Hermann Giesecke

Heinrich Roths 'Realistische Wendung' in der Erziehungswissenschaft – was ist daraus   geworden? 

In: Hoffmann, Dietrich/Gaus, Detlef/Uhle, Reinhard (Hg): Das Reformkonzept Heinrich Roths – verdrängt oder vergessen? Hamburg 2006, S. 15-26

© Hermann Giesecke


 

Zu Recht gilt Heinrich Roth als maßgeblicher Begründer einer modernen, nämlich empirisch fundierten Erziehungswissenschaft. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre musste er sich dabei allerdings gegen starken Widerstand der traditionellen geisteswissenschaftlichen Pädagogik durchsetzen. Davon zeugen insbesondere zwei Artikel, die die Grundlage der folgenden Überlegungen bilden (Roth 1958; 1962). Will man auf eine Formel bringen, worum es Roth damals ging, so ist dies treffend mit seinem Wort von der "realistischen Wendung" zu kennzeichnen, die er in der Erziehungswissenschaft für nötig hielt.

Um dieses Programm zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, in welcher Verfassung die Erziehungswissenschaft sich damals befand. Ihre geisteswissenschaftliche und hermeneutische Tradition war nach dem Krieg wieder dominant geworden, schien aber zugleich am Ende ihrer wissenschaftlichen Möglichkeiten angekommen zu sein. Sie verstand sich zwar als theoretisches Gegenüber der pädagogischen Praxis, also bezogen auf die Erziehungswirklichkeit und durch sie als Wissenschaft legitimiert, tatsächlich jedoch hatte sie wenig Kenntnis von der Realität und konnte mit ihren Mitteln auch nur wenig darüber erfahren. Sie war im Kern zu einer normativ orientierten Prinzipienwissenschaft geworden, die aus grundsätzlichen ethischen Einsichten deduktiv ableitete, was in der pädagogischen Praxis zu geschehen, oder zumindest: was dort Aufgabe und Zielrichtung zu sein habe.

Andererseits waren nach dem Krieg Nachbarwissenschaften wie Soziologie und Psychologie nicht zuletzt durch empirisch fundierte Arbeiten zu Ansehen und Einfluss gelangt und drangen nun als auf Tatsachen gegründete Wissenschaften in die Wirklichkeitslücke ein, die die Pädagogik auf ihrem eigenen Feld hinterlassen hatte.

"Besonders geringfügig nimmt sich die Pädagogik der Erziehungsprobleme an. Sie werden mehr und mehr von Psychologen, Psychotherapeuten, Erziehungsberatern, Medizinern und Psychiatern abgehandelt. Gruppiert man die Veröffentlichungen auf diesem Gebiet, so zeigt sich, dass die wenigsten davon aus der Feder von Pädagogen stammen. Das ist insgesamt ein unerfreuliches Bild" (Roth 1958, S. 22). Daran - so kann man hinzufügen - hat sich bis heute nichts geändert.

Zunächst waren es insbesondere Soziologen wie Schelsky und Wurzbacher, die sich auch pädagogischen Problemen zuwandten und deswegen von Erziehungswissenschaftlern prompt in Debatten über das Verhältnis von Norm und Wirklichkeit verwickelt wurden (Flitner 1961; 1963). Der Widerstand war erheblich, so dass sich Roth in seinem Beitrag von 1958 ausführlich damit auseinander setzte. In dem Zwischenkapitel "Für und Wider die empirische Forschung" (S. 22 ff.) machte er etwa geltend, dass mit empirischer Forschung "nie theorielose oder unphilosophische Forschung" gemeint sei; dass vielmehr die philosophisch betriebene Pädagogik erst "das denkerische Rüstzeug zur Verfügung gestellt" habe für die Entwicklung empirischer Fragestellungen und Instrumente. "Alles, was auf philosophischem Wege mittels spekulativen, deduk-

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tiven und dialektischen Denkens in der Pädagogik geleistet werden kann, ist geleistet worden" (S. 23). Das klingt nach einem Abgesang und ist wohl zumindest teilweise auch so gemeint, wenn nämlich nicht längst verfestigte Denkformen mit immer weniger Wirklichkeitsgehalt ein empirisches Korrektiv erhalten.

" ... gerade was das dialektische Denken in der Pädagogik anbetrifft, muß man sehen lernen, daß es auch ein Steckenbleiben im dialektischen Hin- und Herbewegen der Antinomien oder Polaritäten gibt, das steril wird, weil es nur noch Methode ohne Sacherkenntnis ist. Man hat zuletzt nur noch die Denkform und sonst nichts mehr in der Hand. Wenn dieser Zeitpunkt des Leerlaufs erreicht ist - und er erscheint mir in verschiedenen neueren Veröffentlichungen erreicht -, dann erweist sich die Notwendigkeit eines neuen dialektischen Denkens. Dann wird es notwendig, daß sich die gesamte dialektische Erziehungsphilosophie ihres Gegenparts erinnert, nämlich der empirischen Forschung in Deduktion und Induktion. Sie ist der echte Widerstand für ein pädagogisches Denken, das sich nur noch im dialektischen Hantieren von Begriffen bewegt und dadurch in der Gefahr schwebt, keine Wirklichkeit mehr zu fassen. Es gibt eben gerade auch in der Pädagogik Erkenntnisse, die nicht aus der Denkbewegung selbst, sondern nur aus den wissenschaftlich gesicherten Erfahrungen gewonnen werden können. Das bedeutet nicht, daß bei dieser erfahrungswissenschaftlichen Pädagogik das Denken zu kurz kommen würde, es wird im Gegenteil noch mehr zu denken geben, weil die Wirklichkeit es ist, welche immer wieder die unauflösbaren Rätsel stellt. Die Wirklichkeit darf aber nicht nur in Gestalt persönlicher Eindrücke und Erfahrungen oder literarischer Unterlagen vertreten sein, sondern muß selbst Forschungsgegenstand werden" (Roth 1958, S. 25).

