Hermann Giesecke: Was sollten wir von PISA lernen?


Gesendet in NDR 4 am 6.2.02
© Hermann Giesecke

(Dieser Text ist bibliografisch korrekt zu finden in: Hermann Giesecke: Funkmanuskripte Bd. 8, S.28 - 36, Göttingen 2004 =http://www.hermann-giesecke.de/funk8.pdf)



Zitat von philosophenlexikon.deDie Ergebnisse der PISA-Studie, nach der die Leistungen der deutschen Schüler im Lesen sowie in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung weltweit unter 32 Ländern im unteren Drittel rangieren, haben Ende vergangenen Jahres helle Aufregung in der Öffentlichkeit verursacht. Fast täglich waren in den Medien Klagen, Analysen, Vorschläge zur Abhilfe und Schuldzuweisungen zu finden. Inzwischen haben sich die Wogen wieder geglättet, andere Themen sind in den Vordergrund getreten, erneute Aufmerksamkeit wird die Studie wohl erst dann finden, wenn die Vergleiche zwischen den einzelnen Bundesländern veröffentlicht sind. Dann nämlich werden wir nicht nur ein internationales, sondern auch ein nationales Ranking bestaunen können. Weil die Erhebungen in regelmäßigen Abständen wiederholt werden sollen, werden wir wie bei der Bundesliga den Tabellenstand der Deutschen mit Jubel oder Enttäuschung jedes Mal wieder zur Kenntnis nehmen. Die Vergleiche sind es nämlich, die das Selbstbewusstsein kränken; dumm sein fällt nur auf, wenn andere als klüger gelten.

Die Ergebnisse der PISA-Studie kommen nicht überraschend. Zu einem ähnlichen Urteil gelangen seit Jahren Erhebungen der Wirtschaft über die Basisqualifikationen von Schulabgängern, die eine Ausbildung beginnen wollen, oder der Hochschulen über die Studierfähigkeit von Studenten. Schon die 1997 veröffentlichte TIMSS-Studie, bei der die Lesekompetenz allerdings noch nicht abgefragt wurde, hatte im Hinblick auf Mathematik und Naturwissenschaften ein ähnliches Resultat, aber damals dachten viele noch: wer ist oder war schon gut in Mathematik! Nun jedoch geht es mit dem Lesen um eine zentrale Kulturtechnik, von der nicht nur alle weiteren schulischen Leistungen, sondern auch alle gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten - nicht zuletzt im Arbeitsleben - abhängen.

Getestet wurden Fünfzehnjährige aller Schularten. Fast 24 Prozent der deutschen Schüler sind nur fähig, auf einem sehr niedrigen Niveau zu lesen. Die Forscher betrachten sie als eine "Risikogruppe" im Hinblick auf selbständiges Lesen und damit auf die Fähigkeit zum Weiterlernen. Lesen gehört auch nicht mehr zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen, 42 Prozent der deutschen Schüler lesen nicht mehr freiwillig; diese Zahl wird von keinem anderen Land übertroffen. In keinem anderen Land ist zudem der Abstand zwischen den guten und schwachen Leistungen so groß wie in Deutschland. Zu den Leistungsschwachen gehören insbesondere Ausländer, deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, sowie Aussiedler und Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien. Die zahlreichen pädagogischen Experimente, die in den letzten 30 Jahren im Namen der "Chancengleichheit" veranstaltet wurden, haben sich offensichtlich als Flop erwiesen.

Das wiegt um so schwerer, als die Bildungsforscher nicht etwa Lehrplanwissen abgefragt, sondern Anwendungen getestet haben, die so nicht in den Lehrplänen stehen, für deren Lösung aber ein hinreichendes Leseverständnis erforderlich ist. Es ging gar nicht um literarische Bildung, also etwa um die Interpretation von Gedichten, sondern um das, was der reformpädagogischen Schule am meisten am Herzen liegt und von ihr seit Jahren propagiert wird: um Schlüsselqualifikationen. Gerade dabei schneiden deutsche Schüler besonders schlecht ab.

