Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 25 (1999)

© Hermann Giesecke
 

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Inhaltsverzeichnis


195. Entstehung und Krise der Fachdidaktik Politik 1960 – 1976 (1999)

196. Parteinahme, Parteilichkeit und Toleranzgebot (1999)

197. Nicht das Leben, nur die Bildung bildet (1999)

198. Erziehung in der Schule. Möglichkeiten und Grenzen (1999)

199.  Was heißt: Wissenschaftliche Ausbildung für pädagogische Berufe? (1999)

200. Rückkehr zur Bildung? (1999)

201. Verteidigung des Praxiskriteriums (1999)

202. Handlungsorientierung im Politikunterricht (1999)

203. Kurze Anmerkungen zur "emotionalen Bildung" in der Schule (1999)

204. Erziehung statt Unterricht (1999)


Zu dieser Edition

Dieser 25. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahr 1999. In diesem Jahr war  ich bereits seit 2 Jahren emeritiert.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte. Allerdings wurden Texte, die nach Vorträgen mehrmals an unterschiedlichen Orten - z.B. in Verbandszeitschriften - wiedergegeben wurden, nur einmal berücksichtigt.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

© Hermann Giesecke


 
 
 

195. Entstehung und Krise der Fachdidaktik Politik 1960 – 1976 (1999)

In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT, B, 7 - 8/99, 12. Febr. 1999, S. 13-23
 
 

Die politische Bildung in der alten Bundesrepublik erhielt nach 1945 ihre ersten Impulse vom Umerziehungskonzept ("re-education") der alliierten Sieger; sie war eine notwendige politische und moralische Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen und den verlorenen Krieg. Allerdings blieb sie in den Schulen zunächst eher ein Fremdkörper, wie Untersuchungen in den 50er Jahren zeigten (1), weil die meisten Lehrer dieser Aufgabe gegenüber verständlicherweise befangen waren, Politisches nach dem Verständnis der deutschen Bildungstradition grundsätzlich nicht in die Schule gehöre und weil es für die didaktisch-methodische Gestaltung eines solchen Faches an pädagogischer wie fachlicher Fundierung mangelte. Auch politische Widerstände waren nicht zu übersehen, galt vielen Deutschen doch die re-education als Teil des Siegerhandelns. Erst Anfang der 60er Jahre bildeten sich die Grundlagen einer wissenschaftlich fundierten Fachdidaktik Politik heraus, die Begründungen dafür zu liefern versuchte, warum Politik als eigenständiges Schulfach in den Kanon der übrigen Schulfächer aufgenommen werden müsse und welche Lehrstoffe mit welchen Bildungs- bzw. Erziehungszielen dafür in Frage kommen sollen. Aber schon wenige Jahre später - Ende der 60er Jahre - gerieten diese Konzepte im Rahmen der studentischen Protestbewegung und ihrer politisch-ideologischen Implikationen in eine schwere Krise. Sie wurden durch "linke" und "konservative" Gegenkonzepte ergänzt, die einzelnen Versionen isolierten sich nun voneinander im Stile von Lagerdidaktiken und bekämpften sich als Teil der allgemeinen innenpolitischen Polarisierung. In diesen Auseinandersetzungen wäre die Didaktik der Politik zerrieben und ihrer wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit beraubt worden, wenn es nicht Mitte der 70er Jahre gelungen wäre, sie wieder in einen gemeinsamen Problemzusammenhang einzubinden.

Diese Entwicklung soll im folgenden in der gebotenen Kürze nachgezeichnet werden, wobei die Fülle der einschlägigen Literatur lediglich an exemplarischen Beispielen erwähnt werden kann. Zum besseren Verständnis müssen jedoch die jeweiligen politisch-kuturellen Hintergründe wenigstens in den wichtigsten Aspekten skizziert werden.

1. Politisch-kulturelle Hintergründe zu Beginn der 60er Jahre

Nach dem Kriege hatten dieselben Eliten wieder die Führung in Politik, Wirtschaft und Kultur übernommen, die auch während der Zeit des Nationalsozialismus maßgeblich waren. Alternativen dazu waren nicht vorhanden. Die Emigranten, die den Nationalsozialisten entkommen waren und nun zurückkehrten, waren nicht zahlreich genug und fanden in den etablierten Führungsschichten meist wenig Resonanz. Die alten Eliten hatten sich überwiegend zwar moralisch vom Nationalsozialismus distanziert und erkannten wohl auch das neue parlamentarische System zumindest formell an, aber ihre grundlegenden politisch-kulturellen Einstellungen und Haltungen blieben - was biographisch gesehen nicht verwundern kann - oft bewußt oder unbewußt noch jenen konservativen, autoritären, antiwestlichen und antipluralistischen Maximen verhaftet, die die nationalsozialistische Bewegung für ihre Zwecke hatte mobilisieren können. Dieser geistige Zusammenhang war damals kaum bewußt, er prägte aber gerade die Erziehungseinrichtungen nachhaltig und führte später zur massiven Konfrontation mit der studentischen Protestbewegung. Das auf diesem Hintergrund nicht unverständliche, weit verbreitete öffentliche Desinteresse an der politischen Bildung der Jugend änderte sich erst, als Ende der 50er Jahre antisemitische Schmierereien das Ansehen der Bundesrepublik und damit auch ihrer Führungseliten im Ausland beschädigten. Nach den Jahren des

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Wiederaufbaus, in denen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte weitgehend zusammengeschmiedet wurden, zeigten sich nun innere Spannungen, die das demokratische Selbstverständnis nachhaltig berührten. Sie äußerten sich vor allem in der "Spiegel-Affäre" und in den ersten großen NS-Prozessen.

1. Der "Spiegel" hatte im Oktober 1962 eine Titelstory "Bedingt abwehrbereit" veröffentlicht und darin das gerade abgelaufene NATO-Manöver analysiert. Er kam zu dem Schluß, daß die damals gültige Natostrategie des "preemptive strike" - im Falle eines sicher zu erwartenden sowjetischen Angriffs sollte ein vorbeugender Atomschlag erfolgen - die Bundesrepublik keineswegs sichern könne und sogar den Frieden eher gefährde. Die für den Artikel Verantwortlichen wurden daraufhin wegen Landesverrats verhaftet, was Verteidigungsminister Strauß unter teilweiser Umgehung der dafür zuständigen Instanzen veranlaßt hatte. Weil er in der Sache auch noch das Parlament belog, mußte er schließlich zurücktreten. Die öffentliche Erregung über die Affäre war erheblich und mobilisierte eine Welle spontaner Solidarität für die Betroffenen; so unterstützten Kollegen anderer Zeitschriften den redaktionell lahmgelegten "Spiegel". Zum ersten Mal nach dem Kriege behauptete sich hier eine kritische Öffentlichkeit gegenüber der Staatsmacht (2).

2. Inzwischen holte die nationalsozialistische Vergangenheit die Deutschen wieder ein. Im Jahre 1961 wurde Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht gestellt, im Dezember 1963 begann in Frankfurt der Prozeß gegen ehemalige Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz. Schon vorher - 1958 - hatte der "Ulmer Einsatzgruppenprozeß" stattgefunden, woraufhin die "Ludwigsburger Zentralstelle" für die Aufklärung von Nazi-Verbrechen eingerichtet wurde. Voraussetzung für deren Tätigkeit war aber, die Verjährung von Mordtaten, die nach damaligem Strafrecht 20 Jahre betrug und infolgedessen für vor 1945 begangene Verbrechen 1965 in Kraft getreten wäre, zu verlängern. Darüber entstand eine breite öffentliche Diskussion, und der Bundestag beschloß zunächst eine Verlängerung bis 1970, später (1969) hob er die Verjährung für Völkermord ganz auf. Seit Beginn der 60er Jahre erreichte jedenfalls die Erinnerung an die NS-Verbrechen auch die erwähnten Eliten der Republik und zwang sie zu Stellungnahmen über ihre damalige Rolle.

2. Die Entstehung der Fachdidaktik Politik

Innerhalb weniger Jahre - zwischen 1960 und 1965 - entfaltete sich eine wissenschaftlich fundierte Didaktik der Politischen Bildung, die hier nur an einigen Beispielen gleichsam exemplarisch in Erinnerung gerufen werden kann (3) und deren Kernbestand bis heute gültig ist. Die Autoren waren allesamt in der Praxis der Politischen Bildung tätig - als Lehrer, Mitglieder von Lehrplankommissionen oder als Dozenten in der außerschulischen Jugendbildung. Deshalb wußten sie aus eigener Erfahrung, wie unzulänglich die didaktischen Grundlagen und methodischen Variationen dafür waren:

- Der politische Unterricht - wenn es ihn denn überhaupt gab - war (wieder) in das Fahrwasser des überlieferten deutschen Bildungsdenkens geraten und beschränkte sich auf sittliche Grundeinsichten, auf harmonisierende "Gemeinschaftskunde" und bestenfalls noch auf Institutionenkunde. Die politische Wirklichkeit kam darin nur vor, wenn einzelne Lehrer dafür entsprechende Verfahren entwickelten. Es fehlte jedoch ein allgemein anerkanntes pädagogisches Konzept, das den politischen Unterricht als eigenständige Aufgabe im Kanon der übrigen Schulfächer sowohl innerhalb der Schule wie gegenüber der politischen Öffentlichkeit als notwendig hätte begründen können. Nicht zuletzt mangelte es an fachwissenschaftlicher Fundierung.

- Der "Antikommunismus" als moralisches Prinzip - nicht als Instrument politischer Analysen - hatte sich auf dem Hintergrund des "Kalten Krieges" mit diesem Bildungsverständnis zu einer unpolitischen Idealisierung der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik verbunden. Er verknüpfte die nationalsozialistische Diktatur mit der der SED unter dem Begriff des "Totalitarismus" und fungierte als die Republik integrierende political correctness des Zeitgeistes; in dieser Form verhinderte er eine realistische Sicht der inneren Probleme. Wer sie dennoch zur Sprache bringen wollte, wurde leicht der Kumpanei mit dem Kommunismus verdächtigt.

Auf diesem Hintergrund entstanden die neuen didaktischen Konzepte, die, bei aller Verschiedenheit der theoretischen Fundierung und Begründung, doch die innenpolitische Realität in die Schulen holten. Sie konnten sich nun auf die

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modernen Sozialwissenschaften und hier insbesondere die Politikwissenschaft stützen, die sich entfaltet hatten und in die Diskussion über Inhalte und Ziele der politischen Bildung eingriffen; publizistisches Forum dafür war damals vor allem die Zeitschrift "Gesellschaft-Staat-Erziehung", deren Beiträge auch heute noch lesenswert sind. Erhebliche Wirkung erlangten auch Ralf Dahrendorfs Überlegungen über "die Funktionen sozialer Konflikte".(4) Nicht zuletzt durch die Anregungen und Publikationen der "Bundeszentrale für Heimatdienst", später und bis heute "Bundeszentrale für politische Bildung" genannt, und der entsprechenden Landeszentralen wurde die Suche nach geeigneten didaktisch-methodischen Lösungen nachhaltig unterstützt.

Die zentrale didaktische Frage war - wie bei anderen Schulfächern auch - , was aus der Fülle des Möglichen in der Schule warum unterrichtet werden, worin also der didaktische Kern dieses Unterricht bestehen sollte. Antworten darauf waren deshalb besonders schwierig - und sollten deswegen auch von Anfang an umstritten bleiben - , weil damit notwendigerweise auch Aussagen über das Politische als Gegenstand bzw. darüber verbunden waren, was unter pädagogischen Gesichtspunkten an der Politik so bedeutsam sei, daß es unbedingt in die Schule gehöre. Unter den zahlreichen Autoren, die sich als pädagogische Praktiker (5) oder als (Politik-) Wissenschaftler (6) teils grundsätzlich, teils zu Einzelfragen äußerten, gewannen die Entwürfe von Wolfgang Hilligen, Kurt Gerhard Fischer und Hermann Giesecke eine längerfristige Bedeutung.

- Wolfgang Hilligen hatte in der schon erwähnten Untersuchung von 1955 (7) seine didaktischen Grundsätze bereits skizziert und damit zur Formulierung der Hessischen Richtlinien von 1957 beigetragen; seit diesem Jahr gibt es von ihm eines der bekanntesten Schulbücher ("Sehen-Beurteilen-Handeln") für den politischen Unterricht. Seine didaktische Konzeption entstand nicht aus einer vorgängigen wissenschaftlich-systematischen Überlegung, sondern umgekehrt aus den Schwierigkeiten der Unterrichtspraxis selbst, für deren Lösung er nach einer verallgemeinerungsfähigen, d.h. auch für andere Lehrer in gleicher Lage nützlichen Theorie suchte. Weil er diese im Laufe der Zeit immer wieder modifizierte und präzisierte, ist sein Wirken bis in die 80er Jahre hinein eine wichtige Quelle für das Studium der Schwierigkeiten, die angesichts fortschreitender politischer und wissenschaftlicher Veränderungen mit einem solchen Vorhaben überhaupt verbunden sind. Zum ersten Mal hat er seine Vorstellungen systematisch 1961 unter dem programmatischen Titel "Worauf es ankommt" in einem Aufsatz in der Zeitschrift "Gesellschaft-Staat-Erziehung" vorgetragen (8). Er konzentrierte hier die notwendige didaktische Reduktion auf "Herausforderungen", die die moderne Welt den Menschen stellt und die sie positiv oder negativ zu beantworten die Freiheit haben, wenn es ihnen gelingt, diese zu erkennen, angemessen zu beurteilen und entsprechend zu handeln (deswegen der Dreischritt: "Sehen-Beurteilen-Handeln"). Reduziert sind die Herausforderungen hier auf drei, nämlich auf die weltweite Abhängigkeit aller von allen, auf die technische Massenproduktion von Gütern für alle und auf die technischen Macht- und Vernichtungsmittel, die nicht mehr erlauben, Gegensätze bis zur letzten Konsequenz auszutragen. Im Rahmen so verstandener Herausforderungen lassen sich Themen finden, die von existentieller Bedeutung für die Menschheit und deshalb auch für die Schüler sind. Die Herausforderungen markieren weltweit Gefahren, aber auch Chancen, und sie führen im westlich-demokratischen System zu anderen Antworten als in den kommunistischen Systemen. Diese besonderen demokratischen Antworten, die für Hilligen in der Balance von "Gehorsam und Widerstand, Gleichheit und Auslese, Ausgleich und Kampf" liegen, didaktisch zu verdichten und sie für Schüler einsichtig zu machen, haben ihn in der Folgezeit immer wieder beschäftigt. Ausgangspunkt ist bei ihm aber noch - ganz im Sinne der Bildungstradition - eine als Krise definierte Zeitdiagnose, die weit über den im engeren Sinne politischen Bereich hinausreicht.

- Kurt Gerhard Fischer war in den 50er Jahren Mitglied einer hessischen Lehrplankommission für die Berufsschulen und an der Formulierung von Richtlinien beteiligt, in denen ein Katalog von grundlegenden Einsichten zum didaktischen Kern des politischen Unterrichts erhoben wurde. Dieses Konzept entfaltete er - gemeinsam mit anderen Autoren - 1960 in einem Buch (9). Im Mittelpunkt dieses didaktischen Entwurfes stan-

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den neun Einsichten, die gleichsam als Resultat der zu behandelnden - und in diesem Sinne austauschbaren - Stoffe anzusehen seien. Im Unterschied zu Hilligens eher allgemein-kulturkritischem Konzept bezogen sich die Einsichten hier jedoch auf den demokratischen Staat, präsentierten allerdings in dieser Verkürzung auch ein Demokratieverständnis, das die Kritik nicht zu Unrecht als einseitig, nämlich als bloß formal bezeichnen konnte. Einige Einsichten richteten sich offensichtlich gegen damals verbreitete Einstellungen wie Ignoranz gegenüber den politischen Parteien, die "Ohne-Mich-Haltung" und die immer noch verbreitete Skepsis gegenüber der demokratischen Staatsform (Einsicht 9: "Die Alternative zur schlecht funktionierenden Demokratie heißt nicht Diktatur, sondern besser funktionierende Demokratie").

- Hermann Giesecke hatte praktische Erfahrungen mit dem Thema nicht in der Schule, sondern in der außerschulischen Jugendbildung gesammelt, darüber seine (nicht gedruckte) Dissertation verfaßt und daraus zwei Arbeiten veröffentlicht (10), von denen die "Didaktik der politischen Bildung" wohl auch deshalb Aufmerksamkeit erregte, weil sie - dem Charakter einer Dissertation entsprechend - die didaktische Problematik in einem vergleichsweise umfassenden und systematischen Zusammenhang erörterte. Im Unterschied zu Hilligen und Fischer stand er den bildungsbürgerlichen Traditionen und den damit verbundenen politischen Grundeinstellungen eher fern und stützte sich auf die Sozialwissenschaften. Didaktisches Zentrum war hier der politische Konflikt, weil er einerseits das Politische in der Öffentlichkeit erst interessant mache, andererseits bei den Bürgern mobilisiere, was sie ohnehin schon wissen und denken - eine Kombination, die als für den Unterricht besonders fruchtbar gelten könne. Den Kern der Vermittlung zwischen subjektiver Prädisposition und objektiver Sachlage sollten "Kategorien" bilden, die wissenschaftlich relevant sind, den Normen des Grundgesetzes entsprechen, an bereits vorhandene Fragehaltungen der Schüler anknüpfen und in politische Grundeinsichten transponiert werden können.

Alle drei didaktischen Konzepte waren bezogen auf die demokratische Verfassung der Bundesrepublik - nicht auf deren status quo, wie ihnen schon wenige Jahre später von antikapitalistisch-neomarxistischen Autoren vorgeworfen werden sollte. Indem sie vielmehr politische Kontroversen und Konflikte zum Thema des Unterrichts machten und das politische Handeln sowohl der Schüler selbst wie der politischen Repräsentanten in den Blick nahmen, ließen sie die Möglichkeit politischer Veränderungen als Resultat des Unterrichts zumindest offen. Allerdings lag ihnen fern, das Handeln der Schüler in eine bestimmte Richtung zu drängen, vielmehr sollten sie befähigt werden, die tatsächlich vorhandenen Mitwirkungschancen auch wahrzunehmen.