Die Absicht ist somit klar: Roth will die traditionelle Erziehungswissenschaft nicht ersetzen durch eine neue Version, sondern lediglich öffnen für empirisch zu gewinnende Erkenntnisse - in der Erwartung, dass von diesen dann auch eine kritische Revision der philosophisch betriebenen Erziehungswissenschaft ausgeht. Das ist allgemein bekannt und muss hier nicht näher ausgeführt werden. Die folgenden Überlegungen sollen vielmehr der Frage nachgehen, was von heute aus gesehen aus diesem an sich plausiblen Programm geworden ist. Eine vollständige Antwort müsste die Wissenschaftsgeschichte der Disziplin in den letzten 50 Jahren zum Thema machen; das kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Deshalb beschränke ich mich auf Anregungen dazu, die insbesondere den Status der Erziehungswissenschaft und den bisherigen Nutzen der empirischen Forschung für die pädagogische Praxis betreffen.

I. Theorie und Praxis in der Erziehungswissenschaft

Ist es wirklich gelungen, mit der "realistischen Wendung" den Status der Erziehungswissenschaft im Rahmen der Nachbarwissenschaften genauer zu profilieren? Es trifft zwar zu, dass die geisteswissenschaftliche Pädagogik in den 50er Jahren in eine Sackgasse geraten war, aber daraus hat sie sich unter Wahrung ihrer Grundlagen auch wieder befreien können - wofür etwa Autoren wie Herwig Blankertz, Klaus Mollenhauer und Wolfgang Klafki stehen. Allerdings entwickelten sie ihre Positionen nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit solchen Theorien und Erkenntnissen, die gerade in den erwähnten Nachbarwissenschaften und nicht zuletzt aus deren empirisch begründeten Ergebnissen gewonnen waren.

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Vor allem aber griffen sie mit Leitvorstellungen wie Mündigkeit und Emanzipation das Demokratiepostulat auf, das den älteren Autoren eher fremd oder lediglich formal einsichtig geblieben war, und versuchten daraus eine kritische Distanz gegenüber der Erziehungswirklichkeit einzunehmen bzw. in diesem Sinne einen Weg für Reformen zu finden.

Aber die Frage nach dem Proprium der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft war auch damit nicht überzeugend beantwortet, wurde doch die für konstitutiv gehaltene normative Sicht der Erziehungswirklichkeit nicht aufgegeben, sondern lediglich neu bestimmt bzw. präzisiert. Sie ging bereits in die spezifische pädagogische Fragestellung ein, die auch Roth als charakteristische Abgrenzung zu den Nachbarwissenschaften ins Feld führt: Die Ethik etwa frage generell, was gut sei, die Pädagogik frage, wie man den Menschen gut oder wenigstens besser machen könne (S. 16). Oder die Pädagogik könne nicht bloß wie etwa Biologie oder Medizin nach der Natur des Menschen fragen, sie müsse sich vielmehr daran orientieren, welche "Möglichkeiten der Entfaltung" diese Natur zulasse (S. 17).

"Die Erziehungswissenschaft kann die ihr immanente praktische Tendenz nicht leugnen, daß ihre Einsichten, ihre 'Wahrheiten' zu 'geschehen' haben und sich verwirklichen sollen. Sie kann nicht als reine Wissenschaft leben. Sie ist entweder 'Theorie einer Praxis' oder sie ist müßig" (S. 10f.). Die Erziehungswissenschaft ist demnach dadurch charakterisiert, dass sie auf eine spezifische Praxis bezogen ist und diese mit spezifischen Fragestellungen aufzuklären versucht.

Offenbar kommt es aber darauf an, wie diese Praxis verstanden wird. Die traditionelle geisteswissenschaftliche Pädagogik definierte sie normativ, im Hinblick auf ein aus einer (historisierten) Ethik abgeleitetes ganzheitliches Idealbild des Menschseins, wie es etwa in der Kategorie der Verantwortung des Erziehers für den Zögling zum Maßstab geworden war. Nur unter dieser Voraussetzung galt ein Handeln - auch ein professionelles - als erzieherisches; was Lehrer mit Schülern tun, ist demnach nicht per se erzieherisch, sondern nur dann, wenn dabei bestimmte ethische Prinzipien gelten. Auch Roth übernimmt diese normativ fundierte Position, will sie keineswegs abschaffen oder ersetzen, wohl aber mit Hilfe empirischer Forschungen z.B. durch Aufdeckung der Differenz von Anspruch und Wirklichkeit relativieren. Er will wissen, was unter dem Anspruch von Erziehung und Bildung tatsächlich geschieht.