Nun muss man, um die Resultate dieser und anderer einschlägiger Untersuchungen richtig zu würdigen, auch ihre Grenzen sehen. Einmal handelt es sich hier natürlich um Durchschnittswerte, die noch nichts über eine bestimmte Schule oder Schulklasse aussagen. Zum anderen ist diese Studie ergebnisorientiert, nicht prozessorientiert, sie kann also nicht angeben, in welchem Zeitraum die Schüler wie viel dazugelernt haben oder woran es liegt, dass sie eine Aufgabe lösen oder nicht bewältigen konnten. Ob alle Aufgaben unbedingt sinnvoll gestellt waren, kann ebenso mit guten Gründen bezweifelt werden wie die Aussagekraft der Ranking-Tabellen. Vor allem aber wurde aus der Komplexität dessen, was den Bildungsstand eines Schülers zum Zeitpunkt des Tests ausmacht, nur ein ganz kleiner Teil gemessen. Selbst wenn man jedoch alle solche Einschränkungen in Rechnung stellt, beweist PISA, dass sich unser Bildungswesen im Hinblick auf seine Wirksamkeit in einem schlechten Zustand befindet. Woran liegt das?

Dem Übel wäre verhältnismäßig leicht abzuhelfen, wenn man einen Schuldigen dafür eindeutig ausmachen könnte - etwa die Kultusminister, ihre Bürokratie, die Lehrer oder die Eltern oder wen sonst immer. Leider ist die Sache so einfach nicht, obwohl sich alle Interessenten inzwischen geäußert haben und im Wesentlichen propagieren, dass man nun noch mehr von dem verwirklichen müsse, was sie immer schon vorgeschlagen und gewollt haben. Die alten Zauberworte voll von wohlklingender Inhaltslosigkeit geben sich weiterhin ein Stelldichein: Schlüsselqualifikationen, das Lernen lernen, Schulautonomie, eine Schule für alle, Teamgeist, neue Unterrichtskultur, vernetztes Denken, Qualitätssicherung, um nur einige zu nennen. Verloren gegangen ist allerdings die Sicherheit der alten bildungspolitischen Grabenkämpfe, weil die Gymnasien kaum besser abschneiden als die Gesamtschulen und es auch nicht nur am Geld mangelt. Entscheidend ist vielmehr die Qualität des Unterrichts - sagen die Forscher. Wäre das nur ein technisches Problem, ließe es sich verhältnismäßig leicht durch eine entsprechende Fortbildung lösen. Tatsächlich jedoch gehen die Meinungen darüber, was unter Unterricht überhaupt zu verstehen sei, inzwischen so weit auseinander, dass sie kaum noch auf einen Nenner zu bringen sind. Über diese tiefe Kluft täuschen die schönen Zauberworte hinweg, und gerade deshalb ist es angebracht, darüber ein wenig genauer nachzudenken.

Zunächst einmal dürfen wir uns nicht beklagen. Wir haben genau das Schulwesen, das wir verdienen, weil wir es seit Jahrzehnten so gewollt haben, wie es ist; denn wir haben immer wieder diejenigen Politiker bzw. Parteien gewählt, die es zu verantworten haben. Die Lehrer erteilen den Unterricht, den man ihnen in der Referendarzeit beigebracht hat: entweder konservativ aufgebaut nach einem formalen Schema, das für kreative und von der Planung abweichende Fragen der Schüler kaum Raum lässt; das vorher geplante Ergebnis muss am Ende der Stunde auch herauskommen, sonst ist die Lehramtsprüfung gefährdet. Oder aber die sich für fortschrittlich haltenden Ausbilder fordern den so genannten "offenen Unterricht", mit viel Action und Handlungsorientierung, wenig gedanklicher Systematik, aber großer Beliebigkeit der Stoffe. Beide Unterrichtsformen haben sich gleichermaßen als ineffektiv erwiesen: der Schematismus tötet die Eigeninitiative der Schüler, allzu große Beliebigkeit lässt keine zusammenhängenden Vorstellungen über die Sachverhalte entstehen.

