Hermann Giesecke

Didaktik der politischen Bildung

München: Juventa-Verlag, 3. Aufl. 1968

KRITIK DER KRITIK

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis



Zu dieser Edition:
Meine Didaktik der politischen Bildung erschien 1965. In der 3. Aufl. 1968 wurden sieben kritische Stellungnahmen zu diesem Buch ausführlich abgedruckt, was hier aus urheberrechtlichen Gründen nicht wiederholt werden kann. Auf diese und andere Einwände habe ich am Schluß des Buches mit der folgenden  "Kritik der Kritik" geantwortet.
Später,  mit der 7. Aufl. 1972, wurde der Text der ursprünglichen Fassung  grundlegend verändert. Die auf dieser "Neuausgabe"  basierende 10. Aufl. 1976 erhielt einen Nachtrag, der in wesentlichen Punkten die Diskussion seit 1972 aufgreift.
Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Im Unterschied zum Original, wo sich die Quellennachweise auf das Literaturverzeichnis beziehen, wurden sie hier in den Text eingearbeitet.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
© Hermann Giesecke

 

KRITIK DER KRITIK

Die in der "Dokumentation der Kritik" wiedergegebenen Einwände, aber auch verschiedene Fragen, die sich in zahlreichen Diskussionen über das hier entwickelte Modell ergeben haben, sollen dazu dienen, im folgenden einige wichtige Aspekte weiterzuentwickeln. Dabei scheinen mir vor allem folgende Probleme, die in dem vorliegenden Buch nur relativ knapp behandelt worden sind, einer Ergänzung zu bedürfen:

1. Die politischen Prämissen dieser Didaktik

Sehr oft wurde in Diskussionen der Einwand erhoben, daß dieses didaktische Modell auf bestimmten politischen Prämissen beruhe, die aber nicht genügend offengelegt worden seien, so daß Mißverständnisse möglich seien. Insofern die in diesem Buche vorgeschlagenen politisch-didaktischen Kategorien nicht als irgendwelche beliebigen ausgegeben wurden, sondern als solche, die in ihrem normativen Anspruch dem Selbstanspruch unserer demokratischenGesellschaft entsprächen, ist darauf allerdings bereits eine Antwort erteilt worden. Ich will versuchen, sie etwas ausführlicher zu geben.

"Demokratisierung" wird in diesem Buch als ein historischer Prozeß verstanden, als das fundamentale Generalthema der neueren Geschichte überhaupt. In unserem Staat mit seiner Basis des Grundgesetzes und der Verfassungen wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, diesen Prozeß legitim weiter voranzutreiben. Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist also keineswegs das Ende des Demokratisierungsprozesses. Ihre Realität ist viel-

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mehr eine ständige Herausforderung, die jeweils konkreten Möglichkeiten weiterer Demokratisierung als Aufgabe zu thematisieren und praktisch in Angriff zu nehmen. Dabei geht es nicht nur um die Erhaltung formaler Rechte (wie Wahlrecht, Koalitionsrecht usw.), sondern um das, was Karl Mannheim "Fundamentaldemokratisierung" nannte: um den Abbau überflüssiger Herrschaft von Menschen über Menschen und die allgemeine Kontrolle der notwendigen Herrschaft, und dies nicht nur im Hinblick auf die Rechte und Machtbefugnisse des Staates, sondern im Rahmen aller gesellschaftlichen Beziehungen, nicht zuletzt auch der pädagogischen. Auch die im Begriff der "Erziehung" implizierten Herrschaftsverhältnisse müssen sich daran messen lassen: Was davon ist notwendig wegen der durch die Konstitution des Kindes gegebenen "Unmündigkeit", was davon ist aber der mehr oder weniger schlecht kaschierte Anspruch, mit den Mitteln der Erziehung den Heranwachsenden so früh wie möglich fremden Interessen dienstbar zu machen? Eine schwierige Frage, der im größeren Zusammenhang einmal nachgegangen werden müßte! Auf keinen Fall aber darf diese Frage durch noch so subtile Unterscheidungen von "echter" und "falscher" Autorität oder von "Herrschaft", "Macht" und "Gewalt" überspielt werden! Meine Ansicht, daß die Inhalte der Demokratisierung (der bereits erfolgten wie der noch ausstehenden) überhaupt nur historisch-kritisch zu ermitteln sind - und geschichtliches Bewußtsein deshalb ein unabdingbarer Bestandteil des demokratischen Bewußtseins ist - , impliziert, daß von "politischer Bildung" sinnvoll überhaupt nur im Rahmen der neueren Geschichte gesprochen werden kann. Was vorher Ähnlichkeit damit hatte, konnte nichts anderes sein als eine Art "Berufsausbildung" derjenigen, die zur Ausübung von Herrschaft privilegiert waren. Und als dann politische Bildung als "allgemeine" pädagogische Aufgabe in Gestalt des Geschichtsunterrichts eingerichtet wurde, ging es - mit nicht unerheblichen Resten bis in die Gegenwart herein - primär darum, jene in ihrer Selbstverständlichkeit bereits erschütterten Privilegien mit pädagogischen Mitteln zu stabilisieren oder wenigstens zu verlängern. Aber gerade die Abschaffung solcher Privilegien ist wesentlicher Inhalt der Demokratisierung. Es gibt wohl in der Realität, aber nicht mehr der Idee nach privilegierte Einzelinteressen. Und die Legitimität von "Konflikten" - ihre bloße Realität ist geschichtlich nichts Neues! - entsteht aus eben dieser Antinomie: daß einerseits das Einzelinteresse mit dem allgemeinen Interesse nicht übereinstimmt - was erst in der Utopie von der klassenlosen Gesellschaft der Fall wäre - und daß es andererseits keine privilegierten Interessen mehr gibt bzw. geben darf. Insofern

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werden die Konflikte nicht "ontologisch hypostasiert" (Schmiederer, Rolf und Ingrid: Neuere Literatur zur politischen Bildung, in: Argument 40, Okt. 1966, S. 406 ff., hier S. 408), sondern gerade geschichtlich im Sinne des Demokratisierungsprozesses verstanden, und insofern ist es von der Sache her auch gerechtfertigt, die Konflikte in den Mittelpunkt der didaktischen Reflexion zu stellen.

Die politische Beteiligung aller an der Produktion und Reproduktion politischer und gesellschaftlicher Herrschaft - keineswegs nur an der Wahl - besteht demnach aus zwei miteinander korrespondierenden Prozessen: aus den objektiven politischen Prozessen der Emanzipation - einschließlich der Widerstände dagegen - und den subjektiven Prozessen des je individuellen politischen Lernens - ebenfalls einschließlich der sich dagegen erhebenden Widerstände, z. B. in Gestalt pädagogischer Theorien, die diesen Emanzipationsprozeß objektiv verzögerten oder noch verzögern.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich eine Implikation: Auf dem formalen Boden unserer Verfassung können Gruppen und Kräfte operieren, die aufgrund ihrer Interessen - oder was sie dafür halten - gegen Fortschritt an Demokratisierung verbal oder durch ihr Verhalten optieren. Damit meine ich nicht nur oder gar in erster Linie die vielberufenen "Radikalen", sondern einen großen Teil unserer offiziellen politischen Führung und ihrer Bürokratien selbst sowie die wirtschaftlichen mächtigen Gruppen. Nicht, daß ich ihnen pauschal antidemokratische Gesinnung unterstellen wollte! Darum geht es nicht. Es geht vielmehr um die iedem Historiker geläufige Erkenntnis, daß ein Interesse an weiterer Demokratisierung im allgemeinen nicht haben kann, wer dabei an Macht und Einfluß verlieren würde.