Inzwischen ist die traditionelle ganzheitliche, die ganze Person des Zöglings meinende normative Begründung des pädagogischen Handelns unter dem Druck des gesellschaftlichen Pluralismus zerbröselt, erweist sich als lediglich partikular und kann deshalb nicht mehr als allgemein gültig gelten. Zwar beruht pädagogisches Handeln etwa in den Schulen immer noch auf Zielen, und diese sind irgendwie auch normativ fundiert, aber sie fügen sich kaum noch zu einer systematisch erkennbaren und in sich schlüssigen Struktur zusammen. Der Integration von Philosophie und Empirie, auf die Heinrich Roth setzte, ist erstere anscheinend abhanden gekommen. Es sieht so aus, als sei die Fundierung der Erziehungswissenschaft durch exklusive Bindung an eine bestimmte Praxis nur unter Voraussetzung einer bestimmten Definition dieser Praxis aufrechtzuerhalten. Und mit dieser Definition steht und fällt auch die angeblich spezifische Fragestellung der Erziehungswissenschaft. Sie ist offenbar nicht allgemein gültig, sondern lediglich Produkt eines bestimmten, etwa bildungsbürgerlichen Milieus. Auffallend ist jedenfalls, dass in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte

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ganzheitliche normative Leitmotive wie Mündigkeit oder Emanzipation keine Rolle mehr spielen, aber auch nicht durch andere vergleichbare ersetzt wurden - "Qualifikation" und "Kompetenz" bewegen sich auf einer ganz anderen Ebene.

Denkbar wäre ja auch eine eher pragmatische Sicht. Demnach könnte die Aufgabe der Schule einfach darin gesehen werden, dass sie ordentlich Mathematik und Latein lehrt - wobei die Resultate durch empirische Wirkungskontrollen ermittelt werden können - und darüber hinaus gehende normative Implikationen den Schülern bzw. deren außerschulischer Sozialisation überlässt - die subjektive Seite der Bildung gleichsam nur noch als Privatsache versteht. Das wäre keine auf die ganze Person mehr zielende Norm, sondern lediglich eine partikulare. Die PISA-Untersuchungen liegen durchaus bereits auf dieser Linie. In diesem Kontext würden sich pädagogische und therapeutische Fragestellungen und Einwirkungen einander annähern, beide würden sich dann verstehen als begrenzte Interventionen in lebensgeschichtliche Prozesse, die auch ohne sie irgendwie ablaufen würden. Die stetig wiederholte Forderung, Lehrer müssten auch therapeutische Fähigkeiten für den Umgang mit ihren Schülern lernen, weist bereits in diese Richtung. In diesem Verständnis ist aber ein besonderer Auftrag der Erziehungswissenschaft nicht mehr zu erkennen, vielmehr wird jede Disziplin Einfluss auf diese Praxis gewinnen, deren Ergebnisse für sie von Nutzen sind - wie es Roth ja auch schon nicht ohne Unmut beschrieben hat. Es könnte also sein, dass die selbstverständliche Zuordnung von pädagogischer Praxis und Erziehungswissenschaft, an der Roth nicht zweifelte, ihrem historischen Ende entgegen geht und damit auch die Erziehungswissenschaft marginal werden lässt. Das ist keine bloß theoretische Frage mehr, wenn man die zunehmende Abwicklung der Erziehungswissenschaft an den Universitäten ernst nimmt.

Immerhin bleibt die pädagogische Praxis selbst als unbestreitbare Gewissheit - nämlich als eine spezifische gesellschaftliche Praxis wie es auf andere Weise Wirtschaft, Politik und Rechtsprechung sind. Sie verdankt sich nicht wissenschaftlichen Konstruktionen oder Anwendungen. Diese Praxis hat es gegeben, bevor es moderne Wissenschaft gab, und es wird sie auch im Umkreis dieser Wissenschaften als eigenständige Tätigkeit weiter geben. Notwendig ist sie wegen der biologischen "Entwicklungstatsache" (Bernfeld), weil nämlich der Mensch bei seiner Geburt von sich aus nicht fähig ist, in seiner gesellschaftlichen Umgebung so aufzuwachsen, dass er an deren Regeln und Chancen optimal teilhaben kann. Demnach beruht die öffentliche Erziehung auf einem politischen Willen, um nämlich in geeignet scheinender Weise den Nachwuchs in die bestehenden sozialen Formationen zu integrieren; gelingt das nicht, droht politische Instabilität, wie sie gegenwärtig etwa am Beispiel der Parallelgesellschaften unter Immigranten diskutiert wird. Dass diese politische Grundlegung konstitutiv und nicht nur eine Randbedingung ist, dass professionelles pädagogisches Handeln nur in dem dadurch gestifteten Rahmen möglich oder jedenfalls legitim ist, hat in der Selbstvergewisserung der Erziehungswissenschaft nie die gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Dieser politische Wille zur öffentlichen Erziehung kann auf verschiedene Weise ausgeübt werden, staatsnäher oder staatsferner, zentral oder dezentral, er kann als Auftrag an gesellschaftliche Teilorganisationen wie Kirchen oder Berufsverbände delegiert werden, das hängt von der jeweiligen historisch-politischen Konstellation ab. Aber ohne eine entsprechende kollektive Bindung würde pädagogisches Handeln orientierungslos werden, es kann nicht an und für