Da die Kultusminister unter Druck geraten sind, verkündeten sie eilfertig "Reform"-Forderungen: bessere Förderung der Leistungsschwachen, vermehrte Fortbildung, wirksamere didaktische Ausbildung der Lehrer, größere Aufmerksamkeit für die Grundschule. Aber was soll daran neu sein?

Haben wir nicht in den letzten Jahrzehnten nahezu das ganze Schulsystem darauf ausgerichtet, die leistungsschwächeren Schüler mit Hilfe von Gesamtschulen, Orientierungsstufen, Förderstufen, verlängerter Grundschulzeit, Leistungskursen und den Methoden des individualisierenden Unterrichts zu fördern? Warum ist das offensichtlich erfolglos geblieben? Solange darüber ohne Rücksicht auf Tabus keine Bilanz gezogen wird, bewegen sich neue Initiativen auf dünnem Eis. - Für die Fortbildung der Lehrer wurde noch nie zuvor so viel Geld ausgegeben, eigene, fast monopolartige Institute mit teurem Personal haben die Kultusminister sich dafür zugelegt - was wurde den Lehrern dort eigentlich über all die Jahre beigebracht? Wenn man nicht einsieht, dass vielfach gerade die Einrichtungen der Fortbildung als pädagogische Ideologieschmieden mitverantwortlich sind für die nun unübersehbare Misere, wird auch vermehrte Fortbildung keine Besserung erwarten lassen. - Didaktik als wissenschaftliche Disziplin gibt es seit mehr als 40 Jahren an den Hochschulen - warum hat sie den Ruin des schulischen Unterrichts nicht verhindert oder wenigstens öffentlich wirksam rechtzeitig kritisiert? Auch sie ist offensichtlich nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems.

Lediglich mehr von alledem zu fordern, was offensichtlich versagt hat, ergibt keinen Sinn, und wenn man es reformieren will, muss man wiederum fragen: was soll unter einem verbesserten Unterricht verstanden werden, dem das dienen soll?

Auch die Bildungsbemühungen im Vorschulbereich und in der Grundschule wollen die Kultusminister nun verstärken. Aber die infantilisierende Unterforderung von Grundschulkindern ist schon Ende der sechziger Jahre heftig diskutiert worden, und der Bildungsrat hat seinerzeit ein ausführliches Reformkonzept vorgeschlagen - warum ist das so schnell versandet? Schon damals lag auf der Hand, was die Kultusminister heute als ihre aktuelle Einsicht verkaufen: Dass Kinder in diesem Alter besonders empfänglich fürs Lernen und deshalb früh an Leistung heranzuführen sind, was besonders wichtig für Kinder aus bildungsfernen Schichten ist. Wenn Kinder in der Grundschule systematisch unterfordert werden, schadet das den ohnehin benachteiligten, während Schüler aus dem bildungsnahen Milieu das mit Hilfe des "kulturellen Kapitals" ihrer Familie weitaus besser kompensieren können. Ideologiekritisch gewendet lässt sich hinzufügen: Wenn wir das alte Bildungsprivileg hätten erhalten wollen - was uns ja gelungen ist, wie PISA zeigt - dann hätten wir die Grundschule genauso planen müssen, wie wir sie jetzt haben - einschließlich ihrer personellen und materiellen Unterversorgung. Es ist die Tragik der sozialdemokratischen, auf Chancengleichheit gerichteten Bildungspolitik, dass sie von pädagogischen Illusionisten aus ihren eigenen Reihen torpediert wurde, denen es gelungen ist, über Jahrzehnte einen mehr als problematischen pädagogischen Zeitgeist zum ideellen Leitmotiv der öffentlichen Meinung zu machen.