3. Politisch-kulturelle Hintergründe der Protestbewegung

Mit diesen Grundsätzen geriet nun eine Tendenz in Konflikt, welche die politischen Verhältnisse im Lande als nur scheinbar demokratisch verwarf zugunsten eines Idealbildes von Demokratie, das erst noch zu verwirklichen sei. Der fachlichen Öffentlichkeit wurde dieser Standpunkt zunächst durch Jürgen Habermas bekannt, der in der Einleitung zu einer Untersuchung über das politische Bewußtsein von Studenten 1961 geschrieben hatte, daß Demokratie die Mündigkeit aller Bürger befördern müsse und mehr sei als nur ein Set von Spielregeln für legitime Machtgewinnung und Machtveränderung. "Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr"(11). Diese Aussage war als Kritik am herrschenden, formal verengten Demokratieverständnis der 50er Jahre gedacht, wie es mit erheblicher Wirkung Theodor Litt (12) verkündet hatte, und insofern zweifellos berechtigt. Die Kritik ergab sich aus Argumentationsfiguren der "Kritischen Theorie", die allerdings gerade wegen ihrer gesellschaftlichen Fundamentalkritik keineswegs zum unmittelbaren Handeln anstiftete, weil sie dafür gar keine Strategie parat hatte. Daß diese marxistische und psychoanalytische Elemente integrierende Gesellschaftstheorie, die wegen ihrer komplizierten Gedankenführung und Diktion nur wenigen Eingeweihten überhaupt verständlich war, in den folgenden Jahren nicht nur für die innenpolitischen, sondern auch für die politisch-didaktischen Auseinandersetzungen eine große Bedeutung gewinnen sollte, lag daran, daß sie einen sozialen Träger in der studentischen Pro-

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testbewegung fand. Diese orientierte sich allerdings vor allem an Veröffentlichungen von Herbert Marcuse (13), der seine Gesellschaftsanalyse durchaus mit einer Handlungsorientierung verband, indem er nämlich den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und den Intellektuellen in den westlichen Ländern die Möglichkeit einer allgemeinen gesellschaftlichen Emanzipation einräumte - zumal wenn beide sich zu einem Bündnis verstünden. Die Protestbewegung nahm ihren Ausgangspunkt von der Kritik an den überfüllten und strukturell erstarrten Hochschulen, schaukelte sich aber schnell in der Konfrontation mit der Staatsmacht zu einer Fundamentalopposition gegen die demokratischen Institutionen auf. "Systemkritik" und "Herrschaftskritik" waren die neuen Leitmotive. Nährboden für die Aktivitäten der Studentenbewegung waren neben der Empörung über die von der deutschen Politik unterstützte Kriegführung der USA in Vietnam innenpolitische Krisen.

Im Jahre 1966 bildete sich nach dem Sturz Ludwig Erhards eine große Koalition mit Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler und Willy Brandt als Vizekanzler. Sie hatte eine erhebliche Schwäche der parlamentarischen Opposition im Bund zur Folge, weil diese nun auf die Abgeordneten der FDP beschränkt blieb. Nicht zuletzt deswegen fand sie viele Gegner in der jungen Generation sowie in den Reihen der SPD und der Gewerkschaften. Opposition entwickelte sich nun als "außerparlamentarische" (APO), die an die "Ostermarsch"-Bewegung der Atomwaffengegner anknüpfen konnte, die 1960 begonnen hatte und seither immer mehr Bürger zu mobilisieren vermochte. Zum Kern der außerparlamentarischen Opposition wurde Mitte der sechziger Jahre der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), von dem die SPD sich 1960 getrennt hatte, weil er deren Godesberger Programm von 1959 nicht akzeptieren wollte. Zu einer ersten großen gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Studentenbewegung und Staatsgewalt kam es anläßlich des Staatsbesuchs des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 in Berlin. Dabei wurde der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten erschossen. Sein Tod löste Studentenunruhen in vielen Städten des Bundesgebietes aus, die Konfrontation zwischen Studenten und Polizei versetzte Berlin über Monate in einen Ausnahmezustand. Dabei richteten sich die studentischen Aktionen verstärkt gegen den Springer-Konzern, weil der in seinen Zeitungen eine Hetzkampagne gegen Studenten und links orientierte Gruppen führe und sie als Staatsfeinde verteufele. Am 11. April 1968 verübte der 23-jährige Josef Bachmann einen Mordanschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke, was die Studenten ebenfalls der Berichterstattung der Springer-Presse anlasteten. Das Attentat erregte die Öffentlichkeit so sehr, daß während der Osterfeiertage in zahlreichen Städten Hunderttausende von Menschen demonstrierten. In Berlin wurde versucht, die Druckereien des Springer-Konzerns zu stürmen, was zu teilweise blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei führte.

Ein zentrales Ziel der Studentenbewegung war die Verhinderung der von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze. Sie waren nötig, damit durch eine entsprechende Grundgesetzergänzung die alliierte Vorbehaltsklausel in Artikel 5 des Deutschlandvertrages von 1952 bzw. 1954 abgelöst werden konnte; sie schränkte die Souveränität der Bundesrepublik insofern nach wie vor ein, als die drei Mächte sich das Recht vorbehalten hatten, für die Sicherheit ihrer in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte selbst zu sorgen. Dieses Problem wollte die große Koalition lösen, nachdem frühere Versuche am Widerstand der SPD und der Gewerkschaften gescheitert waren. Nachdem die drei Westmächte sich bereit erklärt hatten, nach Inkrafttreten der Notstandsgesetze auf ihre bisherigen Vorbehaltsrechte zu verzichten, verabschiedete der Bundestag am 31. Mai 1968 die Notstandsverfassung nach teilweise erbitterten innenpolitischen Auseinandersetzungen. Studentenbewegung und Gewerkschafter hatten sich im Kampf dagegen verbündet, nun jedoch zerfiel die außerparlamentarische Opposition allmählich, weil die Gewerkschaften sich weigerten, mit Streiks gegen die Verabschiedung vorzugehen. Die Studentenbewegung spaltete sich daraufhin in eine Vielzahl politisch unterschiedlich radikaler kleiner Gruppen auf, die sich an den Hochschulen bekämpften; auf diesem Hintergrund entstand auch die terroristische "Rote Armee Fraktion " (RAF), die in den 70er Jahren die Republik verändern sollte (14).

Die Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze offenbarten ein tiefes Mißtrauen breiter Schichten gegen die konservative Machtelite, der man demokratische Loyalität gerade in Krisenzeiten - wie etwa im Falle des Notstandes - nicht zutraute. Gedämpft wurde diese Stimmung ein wenig dadurch, daß sich nach den Bundestagswahlen vom 28. September 1969 die sozial-liberale Koalition von SDP und FDP mit Willy Brandt als Bundeskanzler bildete. Sie verfügte jedoch nur

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über eine dünne Mehrheit, überstand gleichwohl im April 1972 ein konstruktives Mißtrauensvotum. Die daraufhin für den 19. November 1972 angesetzten Neuwahlen bestätigten die sozial-liberale Koalition unerwartet deutlich.

Der Regierungswechsel war sowohl Ausdruck einer bis dahin nicht gekannten innenpolitischen Polarisierung wie er diese weiter forcierte. Außenpolitisch ging es um die heftig umstrittene Ostpolitik und damit um die Anerkennung der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR und der Oder-Neiße-Grenze zu Polen. Innenpolitisch wurde ein längst überfälliger Reformkurs eingeschlagen. Eingeleitet wurde eine Strafrechtsreform, nach der das Strafrecht nicht länger dazu dienen sollte, moralisch konformes Verhalten durchzusetzen, sondern dazu, sozial schädliches Verhalten zu verhindern bzw. zu ahnden; es sollte nur noch angewandt werden, wo die Freiheit des einzelnen und wo Leben, Gesundheit, Eigentum und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gegen Übergriffe geschützt werden mußten. Geändert wurde 1970 auch das Demonstrationsstrafrecht. Es schränkte die Strafverfolgung auf gewalttätige Formen des Protestes ein und verlagerte die Beweislast auf die Polizei, während vorher der Tatbestand des Landfriedensbruchs vorschrieb, daß seine Unschuld beweisen mußte, wer als Beteiligter oder auch nur als Zuschauer einer Demonstration verhaftet wurde. Modernisiert wurden auch das Ehe- und Familienrecht. Im Juni 1970 setzte der Bundestag das aktive Wahlrecht von 21 auf 18, das passive Wahlrecht von 25 auf 21 Jahre herab. Das Bildungswesen wurde nach dem Motto "Bildung ist Bürgerrecht" von Ralf Dahrendorf erheblich ausgebaut, vor allem in die Universitäten wurde investiert, neue wurden gegründet.

Am 6. Mai 1974 trat Willy Brandt als Kanzler zurück, sein Nachfolger wurde Helmut Schmidt. In diesem Wechsel symbolisierte sich, daß die gewaltigen Reformvorhaben auch im Bildungsbereich nicht mehr zu finanzieren waren. Zudem trat die Ausbeutung der natürlichen Umwelt in den Blick, wofür die "Ölkrise" des Jahres 1973, als an mehreren Sonntagen die Autobahnen leer waren, jedermann eine erste Anschauung bot. Die" Grenzen des Wachstums" schienen gekommen, wie es der "Club of Rome" vorhersagte.

Wegen der Agitation linksradikaler Gruppen an den Universitäten und des von ihnen angekündigten "Marsches durch die Institutionen" entstand nun die Furcht vor Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst. Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Regierungschefs der Länder gemeinsam mit dem Bundeskanzler den sogenannten "Radikalenerlaß". Demnach mußte ein Bewerber für den öffentlichen Dienst die Gewähr dafür bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten. Über die Auslegung des Begriffs "verfassungsfeindliche Aktivitäten" bestand jedoch keine Einigkeit, die Entscheidung darüber lag bei der jeweiligen Einstellungsbehörde. Bis 1976 wurden etwa eine halbe Million Bewerber überprüft und 430 abgelehnt. Das Wort vom " Berufsverbot" ging um. Ein besonderes Problem zeigte sich bei solchen Bewerbern, die einer politischen Partei wie der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) angehörten, der zwar verfassungsfeindliche Ziele unterstellt wurden, die aber gleichwohl nicht verboten war. Erst im Februar 1976 wurde dieser Erlaß formell wieder aufgehoben. Er war vor allem in der jungen Generation heftig umstritten, 50 Prozent der unter 30jährigen lehnten ihn ab. Er führte dazu, daß vor allem unter den Studenten Unsicherheit, Furcht und Staatsverdrossenheit um sich griffen.

4. Die politische Polarisierung der Politikdidaktik

Die innenpolitischen Polarisierungen übertrugen sich verständlicherweise auch auf die politische Bildung und brachten sie in eine schwere Krise. Dazu trug auch bei, daß die CDU/CSU, nachdem sie seit 1969 in der Opposition war, um die Rückkehr an die Macht kämpfte und dabei Bildung und Erziehung als erfolgversprechendes Thema der parteipolitischen Auseinandersetzung entdeckte, die unter anderem zu regelrechten Kampagnen gegen Politikschulbücher (auch gegen das von Wolfgang Hilligen) führte und im Streit um die neuen Richtlinien in Hessen und Nordrhein-Westfalen ihren Höhepunkt erreichte.

Die innenpolitische Polarisierung fand ihren Widerhall auch in der didaktischen Diskussion. Die Folgen lassen sich unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen:

1. Die Anfang der 60er Jahre entwickelten didaktischen Konzepte mußten nun zu den von der Studentenbewegung ins Spiel gebrachten Ideen der "Systemkritik", "Herrschaftskritik" und "Selbstverwirklichung" Stellung beziehen. Da die Autoren im Hochschulbereich bzw. in der Lehrerbildung tätig waren, ging schon von ihrem Arbeitsfeld her ein erheblicher sozialer Druck in dieser Richtung aus. Inwiefern drückte

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sich in den neuen Forderungen und Thesen ein Fortschritt an Demokratisierung aus, inwiefern umgekehrt ihre Gefährdung?

Wolfgang Hilligen versuchte mit dem Begriff der "Optionen", also mit normativ begründeten konsensfähigen Vorentscheidungen, Ordnung in die Debatte zu bringen: Unantastbarkeit der Menschenwürde wahren, die Voraussetzungen für die Emanzipation und Chancengleichheit aller herstellen, Spielraum für Alternativen herstellen und erhalten (15). Er interpretierte also Demokratie nun inhaltlich, als Aufgabe der Verwirklichung der im Verfassungsauftrag enthaltenen Ziele - insbesondere im Hinblick auf die Beseitigung von gesellschaftlichen Ungleichheiten. Konflikte sollten nicht nur nach Spielregeln gelöst, vielmehr sollten möglichst auch deren Ursachen beseitigt werden (16).

Kurt Gerhard Fischer modifizierte in der Neufassung seines Konzeptes von 1970 den Katalog der "Einsichten"; nun griff er die Forderung nach Beseitigung "überflüssiger Herrschaft" auf und trat für den "Abbau von Fremdbestimmung und Herrschaft in ihrer Wechselseitigkeit zugunsten von Selbstbestimmung" ein. "Demokratie zielt auf die Überflüssigkeit der gesellschaftlichen Institution 'Staat' ab" (17).

Hermann Giesecke sah in der 3. Aufl. seiner Didaktik die damalige Krise im Rahmen des langfristigen Prozesses der "Fundamentaldemokratisierung" und der Emanzipationsbewegungen, in dem es um den "Abbau überflüssiger Herrschaft von Menschen über Menschen" und um "die Kontrolle der notwendigen Herrschaft" gehe (18).

Schon an diesen knappen Hinweisen wird eine Gefahr deutlich, die in den Auseinandersetzungen mit der Protestbewegung beschlossen lag, daß nämlich politische und didaktische Ziele ineinander übergingen, jedenfalls nicht sorgfältig unterschieden wurden. Gesellschaftliche Veränderungen können und müssen zweifellos zum Thema politischer Bildung werden, wenn sie mit gebührender öffentlicher Resonanz vertreten werden; werden sie aber auch zu deren Ziel, dann wird politische Bildung selbst zum Teil des innenpolitischen Kampfes mit anderen Mitteln. Die Didaktik der Politik kann von sich aus weder die Substanz des Gegenstandes Politik definieren, noch etwa politische Prognosen verkünden, etwa über die Abschaffung des Staates. Walter Gagel hat in seiner "Geschichte der politischen Bildung" überzeugend gezeigt, wie sehr nicht nur die offen neomarxistischen didaktischen Konzepte, sondern auch die der "ersten Generation" von vorgängigen und immer auch bestreitbaren Grundsatzdeutungen des Politischen bestimmt waren. Insofern war deren ideologiekritische Überprüfung durch die Anhänger der Protestbewegung durchaus berechtigt.

Im Versuch, die ursprünglichen didaktischen Konzepte durch die Auseinandersetzung mit den Ideen der Protestbewegung zu präzisieren, zeigte sich eine weitere Gemeinsamkeit: Die Autoren glaubten an den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung und Argumentation, also daran, zu einem bestimmten Zeitpunkt nach bestem Wissen formulierte Konzepte durch die Auseinandersetzung mit neuen politischen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen Zug um Zug verbessern zu können. Darin lag für sie die Faszination der "kritischen Theorie"; denn diese hatte in einem ernstzunehmenden theoretischen Zusammenhang den ursprünglichen - nicht durch Leninismus und Stalinismus veränderten - Marxismus einerseits und die Psychoanalyse andererseits für die Erklärung der gegenwärtigen Gesellschaft fruchtbar zu machen versucht, während zuvor beide Ansätze in Westdeutschland kaum bekannt waren bzw. ignoriert wurden.

2. Eben daran schlossen sich nun neue didaktische Konzepte an, die vom antagonistischen Klassenwiderspruch ausgingen und eine Chance zur politischen Aufklärung nur in einer entschiedenen Parteinahme für die Unterdrückten bzw. Unterprivilegierten sahen. Ihr bedeutendster und wirksamster Autor war Rolf Schmiederer (19). Das Zentrum seiner didaktischen Konzeption ist radikale Kritik der Herrschaft, wo immer der Schüler ihr begegnet - in der Familie oder der Schule, im Betrieb oder im Umgang mit staatlichen Institutionen. Der Schüler soll deren bewußte und unbewußte Mechanismen durchschauen und entsprechend gegen die so aufgedeckten Beschränkungen handeln. Die Lehrer fungieren dabei gegenüber den Schülern als Avantgarde des gesellschaftlichen Fortschritts und weisen ihnen den Weg dorthin. Institutionen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens kommen hier nur noch als zu kritisierende Herrschaftsstrukturen in Betracht. Die Aufhebung

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überflüssiger Herrschaft sei ökonomisch durch den technischen Fortschritt zur "Überflußgesellschaft" hin möglich, sie werde lediglich noch durch tradierte kapitalistische Strukturen verhindert.

Im Jahre 1977 vollzog Schmiederer eine scheinbar radikale Kehrtwende "im Interesse der Schüler" (20). Nun richtete sich seine Kritik gegen das "entfremdete Lernen", das in Lehrplan- und Lehrerzentrierung des Unterrichts gesehen wird; statt dessen sollen die Interessen des Schülers, seine Sozialerfahrung und seine Lebensrealität im Mittelpunkt stehen, er soll die Gegenstände des Unterrichts mitbestimmen können. Ungeklärt blieb dabei allerdings, was "Interessen" von Schülern eigentlich sind, ob sie auch künftige Bedürfnisse und Anforderungen einschließen können und schließlich, wie sie sich vernünftigerweise in Lehrpläne fassen lassen. Die Idee der "Schülerorientierung" war geboren - eine Wende ins Subjektive, nachdem Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen mittels der Pädagogik nicht nur am Widerstand des "Establisments", sondern auch der Schüler selbst gescheitert war. Diese subjektive didaktische Wende hat inzwischen die Schulpädagogik insgesamt ergriffen (21).

Die "linke" Kritik der politischen Bildung und daraus abgeleitete Konzepte wie das Schmiederers waren insofern verständlich und angebracht, als die bloß formalen Formeln von Liberalität, Pluralismus und Mitbestimmung die in der Bevölkerung höchst ungleichen Teilhabe- und Realisierungschancen auf sich beruhen ließen. Die Frage war und ist nur, wie mit pädagogischen Mitteln, also mit geplanten Lehr- und Lernangeboten, auf gesellschaftliche Ungleichheiten reagiert werden kann. Offensichtliche Parteilichkeit stand einer Aufklärung eher im Wege, abgesehen davon, daß derartige Konzepte im Rahmen der Schule den Konsens in der Bevölkerung gefährden mußten. Zudem wurde zwischen den Möglichkeiten politischer Bildung in der Schule und in außerschulischen Einrichtungen, die ja als "Tendenzbetriebe" politisch parteilich vorgehen dürfen, nicht mehr unterschieden. Für einen außerschulischen Träger hätte Schmiederer mit seinem "erkenntnisleitenden Interesse" möglicherweise Erfolg gehabt, so wie etwa Oskar Negt für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit ein beachtliches und durchaus parteiliches Bildungskonzept vorgelegt hat  (22).

Auch Ernst-August-Roloff verband in seinem dreibändigen politikdidaktischen Werk Herrschaftskritik mit Schülerorientierung, allerdings ohne die radikale Parteilichkeit Schmiederers (23). Roloffs didaktisches Kernthema war die Lebenswelt des Schülers - in erster Linie in der Schule selbst - , die diesen im Verlauf seines Lebens vor Entscheidungssituationen stellt (u.a. über Bildungswege, Religionszugehörigkeit, Berufswahl) deren politische, weil durch Herrschaft begrenzte Rahmenbedingungen er verstehen soll, um seinen tatsächlichen Entscheidungsspielraum optimal ausschöpfen zu können. Der Politiklehrer soll solche Entscheidungen nicht vorschreiben oder gar für eine bestimmte agitieren, sondern lediglich zum Nachdenken über die verschiedenen Wahlmöglichkeiten anleiten. "Betroffenheit" und "Entscheidung" sind demnach die leitenden Motive für die Auswahl der Stoffe, die folgerichtig Politisches nur unter diesem Leitmotiv sortiert, also keine weiteren objektiven Kriterien dafür zur Verfügung hat. Die staatlichen Institutionen werden primär in ihrem freiheitsbeschränkenden Charakter gesehen, kaum in ihrem Freiheit garantierenden.