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sich existieren und so auch nicht professionell begründet werden. Wenn die jeweils zuständige staatliche oder sonstige Gemeinschaft sich aus dieser Verantwortung zurückzieht, wird über kurz oder lang aus öffentlicher Erziehung private Vertragsarbeit - wie schon beim früheren Hauslehrer. Aber selbst diese wäre auf solche Ziele, Strategien und Mittel angewiesen, die gesellschaftliche bzw. soziale Integration zu gewährleisten in der Lage sind. Auch unter "Integration" lässt sich Verschiedenes verstehen, etwa in der Spannbreite zwischen Bildung und Utilitarismus, aber die letzte normative Kompetenz dafür haben die dafür zuständigen politischen Organe. Diese sind natürlich gerade in einer demokratischen Gesellschaft nicht unbeeindruckt von wissenschaftlichen Forschungen und Argumentationen und müssen sich überhaupt immer wieder der öffentlichen Kritik stellen, aber die Vorstellung, die Erziehungswissenschaft könne von sich aus Norm gebend für die pädagogische Praxis sein, ist zumindest höchst problematisch - eigentlich nur dann möglich, wenn sie den Normwillen der jeweiligen Gemeinschaft dabei zum Ausdruck bringt. In diese gesellschaftliche Praxis namens Erziehung sind nun in der Moderne zwar mannigfache wissenschaftliche Erkenntnisse eingeflossen, aber sie bleiben lediglich Hilfsmittel, die bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung von Nutzen sein können, aber aus ihnen lässt sich keine gute oder richtige Praxis ableiten.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich seit Roths Reformulierung der erziehungswissenschaftlichen Aufgabe die pädagogische Publizistik deutlich auseinander entwickelt hat. Was einmal "Allgemeine Pädagogik" hieß, ist in "Pädagogiken" (Vgl. Paschen 1997; 1999) separiert und somit zerfallen. Sie sind das Produkt oder die Konsequenz des normativen Pluralismus, indem sie partikular, also für bestimmte Gesinnungs- oder Interessengruppen wie Bildungsgewerkschaften, für sich jene verlorene Einheit des ganzheitlichen pädagogischen Tuns wieder herzustellen trachten. Sie bestimmen im Wettbewerb miteinander wesentlich die bildungspolitische und pädagogische Diskussion, sind lernresistent gegen einander und weitgehend immun gegen empirische Forschungsergebnisse. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass keine von ihnen durch die Ergebnisse der PISA-Untersuchungen ihre Grundpositionen zu ändern genötigt sah. Sie verstehen sich weiterhin als Theorie der pädagogischen Praxis, was aber nur möglich ist, weil sie unbeirrt an einem normativen erzieherischen Leitmotiv, an einem Seinsollen, festhalten. Gerade dadurch aber wird nach dem bisher Gesagten ihr wissenschaftlicher Wert zweifelhaft.

Auf der anderen Seite hat sich so etwas wie eine "reine" Erziehungswissenschaft entwickelt, die sich offenbar notwendigerweise von ihrer überlieferten Rolle als theoretisches Gegenüber der pädagogischen Praxis in dem Maße verabschiedet, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten zu einer eigenständigen Wissenschaft gemausert hat (Vgl. Terhart 2001; Giesecke 2004). Damit ist sie aber nicht nur "müßig" im Sinne von Heinrich Roth geworden, sie stellt darüber hinaus auch paradoxerweise ihren Status als eigenständige Disziplin in Frage. Das hat damit zu tun, dass sie ihre wissenschaftliche Profilierung nur dadurch gewinnen konnte, dass sie sich handwerklich und methodologisch an andere Wissenschaften annäherte. "Facheigene empirische Methoden" (Roth 1962, S. 119), wie Roth sie propagierte, sind jedenfalls nicht in Sicht. Wo die Erziehungswissenschaft empirisch akzeptabel forscht, ist sie Sozialwissenschaft, wo sie historisch exakt arbeitet, Geschichtswissenschaft. Pragmatisch gesehen könnte man sagen, sie konzentriert

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sich dabei auf pädagogische Themen, aber wenn sie dabei keine klar abgrenzbaren Fragestellungen hat, unterscheidet sie sich prinzipiell nicht mehr von den genannten anderen Disziplinen. Sie existiert nicht mehr aus einem prinzipiellen Grunde, weil sie etwa im Hinblick auf Gegenstand und Fragestellung unentbehrlich wäre, sondern lediglich noch als historische Tatsache im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeitsteilung. Als moderne Wissenschaft kann sie in der Tat ihre innere Struktur und Spezialisierung nicht an der Komplexität irgendeiner Praxis ausrichten, sondern nur an ihrer eigenen inneren Logik. Daraus folgt, dass vieles, was sie treibt, für die Praxis keine oder zumindest keine unmittelbare Bedeutung hat und dass sie sich andererseits nicht auf das beschränken kann, was eine solche Bedeutung erlangen könnte. In dieser Form wird sie wie Psychologie, Soziologie oder Hirnforschung zu einem Fach, das sich mit vielem beschäftigt und dabei irgendwie auch mit pädagogischen Problemen.