Gerade die Grundschule ist - von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, weil sie ihr ohnehin nicht interessant genug erschien - zum Versuchslabor für alle möglichen, meist unausgereiften pädagogischen Ideen geworden; immerhin stellt sie die einzig flächendeckende und konkurrenzlose Gesamtschule dar. Alles soll dort "spielerisch" sein, systematischer Unterricht gilt ebenso als kinderfeindlich wie das Erteilen von Zensuren – vom Sitzenbleiben ganz zu schweigen. Alles zusammen deutet darauf hin, dass Anstrengung und Leistung in der Grundschulkultur keine zentralen Werte darstellen. Klassische Lerntechniken wie Einmaleins, Auswendiglernen von Gedichten, Vorlesen von Texten und vor allem ständiges Üben des Gelernten sind weitgehend verloren gegangen. Hausaufgaben könnten die familiär benachteiligten Schüler diskriminieren. Ohnehin sehen die Richtlinien fast aller Bundesländer vor, die Wochenenden, Ferien und Feiertage von Hausaufgaben frei zu halten. Wie soll eine solche seit Jahren gefestigte und unangefochtene pädagogische Grundeinstellung kurzfristig geändert werden - mit demselben Personal, denselben Ausbildern und Fortbildnern?

Zudem erfolgt der Schuleintritt für immer mehr Kinder zu spät. Nach dem Gesetz sind Kinder einzuschulen, wenn sie mindestens sechs Jahre alt sind; Rückstellungen müssen begründet werden, wurden aber in den vergangenen Jahren immer öfter zur Regel, so daß das durchschnittliche Einschulungsalter auf fast sieben Jahre angestiegen ist. Das schlägt sich auch in der PISA-Studie nieder, insofern in Deutschland die 15-jährigen Schüler auf die Klassen sieben bis zehn in einem Maße verstreut sind wie in keinem anderen untersuchten Land. Unter Eltern in der Mittelschicht ist es Mode geworden, den möglichst späten Schuleintritt ihrer Kinder untereinander als besondere Fürsorge auszugeben, und wenn die Kinder endlich in der Schule sind, werden die Lehrer genervt, sobald die Sprösslinge mit Unlustgefühlen nach Hause kommen. Andererseits lesen immer weniger Eltern ihren Kinder Geschichten vor und animieren sie, selbst zum Buch zu greifen.

Die schon erwähnten Zauberworte haben die Eigenart, Einverständnis oder gar Selbstverständlichkeit vorzugaukeln, wo es gar nicht vorhanden ist. Wir kennen das aus der politischen Sprachregelung, wenn etwa die früheren kommunistischen Staaten den Begriff "Demokratie" verwendet haben, damit aber etwas ganz anderes meinten als die westlichen Länder. Deshalb ist es nötig, genau zu prüfen, was gegenwärtig mit den öffentlich benutzten pädagogischen und bildungspolitischen Leitvorstellungen eigentlich ausgedrückt wird.

Das gilt z.B. für den Begriff "Neue Lernkultur", der plausibel und modern klingt und mit dem die Kultusminister gemeinsam eine schulpädagogische Wende propagieren. Darin verbirgt sich jedoch ein alter Hut der längst gescheiterten Schulreformpädagogik. Inhaltlich offen und ohne erkennbare Ziele wurde dieser Begriff aus der Abneigung gegen jede Art von gedanklich geordnetem und systematischem Unterricht geboren. Unter Berufung darauf wird jetzt unterstellt, unsere Schüler lernten etwas Falsches, nämlich nur "theoretisches" Wissen, weshalb sie bei dessen Anwendung, wie in der PISA-Studie gefordert, scheitern müssten. In Wahrheit lernen sie unter dieser Flagge gar kein geordnetes Wissen, deshalb können sie angesichts eines besonderen Problems auch nichts davon anwenden. Die Anwendung auf einen besonderen Fall setzt immer ein geistiges Repertoire voraus, das jenseits davon und unabhängig von ihm zur Verfügung steht. Anwenden lernt man nicht nur durch Anwenden – obwohl man es ständig üben muss. Voraussetzung dafür ist vielmehr, dass vorher etwas systematisch begriffen worden ist. Eben dies ist die Aufgabe eines vom Lehrer entsprechend geleiteten Unterrichts, darauf können die Schüler nicht von sich aus kommen - mit einem Lehrer im Hintergrund, der weitgehend als "Moderator" fungiert und dem sie ab und zu eine Frage stellen dürfen. Der Begriff "Lernkultur" ist inzwischen mit so viel problematischen Prämissen behaftet, dass er für eine Neuorientierung nicht in Frage kommen kann. Deshalb sollte man lieber von "Unterrichtskultur" und "Schulkultur" sprechen, die beide in der Tat verbessert werden können und müssen.