3. Die politikdidaktischen Konzepte und Entwürfe seit Beginn der 60er Jahre waren nicht aus konservativem Politikverständnis entstanden, sondern zunächst aus liberalem und später aus systemkritischem. Der Gedanke eines besonderen politischen Unterrichts in der Schule war dem konservativen Selbstverständnis der 50er Jahre eher fremd geblieben. Das änderte sich nun in Reaktion auf diejenigen Konzepte, die wie das Schmiederers kompromißlose Systemkritik auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Die konservative Gegenwehr richtete sich bildungspolitisch insbesondere gegen die 1972 in Hessen (24) und 1973 in Nordrhein-Westfalen (25) von SPD-Regierungen vorgelegten neuen Richtlinien. Diese unterschieden sich von den vorherigen durch ihre relative Ausführlichkeit und vor allem

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durch Offenlegen und Begründung teilweise detailliert formulierter Lernziele, wie es der damals in Mode gekommen Curriculum-Strategie entsprach. Gerade dadurch aber wurden die für diese Richtlinien politisch Verantwortlichen sehr viel leichter angreifbar, als sie es gewesen wären, wenn sie sich wie vorher üblich mit einer wohlgesetzten, aber letztlich unverbindlichen Präambel und mit einem Stoffkanon begnügt hätten. Die Lernzielorientierung sollte der Opposition die Möglichkeit geben, sich an dem Verfahren zur Herstellung der Richtlinien kritisch und konstruktiv zu beteiligen, was teilweise auch geschah. Aber zum politischen Mißtrauen gegen den bildungspolitischen Gegner gesellte sich nun auch eines gegen die neumodische, jedenfalls bisher unübliche Lehrplankonstruktion, zumal diese vielfach die Grenze zwischen notwendiger politischer Vorgabe und didaktisch-methodischer Kompetenz des Lehrers überschritt. Im Auftrag der CDU-regierten Länder erarbeiteten Wissenschaftler eine Art von Grundlagendokument zur politischen Bildung (26). Zu den Autoren gehörte auch Bernhard Sutor, der seinerseits 1971 eine politikdidaktische Konzeption vorgelegt hatte, die er später präzisierte (27). Didaktischer Kern waren drei Leitfragen, zu deren Beantwortung bzw. Bearbeitung die auszuwählenden Stoffe dienen sollten: Wie individuelle und politische Freiheit unter den Bedingungen des Pluralismus, soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Industriegesellschaft und zwischenstaatlicher Friede möglich seien. Diesen Leitfragen wurden entsprechende Problemfelder zugeordnet, die im Unterricht zu behandeln sind. Sutor, der an der Abfassung der Richtlinien für den politischen Unterricht im CDU-regierten Rheinland-Pfalz beteiligt war, trug auf diese Weise nicht nur ein didaktisches Konzept, sondern auch einen Lehrplan vor - beides ausführlich politisch-anthropologisch begründet. Konsequenter als jeder andere bisher erwähnte Didaktiker ging Sutor vom objektiven Charakter des Politischen aus, dessen Regeln und spezifische Kategorien die Schüler begreifen lernen müßten. Die didaktischen Kategorien ordnete er - auch das war neu - dem zeitlichen Ablauf des Unterrichts zu: Situationsanalyse - Möglichkeitserörterung -- Urteilsfindung/Entscheidungsdiskussion.

5. Kompromißversuche

Vor allem wegen seiner - zur Kritik herausfordernden - anthropologisch-philosophischen Grundlegung in der Ausgabe von 1971 galt Sutor als konservativer Gegenpol zu den aus dem Umfeld der "kritischen Theorie" argumentierenden "linken" Didaktikern. Allerdings war es problematisch, die nun zahlreich gewordenen Kritiker (28) an den extremen "linken" Positionen von vornherein als "konservativ" zu etikettieren und sie damit in die allgemeine Polarisierung einzuordnen. Gründe dafür gab es nicht nur aus politischer, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht. Jedenfalls hatte sich Mitte der siebziger Jahre die Politikdidaktik ebenso wie die innenpolitische Diskussion im ganzen in Lager gespalten, die sich ideologiekritisch bekämpften, einander ebenso mißverstanden wie die politischen Fronten selbst und im wesentlichen nur noch ihre jeweilige (parteipolitische) Klientel bedienten. Weil dieser Zustand das Ende einer wissenschaftlich argumentierenden, politisch konsensfähigen und für die Schulpraxis nützlichen Lehrplanfundierung und didaktisch-methodischen Aufklärung bedeutet hätte, setzten Bemühungen ein, die Politikdidaktik aus den innenpolitischen Verstrickungen wieder zu lösen und sie wissenschaftlich zu rehabilitieren. Dies geschah auf mehreren Ebenen nahezu gleichzeitig.

- Kurt Gerhard Fischer lud die zerstrittenen Autoren ein, ihre Positionen gemeinsam in knapper Form in einem Sammelband vorzustellen, damit sie überhaupt erst einmal für ein breiteres Publikum vergleichbar würden (29).

- Walter Gagel, der an der Abfassung der Richtlinien für den Politikunterricht in Nordrhein-Westfalen beteiligt war, präsentierte einen Vergleich der unterschiedlichen Ansätze und versuchte, sie für die letztendlich doch gemeinsame Problemstellung - die Verbesserung des politischen Unterrichts - wieder fruchtbar zu machen (30). Dieser Vermittlungsarbeit ist er auch nach der Deutschen Vereinigung im Hinblick auf die neuen Länder (31) sowie

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in seiner in den 80er Jahren veröffentlichten eigenen systematischen Didaktik treu geblieben (32).

- Eine weitere Initiative ergriff die Baden-Württembergische "Landeszentrale für Politische Bildung". Sie lud die führenden Politikdidaktiker 1976 zu einer Tagung über "Das Konsensproblem in der politischen Bildung" ein. Aus den Vorträgen und Diskussionen ging der sogenannte "Beutelsbacher Konsens" hervor, in dem sich die unterschiedlichen Positionen auf gemeinsame Minimalkriterien verständigten (33). Die Vereinbarung konnte die Polarisierung in der pädagogischen Praxis jedoch zunächst nur mindern, nicht wirklich beseitigen, weil die didaktisch kontroversen Autoren erst einmal auf ihre politisch-pädagogischen Bezugsgruppen, denen sie sich verbunden fühlten, einwirken mußten. Der Konsens ist nie formell verabschiedet worden, half aber auf Dauer doch zu einer Rückbesinnung auf die wissenschaftlichen Grundlagen der Politikdidaktik. Er verpflichtete die Didaktiker und Politiklehrer zur Einhaltung von drei Maximen:

- Überwältigungsverbot: Der Politiklehrer darf den Schüler nicht mit seiner eigenen politischen Position im Sinne einer Indoktrination überrumpeln, sondern muß ihm die Gewinnung eines selbständigen Urteils im Rahmen seines Mündigwerdens ermöglichen.

- Kontroversität: Was in Wissenschaft und Politik umstritten ist, darf der politische Unterricht nicht unstrittig erscheinen lassen.

- Interessenorientierung: Der Schüler ist berechtigt, angesichts einer politischen Situation seine eigene Interessenlage zu analysieren und nach Möglichkeiten zu suchen, diese zur Geltung zu bringen.

Die erwähnten Initiativen befriedeten die Diskussion allmählich, das Abklingen der Konfrontationen führte andererseits aber auch zu einem zunehmenden öffentlichen Desinteresse an Fragen der politischen Bildung, woran auch die deutsche Einheit kaum etwas änderte. In den 80er Jahren setzte sich die Wende zum Subjektiven weitgehend durch, die politische Bildung wurde zumindest in der Sekundarstufe I weitgehend edukatisiert, nämlich subjekt- und schülerorientiert geplant und gestaltet, wofür die "Handlungsorientierung" des Unterrichts zum Schlüsselbegriff wurde (34).

6. Versuch einer Bilanz

Versucht man von heute aus den Ertrag der Diskussionen um die politische Bildung in jener Zeit zu deuten, dann bietet sich folgendes Fazit an:

1. Die innenpolitischen Konfrontationen haben der Politischen Bildung als Schulfach eher geschadet als genutzt, weil sie seitdem im Verdacht einer konkurrierenden parteipolitischen Beeinflussung steht. Die aus diesem Dilemma entstandene "pädagogische" Lösung der Subjektorientierung droht andererseits die objektiven Anforderungen der Sache weitgehend aus dem Blick zu verlieren und müßte selbst zum Gegenstand etwa ideologiekritischer Analysen werden. Ein Schulfach läßt sich nicht auf Subjektivität gründen, sondern nur auf einen außersubjektiven Wirklichkeitsbereich, den es zu verstehen gilt.

2. Keine Didaktik ist ohne entsprechende Definitionen des Politischen möglich. Bleiben diese pragmatisch an den Zweck des Lehrens und Lernens gebunden, ist Verständigung aussichtsreich. Will die Didaktik jedoch von daher auch die Grundlagen und Dimensionen der politischen Wirklichkeit selbst erklären, gerät sie notwendig in eine Legitimationskrise, weil sie sich in andere Kompetenzen (der Politiker, der Politikwissenschaft, der Philosophie) inkompetent einmischt.

3. Politisches und pädagogisches Handeln unterliegen unterschiedlichen Strategien und Erfolgskriterien. Das eine ist darauf aus, die Wirklichkeit zu verändern, das andere, sie im Rahmen geplanter Lehr- und Lernarrangements verständlich zu machen. Welche Schlußfolgerungen die Lernenden daraus ziehen, müssen sie selbst entscheiden. Insofern bleibt immer fraglich, ob Lehrziele auch tatsächlich zu Lernzielen werden. Die Didaktik kann von sich aus die Wirklichkeit nicht gestalten, über die sie aufklären will.

4. Die Schule darf innerhalb der vom Grundgesetz erlaubten pluralistischen Positionen nicht parteilich sein, wohl aber muß sie das geistige Instrumentarium dafür entwickeln, mit Parteilichkeiten, die in der Sache selbst liegen, produktiv umzugehen. Von vornherein parteilich dürfen nur außer-

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schulische Verbände und Organisationen sein - auch solche, in denen sich Jugendliche betätigen.

5. Die Grundsatzdebatten und der damit verbundene Legitimationsdruck haben die fachdidaktischen Diskurse in eine erhebliche Distanz zur Unterrichtspraxis gebracht. Vieles, was in der - längst im doppelten Wortsinn "akademisch" gewordenen - Fachdidaktik Politik diskutiert wird, ist für die Gestaltung des täglichen Unterrichts uninteressant. Nicht zuletzt auch deshalb sind subjektorientierte didaktisch-methodische Konstruktionen in den Schulen beliebt; sie beziehen sich nicht auf wissenschaftlich geklärte Grundlagen, sondern auf die Alltagserfahrung von Lehrern und werten diese auf.

6. Interesse der Öffentlichkeit an der politischen Bildung ergab sich bisher primär aus politischen Anlässen, nur am Rande auch aus pädagogischen Begründungen etwa von der Art, daß Politik Bestandteil der Allgemeinbildung zu sein habe - auch wenn sie zur unmittelbaren Krisenbehebung (zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, des Ost-West-Gegensatzes, zum Schutz der demokratischen Verfassung, zur inneren Befriedung) nicht unmittelbar gebraucht wird. Insofern ist längst noch nicht entschieden, ob Politik im Kanon der Bildungsfächer künftig zu finden sein und eine Fachdidaktik Politik auf Dauer benötigt werden wird.

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Anmerkungen

(1) Vgl. Thomas Ellwein, Pflegt die deutsche Schule Bürgerbewußtsein? Ein Bericht über die staatsbürgerliche Erziehung in den höheren Schulen der Bundesrepublik, München 1955; ders., Was geschieht in der Volksschule? Berlin - Bielefeld 1960; Wolfgang Hilligen, Plan und Wirklichkeit im sozialkundlichen Unterricht, Frankfurt 1953

(2) Die "konfliktorientierte" didaktische Konzeption des Verfassers nahm diese Affäre seinerzeit zum Exempel (Vgl. H. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München 1965).

(3) Vgl. die ausführliche Darstellung bei Walter Gagel, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989, Opladen 1994

(4)Vgl. das gleichnamige Kapitel in: Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 112-131

(5) Rudolf Engelhardt, Politisch bilden - aber wie? Essen 1964, forderte und praktizierte beispielsweise "kontroverses Denken" in seinem Unterricht.

(6) Arnold Bergstraesser, Politik in Wissenschaft und Bildung, Freiburg 1961; Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied 1963

(7) Vgl Hilligen, Anm. 1

(8) Wolfgang Hilligen, Worauf es ankommt. Überlegungen und Vorschläge zur Didaktik der politischen Bildung, in: Gesellschaft-Staat-Erziehung 1961, S. 339-359, auch in: ders., Zur Didaktik des politischen Unterrichts II, Opladen 1976, S. 53-79.

(9) Kurt Gerhard Fischer, Karl Herrmann, Hans Mahrenholz, Der politische Unterricht, Bad Homburg v.d.H. 1960

(10) Hermann Giesecke: Didaktik der politischen Bildung, München 1965; ders., Politische Bildung in der Jugendarbeit, München 1966

(11) Jürgen Habermas/ Ludwig von Friedeburg/ Christoph Oehler/ Friedrich Weltz, Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten, Neuwied 1961, S. 15

(12) Theodor Litt, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes, Bonn 1954

(13) Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt 1965; ders., Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967

(14) Vgl. Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, München 1989

(15) Vgl. Walter Gagel, Anm. 3, S. 201 f.

(16) Wolfgang Hilligen, Zur Didaktik des politischen Unterrichts I, Opladen 1975

(17) Kurt Gerhard Fischer, Einführung in die politische Bildung, Stuttgart 1970, S. 124

(18) Hermann Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, 3. Aufl. München 1968, S. 212

(19) Rolf Schmiederer, Zur Kritik der politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des politischen Unterrichts, Frankfurt 1971, 6. Aufl. 1977; ders., Zwischen Affirmation und Reformismus. Politische Bildung in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt 1972; ders.: Politische Bildung im Interesse der Schüler, Köln 1977

(20) Rolf Schmiederer, Politische Bildung im Interesse der Schüler, Köln 1977

(21) Vgl. Hermann Giesecke, Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik, Stuttgart 1998

(22) Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung, Frankfurt 1968

(23) Ernst-August Roloff, Erziehung zur Politik. Eine Einführung in die politische Didaktik, Bd. 1: Sozialwissenschaftliche Grundlagen, Göttingen 1972, Bd. 2: Didaktische Beispielanalysen für die Sekundarstufe I, Göttingen 1974, Bd. 3: Didaktische Beispielanalysen für die Sekundarstufe II und die Erwachsenenbildung, Göttingen 1979

(24) Der Hessische Kultusminister, Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I: Gesellschaftslehre, Wiesbaden o. J.; Vgl. Gerd Köhler (Hrsg.), Wem soll die Schule nützen. Rahmenrichtlinien und neue Lehrpläne: Soziales Lernen im Konflikt, Frankfurt 1974

(25) Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Richtlinien für den politischen Unterricht, Düsseldorf 1973; Vgl. Walter Gagel/ Rolf Schörken (Hrsg.), Zwischen Politik und Wissenschaft. Politikunterricht in der öffentlichen Diskussion, Opladen 1975

(26) Dieter Grosser/ Manfred Hättich/ Heinrich Oberreuter/ Bernhard Sutor, Politische Bildung. Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen, Stuttgart 1976

(27) Bernhard Sutor, Didaktik des politischen Unterrichts. Eine Theorie der politischen Bildung, Paderborn 1971; ders., Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde., Paderborn 1984

(28) Vgl. etwa Günter C. Behrmann, Soziales Lernen und politische Sozialisation. Eine Kritik der neueren politischen Pädagogik, Stuttgart 1972

(29) Kurt Gerhard Fischer (Hrsg.), Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der politischen Bildung, Stuttgart 1975 (In der Folge weitere Auflagen mit teilweise revidierten Beiträgen)

(30) Walter Gagel, Politik - Didaktik - Unterricht. Eine Einführung in didaktische Konzeptionen des politischen Unterrichts, Stuttgart 1979

(31) Vgl. seine schon erwähnte (Anm. 3) und aus Vorlesungen in den neuen Ländern hervorgegangene "Geschichte der politischen Bildung...".

(32) Walter Gagel, Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts. Studienbuch politische Didaktik I, Opladen 1983; ders., Unterrichtsplanung: Politik, Sozialkunde, Opladen 1986

(33) Siegfried Schiele/ Herbert Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977. Vgl. auch Gagel (Anm. 3), S. 218 ff.

(34) Gotthard Breit/ Siegfried Schiele (Hrsg.), Handlungsorientierung im Politikunterricht, Schwalbach 1998.


 

196. Parteinahme, Parteilichkeit und Toleranzgebot (1999)

In: Wolfgang W. Mickel (Hrsg.): Handbuch zur politischen Bildung. Bad Schwalbach 1999 ( = Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 358), S. 503-506
 

1.12 Parteinahme, Parteilichkeit und Toleranzangebot

1. Definition: "Parteinahme" soll hier verstanden werden als situationsbezogener Begriff: Eine Person entscheidet sich angesichts eines politischen Konfliktes für eine bestimmte Lösung des Problems und damit für diejenigen, die ebenfalls für diese Lösung votierten (z.B. für eine politische Partei). Parteinahme ist also im Prinzip keine grundsätzliche Entscheidung, sondern erfolgt von Fall zu Fall. "Parteilichkeit" wird hier dagegen strukturell verstanden, als eine grundsätzliche, relativ dauerhafte Einstellung zu politischen Ideen und Organisationen, etwa im Sinne einer parteipolitischen Präferenz. Parteilichkeit präformiert deswegen auch mehr oder weniger die situationsgebundenen Parteinahmen.

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2. Bedeutung für die politische Bildung: Jeder politisch einsichtsfähige Mensch steht politischen Phänomenen mit einer vorgängigen Parteilichkeit gegenüber, die im wesentlichen aus seiner bisherigen Sozialisation, seiner sozialen Lage, seinen normativen Grundorientierungen, seinen einschlägigen Erfahrungen und seinen kulturellen und wirtschaftlichen Interessen resultiert. Ohne Parteilichkeit, nicht nur gegenüber der Politik, sondern auch gegenüber anderen für das Alltagsleben bedeutsamen Tatsachen und Erscheinungen wäre keine politische Bewußtheit und auch wohl keine Identität möglich; deshalb ändern sich parteiliche Einstellungen in der Regel auch nur allmählich im Zusammenhang mit fortschreitender Lebenserfahrung.