Gegen diese Interessen ist dieses Buch geschrieben, was schon in den Kategorien "Solidarität" und "lnteresse" zum Ausdruck kommt. Allgemeiner ausgedrückt: Im funktionalen Verständnis unserer Gesellschaft ist politische Bildung notwendig eine kritische Institution, und zwar kritisch gegenüber allem, was Herrschaft ist. Und daran, ob eine Gesellschaft dies zuläßt, entscheidet sich, ob sie ihren Selbstanspruch von "Demokratie" ernst nimmt oder nicht. Wenn also in diesem Buch behauptet wird, daß die den politisch-didaktischen Kategorien zugrunde liegenden normativen Gesichtspunkte dem Konsensus der ganzen Gesellschaft. entsprechen, so gilt dies selbstverständlich nicht unbedingt faktisch, sondern ideell. Gleichwohl ist dieser ideelle Hintergrund von faktischer Bedeutung: Die normative Berechtigung dieser Kategorien und der aus ihnen ermittelten ''Leitfragen" an Situationen und Maßnahmen kann selbst von den "reaktionären" Gruppen schlecht weg-denunziert werden; auch sie müssen - wie widerwillig immer - deren Legitimität anerkennen.

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Aus diesem historisch-kritischen Verständnis des Demokratisierungsprozesses - das hier selbstverständlich nur angedeutet werden konnte - ist dieses didaktische Modell erwachsen. Auf seinem Boden scheint mir auch Lingelbachs Einwand nicht berechtigt, die Kategorien müßten die Akte des "Erkennens" und des ''Wertens" trennen (Der Konflikt als Grundmodell der politischen Bildung, in: Pädagogische Rundschau, H. 1/1967, S. 48 ff. und H. 2/1967, S. 125 ff.). Eine solche Trennung ist bekanntlich schon im wissenschaftlichen Forschungsbetrieb problematisch. In der politischen Bildung sind jedenfalls gerade die normativen Aspekte die entscheidenden, sie sind eigentlich die Ursache dafür, die Tatbestände zu ermitteln und zu ordnen. Gewiß besteht hier wie überall in praktischen Fragen des privaten und kollektiven Daseins die Gefahr, die Realitäten wegen Voreingenommenheit nicht mehr genügend zu prüfen. Aber ich sehe keine überzeugende Möglichkeit, dies durch zweierlei Arten von Kategorien (erkennenden und wertenden) zu verhindern. Versuchte man dies, so wäre die Folge, daß politische Bildung sich im geschichtlich luftleeren Raum bewegt, so, als sei die Zustimmung zur Demokratisierung etwas, was immer wieder neu von jedem einzelnen entschieden werden müßte und ebenso beliebig verweigert werden könnte. Die Entscheidung für Demokratisierung ist aber geschichtlich irreversibel: ihr Prozeß kann verlangsamt oder für kurze Zeit sogar unterbrochen werden, ihre Institutionalisierung hat eine Reihe von Möglichkeiten, aber sie ist auf lange Sicht unaufhaltsam. Nach diesem Prozeß fragen die Kategorien, und zwar zugleich normativ und faktisch ermittelnd. Die Befürchtung der nicht realitätsgerechten Prüfung der Tatsachen entscheidet sich in diesem Falle nicht an der Art des Fragens, sondern der Antworten, die im Unterricht dazu ermittelt werden. Über Art und Umfang dieser Antworten aber kann die didaktische Theorie nicht mehr verfügen, weil sie die zur Debatte stehenden Ereignisse nicht antizipieren kann.
 
 

2. Das Problem der wissenschaftlichen Reichweite einer politischen Didaktik

Ich bin in Diskussionen oft gefragt worden, warum ich die Kategorien nicht systematischer miteinander verbunden, sondern sie als Leitfragen auf gleicher Ebene belassen hätte. Diese Frage zielt auf ein Problem, das alle didaktischen Reflexionen betrifft, nämlich auf das Problem ihrer Reichweite. In der Tradition der geisteswissenschaflichen deutschen Pädagogik ist es üblich geworden. pädagogische Einzelfragen - und eben auch didaktische Probleme - ab ovo zu entwickeln. Salopp ausgedrückt: Man wollte immer "Gott und die Welt" gleich miterklären. Im Falle

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der politischen Bildung tat man es selten unterhalb einer abgerundeten politischen Philosophie, einer allgemeinen Anthropologie oder eines ganzen Systems der politischen Wissenschaft.

Ein Beispiel dafür aus der jüngsten Zeit gibt Heinrich Bußhoff, der, ausgehend von einer Interpretation der aristotelischen "Politik", eine imponierende Deutung des Begriffs der "Menschenwürde" im Sinne unserer Verfassung dargelegt hat: diesen Begriff möchte er der politischen Bildung zugrunde legen (Politikwissenschaft und politische Bildung, in: Beilage zu "Das Parlament", B 17, 1967).

Nun ist sicher nicht zu bestreiten, daß politische Philosophie eine wichtige Kritik-Instanz für politisch-didaktische Modelle ist; wohl aber bestreite ich, daß didaktische Modelle so umfangreich formuliert sein müssen, daß sie gewissermaßen den politischen Philosophen überflüssig machen. Bußhoffs Ansatz ist zudem sehr bestreitbar. Gewiß kann man die Grundsätze unserer Verfassung philosophisch befragen, wie Bußhoff es tut. Man kann sie aber auch anders befragen und kommt dann zu erheblich anderen Ergebnissen. Man kann z. B. von der unbestreitbaren Tatsache ausgehen, daß die Väter unserer Verfassung seinerzeit weniger die Klassiker der politischen Philosophie im Kopfe hatten, als vielmehr die politischen "Erfahrungen" ihrer Generation - oder was sie dafür hielten. Das schließt eine politisch-philosophische Interpretation des Verfassungswerks natürlich nicht aus, relativiert aber deren Ergebnisse. Werden dennoch so gewonnene Grundsätze zu Prämissen für didaktische Modelle fixiert, so werden diese mit den Prämissen auch angreifbar: Man diskutiert nicht mehr über das Was und Wie politischen Lernens, sondern über prinzipielle Fragen der politischen Philosophie. Nicht zuletzt dadurch aber, daß die Pädagogik zuviel auf einmal erklären will, ruiniert sie ihren wissenschaftlichen Ruf. Man kann ihr dann nicht zu Unrecht eine "Sucht nach Weltanschauung" vorwerfen. Eine politische Didaktik ist kein Ersatz für politische Wissenschaft oder politische Philosophie, obwohl sie von beiden Disziplinen her kritisierbar bleiben muß. Wenn wir uns diese Selbstbeschränkung nicht auferlegen, kommen wir in der politischen Didaktik nie "zum eigentlichen Thema". Hinzu kommt eine praktische Folge: Didaktische Theorien werden ja für eine bestimmte Praxis formuliert. Sollen sie für Lehrer und Erzieher lesbar, anwendbar und produktiv veränderbar bleiben, so dürfen sie einen bestimmten Umfang nicht überschreiten. Didaktische Theorien, die niemand zu lesen mehr Zeit hat oder die "nebenbei" vom Leser noch die systematische Einarbeitung in mehrere Wissenschaftsdisziplinen verlangen, sind unnütz.

Um es an einer Grundthese dieses Buches zu demonstrieren: Die Frage ist nicht, ob meine Definition des Politischen als ''Konflikt", als "Problematischwerden der Massenkommunikation"

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in jeder Hinsicht zureichend ist. Für die politische Philosophie und die politischen Wissenschaften muß man diese Frage schlicht verneinen. Die Frage kann vielmehr nur lauten, ob unter didaktischem Aspekt, d. h. unter dem Aspekt des organisierten Lehrens und Lernens, diese Definition des Politischen ergiebig ist und als eine operationale von den genannten Wissenschaften toleriert werden kann. Dies ist bisher - soweit ich sehen kann - nicht bestritten worden.