In den Zusammenhang der "Neuen Lernkultur" gehört auch die sogenannte "Individualisierung des Lernens". Darin drückt sich in erster Linie die Abneigung gegen eine für alle Schüler einer Klasse gemeinsam geltende Leistungserwartung, also gegen den üblichen, vom Lehrer ausgehenden Frontalunterricht aus. Nun muss in der Tat der Unterricht auch die notwendigen Individualisierungsprozesse von Schülern fördern und ermutigen. Die werden allerdings nicht dadurch behindert, dass alle zur gleichen Zeit denselben Stoff bewältigen und am selben Problem arbeiten müssen, wie das im normalen Unterricht geschieht. Individualisierung ist nicht ein im Inneren der Person ruhendes Programm, sondern Ergebnis von Anstrengung, Mühe und Auseinandersetzung mit Ansprüchen, die der Person von außen, etwa aus dem gesellschaftlichen Leben oder auch von den Schulstoffen her aufgenötigt werden. "Individuell" ist in diesem Zusammenhang gewiss das Lerntempo - weshalb in Einzelfällen eine besondere Förderung nötig werden kann.

Individuell ist jedoch vor allem die Art und Weise der subjektiven Aneignung, damit das Gelernte in der Vorstellungswelt des einzelnen eine Bedeutung erhält. Das war früher gemeint, wenn man vom "Bildungswert" eines Faches oder eines Stoffes sprach. Von sich aus ist alles, was man lernt, sinnlos, bloße Information; damit daraus Wissen werden kann, muss der Schüler ihm Sinn geben, indem er es in seine bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen einbaut und ihm somit eine Bedeutung gibt. Dabei kann der Lehrer helfen, aber nicht stellvertretend für jeden einzelnen Schüler denken.

Nun propagiert aber der Zeitgeist von der Politik über die Wirtschaft bis hin zu den Familien und natürlich auch zu den Schülern und sogar Studenten ein rein instrumentelles Verhältnis zum Wissen und zum Lernen, das die Person nicht weiter berührt, von ihr fern gehalten wird im Sinne des "cool-bleiben", ihr insofern äußerlich bleibt und deshalb auch nicht mit Sinn ausgestattet werden kann. In dieser Form bleibt Wissen, wenn es denn überhaupt behalten wird, wie eine Häufung bloß auswendig gelernter Informationen unverbunden nebeneinander stehen und ist deshalb nur schwer auf neue Probleme anwendbar. Gegen diese Grundeinstellung ist mit Motivationskünsten und methodischem Einfallsreichtum durch den Lehrer kaum anzukommen. Die von der Schule bis zur Universität und zur Lehrerbildung nicht abreißende Forderung nach mehr "Praxisorientierung" des Wissens ist überhaupt nur auf diesem Hintergrund verständlich. Sie beruht im Wesentlichen auf der inneren Unfähigkeit zum Studieren und damit zur geistigen Auseinandersetzung. Und dadurch - nicht durch den Intelligenzquotienten - unterscheiden sich die leistungsfähigen Schüler und Studenten von den weniger erfolgreichen.

Individualisierung von Lernprozessen scheitert heute also zunehmend daran, dass die Bearbeitung des Ich durch die Herausforderungen der Außenwelt – repräsentiert in den Schulstoffen – weitgehend verweigert wird - nicht daran, dass wir nicht jeden lernen lassen, was er will und wann er es will. Ob diese tief sitzende, weit verbreitete und verinnerlichte Bildungsfeindlichkeit durch eine neue Unterrichtskultur kurzfristig korrigiert werden kann, ist mehr als zweifelhaft. Die so genannte "Neue Lernkultur" hat sie jedenfalls nicht abgeschafft, sondern durch die Duldung von Beliebigkeit eher verstärkt.