Die pB muß also mit solchen Voreinstellungen rechnen, und ihre Aufgabe besteht darin, sie aufzuklären, bewußt zu machen und damit eine Chance zur Veränderung, Revision oder Korrektur zu eröffnen oder solche Einstellungen auch nur einfach einer Prüfung auszusetzen. Jedoch kann sie darüber nicht verfügen, weil sie über die Ursachen und Beweggründe der politischen Parteilichkeit nicht verfügen kann. Im Gegenteil, eine allzu nachdrückliche Infragestellung der parteilichen Grundeinstellung kann - zumal bei Jugendlichen - zu zeitweiliger Desorientierung und zu sozialer Isolierung führen, da eine solche Grundeinstellung ja kollektive Kontexte hat. Sie wird mit anderen, in der Regel auch persönlich wichtigen Menschen geteilt. Historisch gesehen individualisiert sich die Parteilichkeit zunehmend, d.h. sie war früher - z.B. im Rahmen der starren Klassengesellschaft - viel eher von kollektiver Repräsentanz ("als Arbeiter", "als Handwerker", "als Unternehmer", "als Katholik"). In dem Maße, wie solche "selbstverständlichen" sozialen Verankerungen entfallen, wird Parteilichkeit gleichsam zu einem individuellen Recht. Erst unter dieser Voraussetzung kann sie auch zum Objekt einer aussichtsreichen politischen Werbung und Propaganda werden.

Parteinahme angesichts einer bestimmten Situation oder eines bestimmten (in der Regel konfliktträchtigen) Sachverhaltes ist im Unterschied zur Parteilichkeit nicht unbedingt vorgegeben, sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit politischen Fragen, wobei allerdings die vorgängige Parteilichkeit den Spielraum für die Parteinahme im allgemeinen begrenzt. In der Regel wird die allgemeine parteiliche Voreinstellung den Rahmen abgeben, in dem die konkrete Parteinahme formuliert und gerechtfertigt wird. Aufgabe der pB ist es auch, diesen Zusammenhang transparent werden zu lassen, ihn aufzuklären. Sie darf politische Parteinahme aber nicht verhindern, sondern muß dazu ermutigen; denn jede politische Reflexion endet notwendigerweise mit einer Parteinahme - oder mit der Feststellung, daß das Thema der Reflexion im wörtlichen Sinne "gegenstandslos" sei.

Aus der Tatsache, daß Menschen ohne Parteilichkeit kein politisches Bewußsein haben können und daß Parteinahme das sachlich zwingende Ergebnis einer politischen Situationsanalyse ist, folgt jedoch keineswegs, daß auch Institutionen, die "Träger" der pB, parteilich sein müssen, daß sie also ihre Bildungsangebote entsprechend arrangieren. Für die einschlägigen staatlichen Träger (z.B. Schule und Hochschule) gilt vielmehr das Toleranzangebot, d.h. alle Meinungen und Überzeugungen sind mit gleichem Recht zu behandeln, keine darf priviligiert oder benachteiligt werden (das gilt jedoch nicht im gleichen Maße für politische Aktivitäten, z.B. nicht für

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verfassungswidrige). Die Schule als ein Monopol des Staates darf z.B. gerade auch im politischen Unterricht nicht parteilich für oder gegen partikulare Gruppen, etwa Anhänger bestimmter politischer Parteien, sein. Wie aber kann sie dann mit der eben festgestellten notwendigen Parteilichkeit der Schüler und Lehrer umgehen? Im wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten zur Lösung dieses Widerspruchs:

a) Der politische Unterricht beschränkt sich auf grundlegende Informationen über den Staat und seine wichtigsten Institutionen ("Staatsbürgerkunde") und läßt so Gelegenheiten für Parteinahmen und für die Mobilisierung von Parteilichkeit gar nicht erst entstehen. Die Konsequenz wäre dann allerdings, daß das politisch Umstrittene nicht zum Gegenstand des Unterrichts wird.

b) Die Behandlung politisch strittiger Gegenstände wird zugelassen; dann aber muß dafür eine Form der Bearbeitung gefunden werden, die den Austausch parteilicher Positionen erlaubt, ohne daß eine davon zum offiziellen Ergebnis des Unterrichts erklärt wird. Möglich ist dies, wenn man wissenschaftsanaloge Verfahren verwendet (z.B. Entwicklung allgemeiner, sachbezogener Fragestellungen und "Kategorien"; methodisch kontrolliertes Vorgehen; Perspektivenwechsel; Suche nach "Wahrheit" und "Richtigkeit"). In diesem Fall kann die Mobilisierung von Parteilichkeit - weil sie methodisch diszipliniert erfolgt - nicht nur zu reflektierten Parteinahmen führen, sondern selbst zu einer wichtigen Erfahrung des Toleranzangebotes werden, also des verständnisvollen Umgangs mit anderen Positionen und deren Begründungen.

Anders als etwa die Schule können "Tendenzbetriebe", z. B. die Bildungseinrichtungen von politischen Parteien, der Kirchen, der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Verbände, durchaus parteilich orientierte pB anbieten, indem sie ihre "Tendenz" schon durch die Auswahl der Themen und Gegenstände zur Geltung bringen oder durch die Wahl geeigneter Mitarbeiter, von denen sie sich die Darstellung der gewünschten Positionen erhoffen. Jedoch zeigt die Erfahrung, daß im allgemeinen bei Bildungsveranstaltungen - im Unterschied zu ausdrücklich politischen Veranstaltungen - mit diesem Recht auf Parteilichkeit behutsam umgegangen wird, weil die Veranstalter im außerschulischen Bereich untereinander im Wettbewerb stehen, die Teilnehmer Meinungsfreiheit als wichtigstes persönliches Recht verstehen und andererseits "Agitation" (das nachdrückliche Werben für ein bestimmtes Handeln) und "Indoktrination" (das Geltenlassen nur der eigenen Meinung) nicht Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses der Mitarbeiter sind - unabhängig davon, in welchem "Tendenzbetrieb" sie tätig sind. Die - in der Regel universitäre - Ausbildung der Dozenten hat also zu einer gewissen Gemeinsamkeit im Hinblick auf die Regeln des Argumentierens und des Umgangs mit anderen Meinungen und Positionen geführt. Tendenzen zur Agitation und Indoktrination gelten daher eher als Mangel an Professionalität.

3. Didaktisch-methodische Konsequenzen: Die große Bedeutung von Parteinahme und Parteilichkeit für das politische Bewußtsein und Verhalten der Menschen legt die Schlußfolgerung nahe, beides bei der didaktisch-methodischen Organisation der Bildungsprozesse möglichst zu berücksichtigen. Demnach wären politische Probleme, Konflikte und Kontroversen besonders

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geeignete Gegenstände für die Mobilisierung und Aufklärung von Parteinahmen und Parteilichkeiten. Dies ist von der Didaktik auch nachdrücklich betont worden ("konfliktorientierte" Didaktik). Unter dem Aspekt eines kontinuierlichen politischen Bildungsprozesses jedoch - den zu ermöglichen insbesondere Aufgabe der Schule ist - besteht bei einem derart einseitigen didaktisch-methodischen Arrangement die Gefahr einer lediglich additiven Reihung von "Fällen", bei der systematische Vorstellungen über die politische Realität, die auf andere Fälle und Ereignisse übertragbar wären, nicht entstehen können. Ohne systematische Kenntnisse des jeweiligen "objektiven", also der je subjektiven Parteinahme und Parteilichkeit wiederum vorgegebenen politischen Rahmens - z.B. der staatlichen und gesellschaftlichen Organe und Institutionen und der jeweiligen tatsächlichen Machtverhältnisse - bleibt politisches Denken und Handeln letztlich unaufgeklärt.

Claußen, B., Dimensionen von Konsens und Parteilichkeit in der politischen Bildung, in: Zs. f. Päd., 6/1978.-Fischer, K. G. (Hrsg.), Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der Politischen Bildung.Stuttgart51986. - Giesecke, H., Didaktik der politischen Bildung, München 121982. - Ders., Politische Bildung, Weinheim-München 1993. - Jansen, B., Methodenorientierter Politikunterricht, Düsseldorf 1992 - Mommsen, W. J./Rüsen, J., Objektivität und Parteilichkeit in den Gesellschaftswissenschaften, München 1977. - Sander, W. (Hrsg.) Konzepte der Politikdidaktik, Stuttgart 1992. - Schiele, S./Schneider H. (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977. - Sutor, B., Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde., Paderborn 1984.

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197. Nicht das Leben, nur die Bildung bildet (1999)

In: Psychologie heute, Heft 9/1999, S. 54-59

Was muß man lernen, wenn man nicht wissen kann, was man in Zukunft wissen muß? Das ist die Grundfrage aller Überlegungen zur modernen Schulbildung. In einer Gesellschaft, in der sich auf absehbare Zeit wenig ändert, entsteht eine solche Frage nicht, da genügt es, daß die Kinder von den Erwachsenen lernen, was diese schon wissen; denn das Leben und seine Anforderungen werden in Zukunft im wesentlichen genau so sein, wie sie heute sind und gestern waren.

Anders in der Gegenwart: Politische, kulturelle, wirtschaftliche und technische Verhältnisse ändern sich in teilweise atemberaubendem Tempo, die Verwertbarkeit von erlerntem Wissen sinkt. In dieser Situation gerät das übliche Schulwissen in den Verdacht, überflüssig und weltfremd zu sein. Darauf komme es gar nicht mehr an, so ist oft zu hören, vielmehr müßten die Schüler das Lernen lernen, um sich an neue Situationen anpassen zu können, und dafür geistige, soziale und emotionale "Schlüsselqualifikationen" erwerben. In der gegenwärtigen Diskussion über die Verbesserung der Schule werden viele hochtrabende Begriffe dieser Art ins Feld geführt. Was aber steckt wirklich dahinter? Im Grunde handelt es sich dabei um längst bekannte "altmodische" Maximen: In sozialer Hinsicht geht es etwa um Höflichkeit, Toleranz und Kooperation, emotional um die Fähigkeit, seine Gefühle am richtigen sozialen Ort und zur richtigen Zeit zu plazieren - nicht überall sofort alles zu erwarten - , intellektuell um Grundlagen des Weltverständnisses, mit denen man weiterlernen kann - nichts davon ist neu.

Deshalb liegt es nahe, scheinbar längst Vergessenes wieder in Erinnerung zu rufen. Über unsere Ausgangsfrage, was man lernen müsse, wenn man künftige Anforderungen nicht hinreichend voraussehen kann, hat man nämlich schon im frühen 19. Jahrhundert nachgedacht, als die moderne Industriegesellschaft sich gegen die alte Ordnung durchzusetzen begann und deshalb die Zukunft ungewiß wurde. Die Antwort - vorgetragen vor allem von Wilhelm von Humboldt - lautete "Bildung" bzw. "Allgemeinbildung". Sieht man von zeitbedingten Einseitigkeiten wie der Fixierung auf die alten Sprachen - Latein und Griechisch - ab, handelt es sich hier im Kern immer noch um eine sehr moderne, auch für den Jahrtausendwechsel tragfähige Leitidee für die Gestaltung des Schulwesens, die lediglich präzisiert werden muß. Sie beruht auf einer simplen Einsicht: Wenn man, wie bis dahin üblich, den Menschen lediglich für seine künftig erwarteten spezifischen Funktionen - etwa als Bauer, Handwerker, Geschäftsmann - ausbildet, dann läuft er Gefahr, Veränderungen in seinem Beruf nicht mehr gewachsen zu sein. Erteilt man ihm jedoch eine grundlegende Bildung im Sinne einer "Allgemeinbildung", wird er in den Stand gesetzt, auf solche Veränderungen, die vorher niemand voraussehen kann, durch Weiterlernen flexibel zu reagieren. Er verfügt dann nämlich über das dafür erforderliche geistige Potential. Dieses Potential muß demnach größer sein, als jeweils in seinem Alltag von ihm verlangt und erwartet wird. Deshalb kann er es in seiner Lebensumwelt allein auch nicht erwerben. Allgemeinbildung ergibt sich nicht aus der Summe dessen, was jemand für seine alltäglichen Funktionen lernt - nicht

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aus den Erfahrungen der "Lebenswelt", wie man heute sagen würde. Im Gegenteil: Je allgemeiner jemand gebildet ist, um so mehr kommt dies auch seinen speziellen Tagesaufgaben, etwa im Beruf, zugute. Wie modern dieser Gedanke ist, zeigt sich in der gegenwärtigen Berufsausbildung. Gescheitert ist der jahrzehntelange Versuch, die Arbeitswelt in hunderte von Einzelberufen aufzuteilen und für diese eine jeweils besondere Berufsausbildung anzubieten. Weil die beruflichen Anforderungen ständig im Fluß sind, sind manche Berufe schon wieder verschwunden, wenn die Ausbildung dafür beendet ist. Berufsausbildung besteht heute immer mehr aus einer möglichst hohen Allgemeinbildung und einer daran anschließenden beruflichen Spezialisierung. Deshalb erfüllt ein Abiturient wegen seiner formalen geistigen Fähigkeiten im allgemeinen eher die Voraussetzungen für eine kaufmännische oder gewerbliche Berufsausbildung als ein Hauptschulabgänger. Umgekehrt: Wenn alle Jugendlichen in der Lage wären, das Abitur zu erwerben, würde auf diesem Hintergrund die Berufsausbildung nur noch aus einer Fülle jeweils spezieller Anlern- oder Umlernangebote bestehen. Das sogenannte "Duale System" der Berufsausbildung - mehrere Jahre praktische Lehre in Verbindung mit Berufsschulunterricht - würde dann weitgehend überflüssig sein. Fazit: Die Schule kann sich nicht allein danach richten, was etwa die Wirtschaft von ihren Absolventen erwartet; denn auch die Unternehmen müssen sich auf ihre gegenwärtige Einschätzung verlassen und können künftige Entwicklungen nicht hinreichend voraussehen.

Nicht also vom täglichen Leben aus, sondern in Distanz dazu sollen demnach die allgemeinen Fähigkeiten des Menschen, die die Grundlage für die Erfüllung aller einzelnen Lebensanforderungen bilden, entwickelt werden, und das kann nur durch einen Unterricht ge-

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schehen, der dazu anleitet, angemessene Vorstellungen über die Welt zu entwickeln. Das ist die grundlegende didaktische Idee der Bildung: Der Schüler soll sich durch einen "allgemeinbildenden" Unterricht einerseits die Grundlagen der natürlichen und kulturellen Welt zu eigen machen und andererseits dabei seine wesentlichen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen lassen. Das ist nur möglich, wenn der Schüler in Distanz tritt zu seinen lebensaktuellen Rollen und Erwartungen, also nicht darauf fixiert bleibt. Nicht das Leben bildet, sondern nur die Bildung bildet, nämlich als Versuch, sich die objektive Welt - erforscht durch die Wissenschaften - in ihrem Zusammenhang in direktem Zugang, durch eine bestimmte Tätigkeit des Verstandes, vorzustellen und anzueignen. "Lebensnah" ist dieser bildende Unterricht nur insofern, als er an die lebensweltlichen Erfahrungen der Schüler anknüpft und diese weiter zu entwickeln versucht, indem er auf sie zurückwirkt. Ohne Bezug zur bisherigen Erfahrung ist auch das bildende Lernen nicht möglich. Das ist der Grund dafür, daß die Lernreichweite von Kindern mit noch geringer Lebenserfahrung - z.B. Grundschulkinder - geringer ist als etwa die von Studenten.

Insofern dieses Bildungskonzept prinzipiell für alle Menschen, nicht nur für eine bestimmte Gruppe, gelten soll, ist es ein demokratisches. Das war über lange Zeit nicht erkennbar, weil es zunächst nur die Gymnasien prägte, zu denen Arbeiter und Landbevölkerung faktisch keinen Zugang hatten. Aber die Vorstellung einer Allgemeinbildung für alle Menschen setzte pädagogische Maßstäbe für die politischen Emanzipationsbewegungen der Moderne - der Arbeiter, der Frauen und der Landbevölkerung. Was zunächst elitär und klassenspezifisch begann, entwickelte sich zum Allgemeingut. Die modernen Gesellschaften haben fast 200 Jahre gebraucht, bis sie allein schon in ökonomischer Hinsicht in der Lage waren, diese Utopie für prinzipiell alle Kinder einzulösen. Heute müssen wir aufpassen, daß wir diese Entwicklung nicht wieder rückgängig machen. Wenn wir nämlich die Kinder an ihre Lebenswelten fixieren, nageln wir sie fest auf Verhältnisse, die von der familiären Herkunft her wirtschaftlich und sozial ungleich sind - abgesehen davon, daß die "Erfahrungen" der Kinder im wesentlichen Konsumerfahrungen sind. Der Ausgangsbedingung der Ungleichheit kann die Pädagogik nur dadurch begegnen, daß jedes Kind in die Lage versetzt wird, sich in höchstmöglichem Maße über sich und die Welt aufzuklären, und das nicht in weltfremder Absicht, sondern zu einem bestimmten Zweck.

Das demokratische Element der Bildung konkretisiert sich nämlich in der Forderung, daß alle Bürger die prinzipiell gleiche Chance der Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten erhalten sollen, die man als politische, kulturelle und berufliche Teilhabe zusammenfassen kann. Dazu soll Bildung möglichst jedes Kind optimal befähigen. Es geht um grundsätzlich gleichberechtigte Teilnahme an allem, was die Gesellschaft zu bieten hat - keineswegs nur um berufliche Qualifizierung. Dem wird heute kaum jemand mehr widersprechen, aber es fordert einen Preis: Früher war der Schulunterricht auf die jeweils zu erwartende Lebensperspektive begrenzt - im Hinblick etwa auf das Arbeiter-, Bauern- oder Bildungsbürgermilieu. Solange zu erwarten war, daß das Kind eines Arbeiters auch wieder Arbeiter wurde, ließ sich das Bildungsangebot didaktisch entsprechend beschränken, das war sogar sinnvoll,

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weil sonst die Schulbildung lebensfremd geworden wäre. Wenn sich aber erst in der Zukunft entscheidet, in welchem beruflichen und kulturellen Rahmen das Kind sich als Jugendlicher oder Erwachsener bewegen wird, entsteht eine eigentümliche Unschärfe. Das Bildungsangebot für alle Kinder muß dann nämlich relativ abstrakt entworfen werden, zumindest am Anfang gleich für den künftigen Philosophieprofessor wie für den ungelernten Arbeiter, für den künftigen Berufspolitiker wie für den politisch Uninteressierten, für den Techno-Fan wie für den Mozartliebhaber, weil ja niemand im voraus wissen kann, ob er später zu der einen oder anderen Gruppe zählen wird. Niemand kann schon aus zeitlichen Gründen an allen gesellschaftlichen Angeboten teilnehmen. Das wiederum führt zu der ständigen und auch immer wieder zu hörenden Sorge, man müsse vielleicht in der Schule etwas lernen, was man künftig nicht unmittelbar gebrauchen könne; das ist im Prinzip unvermeidlich. Diese Unsicherheit ist der Preis, der für eine demokratisierte Bildung zu zahlen ist.