So liegt es durchaus im Rahmen ihrer inneren wissenschaftlichen Logik, sich ständig mit neuen theoretischen Modellen der Nachbarwissenschaften auseinander zu setzen, um sie für den eigenen Erkenntnisfortschritt zu nutzen. Beispiele aus der letzten Zeit sind etwa Systemtheorie und Konstruktivismus. Ob solche Weiterentwicklungen jedoch der pädagogischen Praxis, etwa dem Schulunterricht, nützen, erscheint mehr als fraglich. Was auf der wissenschaftlichen Ebene als fortschreitender Erkenntnisgewinn oder gar als Irrweg, der wieder verlassen werden muss, zu verzeichnen sein mag, stellte sich bisher in der Schulpraxis eher als Wechsel von Moden dar, von denen sich jede jeweils als Stein der Weisen, jedenfalls als wissenschaftlich modern präsentierte, obwohl sie sich für die diagnostische und planende Qualität des Unterrichts als weitgehend irrelevant erwiesen und wenig mehr als eine gespreizte Begriffsdogmatik hinterlassen hat. Was daran teilweise vernünftig ist, lässt sich ohne diese Umwege auch aus der pädagogischen Tradition oder aus überlieferter Berufserfahrung entnehmen. Wer z.B. im Sinne der klassischen Bildungstheorie die subjektive Aneignung als eigentliches Ziel von Bildungsprozessen ernst nimmt, kann auf konstruktivistische Interpretationen kaum verzichten - ohne allerdings von vornherein darauf verpflichtet sein zu müssen, sich die Außenwelt insgesamt als bloß konstruierte vorzustellen. Ein anderes Beispiel: An der Universität lassen sich fast beliebig viele und verschiedene Schul- und Fachdidaktiken erfinden, sie müssen nur logisch halbwegs konsistent sein. Ob diese Inflation von "didaktischen Ansätzen" für den Schulunterricht tauglich ist, ist dabei belanglos. Vom Standpunkt des schulischen Handelns aus gesehen wird die Erziehungswissenschaft durch letztlich nutzlose Transfers dieser Art vielfach selbst zum Problem, dessen Lösung sie eigentlich sein will: Sie hilft der Schulpraxis nicht, sondern belastet sie nur mit ihren eigenen Problemen.

Die wechselseitige Erschließung von wissenschaftlicher Theorie und pädagogischer Praxis, die auch Heinrich Roth für das Kernstück einer auf Wissenschaft basierenden Pädagogik hielt, ist also notwendigerweise diffus, wenn man beide Seiten ernst nimmt. Sie ist viel komplizierter, als diese Formel auf den ersten Blick zu vermitteln scheint. Der wechselseitige Nutzen wird an vielen Stellen konterkariert durch gegenseitige Nutzlosigkeit. So bietet sich ein eigentümliches Bild: Die geisteswissenschaftliche Pädagogik hatte, wie Roth treffend kritisiert hat, nur ein theoretisches, keineswegs ein realistisches Bild von der Praxis, aber die

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moderne Erziehungswissenschaft scheint allenfalls noch eine zufällige Beziehung zu ihr zu unterhalten.

Dieses strukturelle Problem wird noch durch ein kommunikatives verstärkt. Unschwer ist nämlich zu erkennen, dass in unserer Gesellschaft auf mindestens vier verschiedenen Ebenen Diskurse über Pädagogisches geführt werden. Diese beziehen sich auf den jeweils eigenen Handlungshorizont und orientieren sich an dessen spezifischen Regeln: Gemeint ist die (bildungs)politische, die (hochschul)wissenschaftliche, die praktische (etwa in der Schule) und schließlich die journalistische. Man könnte auch im Sinne der Systemtheorie von verschiedenen in sich kommunizierenden Systemen sprechen Auf diesen verschiedenen Ebenen werden pädagogisch relevante Texte - im wörtlichen wie übertragenen Sinne - produziert, die in erster Linie dem eigenen sozialen Rahmen gelten (etwa partei- oder verbandspolitische Forderungen, Arbeiten zum Zweck der wissenschaftlichen Qualifizierung, Beratungen in einem Kollegium über das Schulprofil). Diese Diskurse müssen die jeweils anderen Ebenen gar nicht im Blick haben, um bei sich erfolgreich zu sein. Ein bildungspolitischer Text - etwa aus der Feder von Lehrergewerkschaften - kann z.B. pädagogisch problematisch oder undurchführbar sein, aber gleichwohl dem politischen Gegner schaden oder die eigenen Anhänger ideologisch neu mobilisieren. Selbst wenn er die anderen Ebenen zur Legitimation lediglich selektiv benutzt, vermag er in seinem Rahmen durchaus sein Ziel zu erreichen. - Eine erziehungswissenschaftliche Dissertation über ein schulbezogenes Thema kann in der Universität als exzellent gelten, ohne für die Schulpraxis von Nutzen zu sein. - Was in Lehrerkollegien oder in der internen und externen Lehrerfortbildung verhandelt wird, stützt sich im Wesentlichen auf Routinen oder auf administrative Vorgaben. Bei diesem "Niederschlag der Erfahrungen der Praktiker", wenn sie denn schriftlich fixiert werden, "handelt (es) sich meist um eine halbwissenschaftliche Literatur" (Roth 1958, S. 20). Aber sie ist im Bereich der Schule ungemein wirksam und man weiß nicht, wie ihre inhaltliche Substanz eigentlich zu Stande kommt, aus welchen Quellen sie sich warum und in welcher Selektion und Kombination speist. Dazu gehören gewiss auch journalistische Einflüsse, die man als eine eigene Ebene des pädagogischen Diskurses betrachten kann. Ihre wichtigste Wirkung besteht vermutlich darin, dass sie in professioneller Distanz zur Fachlichkeit und durch permanente Wiederholung von popularisierten Vereinfachungen so etwas wie einen Zeitgeist in Sachen Bildung und Erziehung propagiert und als selbstverständlich fixiert.