Sie korrespondiert mit jenem antistaatlichen Affekt, den die Achtundsechziger bis heute erfolgreich propagiert und zumindest in der älteren Lehrerschaft fest verankert haben. Demnach hat der Staat keine Ansprüche zu erheben, sondern die Mittel für das Wohlbefinden seiner Bürger bereit zu stellen. Eine Schule, die Leistungsanforderungen an die Schüler stellt, gilt somit als eine Zumutung an deren Persönlichkeit. Nicht zuletzt deshalb werden Kinder der Schule vielfach solange wie möglich entzogen. Nur was der Schüler selbst lernen will, darf auch von ihm gefordert werden – und ohne "Spaß" läuft schon gar nichts. Die Schule habe sich nach den Bedürfnissen des Kindes zu richten, nicht umgekehrt. Folgerichtig hat sich der pädagogische Blick immer mehr auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, auf sein Ich gerichtet und dadurch seine Bildung in Subjektivismus verkehrt. Aus dem Blick geraten ist dabei der politische Charakter der Schule als einer Einrichtung der Gesellschaft bzw. des Staates, die - wenn auch pädagogisch modifiziert - Forderungen an die nachwachsende Generation zu stellen hat. Auf einen wesentlichen Grund dafür weist die PISA-Studie hin: Unsere Gesellschaft kann sich kein soziales Dynamit leisten, das aus massenhafter schlechter Schulbildung resultiert. In Gestalt der Schule bietet die Gesellschaft der nachwachsenden Generation einerseits eine Ausbildung für die optimale Partizipation an ihren Handlungsmöglichkeiten an, andererseits braucht sie diese Fähigkeiten zu ihrer eigenen Reproduktion und Weiterentwicklung. Beide Seiten können nur zusammen gesehen werden, den enormen Investitionen für das Bildungswesen muss eine angemessene Bereitschaft zur Leistung und Anstrengung seitens der Schüler entsprechen. Dass man diese Einsicht nicht auf Anhieb von den Schülern erwarten kann, ist weniger verwunderlich, als dass Eltern und Lehrer sie nicht aufbringen. Leistungsfeindlichkeit ist demnach in dreifacher Hinsicht problematisch: Sie dient nicht der persönlichen Entwicklung, ignoriert die Vorleistungen der staatlichen Gemeinschaft und ist ökonomisch gesehen parasitär. Es ist an der Zeit, diese außerpädagogischen Gesichtspunkte wieder nachdrücklich zur Geltung zu bringen – auch gegenüber uneinsichtigen Eltern.

Die falsch verstandene Subjektorientierung von der Grundschule an hat übrigens nicht unwesentlich zur Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernen Familien und damit zur Vertiefung der Chancenungleichheit beigetragen, wie sie sich in der PISA-Studie erwiesen hat. Sie entspricht nämlich dem häuslichen Milieu von Mittelschichtkindern und verstärkt es somit. Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien jedoch müssen sich mit Hilfe der Schule von ihrem Familienhintergrund teilweise emanzipieren oder zumindest eine innere Gegenwelt dazu aufbauen, wenn sie das schulische Lernangebot optimal nutzen wollen; diese zusätzliche Belastung behindert die Gleichheit ihrer Chancen enorm. Das einzige Kapital, das diese Kinder von sich aus vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie aber eine Schule, in der der Lehrer nicht nur "Moderator" für "selbstbestimmte Lernprozesse" ist, sondern die Führung übernimmt und die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts, wie alle Lernforschung zeigt. Die Schulreformpädagogik der letzten Jahrzehnte hat entgegen ihren Beteuerungen für diese Kinder gar nichts bewirkt, wie sich jetzt herausgestellt hat. Das gilt erst recht für solche Kinder, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind; vielfach werden sie jedoch einfach in die Grundschulen gesteckt, weil es so für die Administration am bequemsten und vor allem am billigsten ist, während andere, erfolgreichere Länder wie Schweden niemanden in die Schule lassen, der nicht hinreichend die Landessprache beherrscht. So manche skurrile Idee der Grundschulpädagogik ist nichts weiter als eine darauf reagierende Not-Philosophie; wenn Unterricht nicht möglich ist, lässt sich z.B. wenigstens so etwas wie "interkulturelle Erziehung" veranstalten: man spielt ein wenig miteinander, redet besänftigend über Konflikte, und eigentlich müssten die deutschen Kinder türkisch lernen statt umgekehrt die türkischen ihre aktuelle Landessprache.