Eng verbunden mit der Demokratisierung der Gesellschaft ist ihre Pluralisierung. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Parteien, Religionen, Weltanschauungen, Lebenskonzepte, Normen diesseits des Strafrechts treten in Wettbewerb miteinander und werden deshalb wählbar. Andererseits kann der einzelne Mensch nicht pluralistisch leben, er kann nicht zugleich Christ und Muslim, politisch rechts und links sein; dann könnte er keine Identität finden. Er muß sich zwar nicht ein für allemal, aber doch immer wieder entscheiden. Die Pädagogik hat bis in die Gegenwart hinein versucht, dieses Problem zu ignorieren. Sie setzte etwa darauf, daß die Erziehung auf allgemein Menschliches zielen solle, das dem Pluralismus vorgegeben sei. Oder sie ging von einer weltanschaulichen Geschlossenheit aus, wie sie sich etwa in den früheren Konfessionsschulen präsentierte; erst wenn das Kind auf diese Weise innerlich genügend gefestigt sei, sollte es sich auf die Wertwidersprüche der Erwachsenengesellschaft einlassen. Aber der Pluralismus erfaßt über die Werbung längst bereits die frühe Kindheit. Wie also kann ein Schulunterricht aussehen, der solche Wahlmöglichkeiten nicht der Willkür oder dem Zufall überläßt, sondern sie einerseits zwar nicht stellvertretend für den Schüler vorwegnimmt, andererseits aber fundierte sachliche Einsichten dafür bereitstellt? Damit ist die Frage nach der Werteerziehung unter den Bedingungen des Pluralismus aufgeworfen. Dafür ist offensichtlich gerade die Distanz des Bildungskonzeptes zum aktuellen Leben von großer Bedeutung, weil sie gleichsam eine Vogelperspektive schafft, von der aus die Optionen gesichtet, überprüft und erörtert werden können. Schulbildung ist eine Möglichkeit der Klärung, die von sich aus keine bestimmte Bindung propagiert. Wird der Unterricht in der Schule hingegen zu "lebensnah", geht diese produktive Distanz verloren und der Schüler wird gefangen von dem, was gerade in Mode ist, aber wie diese auch wieder vergeht. Auch in dieser Hinsicht gibt es keine plausible Alternative zum Bildungskonzept, alles andere, was versucht wurde, hat sich immer bemüht, mit erzieherischen Begründungen die Optionen wieder auszuschalten oder zumindest zu verringern. Aber der Lehrer hat keine Legitimation mehr, diese Wahlmöglichkeiten stellvertretend für seine Schüler einzuschränken oder gar zu entscheiden.

Eine Konsequenz von Demokratisierung und Pluralisierung ist die Notwendigkeit der frühen Individualisierung. Sie ist nicht das Resultat einer politischen oder pädagogischen Wohltat, sondern eine für den Einzelnen wie für die Gesellschaft notwendige Schlußfolgerung. Die immer größer gewordenen Optionsspielräume müssen auch ausgefüllt werden, und sie können nur gestaltet werden durch Entscheidungsleistungen der einzelnen Personen, auch schon der Schüler.

Der Beitrag des Bildungskonzeptes zur Individualisierung besteht in seiner eigentümlichen Beziehung von Sache und Person. Es geht bei der Bildung nicht um Stoffhuberei, nicht um die bloße Einverleibung einer bestimmten

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Wissensmenge. Wissen ist hier kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges Mittel, um sich zutreffende Vorstellungen über die Welt aufzubauen, damit man die gesellschaftlichen Partizipationschancen optimal nutzen kann. Auf die ständige Auseinandersetzung mit der Welt kommt es an, auf das immer wiederholte Abarbeiten der Differenz zwischen der bisherigen Erfahrung einerseits und den ihr widersprechenden, sich im biographischen Verlauf steigernden Ansprüchen der Bildungsstoffe andererseits. In diesem Spannungsverhältnis spielt sich der Bildungsprozeß ab. Individualisierung meint hier nicht bloße Subjektivität im Sinne des "ich meine, daß..." oder "ich hab' keinen Bock" oder "es muß Spaß machen". Sie gilt auch nicht als genetische Vorgabe, als sei sie eine herauszulockende innerpsychische Tatsache. Sie wird vielmehr als Aufgabe verstanden, das Nichtsubjektive, nämlich die außersubjektive Welt, mit ihren Regeln, Strukturen und Gesetzen ernst zu nehmen. Individualisierung erwächst als Resultat aus einem spezifischen geistigen Prozeß, nicht aus bloßer Wahrnehmung von Wahlfreiheit, von Optionen. Diese Maßgabe ist deshalb so bedeutsam für das Verständnis von Individualisierung, weil es diesem je individuellen Prozeß die Willkür nimmt, ihn statt dessen bindet an objektive Anforderungen und ihn so auch etwa mit sozialen und gesellschaftlichen Pflichten verschränken kann.

Bildend ist ein Unterricht also nur dann, wenn er sich nicht auf abfragbares Wissen beschränkt, so wie wir es etwa aus den Instruktionen der Fahrschule kennen, wo dies auch seinen guten Sinn hat. Vielmehr geht es darum, den Schülern eine Aneignung zu ermöglichen, die ihrer inneren Vorstellungswelt zugute kommt. Das Verbindungsglied zwischen der subjektiven Innenwelt und der objektiven Außenwelt ist die Fragehaltung. Indem der Schüler Fragen stellt, stellt er eine Verbindung zwischen seiner bisherigen Erfahrung und dem neuen Stoff her. Die Bedeutung dessen, was der Schüler im Unterricht lernt, kann er nur selbst herausfinden, deshalb wirkt ein und derselbe Unterricht unterschiedlich auf die einzelnen Schüler. Der Lehrer kann nur dazu anregen, den Schulstoff entsprechend aufzuarbeiten, indem er etwa zu Fragen und Diskussionen ermutigt. Bildungslernen ist also bereits von sich aus selbsttätiges Lernen, nur wo man sich von der Bildung als Leitmotiv des Schulunterrichts verabschiedet hat, kann man auf den Gedanken kommen, die Selbsttätigkeit des Schülers als eine besonders fortschrittliche Methode eigens zu inszenieren. Der bildende Unterricht muß also Zeit, Nachdenklichkeit und Gelassenheit zulassen. Daran mangelt es durchweg, weil die Lehrpläne von der Stoffülle her entworfen werden, als komme es nur darauf an, sich eine bestimmte Menge davon in einer bestimmten Stundenzahl einzuverleiben. Bildender Unterricht wird andererseits aber auch verfehlt, wenn die Orientierung am Schüler übertrieben wird, als könne nur er selbst herausfinden, was für ihn zu lernen wichtig sei. Vielfach gelten heute solche Unterrichtsmethoden als besonders modern, die dies begünstigen. Immer dann, wenn man nicht mehr so genau weiß, welche Inhalte der Unterricht vermitteln soll, werden Unterrichtsmethoden überbewertet; diese hängen aber in der Luft, wenn sie nicht im Dienst der sachlichen Aufklärung stehen. Unterrichtsmethoden sind nicht an und für sich eine Tugend, sondern auch eine Not, insofern sie über weite Strecken gerade deshalb nötig sind, weil den Schülern der direkte Zugang zu den Sachen etwa wegen ihres Alters noch nicht möglich ist. Für Grundschüler muß man sich viele abwechslungsreiche Methoden ausdenken, für Primaner schon erheblich weniger, erwachsene Fachleute kommen in der Regel mit Vortrag, Diskussion und Gespräch aus.

Diese subjektive Seite des Bildungsprozesses ist in der Vergangenheit auch deshalb sträflich vernachlässigt worden, weil sie sich nicht oder nur höchst unzuverlässig messen läßt.

Wenn es aber darum geht zu lernen, wie man sich - auf dem Hintergrund einer soliden Grundbildung - immer wieder das Wissen verschafft, das jeweils für die Bewältigung der Lebensaufgaben benötigt wird, dann muß man auch die dafür nötigen Techniken kennen und einüben. Wie verschafft man sich wo Informationen? Wie bereitet man eine solche Suche durch entsprechende Vorüberlegungen und Fragestellungen vor? Unter welchen Voraussetzungen ist gemeinsames Arbeiten erfolgreicher als Einzelarbeit? Das im Bildungskonzept ohnehin angelegte Prinzip der Selbsttätigkeit muß offenbar auch dazu führen, daß Teile des Unterrichts in problemorientierten Arbeitsgruppen stattfinden, in denen der Lehrer eher beratende Funktionen hat.

Schon von seinen Erfindern war der Bildungsprozeß als ein lebenslanger gedacht, für den die Schulzeit lediglich die Grundlagen legt. Das gilt nach wie vor, wie die moderne Berufsausbildung zeigt. Aber "lebenslanges Lernen" ist vielfach auch zu einem Schlagwort geworden, als ginge es dabei nur um Anpassung an wechselnde berufliche Erfor-

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dernisse. Aber gesellschaftliche Veränderungsprozesse und ihre Folgen durch ständiges Lernen immer wieder ins Bewußtsein zu nehmen, ist eine viel komplexere Aufgabe, weil sie nicht nur beruflicher Natur sind, sondern alle Seiten des menschlichen Lebens betreffen, also alle gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ebenso wie das Selbstverständnis des einzelnen. Für eine solche Anstrengung braucht man einen Standpunkt oberhalb der notwendigen Anpassungsprozesse, wie ihn das Bildungskonzept zu vermitteln vermag.

Worin besteht aber nun das Grundlegende, was die Allgemeinbildung vermitteln soll, damit das, was die einzelnen Lebenstätigkeiten benötigen, daran anknüpfen kann? Das ist die schwierigste Frage in diesem Zusammenhang, weil es dafür keine allgemein anerkannten Maßstäbe mehr gibt. Einigkeit herrscht darüber, daß die grundlegenden Kulturtechniken, wozu inzwischen auch der Umgang mit dem Computer gehört, so gut wie möglich einzuüben sind. Aber welche Inhalte muß die Schule beibringen?

Um durch Bildung erschlossen zu werden, muß die Welt - auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse über sie - in bearbeitbare Bereiche, nämlich in Schulfächer aufgeteilt werden. Die Schulfächer sind eine künstliche Konstruktion, kommen im Leben selbst nicht vor, was vielfach als Beweis für die Lebensfremdheit der Schule gilt. Aber sie sind die einzige Möglichkeit, die komplexe Wirklichkeit des Lebens denkend zu ordnen. Das schließt fachübergreifende Projekte nicht aus, aber auch sie bedürfen einer soliden fachlichen Fundierung, sonst können die Ergebnisse nicht systematisch geordnet werden. Die gegenwärtig oft zu vernehmende Polemik gegen die Schulfächer ist deshalb im Kern bildungsfeindlich. Die Schulfächer müssen insgesamt die wichtigsten Aspekte der Realität abdecken - Natur, Kultur, Kunst und Politik. Sie unterscheiden sich nicht nur durch ein bestimmtes Wissen, sondern auch durch spezifische Methoden, mit denen es gewonnen wird. Das Lebendige verhält sich anders als die tote Materie, Biologie ist etwas anderes als Physik. Der bildende Unterricht bedarf also eines Kanons von Fächern, Stoffen und Methoden - was zusätzliche Wahlgebiete nicht ausschließt. Für diesen Kanon müssen mindestens folgende Maßstäbe gelten:

1. Er muß die gesellschaftliche Partizipation im ganzen zum Ziel haben, darf also nicht allein unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Qualifizierung gesehen werden; denn eine solche Einseitigkeit kommt - wie schon Humboldt wußte - der beruflichen Flexibilität gerade nicht zugute. Was weiß jemand schon über seinen Beruf, wenn er nur davon etwas weiß? Zur Bildung gehören demnach auch solche Fächer und Stoffe, die man nicht besonders mag; sonst werden die Teilhabemöglichkeiten beschränkt - abgesehen davon, daß kein Schüler genau wissen kann, was ihn in einigen Jahren interessieren oder herausfordern wird.

2. Die Fächer und Stoffe müssen beschränkt werden auf Grundlagen, von denen aus Weiterbildung möglich ist. Was muß an Grundlagen bekannt sein, um je nach Interesse oder gesellschaftlicher Notwendigkeit erfolgreich an Weiterbildungsmaßnahmen in den Massenmedien oder auf dem Bildungsmarkt teilnehmen zu können? Unter diesem Gesichtspunkt könnte der Schulstoff vermutlich erheblich zusammengestrichen werden. Das Prinzip der Weiterbildung gilt aber auch für die Schule selbst: Was man in der Grundschule lernt, muß in den folgenden Schulstufen sinnvoll weitergeführt werden können. Der Schüler muß im Unterricht seiner Fächer das Gefühl haben können, daß das, was er heute lernt, auf dem beruht, was er gestern erfahren hat, und daß morgen wieder etwas Neues darauf aufbaut. Ohne einen Kanon von Fächern und Stoffen wäre eine solche Erfahrung nicht möglich, würde alles Gelernte zusammenhanglos bleiben - heute dies, morgen jenes.

3. Zu berücksichtigen ist die moderne Informationstechnologie - die oft geforderten Computer im Klassenzimmer. Sie macht das Lernen einerseits leichter, insofern etwa Informationen, die jederzeit leicht abgerufen werden können, nicht mehr auswendig gelernt werden müssen. Andererseits wird das Lernen aber auch schwieriger, nämlich abstrakter, wie jeder weiß, der mit den modernen Medien arbeitet. Prinzipien, Regeln, Begriffe, Methoden, Strukturen müssen in den Vordergrund des Schulunterrichts treten, sonst bleiben die Schüler der Informationsfülle hilflos ausgeliefert. Der Computer erhöht nicht die Anschaulichkeit, sondern vermindert sie.

4. Jedes Schulfach muß sich hinsichtlich seiner Themen und Methoden deutlich von den anderen unterscheiden und sich den Schülern als in sich vernünftig bearbeitbarer Aspekt der Wirklichkeit darstellen können: Was muß man zunächst verstanden haben, um dann folgerichtig weiter fortschreiten zu können? Wenn mehrere Fächer zu einem neuen zusammengelegt werden, muß auch das neue eine innere logische Struktur aufweisen und von fachlich kompetenten Lehrern unterrichtet werden. Es genügt nicht, etwa Geschichte, Sozialkunde und Erdkunde einfach zusammenzulegen und dann mal etwas aus dem einen, mal etwas aus dem anderen Fach zu unterrichten, wie es häufig geschieht.

Bildung als lebenslanger Lernprozeß ist eine Art Stufenleiter, deren oberste Sprosse nach aller Erfahrung nicht jeder erreichen kann oder will. Das widerspricht nicht dem demokratischen Gebot der höchstmöglichen Förderung aller Kinder. Vielmehr ergeben sich daraus lediglich Abstufungen, wie sie sich etwa in den unterschiedlichen Schulabschlüssen ausdrücken. Die höchste Form der durch Allgemeinbildung zu erreichenden gesellschaftlichen Teilhabe ist die Fähigkeit, am wissenschaftlich fundierten Diskurs der Gesellschaft teilzunehmen, wie sie in etwa durch das Abitur ausgedrückt ist. Schulabschlüsse, die darunter liegen, begrenzen gewiß auch die gesellschaftlichen Partizipationschancen, sofern deren Nutzung auf Bildung beruht. Deshalb sollten alle Schüler die Chancen des Bildungssystems optimal nutzen.

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198. Erziehung in der Schule. Möglichkeiten und Grenzen (1999)

In: Leschinsky, Achim/Gruner, Petra/Kluchert, Gerhard (Hrsg.): Die Schule als moralische Anstalt. Erziehung in der Schule: Allgemeines und der "Fall DDR". Weinheim 1999, S. 72-79

Thesen

1. Seit geraumer Zeit wird die Schule mit Erziehungszielen geradezu überschwemmt. Es gibt inzwischen kaum ein gesellschaftliches Problem mehr, das nicht lauthals der Schule zur Lösung aufgetischt wird. Betrifft das Problem in erster Linie die Erwachsenen, so soll die Schule langfristig vorbeugen, betrifft es die Kinder und Jugendlichen selbst, soll sie möglichst schnell und effektiv intervenieren. Jedes halbwegs für wichtig gehaltene politisch-gesellschaftliche Problem wird zumindest auch als pädagogisches formuliert und damit zur Aufgabe der Schule erklärt. Derartige Erziehungsziele werden nicht nur ständig von der Öffentlichkeit geltend gemacht, sie finden sich auch in der reformpädagogisch orientierten schulpädagogischen Literatur und bereits in Schulgesetzen und Lehrplänen.

2. Der Begriff Erziehung, mit dem heute alle möglichen Aufgaben der Schule zugemutet werden, setzt jedoch immer einen Bezug zu einem Kollektiv voraus, ist also im Kern ein soziales Phänomen, kein psychologisches. Zur Individualität kann man nicht erziehen; das Individuum findet seine Form in tätiger Auseinandersetzung mit äußeren Ansprüchen, auch mit erzieherischen. Erziehung zielt immer auf etwas, was ein Individuum mit anderen gemeinsam haben soll. Man darf sich da nicht durch die reformpädagogische Tradition täuschen lassen, die immer die Individualität des Kindes gepriesen hat: In Wahrheit wollten auch die Reformpädagogen Gefolgschaft für ihre Ziele, denen sie eine für das Kollektiv der Schule, des Volkes usw. erhebliche Bedeutung beimaßen und auch heute beimessen. In Wahrheit geht es ihnen lediglich um einen Wechsel der kollektiven Verbindlichkeit bzw. der Bezugspunkte dafür.

Man darf sich dabei auch nicht durch den Begriff "Selbsterziehung" täuschen lassen: Er meint entweder die Verinnerlichung sozial geforderter Einstellungen und Verhaltensweisen, oder er meint die subjektive Ausfüllung dessen, was die sozialen Organisationen als Meinungs- und Verhaltensspielraum freigelassen haben. In diesem letzteren Sinne ist "Erziehung" im Begriff der "Selbsterziehung" nur noch eine Metapher.

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Eine wichtige Frage im Zusammenhang unseres Themas ist also, woher heute entsprechende kollektive Selbstverständlichkeiten kommen sollen, worauf sie sich z.B. in der Schule stützen können. In Frage kämen dafür die Lehrer, die Eltern und der Staat.

3. Der Pluralismus hat längst auch die Lehrerkollegien ergriffen, die in vielen pädagogischen Fragen nicht mehr einer Meinung sind und angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus auch nicht mehr sein können. Wenn es hoch kommt, einigt sich ein Kollegium über Grundsätze des gemeinsamen Umgangs mit Schülern und deren Eltern. Aber das kann nur ein wenn auch wichtiger Minimalkonsens sein. Im übrigen vertreten die Lehrer jeweils einzeln ihre persönlichen Auffassungen in pädagogisch relevanten Fragen.

Hinzu kommt, daß im Unterschied zu früheren Zeiten die Schule sich von ihren jeweiligen Milieus (evangelisch, katholisch, bildungsbürgerlich, sozialistisch) emanzipieren mußte. "Erziehung" durch die Schule war früher im wesentlichen Erziehung zu demjenigen Milieu, in dessen Rahmen sie sich verstand. Im Pluralismus ist jedoch dieser kollektive Bezug weitgehend verschwunden, die Schularbeit befindet sich nicht mehr in Übereinstimmung zur übrigen Sozialisation, sie wird vielmehr zu einem spezifischen Instrument im Konzert der gesamten Sozialisation.

4. Die Elternschaft repräsentiert ebenfalls kein kollektives Milieu mehr, auf das sich ein schulischer Erziehungswille generell stützen könnte. Vielleicht ist ein Rest davon noch in privaten konfessionellen Schulen zu finden. Aber sonst stehen die Eltern der Schule im allgemeinen einzeln gegenüber. Wenn es hier etwas Kollektives gibt, dann handelt es sich meist um von den Massenmedien transportierte pädagogische Moden, denen aber keine soziale Wirklichkeit und vor allem auch keine Verbindlichkeit im Sinne der alten Milieus mehr entspricht.