Wenn Didaktik eine "praktische" Wissenschaft ist, dann müssen sich die Didaktiker einer strengen Ökonomie unterwerfen, sie sollten nur soviel erklären, wie für den didaktischen Zweck nötig ist. Wo die Grenze dafür liegt, ist schwer generell zu sagen. Sie wird sich verschieben je nach dem Fortschritt relevanter wissenschaftlicher Erkenntnisse oder nach den Erfahrungen der praktischen Erprobung. Es hängt also vom Fortschritt der Kritik ab, ob mehr erklärt oder korrigiert werden muß.

So würde ich den Versuch, die politisch-didaktischen Kategorien in ein philosophisch oder politikwissenschaftlich fundiertes System zu strukturieren, für sehr gefährlich halten. Warum sollte es nicht genügen, sie als ein Bündel sinnvoller Anfragen an politische Ereignisse aufzufassen? Zweifellos wäre es reizvoll, systematisch wie historisch diese Kategorien erschöpfend auszuloten, aber wem würde das im Rahmen einer Didaktik wirklich nützen - es sei denn seiner "Sucht nach Weltanschauung", also danach, sich ohne produktive Selbständigkeit auf scheinbar Eindeutiges stützen zu können? Das didaktische Modell ist keine dogmatische Denkanweisung, sondern ein offenes Denkmodell, das ein Leser mit politisch-philosophischer Ausbildung anders lesen wird als ein Historiker, so wie ein "Nur-Historiker" einen anderen politischen Unterricht geben wird als ein "Nur-Philosoph". Eine politische Didaktik kann Ausbildungsmängel der Lehrer nicht aufheben, und je mehr sie das versucht, um so größer wird die Gefahr, daß die Ausbildung der Lehrer in den für den politischen Unterricht wichtigen Fächern als relativ unerheblich angesehen wird. Ich halte es für unabdingbar, daß politischen Unterricht nur erteilen kann, wer genügend von politischer Wissenschaft bzw. politischer Theorie versteht; aber das muß eine politische Didaktik voraussetzen, das kann sie nicht ersetzen.

Ich plädiere also dafür, didaktische Theorien an ihren Rändern offenzuhalten für die Kritik durch andere wissenschaftliche Perspektiven und sie somit einem permanenten wissenschaftlichen Kommunikationsprozeß zu unterwerfen.

Darüber hinaus wäre es wichtig, diese "Randgebiete" der politischen Didaktik zu thematisieren, z. B. im Sinne einer "Didaktik des Geschichtsunterrichts" oder einer "Didaktik der beruf-

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lichen bzw. kulturellen Beteiligung". Von solchen Modellen her wären gewiß weitere aufschlußreiche Gesichtspunkte für eine politische Didaktik zu erwarten.

3. Emotionalität oder Rationalität?

Der Vorwurf, politische Bildung sei zu sehr auf rationale Durchdringung der politischen Welt aus und berücksichtige zuwenig die emotionalen Bedürfnisse der Menschen, wird immer wieder erhoben, obwohl man annehmen sollte, daß darüber inzwischen Klarheit herrscht. Wir wissen inzwischen, daß rationale Anstrengungen ohne emotionale Fundierungen gar nicht zu erwarten sind; wir wissen ferner aus den Forschungen der Psychologie und insbesondere der Psychoanalyse, daß die wichtigsten emotionalen Erlebnismuster bereits fundiert sind, bevor der Mensch in einen geplanten Bildungsgang eintritt.

Der Ruf nach stärkerer Berücksichtigung der emotionalen Schichten der Person hat in der gegenwärtigen Pädagogik immer noch viele Tonarten. Eine davon ist die pädagogische Rehabilitierung der politischen Ideologien im Rahmen der politischen Bildung, die mit eben diesem an sich einleuchtenden Argument begründet wird, "der Mensch" habe nicht nur rationale, sondern auch irrationale, emotionale Bedürfnisse. Vor allem Klaus Hornung hat - frühere Aussagen Eugen Lembergs (Ideologie und Utopie unserer politischen Bildung, in: Gesellschaft - Staat - Erziehung, H. 2/1958, S. 57 ff. - Nationalismus, Bd. II. Soziologie und politische Pädagogik, Reinbek 1964) aufgreifend - in jüngster Zeit diesen Gedanken wieder ins Feld geführt (Klaus Hornung: Zum Ideologieproblem in der politischen Erziehung, in: Beilage zu "Das Parlament", B. 35/36, 1967). Er gewinnt dadurch besondere Aktualität, daß in den letzten Jahren der "prominente" und "radikale" Nationalismus wieder an Boden gewinnt und unter anderem mit eben diesem Argument operiert, unsere Jugend brauche wieder eine Ideologie. Auf den Gesamtkomplex des neuen Nationalismus kann ich hier nicht näher eingehen (vgl. H. Giesecke: Denken statt Dienen? und Braucht die deutsche Jugend Nationalgefühl?).

Hornung schreibt: "Politische Pädagogik muß auf einer politischen Anthropologie aufbauen können, die die personal und sozial produktive Funktion der Bindung des einzelnen an überindividuelle Gruppen und Ordnungen deutlich zu machen vermag ... " (Hornung, Zum Ideologieproblem ... S. 7).

Er sei nicht der Meinung, "in der Hingabefähigkeit und -bereitschaft des einzelnen an überindividuelle Werte, Gruppen und Aufgaben kämen lediglich ich-schwache, autoritäre Syndrome zum Ausdruck, die therapeutisch abgebaut werden müßten" (S. 6).

Walter Jakobsen hat dazu aus politisch-psychologischer Sicht Stellung genommen. Seine Argumentation zielt in die genau entgegengesetzte Richtung. Da Hornung die Frage, wer denn

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die Art und Weise der "überindividuellen Bindungen" näher bestimmen solle, offen läßt, kontert Jakobsen treffend: "Unbestimmbarem kann man sich ja nicht verbindlich hingeben" (Zur Diskussion um die politische Bildungsarbeit, in: Beilage zu "Das Parlament", B4/1968, S. 21). Er möchte die Kenntnisse der Psychologie gerade einsetzen, um das Selbstbewußtsein, das "Selbstwertgefühl" zu stärken; dagegen führe Hornungs und Lembergs Position zu einer ideologischen Indoktrination - eine Position, deren Verträglichkeit mit dem Artikel 4 des Grundgesetzes Jakobsen ausdrücklich in Zweifel zieht. "Entweder erzieht man den Staatsbürger zu politischer Mündigkeit und freier, möglichst vorurteilsloser und undirigierter Selbstorientierung, macht ihn zum verantwortlich und nüchtern urteilenden Demokraten, oder man wirbt um seine Gefolgschaft in eine bestimmte ideologisch-politische Richtung, hierbei an emotional-volitionale Schichten der Persönlichkeit appellierend. Beides zugleich aber wäre ein Widerspruch in sich selbst" (S. 21).

Die psychologische und politische Kritik an Hornung stellt sich unter unserem didaktischen Aspekt noch in anderer Perspektive dar. Hornung geht von einer abstrakten, ontologischen Anthropologie des Kindes und Jugendlichen aus, aus der er politisch-pädagogische Konsequenzen deduziert, als ob es außerhalb der Schule den politischen Menschen gar nicht gebe. Die institutionalisierte politische Bildung - in wie außerhalb der Schule - braucht aber gar nicht alles zu leisten, was den Menschen zu einem politischen Menschen oder überhaupt zu einem Menschen macht. Da sie vielmehr immer schon auf einen durch zahlreiche Sozialisierungsvorgänge intellektuell wie emotional geprägten Menschen trifft, kann sie den politischen Menschen in toto gar nicht produzieren, sondern allenfalls ihn korrigieren. Gerade die emotionalen Fixierungen werden in ganz anderen Bezügen geprägt. Das müssen die zum Zwecke des Lernens organisierten Institutionen nicht auch noch verdoppeln oder verstärken! Wenn die politische Didaktik also die rationale, kritische Aufklärung in den Vordergrund stellt - auch gegenüber den längst gelernten je individuellen emotionalen Verhaltensmustern - , dann tut sie das nicht, weil sie den emotionalen Dimensionen der Person feindlich oder ignorant gegenüberstünde, sondern weil planmäßige rationale Aufklärung über das Ich und seine Beziehungen zur politischen Welt sonst in unserer Gesellschaft überhaupt nicht stattfinden würde. Wie Theodor Wilhelm in seiner "Theorie der Schule" (Stuttgart 1967) gezeigt hat, läßt sich nur mit einer solch partiellen anthropologischen Perspektive Schule in der modernen Gesellschaft begründen.

