst nicht zu einem Bruch mit der bisherigen Tradition führen. Das wird vor allem von jüngeren Lehrern leicht übersehen, die etwa ihr politisch-aufklärerisches Engagement zunächst verständlicherweise unvermittelt durch die institutionellen Bedingungen zur Geltung bringen wollen und dann allzuleicht frustriert werden. Insofern bedarf die Schule auch immer anderer Bildungsinstitutionen mit für riskante pädagogische Innovationen günstigeren Bedingungen, damit deren Pionierleistungen dann irgendwann auch ihr zugute kommen können. So sind bisher die wichtigsten didaktisch-methodischen Innovationen für die politische Bildung nicht innerhalb der Schule, sondern in den Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit bzw. der Erwachsenenbildung erfolgt und haben von dort erst Einzug in die schulische Diskussion gefunden.

Die bisherige Skizze der Kommunikationsbarrieren vom Lehrer aus, vom Schüler aus und von den institutionellen Bedingungen aus müßte eigentlich systematischer ausgeführt werden. Da es sich jedoch um Gesichtspunkte handelt, die jedem Unterricht und nicht nur dem politischen innewohnen, können sie hier nur knapp in Erinnerung gerufen werden. Ihre systematische Kenntnis muß vorausgesetzt werden. Es kommt uns hier vor allem auf folgende Einsichten an:

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- Ein optimales Gelingen der Unterrichtskommunikation kommt, wenn überhaupt, nur in seltenen Fällen und dann auch nur für relativ kurze Zeit vor. Die die Kommunikation bedingenden Faktoren sind zu unterschiedlich und zu widersprüchlich und daher zu wenig aufeinander planbar, als daß dies anders sein könnte. Aufgabe einer Unterrichtsmethodik ist also nicht, idealistische Postulate für "guten" Unterricht zu formulieren, sondern Einsicht in dessen reale Bedingungen zu verschaffen. Sie ist eher eine Lehre davon, wie man das Scheitern in Grenzen halten kann.

- Der Lehrer muß lernen, bei diesen Bedingungen zu unterscheiden zwischen solchen, über die er mit seinen Schülern verfügen kann, und solchen, über die er nicht oder jedenfalls nicht unmittelbar verfügen kann. Nur für die ersteren wäre er pädagogisch verantwortlich zu machen.

- Nur ein Teil der Kommunikationsprozesse ist wirklich im voraus planbar; mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit jedoch werden dann die realen Prozesse von den geplanten abweichen. Aufgabe des Lehrers ist dann nicht, seine Planung unter allen Umständen durchzusetzen (obwohl auch das gelegentlich richtig sein kann), sondern die Differenz - unter Umständen gemeinsam mit den Schülern - ins Bewußtsein zu nehmen und entsprechende Korrekturen zu planen.

- Planung des Unterrichts ist unter diesem Aspekt nicht mehr nur eine Aufgabe des Lehrers allein, der etwa zu Hause seinen Unterricht vorplant und die Schüler dann weitgehend im unklaren läßt über seine Konzepte und Intentionen. Vielmehr müssen die Schüler grundsätzlich über diese Vorplanungen informiert und an der Diskussion der Schwierigkeiten und des weiteren Vorgehens beteiligt werden. In welchem Ausmaß dies geschehen muß, kann schwer generell gesagt werden; denn ständiges Diskutieren über die eigene Kommunikation kann die Schüler leicht frustrieren und überfordern. Auch ständige Abstimmungen über den Unterricht oder seinen Weg bringen nichts ein, weil die Schüler oft die Folgen einer solchen Entscheidung nicht übersehen können. Überhaupt widerspricht es den Prinzi-

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pien kooperativer Demokratisierung keineswegs, wenn an der führenden Rolle des Lehrers festgehalten wird, der ja auch die unterrichtlichen Entscheidungen zu verantworten hat. Wichtig ist vielmehr, in welcher Weise die Schüler an der Planung beteiligt werden und wie ihre kritischen Interventionen aufgegriffen werden.
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