5. Der Staat kann in seinen Schulen nicht erziehen, wenn er andererseits diesseits der Legalität alle wesentlichen normativen Entscheidungen freigegeben hat und deswegen den Schülern nicht mehr vorschreiben kann, wie sie sich in Alltagsfragen zu verhalten haben. In der Öffentlichkeit ist inzwischen alles erlaubt, was nicht per Gesetz verboten ist. (Zu meiner Schulzeit konnte die Schule noch Rechenschaft über mein außerschulisches Freizeitverhalten verlangen, das war in der Schulordnung so vorgesehen und wurde im Konfliktfalle auch geltend gemacht, und dies weit vor einem Gesetzesverstoß; von einem Schüler wurde damals ein "sittlich einwandfreies" Verhalten in der Öffentlichkeit "selbstver-

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ständlich" gefordert, da wartete man nicht erst darauf, daß ein Gesetz übertreten wurde.

6. Die deutsche Pädagogik hat bis heute die Konsequenzen des politischen und normativen Pluralismus nicht hinreichend verstanden. Welche Regeln die Schule auch geltend machen will oder soll, sie sind in unserer pluralistischen Gesellschaft nur noch von begrenztem Wert. Die Schule ist nur noch ein Sozialisationsfaktor unter mehreren anderen, und wie das, was dort als Verhalten eingefordert wird, in den übrigen Lebensbereichen der Schüler zur Geltung kommt, steht zunächst einmal dahin und hängt davon ab, was in diesen anderen Bereichen als erfolgreiches Sozialverhalten erwartet und honoriert wird. Im Rahmen ihrer pluralistischen Sozialisation müssen die Schüler lernen, sich an unterschiedlichen sozialen Orten unterschiedlich je nach den dort geltenden Regeln zu verhalten - anders in der Diskothek als in der Schule, anders im Kaufhaus als in der Kirche, in der Familie anders als unter Gleichaltrigen. Derartige soziale Differenzierungen muß die Schule zur Geltung bringen, das Leitmotiv des "sozialen Lernens" bringt aber eine eher gegenteilige Erwartung zum Ausdruck. So darf der übliche "Jugendjargon" nicht in falsch verstandener Anbiederung generell - in Ausnahmen kann dies durchaus anschaulich sein - als Unterrichtssprache zugelassen werden. Sonst verhält sich die Schule nicht etwa "kindgerecht", sondern verwahrlosend und betrügt die Schüler um eine wichtige Sozialerfahrung: Schule ist eben Schule, keine Diskothek und kein Fußballplatz, und was als Schimpfkanonade während eines Konfliktes in der großen Pause vielleicht noch toleriert werden kann, ist während des Unterrichts fehl am Platze.

7. Bei den in solchen Fällen gebotenen pädagogischen Interventionen handelt es sich nicht um die Durchsetzung eines allgemeinen Tugendkatalogs, sondern um die Durchsetzung eines bestimmten Verhaltens. Die Öffentlichkeit kann weder von Erwachsenen noch von Kindern eine bestimmte Gesinnung oder eine bestimmte Charakterstruktur erwarten, und beides kann man auch in Schulen nicht überprüfbar anerziehen. Niemand muß z.B. Ausländer oder einen bestimmten Frauen- bzw. Männertyp mögen, aber verhalten muß sich jeder ihnen gegenüber höflich und zivilisiert und erst recht im Rahmen der Gesetze.

8. Der gesellschaftliche Pluralismus, der in den unterschiedlichen Verhaltenserwartungen an unterschiedlichen sozialen Orten zum Ausdruck kommt, macht dem überlieferten Verständnis von Schule nicht wenig zu schaffen. Er führt

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nämlich dazu, daß das, was die Kinder für ihr gegenwärtiges und künftiges Leben insgesamt brauchen, nicht mehr an einem Ort - auch nicht in der Schule - umfassend gelernt werden kann, so daß es von daher auf alle anderen sozialen Orte einfach übertragbar wäre. In der Schule kann man z.B. nicht lernen, wie man sich erfolgreich in einer Diskothek verhält. Die unterschiedlichen Einflüsse, denen die Kinder ausgesetzt sind, gehorchen nämlich verschiedenen Maximen, die miteinander in Konkurrenz treten und die jeweils eigentümliche Maßstäbe zur Geltung bringen. Die Maßstäbe der schulischen Aufklärung sind nicht die des Journalismus, des Freizeitmarktes oder der Fernsehunterhaltung und umgekehrt. Die besondere Schwierigkeit des heutigen Aufwachsens besteht im wesentlichen darin, daß die Kinder diese widersprüchlichen Erwartungen, die ja nicht zuletzt auch Wertwidersprüche zum Ausdruck bringen, produktiv in ihre Persönlichkeit zu integrieren und für ihre Lebensplanung zu nutzen lernen. Daraus folgt aber auch, daß jede dieser Instanzen ihre eigenen Wertmaßstäbe zur Geltung bringen muß: die Familie ebenso wie in anderer Weise die Schule. Beide erziehen zunächst einmal für sich selbst, für ihren eigenen Sinn und Zweck. Sie erziehen innerhalb ihres sozialen Rahmens, um einen sozialen Zusammenhang zu erhalten. Insofern kann man z.B. nicht einfach sagen, die Familie erziehe heute nicht mehr gut genug; entweder sind die fraglichen Familien bereits in sozialer Auflösung begriffen, oder sie erziehen für ihren eigenen Zweck immer noch angemessen. Daß diese Erziehung nicht mehr wie früher dem Verhalten in der Schule zugute kommt, steht dabei auf einem anderen Blatt und zeigt nur, daß die Schule eben für ihre Zwecke ihrerseits erzieherische Ansprüche geltend machen muß, mehr folgt daraus zunächst einmal nicht.

9. Damit ist bereits ausgedrückt, daß die Schule als Institution notwendigerweise erzieherische Implikationen hat. Um diese herauszufinden, ist es aber notwendig, den Kern ihrer Aufgabe zu bestimmen. Ich sehe ihn in der Unterrichtung der Schüler; diese These habe ich an anderer Stelle ausführlicher begründet (Wozu ist die Schule da? Stuttgart 1996) und muß sie hier aus Zeitgründen als Prämisse stehen lassen. Mit dem schulischen Unterricht ist aber notwendigerweise die Aufgabe verbunden, die in der Öffentlichkeit üblichen Verhaltensweisen einzuüben und einzufordern. Die Schule als Institution muß darauf achten, daß sie ihren von der Gesellschaft vorgegebenen und von den Steuerzahlern ermöglichten Zweck auch verwirklichen kann. Dafür muß die Schule ihre Macht zur Geltung bringen, die sie als Institution zur Verfügung hat. Es gibt keine machtfreien sozialen Gebilde, die Frage ist immer nur, wessen Macht sich mit welcher Legitimation Geltung verschafft - ob z.B. die des Lehrers als Repräsentant seiner Institution oder die der störenden Schüler. Die Macht der Institution ist eine politische Größe, keine pädagogische, sie taugt also nicht zur Lern-

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hilfe im Unterricht; aber sie ermöglicht überhaupt erst einen vernünftigen Unterricht, indem sie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen durchsetzt. Die dafür zur Verfügung stehende Macht erwächst also auch nicht aus der unmittelbaren menschlichen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, ist keine Sache der mehr oder weniger gelungenen "Beziehungskiste" zwischen ihnen, wie vielfach angenommen wird, sondern ist dieser Beziehung vorgegeben. Diese grundsätzliche Begründung schließt natürlich nicht aus, daß Schulordnungen und die Sanktionen zu ihrer Einhaltung zwischen Lehrern, Eltern und Schülern konkret vereinbart werden können. Aber dafür gibt es keinen beliebigen Spielraum - je nach Zufälligkeit der jeweils Beteiligten und deren Beschlüsse.

10. Als Institution ist die Schule im Unterschied zur Familie Teil des öffentlichen Lebens, und das Kind tritt mit dem Schulbeginn in dieses öffentliche Leben ein. Daraus folgt unter anderem, daß der Schulunterricht nicht einfach die Fortsetzung des elterlichen Erziehungswillens mit anderen Mitteln sein kann. Im privaten Rahmen der Familie dürfen z.B. Vorurteile aller möglichen Art, etwa rassistische oder sexistische, vertreten werden, jedenfalls kann das niemand verhindern; die Schule dagegen ist universellen Maßstäben wie Toleranz und Wahrheit verpflichtet, also solchen, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft im ganzen benötigt werden. Als Institution muß die Schule also in ihren Mauern die Regeln des öffentlichen Umgangs geltend machen und dazu gehört auch die zivile Art und Weise, in der dort miteinander gesprochen wird. In diesem Sinne kann und muß die Schule immer noch "erziehen", indem sie nämlich die für die Abhaltung des Unterrichts wie für den öffentlichen Umgang der Menschen gültigen Regeln - die ja weitgehend identisch sind - zur Geltung bringt und nicht illusionär darauf wartet, daß diese Regeln irgendwann aus der kindlichen Innerlichkeit von selbst entstehen; diese Hoffnung beruht auf einem politischen Mißverständnis der Sache, denn soziale Verhaltensweisen lernen wir Menschen in erster Linie dadurch, daß wir in vorgegebene Ordnungen hineinwachsen, nicht dadurch, daß wir sie immer wieder neu erfinden.

11. Faßt man die bisherigen Überlegungen zusammen, dann muß der Ruf nach "mehr Erziehung" in der Schule als einigermaßen antiquiert erscheinen; er wird zu einem historischen Zeitpunkt laut, an dem die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür weitgehend entschwunden sind. Es ergibt also keinen Sinn mehr, einfach eine Liste des erzieherisch Wünschbaren aufzustellen und der Schule zu sagen, sie solle das alles nun auch verwirklichen. Und wie immer, wenn einer Idee die Wirklichkeit davongelaufen ist, für die sie einmal tragfähig war, entsteht daraus fast folgerichtig eine Ideologie. Ein gro-

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ßer Teil dessen, was sich heute schulpädagogisch fortschrittlich gibt, ist in diesem Sinne tatsächlich ideologisch geworden. Ich will das kurz an einigen Gefahren erläutern, die sich daraus ergeben.

- Unter dem Postulat eines unreflektierten Erziehungsanspruchs droht die eigentliche unterrichtliche Aufgabe zugunsten anderer, für erzieherisch wichtig gehaltener, immer mehr zurückgedrängt zu werden. Ein großer Teil dessen, was schulpädagogisch "in" ist, erklärt sich von daher: "Schülerorientierung", "Lebensweltorientierung", "soziale Integration", "soziales Lernen" und anderes mehr. Solche erzieherischen Vorgaben werden dann auf den Unterricht übertragen, so daß nur noch das gelehrt wird, was diesem Ziel dient; die objektive Wirklichkeit, die der Unterricht ja aufklären soll, wird von daher sortiert und instrumentalisiert. Das wird erkennbar in den sogenannten "Lernzielen", die der Unterricht erreichen soll. Derartige erzieherische Ansprüche erweisen sich darüber hinaus als bodenlos, weil der Unterricht von immer neuen erzieherisch gemeinten Absichten geradezu überschwemmt wird; über die Schiene "Erziehung" werden Ansinnen an die Schule herangetragen, die im Prinzip grenzenlos und auch allen möglichen Moden des Zeitgeistes ausgeliefert sind.

- Über den Begriff der "Erziehung" werden, wenn man genauer hinsieht, im wesentlichen pädagogisch kaschierte ideologische Weltsichten transportiert, die sich gegenüber den realen gesellschaftlichen Bezügen verselbständigen. Deren wesentliche Stichworte sind "Ganzheitlichkeit" und "Integration". Vertrat die Schule früher im wesentlichen die Ideologie des ihr zugehörigen Milieus, so produziert sie nun eine eigene, und die ist gekennzeichnet durch einen anti-intellektuellen, anti-kognitiven und insofern auch gegenaufklärerischen Affekt, ferner durch Emotionalisierung und durch Überbetonen menschlicher Nähebeziehungen - alles Momente, die den Unterricht immer mehr entwerten. Eine Variante davon ist die vorgängige Moralisierung von Sachverhalten, die schon bis in manche Richtlinien vorgedrungen ist. Die Moralisierung der Welt tritt an die Stelle ihrer Aufklärung.

- Unter dem Stichwort der "Sozialpädagogisierung" soll die Schule pädagogische Aufgaben der Kompensation oder gar der Nachsozialisierung übernehmen. Schwierige, lernschwache, geistig behinderte Kinder sollen in den Mittelpunkt der erzieherischen Arbeit rücken. Die Schule soll so zur umfassenden "Lebensschule" werden. Aber für derartige, an sich ungemein wichtige pädagogische Aufgaben ist die Schule nicht qualifiziert, rechtlich nicht verfaßt und auch nicht ausgestattet. Auf diese Weise wird die pädagogische Arbeitsteilung zwischen Familie, Schule und Jugendhilfe unterlaufen, anstatt zu einer produktiven, dem Wohl gerade des schwie-

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rigen und lernschwachen Kindes dienenden Zusammenarbeit zu führen. Daß Schule und Jugendhilfe rechtlich unterschiedlich geregelt sind, ist bedeutsam für unsere demokratische Verfassung, nämlich ein wesentliches Moment der Gewaltenteilung. Wenn man das ignoriert, droht die Schule zu einem pädagogischen Monopolisten zu werden, zu einem pädagogischen Leviathan.

12. Ich sehe also die erzieherischen Möglichkeiten der Schule eingeschränkt unter vier Gesichtspunkten:

- Der Unterricht selbst hat eine erzieherische Implikation, die allerdings im Einzelfalle schwer zu kalkulieren und schon gar nicht planbar ist; denn er beschäftigt die Vorstellungskraft der Schüler und stattet sie mit formalen geistigen Fähigkeiten aus. Indem die Schüler sich in der Schule gerade nicht mit sich selbst bzw. ihrer aktuellen Befindlichkeit befassen, sondern mit geistigen Ansprüchen, die die Stoffe und damit auch die natürliche und kulturelle Wirklichkeit an sie stellen, werden sie z.B. auch mit Werten konfrontiert, an denen sie sich abarbeiten können. Aber das Ergebnis dieser erzieherischen Implikation der Bildung ist nur dem einzelnen Schüler verfügbar.

Zudem fordert der Unterricht wichtige soziale Verhaltensweisen heraus: Einfühlungsvermögen, Toleranz, Zuhören können u.a. mehr. Diese Verhaltensweisen bilden zugleich den Kern des in der Öffentlichkeit gebotenen Verhaltensrepertoirs. Der gelingende Unterricht ist so gesehen eine optimale Form des sozialen Lernens.

- Nicht zu unterschätzen ist die erzieherische Wirkung, die immer noch von der Persönlichkeit der Lehrerinnen und Lehrer ausgeht: Wie sie mit Schülern kommunizieren und sich Konflikten stellen, wie sie sich fachlich und didaktisch präsentieren, wie sie mit dem geistigen Gehalt ihrer Stoffe selbst umgehen, wie sie zwischen persönlicher Meinung und sachlicher Information trennen usw. Nach wie vor können von Lehrerinnen und Lehrern bedeutsame Vorbildwirkungen ausgehen, auch wenn das nicht immer offensichtlich ist. Aber auch diese erzieherische Wirkung ist nicht generell planbar, sondern verbleibt im psychischen Eigentum des Schülers.

- Die erwähnte erzieherische Wirkung der institutionellen Regeln der Schule kann jedoch von den Lehrern eingefordert werden, sie unterliegen nicht der Disposition des einzelnen Schülers. Diese Regeln sind im Grunde die einzige kollektive Vorgabe, die noch an den traditionellen Begriff von Erziehung erinnert. Die Schule erzieht für sich selbst, damit ihr Zweck, das Unterrichten, durchgeführt werden kann. Indem sie dies tut, lehrt sie zu-

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gleich die Regeln des vernünftigen und erfolgreichen öffentlichen Verhaltens.

- Erzieherische Wirkung kann nicht zuletzt auch von der Art und Weise ausgehen, in der das soziale Miteinander in der Schule gestaltet wird. Dabei ist nicht nur an Stil und Ton des täglichen Umgangs und an die Möglichkeiten der formellen Mitbestimmung der Schüler zu denken, sondern auch an das, was man gemeinhin "Schulleben" nennt, also z.B. künstlerische Aufführungen, Feste und Feiern usw. Es widerspricht der Aufgabe der Schule ja nicht, wenn die Schüler sich dort wohl und sozial akzeptiert fühlen. Aber auch hier darf man die begrenzten Möglichkeiten nicht überziehen, die im Zweck der Schule beschlossen liegen. Die Umkehrung kann nicht gelten, daß nämlich erzieherischen Zielen Priorität gewährt wird, an der sich dann die Unterrichtsstoffe zu orientieren haben. Wenn dies geschieht und die erzieherischen Einwirkungen sich nicht um die eigentliche Aufgabe der Schule: das Unterrichten gruppieren, wird alles konfus, willkürlich, zufällig und letzten Endes orientierungslos.

13. Ich plädiere mit meinen Thesen für die Emanzipation der Bildung von der Erziehung: Bildung im Sinne der Aufklärung der Subjekte über ihre Welt und damit auch über ihre Stellung darin ist ein pädagogischer Selbstzweck, der keiner weiteren erzieherischen Rechtfertigung bedarf. Erziehung dagegen bedarf einer anderen Begründung, die sich aus dem Selbstverständnis der jeweiligen sozialen Organisationen ergibt.

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199.  Was heißt: Wissenschaftliche Ausbildung für pädagogische Berufe? (1999)

In: Neue Sammlung, H. 1/2000, S. 83-90

Leicht überarbeitete Fassung eines am 8.2.99 aus Anlass der Schließung der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen gehalten Vortrags. Zuerst veröffentlicht in: Abschied von einer Fakultät. Ansprachen auf der akademischen Veranstaltung aus Anlass der Auflösung der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät am 8. Februar 1999. (Göttinger Universitätsreden 93) Göttingen 1999, S. 37-48)
 
 

In dieser Erziehungswissenschaftlichen Fakultät wurden, seit sie als Pädagogische Hochschule begann, Grund- und Hauptschullehrer, Realschullehrer und Diplompädagogen mit den Studienrichtungen Schule, Freizeitpädagogik und Familienpädagogik ausgebildet. Obwohl alle diese Studiengänge berufsbezogen konzipiert waren, gab es dabei einen deutlichen Einschnitt: Erst mit der Einführung der Diplomstudiengänge und der damit verbundenen Gründung der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, deren Abteilung wir wurden, kamen die Ansprüche einer wissenschaftlichen Ausbildung auch formell zur Geltung. Dieser Wandel erfolgte nicht ohne Brüche und Widersprüche und möglicherweise ist er bis zum Schluß nicht endgültig vollzogen worden. Gerade deshalb ist es von Interesse, der Frage nachzugehen, was eigentlich eine wissenschaftliche Berufsausbildung für Pädagogen im Unterschied zu anderen Konzepten ausmacht. Darüber ist auch innerhalb unseres Hauses viel diskutiert worden, so daß es angebracht erscheint, darüber an dieser Stelle - gleichsam zum Abschied - noch einmal einige Überlegungen anzustellen.