Die Forderung nach einer neuen Ideologie macht also ein umfas-

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senderes Problem deutlich, das ich die "totale Anthropologie" nennen möchte: Ist es überhaupt noch möglich, erst den ganzen Bildungsgang eines Menschen zu konzipieren, um dann von daher die einzelnen didaktischen Aufgaben näher zu bestimmen? Führt dies nicht zwangsläufig dazu, sich ein Bild von der "heilen Welt" und vom "guten Menschen" zu machen, um beides in den Schulen zu produzieren (vgl. Th. W. Adorno/ H. Becker: Erziehung wozu?, in: Neue Sammlung, H. 1/1967, S. 1 ff. - H. von Hentig: Das Böse und die heile Welt, in: Neue Sammlung, H. 2/1966, S. 183 ff.)? Und weiter: Ist der pädagogische Zugriff auf den "ganzen Menschen", als Sorge um dessen Heil und Zukunft annonciert, nicht im Grunde antidemokratisch und gegen seine Mündigkeit gerichtet? Steckt dahinter nicht eine Vorstellung von "Erziehung", nach der die Heranwachsenden schon in ihrem Unterbewußtsein für die zufällig herrschenden Mächte der Gesellschaft in Dienst genommen werden sollen? Die oft berufene "anthropologische Wendung" in der Pädagogik der letzten Zeit sollte uns für diese Fragen hellhörig machen. Diese Skepsis trifft selbstverständlich nicht für eine "pädagogische Anthropologie" zu, die unser Wissen über die Menschen unter pädagogischen Leitgesichtspunkten (wie "Lernen") zusammenfaßt und deshalb eine weitere kritische Instanz für didaktische Modelle sein kann.

4. Zur Problematik des systematischen politischen Lernens

Hans Tietgens hat in einer Besprechung dieses Buches zu Recht bemängelt, daß die systematischen Lehrzusammenhänge gegenüber den aporetischen, an Konflikten orientierten, zu kurz kommen (Zur Didaktik politischer Bildung, in: Volkshochschule im Westen, H. 2/1966, S. 77 ff.).

Zwar sind die systematischen Lernpartien in diesem Buch durch die Begriffe "Bildungswissen" und "Orientierungswissen" auch berücksichtigt, aber sie wurden zweifellos zu stiefmütterlich behandelt. Die Gefahr einer losen Folge von "Gelegenheitsunterricht", dem - wie Tietgens zu Recht befürchtet - keine ordnende Vorstellungswelt entspringt, ist in der Tat nicht zu leugnen. Diese Gefahr muß zwar nicht schon dadurch entstehen, daß systematische Lehrzusammenhänge des Bildungswissens und Orientierungswissens mit politischen Konflikten verbunden werden; aber es ist gleichwohl unerläßlich zu betonen, daß letztlich nur gelernt wird, was systematisch in der Logik der zur Debatte stehenden Sachverhalte begriffen wurde und daß gerade diese systematischen Partien die nötige "Distanz" zur Beurteilung aktueller Konflikte schaffen müssen.

Aber hier scheint mir eine noch ungelöste Problematik der politischen Didaktik zu liegen. Gewiß kann es nicht schaden, wenn möglichst viele politische Stoffe systematisch gelernt werden.

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Schwierig wird die Frage aber, wenn man - wie ich versucht habe - ein didaktisches Minimalprogramm entwerfen will, das für alle bildungsfähigen Menschen zu gelten hat. Wo man mehr tun kann - wie etwa in der Oberstufe der Gymnasien - , sollten wir uns freuen. (Im Sinne dieses "Minimalprogramms" kann man übrigens von einem Plädoyer für den "Durchschnittsbürger" (Lingelbach) sprechen; aber eine politische Didaktik, die sich nicht auf alle Bildungsfähigen bezöge, könnte wohl kaum den gegen sie erhobenen Vorwurf abwenden, undemokratisch zu sein.)

Die Schwierigkeit, die ich hier meine, wird vielleicht am besten angesichts eines Einwandes von Joachim Rohlfes deutlich, der ähnlich wie Tietgens die Überbetonung des Aktuellen zu Lasten systematischer Zusammenhänge kritisiert (Literaturbericht: Pädagogik - Geschichtsunterricht - Politische Bildung, Teil III, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 12/1967, S. 748 ff.). Wenn ich ihn recht verstehe, plädiert Rohlfes für den klassischen "Stufengang der Lehre", den "Lehrgang", der vom Einfachen zum Schwierigen, vom "Elementaren" zur differenzierten Explikation usw. fortschreitet. Für einen Sachbereich, mit dem der Schüler in der Schule zum ersten Mal Bekanntschaft macht - z. B. den Lateinunterricht - , mag das zutreffen. Aber was sind in der Politik denn "Grundkenntnisse", "Grundprobleme", "Einsichten in richtiger Stufenfolge" und "Urphänomene"? Angenommen, sie ließen sich durch irgendein Verfahren tatsächlich ermitteln - wären sie dann auch lernbar? Ist Sprangers Modell der "Urphänomene" (Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung, Bonn 1957) - abgesehen von der Frage der Richtigkeit - wirklich eine Lernhilfe? Warum sind denn alle solche Versuche bisher unbefriedigend geblieben?

Mir scheint, daß alle diese Verfahren den politischen Vorstellungshorizont, den die Schüler immer schon mitbringen, falsch einschätzen. Im Unterschied etwa zum Lateinunterricht bringen die Schüler zu jedem denkbaren politischen Zusammenhang von einiger Wichtigkeit nicht einen ''elementaren" oder "einfachen", sondern einen - daran gemessen - hochdifferenzierten Vorstellungszusammenhang mit, wie richtig oder falsch der immer sein mag. Und man geht unter das Niveau dieses immer schon mitgebrachten Vorstellungszusammenhangs, wenn man "lehrgangsgerecht" im eben genannten Sinne verfahren will. Bei systematischen politischen Lehrzusammenhängen liegt das Problem nicht darin, vom "Einfachen" zum "Schwereren" fortzuschreiten, sondern darin, einen verhältnismäßig differenzierten Vorstellungszusammenhang zu korrigieren und weiter zu differenzieren. Dafür gibt es in der bisherigen Pädagogik kein erprobtes methodisches Modell, weil die Schule immer von ganz anderen Voraussetzungen ausgegangen ist. In meinem Bericht "Politische Bildung in der Jugendarbeit" habe ich ver-

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sucht, unter dem Begriff der "Produktion" einen solchen Weg zu beschreiben. Im übrigen darf man nicht vergessen, daß alle didaktischen Organisationen und nicht zuletzt die, die Rohlfes hypostasiert, bisher durch nichts wirklich empirisch erhärtet sind, sondern ausnahmslos auf spekulativen philosophischen Vorentscheidungen beruhen. So steht und fällt die sachliche Einsichtigkeit der "Urphänomene" etwa mit der phänomenologischen Methode der "Reduktion", und es scheint mir sehr zweifelhaft, ob im Unterricht das Ergebnis einer solchen Methode einsichtig zu machen ist ohne den philosophischen Weg, der dazu geführt hat. Die "Urphänomene" sind also eine Sache der politischen Philosophie, für deren Lehren es eine eigentümliche didaktische Problematik gibt, aber wenn ich deren Methoden im Unterricht unterschlage, kann nur "Weltanschauung" in den Köpfen der Schüler zurückbleiben. Über diesen Grundsatz sollte doch inzwischen wenigstens Einigkeit bestehen: daß nur ein solcher Unterricht aufklärende Funktion haben kann, der nicht nur Erkenntnisergebnisse, sondern auch die Wege dahin dem Schüler deutlich macht. Und jedes didaktische Verfahren, das auf einer Grundlage basiert, die der Schüler nicht nachvollziehen kann, verdient von vornherein unser Verdikt: es ist magische "Medizinmännerei". Die relative Beliebtheit und Verbreitung solcher "reduzierter" Verfahren scheint mir nicht zuletzt darin begründet zu sein, daß auch solche Lehrer damit unterrichten können, die von den Sachverhalten zuwenig verstehen. Es ist kein Kunststück, jedes politische Thema ohne viel Sachverstand auf eine Handvoll "Urphänomene" hinzulenken.