Eine generelle Schwierigkeit des Austausches zwischen Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis besteht also darin, dass jede der beiden Ebenen das Wissen der anderen, wenn sie es nutzen will, erst einmal in ihren eigenen Handlungshorizont und in die damit verbundene Semantik übersetzen muss. Das ist notwendigerweise ein hoch selektiver Prozess, der wissenschaftlich nicht zu steuern ist und in dem ausgeschieden wird, was für den eigenen Handlungsrahmen als nicht brauchbar erscheint, während das anscheinend Brauchbare dabei modifiziert wird. Ein Unterrichtsforscher z.B. wird von dem, was Lehrer ihm von ihren Problemen sagen, nur das verwenden, was in sein empirisches Design passt; ein Lehrer wird aus einer wissenschaftlichen Theorie nur das aufgreifen, was ihm für seinen Handlungsrahmen Erfolg verspricht. Daran - und nicht etwa an mangelnder Intelligenz - liegt es, dass komplexe Theorien in den Köpfen von Lehrern oft sehr eindimensional zusammenschrumpfen. Das Kernproblem des

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Transfers von der Wissenschaft zur Praxis liegt darin, dass die wissenschaftliche Forschung - mag sie empirisch, historisch oder philosophisch sein - für sich genommen für die pädagogische Praxis bedeutungslos ist. Sie wird vielmehr erst dann in die Praxis umgesetzt werden können, wenn sie im Kopf des Lehrers für seinen Handlungsrahmen entsprechend neu geordnet wird. Er muss sie dabei verknüpfen mit seinen bisherigen Einsichten und Erfahrungen, auch wenn diese in den wissenschaftlichen Untersuchungen, die er dabei zur Kenntnis nimmt, gar keine Rolle gespielt haben. Was in der Praxis brauchbar ist oder nicht, wird nicht an den Schreibtischen der Hochschulen entschieden. Vom Standpunkt des pädagogischen Handelns aus können Forschungsresultate also nichts weiter als Hilfsmittel sein, die je nach pädagogischer Situation erheblich, teilweise oder auch gar nicht von Nutzen sind. Der Transformationsprozess erfolgt nicht primär nach wissenschaftlichen Kriterien und ist deshalb auch nicht allein mit wissenschaftlichen Maßstäben angemessen zu überprüfen - aber wodurch dann?

II.Empirische Forschung und pädagogische Praxis

Die Erziehungswirklichkeit erweist sich bei näherem Zusehen als ein höchst komplexes Gebilde. Nach den Vorstellungen von Heinrich Roth sollte gerade hier die empirische Forschung zunehmende Aufklärung verschaffen. Das scheint aber kaum gelungen zu sein. Was in unseren Schulen geschieht, und warum es so und nicht anders geschieht, wissen wir immer noch nicht. Die vielzitierten PISA-Studien haben nichts Pädagogisches zum Thema, sondern messen Wirkungen des pädagogischen Handelns, wobei unklar bleibt, welche dieser Wirkungen überhaupt auf unterrichtliches Handeln und nicht auf außerschulische Faktoren zurückzuführen sind, und das an einem Maßstab von "Kompetenz", von dem man nicht einmal weiß, inwieweit er im Unterricht der Getesteten überhaupt eine Rolle gespielt hat. Das gelegentlich zu vernehmende Urteil, die Erziehungswissenschaft habe versagt (Weiler 2003; Kahl/Spiewak 2005), weil sie diese Aufklärung bisher nicht geleistet habe, soll hier auf sich beruhen bleiben (Vgl. Giesecke 2005). Ich habe Zweifel, ob bei größerer Anstrengung wirklich mehr herausgekommen wäre. Die Schwierigkeit ist zunächst einmal eine forschungstechnische, weil jede solche Untersuchung ihren Gegenstand - z.B. die Unterrichtssituation - erst für ihre Zwecke herrichten muss. Die einzelnen Variablen, die sie untersuchen will, müssen aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst und so definiert werden, dass man mit ihrer Hilfe zu messbaren Tatsachen gelangt, die sich in Tabellen und Statistiken umsetzen lassen. Auf diese Weise entsteht eine künstliche und auf den Forschungszweck hin konstruierte Wirklichkeit, die mit derjenigen, in der Lehrer tatsächlich handeln müssen, nicht mehr viel zu tun hat. Selbst wenn man sich eine Vielzahl solcher Untersuchungen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen vorstellt, bliebe der praktische Gewinn wohl zweifelhaft. Anders wäre es vielleicht, wenn man vor aller empirischen Erhebung zunächst einmal vom Standpunkt des pädagogischen Handelns aus eine Theorie des Handlungsfeldes formulierte, die seine wichtigsten Faktoren und Determinanten in einem Zusammenhang darstellt, so dass einzelne von ihnen empirisch näher beleuchtet werden können. Begonnen werden müsste also mit einer hinreichend differenzierten phänomenologischen Beschreibung des ganzen Handlungsfeldes. Die Grundformel dafür könnte sein:

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Bestimmte Lehrer unterrichten bestimmte Schüler in einer bestimmten Schule. Sie enthält bereits vier grundlegende Faktoren - Lehrer, Schüler, Unterricht, Schule - die offen für weitere Differenzierungen sind. Es geht um die Entwicklung eines ganzheitlichen Vorstellungszusammenhangs, den eigentlich jeder, insofern er eine Schule besucht hat, in einem vorwissenschaftlichen Sinne wie rudimentär auch immer präsent hat, und den jeder Lehrer für seine Tätigkeit braucht und deshalb - aus welchen Quellen auch immer - zur Verfügung hat. Bevor empirische Detailuntersuchungen überhaupt praktischen Sinn machen, ist eine hinreichend komplexe und zugleich differenzierte Handlungstheorie nötig, die wiederum nicht auf empirischen Wege gewonnen werden kann, sondern eher aus einer Alltagstheorie hervorgehen muss. Ein solches Verfahren wiederum gilt im gegenwärtigen Wissenschaftsverständnis als nicht zulässig - es sei denn, es würde aus einer anerkannten Handlungstheorie wie etwa einer psychologischen abgeleitet - wie das Kompetenzkonzept bei PISA; aber dann ist die Frage, ob es für die spezifische pädagogische Situation auch brauchbar ist.