Üblicherweise wird im Bildungswesen zwischen einer allgemeinbildenden, also breit angelegten Phase einerseits, und einer sich daran anschließenden berufsspezifischen Ausbildung andererseits unterschieden, in der es um eine begrenzte, auf einen Beruf bzw. eine Berufsgruppe bezogene Spezialisierung geht. Diese Aufteilung ist unterhalb des Universitätsstudiums - also etwa im Bereich des "Dualen Systems" oder des Fachschulwesens - nie umstritten gewesen, wohl aber im Hochschulbereich - zumindest bei den Geisteswissenschaften. Die akademische Ausbildung war hier lange Zeit keine berufsspezifische - außer vielleicht für den Forschernachwuchs - , sondern eine allgemeine; man studierte wissenschaftliche Fächer in deren eigener Logik - wie sie von den Professoren verstanden wurde - , und die Absolventen mußten anschließend zusehen, welche Berufstätigkeit sich ihnen damit eröffnete. Nicht einmal das Gymnasiallehrerstudium war da eine Ausnahme - jedenfalls was das Studium der Unterrichtsfächer anging. Geisteswissenschaftliche Berufsausbildung war im Grunde vertiefende Fortsetzung gymnasialer Allgemeinbildung mit reduzierter Fächerzahl. Aus vielerlei Gründen, die ich hier nicht erörtern kann, geriet dieses Modell

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spätestens seit Mitte der 60er Jahre in die Kritik. Im Gegenmodell des pädagogischen Diplomstudiums und der nun auch entsprechend modifizierten Ausbildung der Grund- und Hauptschullehrer schien eine Korrektur in Sicht, nämlich eine spezifische wissenschaftliche Ausbildung für pädagogische Berufe. Die 70er Jahre waren geradezu besessen von der Erwartung, mit durchdachten berufsspezifischen Studiengängen und Studienordnungen der Misere überfüllter Hochschulen, langer Studienzeiten und eines ungeordneten Lehrbetriebs effektiv abhelfen zu können. Die Hoffnung jedoch, durch konsequente Berufsorientierung der Studien eine produktive, moderne Alternative zu jener traditionellen akademischen Ausbildung zu schaffen, hat sich - das kann man heute sagen - nicht erfüllt, auch wenn das viele Bildungspolitiker immer noch nicht wahrhaben wollen. Nichts spricht dafür, daß das Studieren im Hinblick auf pädagogische Berufe heute durchsichtiger, rationaler und geplanter erfolge als zu meiner Studienzeit in den 50er Jahren. Dafür gibt es viele Gründe, die sich gegenseitig verstärkt haben, aber ich kann hier nur einen davon ein wenig beleuchten, nämlich den, der aus den immanenten Schwierigkeiten der Berufsorientierung selbst erwächst.

Das Alltagsverständnis geht davon aus, daß man im Rahmen einer Berufsausbildung das lernt, was man für einen bestimmten Beruf braucht. Dies erscheint so selbstverständlich, daß die nichtfachliche Öffentlichkeit sich immer wieder wundert, warum das nicht auch an den Universitäten überall längst geschieht. Dabei wird jedoch übersehen, daß es gar nicht so einfach ist, die Inhalte einer solchen Ausbildung genauer zu bestimmen. Das zeigt die Geschichte der Berufsausbildung und die gegenwärtige Diskussion darüber auf allen Berufsebenen - von der handwerklichen bis zur akademischen. Wer entsprechende Überlegungen - wie auch wir hier im Hause - einmal anstellen mußte, machte schnell die Erfahrung, daß man dabei leicht zu endlosen Listen von abgeblich notwendigen oder zumindest erwünschten Kenntnissen und Fähigkeiten gelangt, deren Umfang schnell unrealistisch wird und die von sich aus keine didaktische Struktur aufweisen. Jeder, der etwas davon zu verstehen glaubt, trägt sein Scherflein dazu bei, nicht ohne gelegentlich eigene Interessen dabei im Sinn zu haben. Wenn dann noch jemand die Gegenfrage stellt, was man für einen pädagogischen Beruf eigentlich nicht wissen müsse, ob es denn etwa für einen Lehrer schädlich sei, auch ein subtiler Kenner des Aristoteles oder des Minnesangs zu sein, breitet sich schnell Irritation aus. So wenig man sagen kann, was unbedingt dazugehört, kann man sagen, was auf jeden Fall entbehrlich ist. Ähnliche Erfahrungen mußte man auch im klassischen Bereich der Berufsausbildung - im Dualen System - machen, wo es sich seit langem als unzweckmäßig herausgestellt hat, das Arbeitsleben in hunderte von Ausbildungsberufen zu zergliedern, die teilweise schon wieder verschwunden sind, wenn die Ausbildung beendet ist. Der Ausweg, nach "Schlüsselqualifikationen" zu fahnden, die - analog dem Konzept der Allgemeinbildung - komprimierte Grundlagen für möglichst viele Berufe abgeben könnten, erwies sich als so abstrakt und formal, daß die dabei ermittelten generellen Qualifikationen im Grunde für den Universitätsprofessor ebenso gelten können wie für den Facharbeiter.

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Für die Schwierigkeit, Berufsqualifikationen hinreichend präzise zu ermitteln und sie dann in Lehrziele umzusetzen, gibt es im wesentlichen drei Gründe:

1. Man kann nicht genau genug ermitteln, was für einen bestimmten Beruf gebraucht wird und was nicht, weil die in Aussicht stehenden Tätigkeiten und deren soziale und psychische Implikationen dafür zu komplex sind.

2. Alles, was an berufsspezifischen Inhalten ermittelt wird, ist für sich genommen wertlos, wenn es sich nicht auf allgemeine, gerade berufsunspezifische Fähigkeiten und Kenntnisse stützen kann. Erfolgreiches Studieren etwa setzt "Studierfähigkeit" voraus, also eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten, die mit dem besonderen Studiengang noch gar nichts zu tun haben. Was dazu zu rechnen sei, wird etwa im Kreise der Kultusminister nicht ohne Grund jedesmal zum Streitpunkt mit unbefriedigendem Ergebnis. Oder um ein Beispiel aus der Wirtschaft zu nennen: Vieles, was man sich für eine Lehrlingsausbildung ausgedacht hat, ist etwa dann erfolglos, wenn die Hauptschulabgänger nicht richtig lesen und schreiben und einen Arbeitstag psychisch nicht durchhalten können.

3. Wegen der teilweise rasanten Veränderungen in allen Berufsbereichen kann heute jede Berufsausbildung nur mit einer gewissen Distanz zu den jeweils aktuellen Tätigkeitsansprüchen konzipiert werden. Sie muß die Notwendigkeit des Anlernens und Umlernens also von vornherein in sich aufnehmen. Aber wie kann man in der Planung das eine vom anderen, nämlich das Grundlegende vom Veränderlichen, unterscheiden?

Eine brauchbare berufsorientierte Ausbildung zu entwickeln, ist also in jedem Falle ein nicht leicht zu lösendes Problem. Als Faustregel kann gelten, daß die Schwierigkeiten um so geringer werden, je allgemeiner der Auszubildende sich vorher hat bilden können. Hat nun die Verwissenschaftlichung diese Probleme für die pädagogische Berufsausbildung lösen können, wie viele erwartet haben? Ich will im folgenden zeigen, daß auf den ersten Blick alles dagegen spricht, daß eine positive Antwort vielmehr nur zu finden ist, wenn man Berufsorientierung nicht vordergründig im Sinne etwa des erwähnten Alltagsverständnisses begreift. Um dies zu erkennen, ist zunächst erforderlich, mindestens zwei Merkmale eines wissenschaftlichen Studiums kurz in Erinnerung zu rufen.

1. Eine wissenschaftliche Ausbildung ist zu unterscheiden von einer lediglich wissenschaftsorientierten. Wissenschaftsorientiert ist heute fast jede Berufsausbildung und auch die Allgemeinbildung soll es nach einer Formulierung des Bildungsrates sein; sie beruht darauf, daß wissenschaftliche Erkenntnisse zwar verwendet werden, aber selektiv in einem instrumentellen Zweckzusammenhang, der selbst nicht wissenschaftlich überprüft wird. Von dieser Art waren auch Sprangers Vorstellungen über die alte preußische Pädagogische Akademie, die er sehr bewußt in Distanz zum Universitätsstudium entwickelte. Wie bedenklich eine solche Einschränkung jedoch werden kann, zeigt sich vielfach in den sogenannten Ausbildungsseminaren - also im Referendariat - , wo etwa didaktisch-methodische Präferenzen nach bildungspolitischen oder auch ideologischen Vorgaben unter der Fahne des wissenschaftlichen Fortschritts selegiert

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und dekretiert werden, ohne daß sie sich einem wissenschaftlichen Diskurs stellen müssen.

Anders verfährt die wissenschaftliche Ausbildung: sie beruht auf Forschung, verwendet Forschung und erzieht die Studierenden zum Umgang mit Forschung. Aus diesen Stilelementen ergeben sich mindestens drei Konsequenzen: eine bestimmte Art des Recherchierens von Sachverhalten; eine bestimmte Weise der methodischen Reflexion im Hinblick auf die Darstellung der Ergebnisse; eine aus beidem resultierende eigentümlichen Argumentationsfigur. Auf dieser - wenn man so will: handwerklichen - Ebene muß jede wissenschaftliche Ausbildung berufsunspezifisch sein.

2. Die wissenschaftliche Ausbildung ist eine systematische, aber ihre Systematik kann sich nicht nach den Anforderungen einzelner Berufe richten, sonst müßte es für jeden pädagogischen Beruf eine besondere Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie usw. geben. Eine lediglich wissenschaftsorientierte Ausbildung hat es hier leichter, weil sie aus dem Bestand der vorliegenden Erkenntnisse und Theorien für ihren Zweck eine Auswahl treffen darf, die selbst keiner wissenschaftlichen, sondern nur pragmatischer Kriterien bedarf.

Aber warum sollten diese beiden nicht hintergehbaren Merkmale eines wissenschaftlichen Studiums, die berufsspezifisch lediglich für künftige Forscher sein können, auch für die Ausbildung von Pädagogen gelten? Wäre nicht eine bloß wissenschaftsorientierte Ausbildung angebrachter, wie sie für die meisten pädagogischen Berufe früher galt und wie sie heute wieder gelegentlich gerade auch von Bildungspolitikern gefordert wird?

Bei meinem Versuch einer Antwort darauf konzentriere ich mich auf den professionellen Sinn der Sache und lasse äußere Begründungen - wie etwa standespolitische - beiseite. Dann besteht der Sinn einer beruflichen Qualifizierung offensichtlich darin, die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Handelns im künftigen Berufsfeld zu optimieren und die eines Scheiterns zu minimieren. Eine berufliche Qualifizierung müßte sich demnach an den typischen Handlungsformen orientieren, die in dem fraglichen Beruf von Belang sind. Pädagogisches Handeln - in welchem Berufsfeld auch immer - ist nun eine Form des sozialen Handelns, dh. es ist auf das Handeln anderer - etwa Kinder und Jugendlicher - bezogen, die ihrerseits auf das Handeln des Pädagogen mit eigenem Handeln reagieren können und dies in der Regel auch tun (sonst müßten sie sich tot stellen wie ein Stück Materie). Wenn wir darin den Kern des professionellen pädagogischen Handelns sehen, scheint auf den ersten Blick der wissenschaftliche Charakter der Ausbildung aus mindestens drei Gründen dafür wenig herzugeben.

1. Da pädagogisches Handeln als ein soziales jedesmal ein individuelles, einmaliges, unwiederholbares ist, kann es in dieser Form wissenschaftlich gar nicht zum Thema werden, sondern nur insofern, als es verallgemeinerungsfähige Aspekte enthält - etwa als "Fall von" oder "Beispiel für". Das aber interessiert zB. die Schüler nicht, für die ist der einmalige Akt wichtig, wie ihr Lehrer ein bestimmtes Thema in ihrer Klasse unterrichtet. Jede Verallgemeinerung nimmt

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dem Handeln seinen ursprünglichen Sinn, vernachlässigt jedenfalls seine subjektive Substanz.

2. Aus diesem Grunde kann Wissenschaft auch keine konkreten Handlungsanweisungen erteilen, denn soziales Handeln ist niemals nur die Anwendung von irgend etwas - einer Theorie oder einer Vorschrift - , sondern stets ein Schritt ins Ungewisse mit ungewissem Ausgang. Keine erziehungswissenschaftliche, didaktische, soziologische oder psychologische Theorie, mag sie wissenschaftlich noch so fundiert sein, kann diese Unbestimmbarheit außer Kraft setzen.

3. Das berufliche Handeln, um das es in der Universitätsausbildung gehen soll, kommt dort gar nicht vor, sondern erst in einer späteren beruflichen Lebenssituation. Man kann an der Universität nicht lernen, wie man mit Kindern umgeht, weil es dort aus gutem Grund keine Kinder gibt. Diejenige Handlungsqualifikation, welche die Studierenden an der Hochschule selbst benötigen, ist von ganz anderer Art. So soll also die Universität auf etwas vorbereiten, was sie gar nicht kennt.

Um trotz der eben erwähnten Schwierigkeiten der Lösung unseres Problems näher zu kommen, müssen wir offensichtlich unterscheiden zwischen dem künftigen beruflichen Handeln als Gegenstand einerseits und als Standpunkt andererseits. Die wissenschaftliche Ausbildung kann das pädagogische Handeln nur als Gegenstand in Betracht ziehen. Das ist ein gewichtiger Unterschied, denn der Standpunkt des Handelns ist kein systematischer, resultiert nicht aus der ungebrochenen Anwendung von irgend etwas, sondern sortiert das, was jemand weiß und kann, auf ein bestimmtes Ziel hin. Ich nenne diesen Unterschied den zwischen Bildungswissen und Handlungswissen. Dabei geht es nicht um Unterschiede des Wissens selbst, sondern um verschiedene Aggregatzustände. Bildungswissen ist gleichsam Handlungswissen im Ruhezustand. Wer sozial handelt, reduziert und vereinfacht das, was er woher auch immer weiß, auf einen bestimmten Punkt hin, läßt notwendigerweise außer acht, was er dafür nicht brauchen kann, weil es ihm sonst wie dem sprichwörtlichen Tausendfüßler ginge, der, weil er anfängt, seine Beine zu zählen, nicht mehr laufen kann. Handeln bedeutet nicht nur Mobilisierung von Wissen und Fähigkeiten auf den angestrebten Zweck hin, sondern immer auch Zurückweisen dessen, was nicht gebraucht wird; sonst wäre vor lauter Reflexion Handeln nicht möglich. Wer sozial handelt, denkt nicht systematisch, sondern aporetisch, also problembezogen.

Handeln als künftigen beruflichen Standpunkt kann man an einer Universität also nicht lernen, wohl aber kann man es dort zum Gegenstand machen - in meinem Sprachgebrauch: zum Teil des Bildungswissens. Das aber kann nur systematisch geschehen, also nur so, daß es in dieser Form eben nicht unmittelbar zum Handeln taugt. Unter dieser Voraussetzung läßt sich das künftige Berufsfeld in Themen aufteilen, die Gegenstand des Studiums sogar mehrerer Fächer werden können und die etwa durch Stichworte wie Sozialisation, Erziehung, Bildung, Lehren, Lernen, Kindheit, Jugendalter usw charakterisiert werden können. Bei Lehrern kämen natürlich noch die Unterrichtsfächer dazu. Möglicherweise läßt sich dies alles sogar auf drei Kernthemen und ihre Implikationen

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reduzieren: Die Ziele und Methoden des beruflichen Handelns; die Bedürfnisse und Interessen der Partner (Kinder, Jugendliche, Erwachsene); die Bedingungen und Möglichkeiten des Handlungsfeldes (Schule, Jugendverband, Freizeitheim, Jugendgefängnis usw.). Nun muß bekanntlich jedes wissenschaftliche Studium auf bestimmte Gegenstände konzentriert und beschränkt werden - die Frage ist nur, inwieweit dies in Studienordnungen festgeschrieben oder dem einzelnen Studenten überlassen wird. Deshalb spricht nichts dagegen, dies auch im Hinblick auf solche Gegenstände zu tun, die für den künftigen pädagogischen Beruf naheliegend sind. Aber auch dann behalten diese Gegenstände eine von der künftigen Berufspraxis unabhängige innere Systematik, weil sie sonst aus dem Kontext der Forschung entfernt würden, aus dem sie stammen. Ich kann beispielsweise eine Jugendkunde für pädagogische Berufe lehren, indem ich mir aus der Jugendsoziologie die mir für diesen Zweck geeignet erscheinenden Ergebnisse aussuche; dann würde ich wissenschaftsorientiert lehren und den Studierenden die methodischen Kontexte ersparen. Wenn ich aber jugendsoziologische Forschungen selbst behandle, muß ich mich einlassen auf den systematischen Zusammenhang, in dem diese im Rahmen des Faches stehen - etwa im Hinblick auf das, was ihnen an Forschung vorausgegangen ist, oder was sie von anderen Forschungen und ihren Ergebnissen warum unterscheidet. Dieser Zusammenhang ist nicht beliebig, und er ist auch nicht von meinem pragmatischen Zweck her entstanden. Wird das übersehen, befinden wir uns schnell auf jener Ebene der öffentlichen Diskussion, die methodisch unkundig mit aus dem Zusammenhang gerissenen sogenannten "Forschungsergebnissen" Beweismaterial für irgendwelche politischen Ziele suggeriert. In der Wissenschaft jedoch sind Forschungsergebnisse nur insofern von Belang, als sie in ihrem systematischen Kontext wahrgenommen werden. Deshalb ist auch die Beschäftigung mit Methodologie - etwa Empirie und Statistik - , wie sie in unseren Diplomstudiengängen vorgeschrieben ist, allein noch kein Beweis für den wissenschaftlichen Charakter dieses Studiums insgesamt; diese Aspekte können ihm auch äußerlich bleiben.

Wer also für ein wissenschaftliches Studium votiert, muß in Kauf nehmen, daß dabei seine künftige Berufspraxis nur sehr mittelbar zum Thema werden kann. Pointiert formuliert: Ein wissenschaftliches Studium, selbst wenn es sich auf berufsrelevante Gegenstände beschränkt, kann zunächst einmal nur als Selbstzweck verstanden werden. Diese Tatsache finden nicht wenige Studenten enttäuschend, wenn sie sich fragen, wozu sie das, was sie lernen, später benötigen könnten.

Das künftige pädagogische Handeln, so hat sich ergeben, kann an der Universität nur als Gegenstand in den Blick treten. Gleichwohl gibt es schon während des Studiums die Möglichkeit, auch das Handeln als Standpunkt kennenzulernen. Dazu dienen die Praktika, deren guten Sinn heute niemand mehr bezweifelt. Hier findet ein bedeutsamer Perspektivenwechsel statt. Nun muß der Student entweder selbst handeln unter den Bedingungen des jeweiligen Lernfeldes, oder er kann zumindest das Handeln anderer dort beobachten, reflektieren und bewerten sowie es mit dem in Zusammenhang bringen, was er an der Univer-

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sität systematisch gelernt hat. Das Praktikum als Standpunkt ist kein Alsob mehr, sondern Ernstfall, Fehler haben Folgen. Im Idealfall wirken die Erfahrungen des Praktikums auf das Studium zurück, als neue Fragestellungen oder als Interesse für bestimmte Themen und Gegenstände. Wiederum im Idealfall lernt der Student dabei, daß es Sinn macht, sein Handeln wechselweise als Gegenstand und als Standpunkt zu verstehen, das eine vom anderen zu unterscheiden, aber auch jedes als Fundus für das andere zu begreifen und zu benutzen. Die Praktika sind das eigentlich Berufsspezifische an der wissenschaftlichen Ausbildung, aber sie sind nur fruchtbar, wenn sie nicht nach den Maßstäben und Regeln der Universität erfolgen, sondern nach denen, die in dem jeweiligen pädagogischen Feld gelten. Versucht man dagegen eine "Integration" beider Phasen, wie es in den 70er Jahren propagiert und teilweise auch ausprobiert wurde, gehen die eigentümlichen Chancen beider Lernorte verloren, weil entweder der eine sich nach den Regeln des anderen richten soll oder beide einem übergeordneten Dritten unterworfen werden müssen; aber worin sollte das bestehen?