Selbstverständlich ist auch mein Vorschlag zu den systematischen Partien des Unterrichts einstweilen nicht schlagkräftig beweisbar, aber deshalb hypostasiere ich ihn auch nicht. Wenn die Voraussetzung aber stimmt, daß in politischen Fragen immer schon ein verhältnismäßig differenzierter Vorstellungszusammenhang vorausgesetzt werden muß, dann hängt die aufklärende Kraft eines systematischen politischen Unterrichts nicht zuletzt von der Reichweite seiner Thematik ab; dann ist es z.B. besser, eine relativ undifferenzierte Gesamtvorstellung über den Zusammenhang der modernen Volkswirtschaft langsam weiter zu differenzieren, als sich mit einem Spezialproblem intensiver zu beschäftigen, weil man im letzteren Falle Gefahr läuft, daß auf der Landkarte der politischen Vorstellungen das intensiv Behandelte isoliert wird und keine Verbindungen mit den übrigen Orientierungspunkten eingeht. Solche Unterrichtsprospekte im einzelnen zu entwerfen. übersteigt die fachliche Kompetenz des politischen Didaktikers. Sie können nur von den Fachwissenschaften entworfen werden, und ihnen gegenüber befände sich

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die politische Didaktik in einer kritischen Funktion, so wie die Didaktik sich umgekehrt der kritischen Kontrolle anderer Wissenschaften unterwerfen muß. Übrigens sind solche Versuche in den letzten Jahren in den Zeitschriften "Gegenwartskunde" und "Politische Bildung" zum Teil recht überzeugend vorgelegt worden.

Meine Vermutung ist, daß sich dieses Problem prinzipiell nicht durch ein noch so raffiniert ausgeklügeltes Stoffauswahlverfahren lösen läßt. Wichtiger scheint mir zu sein, die in den modernen positiven Wissenschaften verwendeten "Modelle" in den Unterricht einzubringen: z. B. die Funktionsmodelle der Sozialwissenschaften, die Marktmodelle der Nationalökonomie oder das Grundmodell der Kommunikationsforschung, kybernetische Modelle usw. Die Einwände liegen natürlich auf der Hand: es dürfte kaum "das" Modell geben, sondern immer nur mehrere, je nach der wissenschaftlichen Position; außerdem könne man solche Modelle nur in positivistischer Weise verwenden, d. h. unter Ausklammerung der Werturteilsproblematik.

Diese und wahrscheinlich noch andere Einwände ließen sich mit Recht erheben. Aber was die Pluralität der Modelle angeht, so wäre es mir lieber, ein Lehrer entschiede sich einfach für eins, das ihm von seinem Studium her am meisten einleuchtet, als daß er - wie bisher meist - unter dem Vorwand von "Didaktik" alle möglichen Werturteile unerkannt einfließen läßt. Und was den "werturteilsfreien Positivismus" betrifft, so würde ein guter Schuß davon unseren Schulen nicht schlecht anstehen. Außerdem käme das Problem der Werte sofort ins Spiel, sobald die politischen Kategorien angewendet würden. Schließlich sei nicht vergessen, daß der moderne wissenschaftliche Positivismus eine unentbehrliche aufklärerische Kraft in sich birgt, sofern er nicht hypostasiert wird.

Ich könnte mir vorstellen, daß Funktionsmodelle und Interdependenzmodelle jene Reichweite haben, die mir erforderlich erscheint. Gerade sie - und vermutlich nur sie - ermöglichen uns heute noch, hochdifferenzierte Phänomene und zahllose Details im Bewußtsein zusammenzubringen und - anders als bei weltanschaulichen Modellen vom Typ der "Urphänomene" - offen und korrigierbar zu bleiben. Das elementare Modell der Kommunikation z. B. (Sender - Medium/Nachricht - Empfänger - Sender) gilt in seiner formalen Abstraktheit für alle menschlichen Kommunikationen, von der Liebe bis zur Massenkommunikation, und dürfte zudem selbst für 10jährige - weil mit eigenen Sozialerfahrungen ausfüllbar - schon unmittelbar evident sein. Ich könnte mir also eine "Sozialkunde" im Sinne einer Lehre von den sozialen Beziehungen vorstellen, die von

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vornherein mit diesem Modell als ihrem Integrationspunkt arbeitet, wo der "Gang der Lehre" dann darin besteht, im Hinblick auf die konkreten empirischen Sozialformen immer weiter zu differenzieren und das Modell entsprechend "auszubauen". Mangels fachlicher Kompetenz kann ich nicht beurteilen, ob ein solches Verfahren z.B. auch in der Wirtschaftskunde möglich wäre. Aber sicher wäre es der Mühe wert, darüber nachzudenken, ob man von solchen Modellen her nicht weiterkommen kann als dadurch, daß alle möglichen Wissenschaften Stoffkataloge für die politische Bildung aufstellen. Daß auch dann noch "Stoffe" gelernt werden müßten, versteht sich von selbst.

Hier wie in anderen didaktischen Bereichen hat eine übertriebene "fachdidaktische" Betriebsamkeit den Blick für das Mögliche eher verstellt - vor allem dann, wenn vor lauter "Didaktik" das "Fach" fast zum Verschwinden gebracht wird. Die Pädagogik sollte viel ungenierter als bisher die entsprechenden Fachwissenschaften auffordern, solche an ihren wichtigsten Denkmodellen orientierten systematischen Lehrgänge zu programmieren. Dann kann die Didaktik immer noch diskutieren, ob diese Entwürfe lernbar sind oder nicht. Die von mir vorgeschlagenen vier Systeme des Orientierungswissens sollten für solche Bemühungen nur Richtpunkte angeben. Übrigens müßte man vermutlich noch einen fünften Horizont hinzufügen, den man als "System der sozialen Beziehungen" bezeichnen könnte.
 
 

5. Das Problem der Praktizierbarkeit

Auf ein weiteres Problem hat Heinrich Weber hingewiesen (Gegenstand und Didaktik des politischen Unterrichts, in: Die deutsche Berufs- und Fachschule, H. 11/1966, S. 832 ff.). Er hat Skepsis angemeldet, ob das in diesem Buche vorgeschlagene didaktische Konzept in den Schulen durchführbar sei. Woher soll die dafür erforderliche Zeit - vor allem in den Berufsschulen - kommen? Müßten die Lehrer nicht anders ausgebildet sein? Müßten die Richtlinien nicht zum Teil wenigstens geändert werden usw.?