Aber selbst wenn diese Schwierigkeit überwunden würde, wäre ein daraus entstehendes Hypothesenkonstrukt nur dann für empirische Ermittlungen brauchbar, wenn es ein Minimum an Übereinstimmung über Sinn und Zweck dieser Praxis, etwa zum Begriff Unterricht, voraussetzen könnte, das liegt aber offensichtlich nicht (mehr) vor; im Gegenteil sind die hier vorfindbaren inhaltlichen Interpretationsspielräume erheblich. Allein in der Spannbreite zwischen lehrerzentriertem und schülerzentriertem Unterricht, kombiniert mit unterschiedlich akzentuierten kognitiven, sozialen und emotionalen Lernzielen, gibt es so viele Zielvariationen, dass einer empirisch orientierten Forschung geradezu schwindelig werden muss. Das erklärt gewiss auch bis zu einem gewissen Grade die Beliebtheit der Wirkungsforschung, die sich um diese Variationen nicht mehr kümmern muss, sondern sich ans Resultat hält - wobei dann allerdings jeder, dem das Ergebnis nicht gefällt, monieren kann, dass seine spezifische Zielkombination gar nicht berücksichtigt worden sei. Zuverlässige Wirkungskontrolle setzt offenbar eine halbwegs konstante Ursachenkombination voraus. Den methodischen Ansatzpunkt für empirische Forschung sah Roth "in der Wiederholbarkeit des pädagogischen Tuns" in der "Konstanz des Ähnlichen" (Roth 1962, S. 119 f.). Dabei hatte er allerdings die Schulwirklichkeit seiner Zeit vor Augen, die damals viel homogener war, als sie heute ist. Zudem müsste, um das Ähnliche zu ermitteln, erst einmal das Wirkliche hinreichend repräsentativ bekannt sein - was nicht der Fall ist.

Die pädagogische Praxis hat ihre eigentümliche Logik, weil sie auf Handeln beruht. Der empirische Forscher muss nicht handeln, deshalb kann er das Handlungsfeld in beliebig viele Variablen zerlegen. Der Lehrer kann die Komplexität seines Handlungsfeldes dagegen nur begrenzt verlassen ohne zu scheitern. Wie jedes soziale Handeln eröffnet auch das unterrichtliche Freiheitsspielräume für alle Beteiligten, die keine wissenschaftliche Logik gänzlich voraussehen kann. Die Schüler können mitmachen oder abschalten, einige mögen den Lehrer, andere nicht, die einen verstehen schnell, die anderen brauchen dafür mehr Zeit. Anders gesagt: Der Schulunterricht ist immer auch ein Stück gemeinsamen Lebens, das von Klasse zu Klasse, von Lehrer zu Lehrer, je nach Region, Milieu oder Altersstufe erheblich variieren kann. Die damit angedeutete Komplexität wird auch die beste Forschung der Welt nicht auf einen einzigen Nenner bringen können, der dem Lehrer Erfolg zu garantieren vermag. "Die pädagogische Wirklichkeit wird sich nie in

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ein überschaubares und kontrollierbares Ursachengeflecht auflösen lassen - dazu ist sie viel zu kompliziert "(Roth 1958, S. 43). Selbst wenn man aus der systematischen Erforschung des Ähnlichen Regeln ableiten könnte, bliebe die Frage, inwieweit diese den jeweils individuellen Handlungskonstellationen von Nutzen sein könnte; denn diese sind die Realität.

Roth argumentierte von der Position des wissenschaftlich Handelnden aus, es ging ihm um eine Modernisierung seiner Erziehungswissenschaft. Fragt man dagegen aus der Perspektive des pädagogisch Handelnden, was etwa ein Lehrer davon hat, wenn er empirische Forschungsergebnisse zur Kenntnis nimmt, ob er wenigstens Hinweise darauf erhält, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann, dann sind die Ergebnisse der bisherigen empirischen Forschungen - einschließlich der aus den Nachbarwissenschaften - ernüchternd.