Die Kultusminister haben lange gezögert, sich an international vergleichenden Untersuchungen überhaupt zu beteiligen und mussten von den Forschern mühsam dazu überredet werden. Nun sind sie geradezu süchtig nach Konsens, vermeiden jede Schuldzuweisung aneinander, der Blick soll nach vorne gerichtet werden, nicht in die Vergangenheit. Aber vorne wird sich nichts zeigen, was der Mühe wert ist, wenn nicht eine Bilanz gezogen wird, die die Entwicklung der letzten Jahrzehnte kritisch in den Blick nimmt, ohne Eintracht durch Zauberworte vorzutäuschen.

Statt hektischer Betriebsamkeit, die die Wähler beruhigen soll, ist Besinnung angezeigt unter der Leitfrage: Was wollen wir eigentlich mit der Schule, was kann sie leisten und was nicht? Dabei gehören alle gegenwärtig gehandelten pädagogischen Konzepte auf den Prüfstand, gerade auch diejenigen, die als besonders fortschrittlich gelten. Es gibt keine Patentrezepte und auch keine schnellen Lösungen, weil es weniger einzelne Schuldige zu entlarven, als vielmehr einen tief verwurzelten Zeitgeist zu verändern gilt. Wenn jetzt die richtigen Korrekturen angebracht werden, werden die Ergebnisse frühestens in 10 Jahren sichtbar sein. Besinnung heißt: den gegenwärtigen Zustand ungeschönt zu beschreiben, Fehlentwicklungen zu erkennen und behutsam zu korrigieren. Es heißt nicht, ständig Novitäten aus den Wissenschaften, der Wirtschaft oder der Organisationslehre auf den Leim zu gehen, nur weil sie sich gerade marktschreierisch in Szene setzen. Wer zum Beispiel aus purem antibürokratischem Affekt für die Autonomisierung der Einzelschule plädiert, wird übers Ziel hinausschießen, weil er übersieht, dass die Schulbürokratie bisher eben auch Planbarkeit, Vergleichbarkeit, Kalkulierbarkeit, Stabilität, Verlässlichkeit und Konstanz des Systems gewährleistet hat. Im Mittelpunkt der Überlegungen sollte eine einfache Leitfrage stehen: Was von alledem, was den Schulen und ihren Lehrern künftig zugemutet werden soll, nützt wirklich den Schülern im Hinblick auf ihre gegenwärtige und vor allem zukünftige gesellschaftliche Teilhabe? Die Lehrer sind nämlich die einzigen Beteiligten, deren Beruf es ist sich daran zu orientieren. Bei ihren Verbänden und Gewerkschaften ist das schon ganz anders - ganz zu schweigen von anderen Interessentengruppen und von Ministern, Verwaltern, Ausbildern, Fortbildnern. Sie haben fast notwendigerweise auch ihre spezifischen Zwänge und Interessen im Sinn, für deren öffentliche Rechtfertigung sie Ideologien brauchen, die in der pädagogischen Praxis dann als weltfremde Zumutungen an Lehrer und Schüler ankommen.

Ausführlichere Erörterung einzelner Aspekte des Themas in: Was Lehrer leisten und Wozu ist die Schule da?

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