Auch diese Fragen scheinen mir mehr als berechtigt. Aber eine didaktische Theorie darf nicht nur das augenblicklich Realisierbare widerspiegeln, sie darf kein erziehungswissenschaftliches Alibi für veränderungswürdige Schul- und Ausbildungsverhältnisse sein. Wenn das Konzept als ein Minimalprogramm einleuchtend ist, dann müssen eben Änderungen geschaffen werden. Es ist wahr: Ein Lehrer, der nicht politische Wissenschaften oder Soziologie studiert hat, kann mit diesem Modell kaum arbeiten. Er kann es vermutlich nicht einmal verstehen. Eine oder zwei Wochenstunden in der Berufsschule sind unzureichend, wie über-

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haupt wohl außerhalb einer zehn Jahre dauernden Vollzeitschule die Ansprüche dieses Konzepts nicht verwirklicht werden können. Alle didaktischen Theorien brauchen aber ein Stück Utopie, damit die inhaltlichen - und nicht nur wie bisher die organisatorischen - Perspektiven der Veränderung sinnvoll definiert und geplant werden können. Außerdem sind - so meine ich - didaktische Modelle Denkmodelle und nicht schon pädagogische Handlungsmodelle. Wer dieses Buch mit der Absicht liest, hinterher genau zu wissen, "wie man es machen muss", wird notwendig enttäuscht werden. Schon die vernünftige Anwendung der Kategorien auf einen politischen Konflikt ist ein produktiver Denkakt eigener Art, den die didaktische Theorie nicht vorwegnehmen kann. Es nützt nichts, bloß mechanisch die formalisierten Fragen an politische Konflikte zu richten, sofern keine Klarheit über die Substanz der Kategorien herrscht, aus denen die Fragen erwachsen sind.
 
 

6. Zur Wirksamkeit politischen Lernens

Über die Frage der Wirksamkeit sind seit Erscheinen dieses Buches wohl die meisten Fortschritte gemacht worden. Die umfangreiche Untersuchung der Max-Traeger-Stiftung (Becker, Egon/Herkommer, Sebastian/Bergmann, Joachim: Erziehung zur Anpassung? Eine soziologische Untersuchung der politischen Bildung in den Schulen, Schwalbach 1967 - Zur Wirksamkeit politischer Bildung, Teil I: Eine soziologische Analyse des Sozialkundeunterrichts an Volks- , Mittel- und Berufsschulen. Teil II: Volker Nitschke: Schulbuchanalyse. Hrsgg. von der Max-Traeger-Stiftung, Frankfurt 1966) hat gegenüber hochfliegenden Erwartungen die gebührende Ernüchterung gebracht. Sie hat insbesondere gezeigt, wie sehr die Schule doch eine "Mittelklasseninstitution" ist und wie sehr die politischen und pädagogischen Vorstellungen der Lehrer von daher geprägt sind. Es scheint ungeheuer schwierig zu sein, die feste Allianz zwischen dem dominanten mittelständischen Schülertypus, der mittelständisch-pädagogischen Mentalität der Lehrer und den darauf zugeschnittenen Richtlinien und Lehrbüchern zu durchbrechen.

Neben den sozialen Barrieren für politisches Lernen, die die genannte Untersuchung eindringlich aufgewiesen hat, ist durch die politische Psychologie der Hinweis auf die psychischen Barrieren hinzugekommen. Hingewiesen sei vor allem auf Peter Brückners Beitrag "Zur Pathologie des Gehorsams" (in: Politische Erziehung als psychologisches Phänomen = Politische Psychologie, Bd. 4, Frankfurt 1966), der den Zusammenhang zwischen falscher Gehorsamserziehung in der Kindheit und Jugend mit einer antidemokratischen psychischen Disposition zum Bewußtsein bringt.

Aber auch andere Beiträge sind von Bedeutung. So zieht Walter Jakobsen für den Umgang mit den Schülern wichtige Schlüsse: "Wer in seiner ganzen Grundeinstellung durch Elternhaus und Schule darauf fixiert worden ist, sich vorschreiben zu lassen, was in dieser Zeit als gut und richtig und was als falsch und böse

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anzusehen ist, und stur an dieser Einstellung festzuhalten tendiert, der muß offenbar anders behandelt werden als derjenige, der sich seiner Autonomie mit fortschreitender Entwicklung zunehmend bewußt wird und deswegen Wert darauf legt, eigenen Leitbildern zu folgen. Im ersteren Falle käme so etwas wie Entwöhnung (vom Gängelband) als Therapie in Frage, beim letzteren vor allem Versorgung mit dem notwendigen geistigen (objektiven) Rüstzeug" (a.a.O., S. 27).

Es bleibt zu hoffen, daß die Forschungen der politischen Psychologie diese und andere Probleme weiter untersuchen. Vor allem wäre es nötig, in den pädagogischen Feldern selbst die Bedingungen der Möglichkeit für politische Lernbereitschaft genauer zu untersuchen. Hier wird die Diskussion leider gegenwärtig noch von reichlich naiven Vorstellungen über "demokratischen" bzw. "sozialintegrativen Führungsstil« beherrscht. Wichtig wäre vor allem zu prüfen, ob sich Beobachtungen aus der außerschulischen Bildungsarbeit verallgemeinern lassen, nach denen die Lernbereitschaft steil ansteigt, wenn der soziale Druck entsprechend vermindert wird (vgl. H. Giesdecke: Politische Bildung in der Jugendarbeit, und ders.: Didaktik der politischen Bildung im außerschulischen Bereich).
 

7. Zum Verhältnis von Lernen und Aktion

Die vehementeste Kritik hat offensichtlich die relative Distanziertheit dieses Buches gegenüber der "politischen Aktion" in Zusammenhang mit dem Zielbegriff der "politischen Beteiligung" hervorgerufen (vgl. H. Dahmer: Politische Bildung als Politisierende Bildung. Drei Berichte über neue Methoden der gewerkschaftlichen Jugendarbeit in der IG Chemie. II: Politisierung der "Unbefangenen", in: Werkhefte, H. 10/1967, S. 287 ff. - ; Chr. Lingelbach, a.a.O. - Schmiederer, a.a.O.) Ich will gerne zugeben, daß gerade hier Mißverständnisse dem Autor zur Last gelegt werden können. Dennoch ist es erstaunlich, wie manche Leser in Verwirrung geraten, wenn man ihnen ihr zentrales ideologisches Stichwort nimmt. Man kann über die Zweckmäßigkeit des Begriffes "politische Beteiligung" sicher streiten, aber daß ich ihn nicht deshalb anstelle von "Mündigkeit" verwende, weil ich gegen Mündigkeit bin, sondern weil "Mündigkeit" in der Pädagogik längst zu einer Leerformel geworden ist, das kann ein unvoreingenommener Leser eigentlich nicht bezweifeln.

Man kann die Anwälte der Zielvorstellung "Aktivität" in zwei Positionen unterscheiden: Die einen - repräsentiert etwa durch Dahmer und Schmiederer - wollen bestimmte politische Aktionen propagieren, und sie liquidieren die politische Lernproblematik, indem sie sie zum bloßen Vehikel ihrer politischen Intentionen machen. Dabei bemerken sie gar nicht, wie sehr sie damit in die Nachbarschaft der "bürgerlichen" Pädagogik der zwanziger Jahre geraten, die ebenfalls das, was politisch uner-

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füllbar schien, durch verstärkte pädagogische Bemühungen kompensieren wollte.