Jahrzehntelang hat z.B. die pädagogische Psychologie national wie international in zahllosen empirischen Untersuchungen herauszufinden versucht, ob es Regeln des erfolgreichen Lernens und Lehrens gibt, die auf alle Unterrichtssituationen übertragbar sind und im Sinne einer Technik immer wieder erfolgreich benutzt werden können. Aber es gibt hier keineswegs bereits ein hinreichendes Wissen, das nur auf seine Anwendung wartet. Franz E. Weinert (Weinert 1989, S. 210), einer der auch international renommiertesten deutschen Forscher auf diesem Gebiet, hat darauf hingewiesen, dass die hohen Erwartungen nicht erfüllt werden konnten. Es habe fast nichts gegeben, was man nicht mit dem Unterrichtserfolg einzelner Schüler oder ganzer Schulklassen in Verbindung gebracht habe. Herausgekommen sei jedoch nur eine Inflationierung von möglichen Einflussvariablen. Substantielle, stabile und generell gültige Zusammenhänge zwischen einzelnen Unterrichtsmerkmalen und den verschiedensten Erfolgskriterien des Unterrichts seien dabei nicht zum Vorschein gekommen. Fast jede der berücksichtigten Variablen sei in gewisser Hinsicht sowohl bedeutsam als auch unwichtig; was in einigen Fällen erfolgreich funktioniere, versage unter anderen Bedingungen. Fazit: Man weiß nicht, was guter Unterricht ist und schon gar nicht, wie er zustande kommen könnte. Was uns die Lernforschung anzubieten vermag, sind allgemeine strategische Hinweise wie: Der Lehrer soll seinen Unterricht gut strukturieren, so dass die Schüler erkennen, an welchem Punkt des Lernprozesses sie gerade stehen. Er soll gelegentlich die Methode wechseln, also etwa vom Frontalunterricht zur Gruppenarbeit übergehen. Er soll die Schüler motivieren und Disziplinprobleme vermeiden. Das weiß ein erfahrener Lehrer eigentlich auch ohne Lernforschung, aber die Frage bleibt, wie er unter seinen Bedingungen solche Ziele möglichst erfolgreich erreicht.

Fazit: Die empirische Aufklärung der Erziehungswirklichkeit ist trotz der Programmatik von Heinrich Roth in den letzten Jahrzehnten kaum fortgeschritten. Das wäre vielleicht hinzunehmen, wenn nicht andererseits in der öffentlichen Meinung, in der Bildungspolitik und sogar im Wissenschaftsbetrieb selbst die Bedeutung solcher Untersuchungen maßlos überschätzt würde. Wer sich heute über pädagogische Fragen äußert, wird geradezu genötigt, seine Argumentation durch möglichst viele empirische Hin- und Beweise zu begründen, sonst gilt er als unseriös. Das führt andererseits dazu, dass empirische Ergebnisse, anders als Roth gefordert hatte, kaum noch als Kritik oder Selbstkritik gegen vorgefasste pädagogische oder bildungspolitische Meinungen benutzt, sondern für diese selektiv instrumentalisiert werden; jeder hat da seine Lieblingszitate und favorisierten Statistiken. Die Debatte

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über die PISA-Studien ist eine wahre Fundgrube dafür. Zudem besteht längst die Gefahr, dass empirische Forschungsstrategien die Substanz der Sache selbst nach ihren Bedürfnissen definieren, wenn nämlich das, was gemessen wird, nur weil es gemessen werden kann, schon für das Ganze gehalten wird und vielleicht in dieser Form auch noch zum Ziel der politischen und administrativen Führung der Schule erhoben wird (Vgl. Radtke, 2003).

Von einer solchen Verengung des Blicks war Heinrich Roth weit entfernt. Nicht zuletzt deshalb lohnt es sich, in eine Distanz zu den aktuellen Debatten zu treten, deren historischer Horizont auf die zeitliche Differenz zwischen zwei PISA-Erhebungen geschrumpft zu sein scheint, und Roths Konzeption einer modernen Erziehungswissenschaft noch einmal gründlich zu studieren. Bei allem Nachdruck seines Einsatzes für die empirische Forschung hat er darauf bestanden, diese in eine Balance mit philosophischen Analysen und historischen Forschungen zu bringen und zu halten. Das ist offensichtlich nicht nur in der Sache schwierig, weil diese Kombination nicht einfach additiv erfolgen kann, sondern plausibel konstruiert werden muss, vielmehr geht es dabei auch um personelle Grenzen: Wer ist heute noch in der Lage, die kaum noch zu übersehende Materialfülle zu bändigen und eine derartige Integration auf praktische Bedürfnisse hin zu leisten?

Aufgegeben werden muss jedenfalls die Hoffnung, Erziehungswissenschaft sei die Lehre vom pädagogisch Machbaren, mit ihrer Hilfe und Unterstützung könne man lernen, wie man erfolgreich Schule macht. Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit. Dabei geht es in erster Linie um Kritik der Praxis, aus der aber nicht im Umkehrschluss auch deren erfolgreiche Konstruktion abgeleitet werden kann. Pädagogisch konstruiert werden kann nur dort, wo pädagogisch gehandelt wird. "Der Sinn einer Erziehungswissenschaft kann nur sein, das Irrationale, dem sich die Praxis täglich gegenübergestellt sieht, auf weniger Irrationales zu verringern" (Roth 1958, S. 19). Empirische Forschungsmethoden sind nicht die einzigen, auf die es dabei ankommt. Im Augenblick wäre eine gründliche historische und philosophische Kritik der aktuellen Bildungsdebatte wohl wichtiger. Insgesamt gesehen käme es darauf an, die besonderen Chancen, aber auch Grenzen der philosophischen, historischen und empirischen Pädagogik in Bezug auf ihren jeweiligen Wirklichkeitsgehalt und ihren praktischen Nutzen neu zu erkennen.


Literaturverzeichnis

Dollase, Rainer: Grenzen der Erziehung. Düsseldorf 1984

Flitner, Andreas: Schelsky und die Pädagogik. In: Neue Sammlung 1, 1961, S. 271-285.

Flitner, Andreas: Soziologische Jugendforschung. Darstellung und Kritik aus pädagogischer Sicht. Heidelberg 1963

Giesecke, Hermann: Was heißt: Wissenschaftliche Ausbildung für pädagogische Berufe? In: Neue Sammlung, H. 1/2000, S. 83-90

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