Die anderen - wie etwa Lingelbach - nehmen die didaktische Problematik zwar ernst, dafür bleibt aber der Appell zur politischen Aktivität bloß formal bzw. verbal. So hält Lingelbach an der überlieferten Vorstellung fest, die Schule sei in politischer Hinsicht eine lebens-vorbereitende und nicht schon eine lebensbegleitende Institution. "Die volle Aufgeschlossenheit für die Erörterung wesentlicher politischer Fragen" erreiche "erst der Erwachsene" (S. 49). "Zwar ist der Aufwachsende vom ersten Tag seines Lebens an in den politischen Prozeß passiv einbezogen, die Forderung, sich aktiv zu beteiligen, erhebt und steigert die Gesellschaft jedoch immer erst dann, wenn sie ihn schrittweise aus dem erzieherischen Schonraum entläßt. So werden etwa an die politische Urteilskraft und Handlungsfähigkeit des Volksschulabsolventen, der in das Berufsleben eintritt, weit höhere Anforderungen gestellt als an den gleichaltrigen Gymnasiasten, der noch lange Zeit in erzieherischer Obhut bleibt" (S. 48). Ist das ein Naturgesetz? Warum soll "die Gesellschaft" nicht die Politisierung der Schule zulassen? Ist die Schule, die Zeugnisse verteilt und damit Sozialchancen zuteilt, keine politische Institution? Sind die Oberschüler, die heute in ihren Schulen rebellieren unreif. weil sie es gewissermaßen fünf Jahre zu früh tun? Stellt "die Gesellschaft" wirklich an die Volksschulabgänger irgendeine Anforderung an deren "politische Urteils kraft" und "Handlungsfreiheit"? Ist es nicht vielmehr so, dass gerade die spezifische "Pflichtenfreiheit" der Studenten und Oberschüler eine größere Chance zur politischen Reflexion und Aktion impliziert, als es den Erwachsenen im allgemeinen möglich ist?

Lingelbach will das aus dem Widerspruch von Grundgesetz und demokratischer Wirklichkeit resultierende Unbehagen "bewußt herausfordern", "um Bereitschaft zu politischer Aktivität zu wecken". Aber so revolutionär, wie es auf den ersten Blick scheint, meint er es gar nicht. Er will ja nicht den Jugendlichen, sondern erst den "künftigen Bürger" politisch aktivieren, der politische Unterricht soll dazu nur "die Bereitschaft wecken". Aber wie kann ich denn "blind" zur Aktivität auffordern, ohne zu wissen, worum es "später" überhaupt gehen wird? Und kann man "Bereitschaft zur Aktivität" gewissermaßen speichern, bis "die Gesellschaft" so freundlich ist, sie zuzulassen? Wir sehen: der ganze Appell an die Aktivität ist bloß verbal und folgenlos, die Aufforderung, die Gesellschaft mittels der Pädagogik zu verändern, entpuppt sich als "Gummi-Löwe"; nicht einmal für die Schule ist sie ernst gemeint.

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Nun hat sich allerdings seit Erscheinen dieses Buches unsere innenpolitische Landschaft entscheidend verändert. Ich meine die zunehmende Wachsamkeit einer "außerparlamentarischen Opposition". Sie hat in der Tat neue Aspekte für ''politische Beteiligung" eröffnet. Man könnte sagen, daß das, was Hennis seinerzeit schon konstatierte, nämlich das unvermittelte Gegenübertreten von einzelnem und Herrschaft, sich noch weiter verschärft hat. Im selben Maße hat sich die Funktion der politischen Parteien geändert. Die Artikulation des politischen Willens von unten nach oben ist praktisch unterbrochen, das Wechselspiel von Regierung und Opposition in den Parlamenten nicht mehr ausreichend. Während man in den fünfziger Jahren bei Meinungsumfragen die Bereitschaft, in einer politischen Partei mitzuwirken, noch als wichtiges Indiz für demokratische Einstellung überhaupt ansehen konnte, ist inzwischen wohl vollends deutlich geworden, daß der Beitritt zu einer Partei politisch nur noch sinnvoll ist für den, der eine entsprechende politische Karriere anstrebt. Die Entwicklung der "außerparlamentarischen Opposition" hat genau das bestätigt, was Ingrid und Rolf Schmiederer mir vorwerfen: daß Politik immer mehr ein "Beruf" wird und daß die Bürger nur noch durch gezielte Re-Aktionen eine Chance der Mitwirkung haben. Die Formen der "außerparlamentarischen Opposition" sind in statu nascendi, und es wird dringend erforderlich, sie im öffentlichen Bewußtsein selbstverständlich zu machen. Aber eines läßt sich heute schon mit Sicherheit sagen: Wenn es nicht gelingt, auch hier zwischen wichtigen und unwichtigen Anlässen zu unterscheiden, dann wird sich diese Opposition sehr schnell sinnlos "verbluten". Nicht einmal Studenten können auf die Dauer das Demonstrieren zu einer Ganztagsbeschäftigung machen!

Aber damit ist der prinzipielle Zusammenhang von Lernen und Aktion erst angedeutet. Daß es diesen Zusammenhang gibt, ist nicht zu bestreiten. Wer im Sinne dieses didaktischen Modells "politisch-gebildet" ist, bringt - falls er in eine Aktion eintritt - eine bestimmte Disposition mit. Aber ob er sich an einer bestimmten Aktion beteiligt und wie er es dann tut - das ist vom didaktischen Modell her nicht eindeutig kalkulierbar. Grundsätzlich gilt: Die Strukturen des politischen Handelns sind nicht identisch mit denen des politischen Lernens. Man kann politische Aktionen - B. Demonstrationen - nachträglich der didaktischen Reflexion unterwerfen, und die Akteure können somit nachträglich daraus lernen, z. B. wie und warum man es hätte besser machen können. Und dieses Lernen kommt dann irgendwie auch den folgenden Aktionen zugute. Wenn sie aber aus ihrer Aktion lernen wollen, dann geschieht auch dies nicht

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"von selbst", sondern nur dann, wenn die Reflexionen im Rahmen eines didaktischen Modells erfolgen. Es reicht z. B. keineswegs aus, wenn Studenten im Anschluß an eine Demonstration stundenlang diskutieren. Es kann auch sein, daß eine solche Diskussion noch selbst Teil der Aktion ist, insofern es gar nicht darum geht, die Aktion aufgrund bestimmter Kategorien zu reflektieren, sondern sie bloß zu rechtfertigen und nachträglich Zustimmung für sie zu erwerben. Emotionale Kollektiverlebnisse wie das, der Staatsgewalt unangenehm werden zu können, sind noch keine "Erfahrungen"! Allenfalls "Taktik" wird "spontan" gelernt (R. Dufner: Zur politisch-pädagogischen Relevanz der Berliner Studentenaktionen, in: deutsche jugend, H. 2/1968, S. 75 ff.), aber selbst das ist nicht sicher, sondern es wird sich erst dann zeigen, wenn die Taktik geändert werden muß. Für manche mag die politische Aktion ein dominantes Lernmotiv enthalten, aber auch das ist kein Naturgesetz: Die Wiederholung von Aktionen kann auch ein Symptom von Borniertheit sein, d. h. für die Weigerung, neue politische Erfahrungen zu machen. Ebensowenig wie ''Selbsttätigkeit" unter allen Umständen Lernen optimalisiert, darf man sich die Lösung aller politisch-didaktischen Probleme von der politischen Aktion als "Auslöser" erwarten - es sei denn, man wollte auf den didaktischen Bewußtseinsstand der beginnenden Reformpädagogik zurückgehen. Schließlich und endlich darf eine allgemeine politisch-didaktische Theorie die besondere und immer noch privilegierte Situation studentischer Minoritäten nicht verallgemeinern. Sie muß vielmehr ermitteln, was allen Heranwachsenden an politischem Lernen zugemutet werden kann. Von allen Volksschülern, Berufsschülern, Lehrlingen und Oberschülern exzeptionelles Heldentum in ihrer Umgebung zu erwarten, wäre ganz gewiß eine "Zumutung", die subjektiv nicht zu Unrecht mit kollektiver Aggression beantwortet werden würde.

Sicherlich zielt diese politische Didaktik mit ihrem Begriff der "politischen Beteiligung" und den Kategorien "Interesse", "Solidarität" und "Mitbestimmung" auf "Aktion" im weitesten Sinne. Und man kann sogar vermuten, daß mit einer bestimmten Kumulation didaktisch gezielter politischer Reflexionen politische Aktivität in hohem Maße nahegelegt wird, aber diese kann nicht konkret und unmittelbar intendiert werden, weil die Situationen politischen Handelns nicht hinreichend prognostizierbar sind. So wie es zwischen Theorie und Praxis eine "Unbestimmtheitsrelation" gibt, so gilt dies auch für den Zusammenhang von Lernen und Aktion. Man muß auch in diesem Zusammenhang wieder der "Sucht nach Weltanschauung" entgegentreten, die das Individuum nur lernen lassen will, um über es um so besser verfügen zu können.

Die Hartnäckigkeit, mit der ich hier auf dem Unterschied von

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Lernen und Aktion bestehe, hat ihren Grund nicht zuletzt darin, ungerechtfertigte Ansprüche an die politische Bildung zurückzuweisen, die gerade in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten zu vernehmen waren: Den einen scheint es pure "Anpassung an den Status quo" zu sein, wenn man nicht zum Demonstrieren auf die Straße geht; andere sind enttäuscht, daß die Mitgliederzahlen der politischen Parteien nicht steigen; wieder andere wollen der politischen Bildung das Aufkommen des Rechtsradikalismus anlasten. Allen diesen falschen Erwartungen ist gemeinsam, daß sie von der Pädagogik Ergebnisse verlangen, die nur die Politik erbringen kann, und daß Didaktik als eine Technik der Indoktrination verstanden wird, die nach vorgegebenen - richtigen oder falschen - Zielen Menschen zu "machen" habe. Indoktrination entscheidet sich nicht daran, ob "richtige" oder "falsche" Vorstellungen den Individuen injiziert werden, sondern daran, ob das Individuum die tatsächliche Chance erhält, ihm nahegelegte Vorstellungen als die seinen zu adaptieren bzw. zurückzuweisen. Es muß eindringlich betont werden, daß Pädagogik nur die subjektive Seite des Demokratisierungsprozesses fördern kann - im Sinne etwa der "Herstellung eines richtigen Bewußtseins" (Adorno), während der reale Fortschritt an Demokratisierung eine Sache des politischen Handelns ist. Diese Unterscheidung wird nicht zuletzt auch deshalb getroffen, um die Notwendigkeit politischer Aktionen deutlich ins Bewußtsein zu heben!

Pädagogik gerät leicht in den Verdacht des "Konservativ-Restaurativen". Sie kann sich die Menschen, mit denen sie zu tun hat, ebensowenig aussuchen wie die Verhältnisse, unter denen sie leben. Die Aufgabe, trotz dieser Bedingungen das je einzelne Bewußtsein und die je einzelne Vorstellungskraft ein kleines Stück zu verbessern, ist ein unpathetisches Alltagsgeschäft, das nicht dadurch gewinnt, daß man politische und pädagogische Wunschbilder entwirft, deren Vollkommenheit des allgemeinen Beifalls sicher sein kann. Der Vorwurf, der "Anpassung an den Status quo" zu dienen (Schmiederer), läßt sich mit Leichtigkeit gegen jede didaktische Theorie erheben, die sich auf das gegenwärtig Mögliche beziehen will. "Beruhigt man sich ... bei dem hier und jetzt Möglichen, so stärkt man die Illusionen über die wirklichen Machtverhältnisse ... meint Helmut Dahmer. Aber er wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß praktische Pädagogik nur das hier "und jetzt Mögliche" - nämlich das in der jeweiligen pädagogischen Situation Mögliche - erreichen kann.

Mein Konzept schließt allerdings "revolutionäre" Lösungen im klassischen Sinne aus. Es plädiert für evolutionäre Fortschritte,

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weil nach meiner Meinung in ihren Folgen kalkulierbare - und deshalb verantwortbare und humane - Veränderungen nur mit den intakten Funktionen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems - und das heißt: des wie immer zu verändernden parlamentarischen Erbes - erreichbar sind. Ob man diese Veränderungen auch durch provokatorische Entlarvung der gesellschaftlichen Institutionen in ihrer jetzigen Verfassung erreichen kann, ist damit weder geleugnet noch entschieden. Aber auch die "außerparlamentarische Opposition" ist in ihrer Wirksamkeit auf die intakten Institutionen (z. B. Regierungen, Parlamente usw.) angewiesen: Sie vermag diese zu zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder nicht zu tun, nicht aber vermag sie auch ihre eigenen politischen Vorstellungen selbst zu realisieren. Sieht sie das nicht ein, so überschätzt sie sich hoffnungslos.

Im evolutionären Sinne jedenfalls sind die Kategorien dynamisch, ja zum Teil geradezu utopisch, indem sie demokratische Ansprüche entfalten, die in Wirklichkeit noch nicht eingelöst sind, auf deren Einlösung sie aber gerade durch ihre ständige Anwendung pochen. Die Legitimität des je subjektiven Interesses in eine allgemeine politisch-pädagogische Kategorie zu fassen, ist in unserem Lande immer noch inopportun. Gleiches gilt für die immer wieder an konkreten politischen Fällen erhobene Frage nach der "Mitbestimmung" oder für die Auflösung des "Gemeinwohls" in die Kategorien "Solidarität" und "Funktionszusammenhang". Solche Leitfragen kritisieren Realitäten, die dem Selbstanspruch unserer demokratischen Gesellschaft widersprechen. Indem die Kategorien aber auf jeweils konkrete Sachverhalte bezogen werden, entgehen sie der Gefahr, in unverbindliche Sonntagsreden transformiert zu werden. Kann man angesichts dessen wirklich behaupten, daß ich "auf den fruchtbaren Konflikt zwischen dem Bestehenden und dem Wünschbaren zugunsten der Anpassung an den Status quo" verzichte (Schmiederer S. 409)? "Politische Pädagogik, die heute wirklich etwas lehren will, hätte als 'negative' Pädagogik zunächst einmal zu zeigen, wie beschränkt die Aussichten politischen Handelns sind, wie eng bemessen der Horizont und wie hart die Widerstände; daß die Macht schon verteilt ist ... ", fordert Helmut Dahmer. Aber wie will er das "zeigen" - falls er nicht indoktrinieren will -, wenn er seine Partner nicht lehrt, bestimmte Fragen zu stellen, also politisch-pädagogische Kategorien wie "Macht" oder "Mitbestimmung" regelmäßig anzuwenden? Im Grunde plädiert Dahmer für eine Art von didaktischem Defaitismus: Er will seinen Partnern zeigen, wie ohnmächtig sie sind, daß die realen Möglichkeiten der "politischen Beteiligung" nur der Zementierung des Status quo dienen; andererseits plä-

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diert er leidenschaftlich für Aktivität, für die "bewußte Politisierung". Wie sollen seine Partner sich das eigentlich zusammenreimen?

Ich halte es für möglich, daß dieses didaktische Modell auch entgegen meinen Intentionen - also auch politisch "reaktionär" - verwendet wird. Dagegen kann man sich nicht hinreichend schützen. Hier steckt der Teufel im Detail, dieses Problem entscheidet sich letztlich in der je konkreten pädagogischen Praxis. Solange in den herrschenden didaktischen Theorien der einzelne Lehrer zur entscheidenden didaktischen Instanz erhoben wird, bleibt die praktische Auslegung immer auch seiner Willkür überlassen. Zu ändern wäre dies nur dadurch, daß der einzelne Lehrer über seinen Unterricht zu diskutieren gezwungen wird - ei es mit seinen Kollegen, sei es mit seinen Schülern, am besten mit beiden. Vielleicht und hoffentlich führt die augenblickliche Unruhe an den Hochschulen und Oberschulen wenigstens dort zu einer Institutionalisierung der didaktischen Kritik. Aber letzte Sicherheit ist auch davon nicht zu erwarten. Ein didaktisches Modell und eine organisierte kritische Kommunikation können die pädagogische Praxis verbessern, aber sie geben keine Gewähr dafür. Allerdings: ohne beides bleibt diese Praxis mit Sicherheit eine willkürliche, im ganzen unvernünftige und zufällige.
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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/poldikrit.htm

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