Nach meinem Eindruck ist noch keineswegs entschieden, ob in Zukunft die Ausbildung für pädagogische Berufe wissenschaftlich oder nur wissenschaftsorientiert sein wird. Spranger hat in den 20er Jahren genau gewußt, warum er der Universität die Lehrerbildung nicht zumuten wollte und umgekehrt die Lehrerbildung, wie er sie verstand, auch von den Zumutungen der Universität freihalten wollte - von den sozialpädagogischen Berufen war in diesem Zusammenhang noch nicht die Rede. Aber seither hat sich etwas Entscheidendes geändert: Zwar handeln Lehrer und Sozialpädagogen immer noch im Auftrag ihrer Anstellungsträger. Aber wegen der Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft haben sie selbst in den staatlichen Schulen einen immer größer gewordenen Autonomiespielraum erhalten, den sie fachlich und didaktisch souverän nur dann ausfüllen können, wenn sie ein wissenschaftliches Studium absolviert haben und sich entsprechend weiterqualifizieren können. Nur eine wissenschaftliche Qualifizierung vermag den Anstellungsträger auf Distanz zu halten. Die in der wissenschaftlichen Ausbildung erlernten Methoden des Ermittelns und Argumentierens versetzen einen Pädagogen in die Lage, unzulässige und sachfremde Eingriffe in das berufliche Handeln wenn nicht zu verhindern, so doch immerhin zu delegitimieren. Von daher läßt sich Widerstand leisten und praktisch auf den Weg bringen. Die bloß wissenschaftsorientierte Ausbildung dagegen provoziert fachlich nicht begründete Interventionen in die berufliche Autonomie, wie ich es am Beispiel didaktisch-methodischer Doktrinen innerhalb des Referendariats bereits erwähnt habe. Wenn zudem lediglich wissenschaftsorientiert ausgebildete Lehrer mit diesem Fundus wieder wissenschaftsorientierten Unterricht erteilen sollen, geht in dieser Sequenz das ursprüngliche kritische Potential des wissenschaftlichen Denkens wieder verloren. Wissenschaftsorientiert kann nur lehren, wer selbst wissenschaftlich ausgebildet ist. Wissenschaftsorientierung ist nicht tradierbar. Wird das übersehen oder wird die erlangte wissenschaftliche Ausbildung in der Berufspraxis nicht verwendet, setzen sich in der pädagogischen Praxis problematische Leitbilder

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durch. Ein Beispiel dafür ist etwa die gegenwärtig weit verbreitete schuldidaktische Mode der Handlungsorientierung, die bis in manche Richtlinien hinein als das Nonplusultra eines lerntheoretisch fundierten Unterrichts gilt. Jeder jedoch, der sich einmal ernsthaft mit Lernpsychologie befaßt hat, weiß, daß das nicht stimmt bzw. nur unter bestimmten Bedingungen zutrifft. Wegen derartiger Implikationen, die im Kern das Maß gesellschaftlicher Aufklärung überhaupt berühren, plädiere ich für die wissenschaftliche Ausbildung möglichst vieler pädagogischer Berufe. Die Frage ist jedoch nicht nur, ob dies künftig politisch gewollt wird, sondern ob es dafür auch eine hinreichende Zahl geeigneter und williger Studierender geben wird. So oder so darf es aber über den Unterschied zwischen wissenschaftlicher und wissenschaftsorientierter Ausbildung keine Unklarheit geben; für letztere ist die Universität nicht zuständig. Läßt sie sich trotzdem darauf ein, wird sie von ihr äußerlichen Zwecken überschwemmt, die ihre Substanz und ihr Profil nachhaltig verändern werden. Andererseits sollten wir auch nicht unbescheiden sein: Auch die Wissenschaftsorientierung der pädagogischen Berufe ist ein bedeutsamer Fortschritt im Vergleich zu ihrer früheren normativ-weltanschaulichen Fundierung.

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200. Rückkehr zur Bildung? (1999)

In: Dietrich Hoffmann (Hrsg.): Rekonstruktion und Revision des Bildungsbegriffs. Weinheim 1999, S. 125-131
 
 

Zur Einführung in dieses Symposion möchte ich meine Position in einigen knappen Thesen darlegen:

1. Ich halte "Bildung", wie sie im klassischen Bildungskonzept etwa von Humboldt formuliert wurde, für die einzig tragfähige pädagogische Idee der Moderne - im Unterschied zu den reformpädagogischen Axiomen und Maximen, wie sie heute wieder in Mode sind, insofern sie sich von jener pädagogischen Idee abgewandt haben. Diese zu vergessen, ist der zentrale Fehler der bildungspolitischen Entwicklung der letzten dreißig Jahre gewesen. Im Gegensatz dazu erscheint es mir nötig, die epochal bedeutsame Substanz dieses Konzeptes wieder in den Blick zu nehmen.

2. Wenn man zeitgenössische Einseitigkeiten bereinigt (z.B. Fixierung auf die antike Welt), beruht die moderne Bildungsidee im wesentlichen auf der Einsicht, daß der Mensch mehr ist, als in seinem Alltag von ihm verlangt und erwartet wird, daß seine grundlegende Bildung also nicht aus der bloßen Zurichtung für diese seine Alltagsaufgaben bestehen dürfe, ja, daß Bildung sich auch nicht aus der Summe des Lernens für die alltäglichen Funktionen ergibt. Im Gegenteil: Je allgemeiner jemand gebildet ist, um so mehr kommt dies auch seinen speziellen Tagesaufgaben, etwa im Beruf, zugute. In Humboldts eigenen Worten:

"Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hiezu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum anderen überzugehen". Zu frühe Spezialisierung auf einen bestimmten Beruf jedoch komme diesem keineswegs zugute. "Fängt man aber von dem besondern Berufe an, so macht man ihn einseitig, und er erlangt nie die Geschicklichkeit und die Freiheit, die nothwendig ist, um auch in seinem Berufe allein nicht bloss mechanisch, was Andere vor ihm gethan, nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbesserungen vorzunehmen" (Humboldt 1971, S. 144 f.).

Das klingt zunächst idealistisch und weltfremd und ist so auch nicht selten mit Hohn und Spott gesehen worden. Aber gerade ein Blick in die gegenwärtige berufspädagogische Diskussion läßt erkennen, wie vorausschauend diese Einsicht war: Der überlieferte Versuch, die Arbeitswelt als eine Summe voneinander abgrenzbarer Einzelqualifikationen zu verstehen, die in einem je spezifischen Berufsbild zusammengefaßt werden können, ist inzwischen gescheitert, weil die beruflichen Anforderungen ständig im Fluß sind. Berufsausbildung besteht heute immer stärker aus einer möglichst hohen Allgemeinbildung und einer daran anschließenden beruflichen Qualifizierung. Ein Abiturient erfüllt wegen seiner formalen geistigen Fähigkeiten im allgemeinen eher die Voraussetzungen für eine kaufmännische oder gewerbliche Berufsausbildung als ein Hauptschulabgänger.

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Umgekehrt: Wenn alle das Abitur haben, ist das duale System der Berufsausbildung - nicht diese selbst - in seiner überlieferten Form hinfällig.

Die Leistung der Bildungsidee besteht jedoch nicht nur in der erwähnten anthropologischen Grundannahme von der über den einzelnen Lebensanforderungen stehenden allgemeinen Fähigkeiten des Menschen, sondern auch in der didaktischen Idee, diese Fähigkeiten unmittelbar, also in direktem Zugriff, auch hervorrufen und fördern zu können und zu müssen - also nicht im mühseligen Durchgang durch die jeweiligen lebensaktuellen Rollen und Erwartungen. Das wäre ja ein Alternativmodell: Der Mensch bildet sich dadurch, daß er in seinem Lebenskreis tätig und reflektierend fortschreitet. So etwa haben ja auch Kerschensteiner und Spranger den Bildungsbegriff auf das didaktische Zentrum des Berufes hin modifizieren wollen. Aber eines der Grundprobleme dieses Versuches ergab sich aus der Frage, woher dann die distanzierende Kraft kommen sollte, die die aktuelle Lebensbefangenheit zu transzendieren vermag. Die Antwort der beiden ging kaum über weltanschauliche Allgemeinplätze hinaus: Die Berufstätigkeit dürfe nicht nur egoistisch (möglichst hohe Löhne), sondern müsse auch altruistisch, im Sinne eines Dienstes am Gemeinwohl, ausgeübt werden. Im klassischen Konzept lautet die These anders: Nicht das Leben bildet, sondern nur die Bildung bildet, nämlich als Versuch, sich die objektive Welt - erforscht durch die Wissenschaften - in ihrem Zusammenhang in direktem Zugang, durch eine bestimmte Tätigkeit des Geistes, vorzustellen und anzueignen.

3. Das Moderne an diesem Konzept besteht vor allem in folgenden vier Punkten:

- Es nimmt die fundamentale Demokratisierung der Gesellschaft vorweg.

- Es akzeptiert die faktische und die normative Pluralisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

- Es enthält ein plausibles Programm für die in der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft notwendigen Individualisierungsprozesse.

- Es ist auf eine lebenslange Perspektive gerichtet und deshalb geeignet zur geistigen Durchdringung horizontaler wie vertikaler Mobilität.

Zur Demokratisierung: Insofern das Bildungskonzept prinzipiell für alle Menschen, nicht nur für eine bestimmte Gruppe, gedacht wurde, war es ein demokratisches, auch wenn den Erfindern diese Konsequenz nicht unbedingt klar war. Faktisch hat es die Demokratisierung der Gesellschaft und damit zusammenhängend ihre Mobilität, die Aufweichung von Klassen- und Standesschranken - nicht deren Abschaffung, aber deren Fluktuation im Sinne einer permanenten Neukonstitution - vorweggenommen. Eine so verstandene Grundbildung für alle hat aber zur Folge, daß man nicht mehr wissen kann, welchen gesellschaftlichen Status das Kind von heute als Erwachsener von morgen einnehmen wird; deshalb muß seine grundlegende Bildung alle diese Möglichkeiten einschließen und offen halten. In einer Klassen- oder Standesgesellschaft wäre das geradezu kontraproduktiv. Nicht zu Unrecht hat man die tatsächliche Entwicklung des Bildungsdenkens und der Bildungspraxis seit Humboldt als elitär und klassenspezifisch charakterisiert. Wer sich jedoch heute zum Zwecke der Ablehnung dieses Konzeptes darauf beruft, vergißt den utopischen Charakter der Sache. Die modernen Gesellschaften haben eben fast 150 Jahre gebraucht, bis sie allein schon in ökonomischer Hinsicht in der

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Lage waren, diese Utopie für prinzipiell alle Kinder einzulösen. Demokratisierte Bildung erreicht man jedenfalls nicht dadurch, daß man sich an die Lebenswelten der Kinder fixiert, sondern umgekehrt gerade dadurch, daß man dazu in Distanz tritt, ohne sie zu ignorieren. Insofern halte ich dem widersprechende schulpädagogische Konzeptionen der Gegenwart für objektiv, nämlich in einem ideologiekritischen Sinne, antidemokratisch.

Zur Pluralisierung: Die gesellschaftliche und normative Pluralisierung ist eine notwendige Implikation des Demokratisierungsprozesses. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Parteien, Religionen, Weltanschauungen, Lebenskonzepte, Normen diesseits des Strafrechts treten in Wettbewerb miteinander und werden deshalb wählbar - das ist die subjektive Seite der objektiven Pluralisierung. Den Konsequenzen dieser Tatsache ist die deutsche Pädagogik immer wieder entflohen - nicht zuletzt die Reformpädagogik alter und neuer Provenienz. Das wäre - insbesondere im Hinblick auf den Erziehungsbegriff - ein eigenes Thema. Pädagogisch gesehen ist die Frage, wie ein gemeinsamer Schulunterricht in der Sache - nicht auf der heute so in den Vordergrund gerückten Beziehungsebene - aussehen kann, der solche Wahlmöglichkeiten nicht dem anything goes überläßt, sondern sie einerseits nicht vorwegnimmt, andererseits aber fundierte sachliche Einsichten dafür bereitstellt. Eine der Konsequenzen aus dieser Sachlage ist, daß Emotionen, Haltungen, Einstellungen, die im Zuge des Bildungsprozesses entstehen, pädagogisch nicht mehr verfügbar sein dürfen, nicht mehr zur Disposition stehen. Auch in dieser Hinsicht gibt es keine Alternative zum Bildungskonzept, alles andere, was versucht wurde, hat sich immer bemüht, mit erzieherischen Begründungen die Optionen wieder auszuschalten oder zumindest zu verringern. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die "Grundrichtungen der Erziehung", mit denen u.a. die konfessionelle Schule lange Zeit gerechtfertigt wurde.

Zur Individualisierung: Individualisierung ist nicht das Resultat einer pädagogischen Wohltat, sondern eine für den Einzelnen wie für die Gesellschaft notwendige Konsequenz aus den Prozessen der Demokratisierung und Pluralisierung. Die immer größer gewordenen Optionsspielräume müssen ausgefüllt werden, und sie können nur gestaltet werden durch Entscheidungsleistungen der einzelnen Personen, woher immer diese ihre Kriterien dafür nehmen mögen.

Der Beitrag des Bildungskonzeptes zur Individualisierung besteht in seiner eigentümliche Subjekt-Objekt-Beziehung. Es geht nicht um Stoffhuberei, nicht um die bloße Einverleibung eines objektiv vorgegebenen Kanons, sondern um eine je subjektive Auseinandersetzung damit, um das ständige Abarbeiten der Differenz zwischen der bisherigen Erfahrung und den dazu kontroversen, sich im biographischen Verlauf steigernden Ansprüchen der Sache. In diesem Spannungsverhältnis spielt sich der Bildungsprozeß ab. Individualisierung meint hier nicht bloße Subjektivität im Sinne des "ich meine, daß..." oder "ich hab' keinen Bock"; sie gilt nicht als anthropologische Vorgabe, als sei sie eine herauszulockende innerpsychische Realität. Sie wird vielmehr als Aufgabe verstanden, das Nichtsubjektive, nämlich die außersubjektive Welt, in ihrem Sosein ernst zu nehmen. Individualisierung erwächst als Resultat aus einem spezifischen geistigen Prozeß, nicht aus bloßer Wahrnehmung von Wahlfreiheit, von Optionen. Diese Maßgabe ist deshalb so bedeutsam für

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das Verständnis von Individualisierung, weil es diesem je individuellen Prozeß - im Unterschied zum Methodenfetischismus der gegenwärtigen Schulpädagogik - die subjektivistische Willkür nimmt, ihn statt dessen bindet an objektive Anforderungen und ihn so auch etwa mit sozialen und gesellschaftlichen Pflichten verschränken kann.

Diese Maßgabe hat natürlich Folgen für die Art und Weise eines bildenden Unterrichts, für den etwa die Schülerfrage von entscheidender Bedeutung ist. In der ernsthaften Schülerfrage wird die Verbindung von der bisherigen Erfahrung zum damit konfrontierten neuen Stoff hergestellt. Bildungslernen ist also per definitionem selbsttätiges Lernen, das nicht als spezielle Methode erst inszeniert oder hinzugefügt werden muß. Wer in diesem Sinne Bildungslernen wieder zum Zuge kommen lassen will, muß also das entsprechende unterrichtsmethodische Repertoire daraufhin neu sortieren. Dazu gehört etwa auch die Einsicht, daß Unterrichtsmethoden nicht nur eine Tugend sind, sondern auch eine Not, insofern sie über weite Strecken gerade deshalb nötig sind, weil der direkte Zugang zu den Sachen noch nicht möglich ist.

- Zur Lebenslänglichkeit des Bildungsprozesses: "Lebenslanges Lernen" ist ein Schlagwort der Gegenwart, mit dem auch in der Pädagogik alles mögliche begründet wird. Meist ist damit jedoch lediglich Anpassung an wechselnde berufliche Erfordernisse gemeint. Aber durch ständiges Lernen gesellschaftliche Veränderungsprozesse in ihren Folgen für die eigene Person immer wieder ins Bewußtsein zu nehmen, ist eine viel komplexere Aufgabe, weil diese Veränderungen eben nicht nur beruflicher Natur sind, sondern alle Seiten des menschlichen Lebens betreffen, also alle gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ebenso wie das personale Selbstverständnis. Dieser Tatsache vermag die Bildungsidee, die nicht nur auf die Schulzeit beschränkt ist, eher als andere pädagogische Konzepte Rechnung zu tragen, weil sie einen Standpunkt oberhalb der notwendigen Anpassungsprozesse beziehen kann.

4. Das demokratische Element der Bildung läßt sich konkretisieren in der Forderung, daß alle Bürger die prinzipiell gleiche Chance der Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten erhalten sollen; Bildung soll sie eben dazu in den Stand setzen. Nun kann man diese Teilhabemöglichkeiten genauer differenzieren, indem man etwa zwischen politischer, kultureller und beruflicher Teilhabe unterscheidet; das würde hier aber zu weit führen (Vgl. Giesecke 1998). Jedenfalls geht es um grundsätzlich gleichberechtigte Partizipation an allem, was die Gesellschaft zu bieten hat, wobei die aus mancherlei Gründen - etwa zeitlicher Art - notwendigen Einschränkungen das Individuum jeweils selbst vornehmen muß.

Aus dieser Forderung nach optimaler gesellschaftlicher Partizipation prinzipiell aller Gesellschaftsmitglieder ergibt sich aber ein historisch neues Problem. Die frühere soziale Begrenzung der Lebensperspektive im Hinblick etwa auf das Arbeiter-, Bauern- oder Bildungsbürgermilieu ermöglichte auch eine entsprechende didaktische Beschränkung des Bildungsangebotes und machte sie sogar sinnvoll. Wenn sich aber erst in der Zukunft entscheidet, in welchem beruflichen und kulturellen Rahmen das Kind sich dann als Jugendlicher oder Erwachsener bewegen wird, entsteht eine eigentümliche Unschärfe. Das Bildungsangebot muß dann näm-

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lich relativ abstrakt konzipiert werden, zumindest am Anfang gleich für den künftigen Philosophieprofessor wie für den ungelernten Arbeiter, für den künftigen Berufspolitiker wie für den politisch Uninteressierten, für den Techno-Fan wie für den Mozartliebhaber. Das wiederum führt zu der ständigen und auch immer wieder zu hörenden Sorge, man müsse vielleicht etwas lernen, was man künftig nicht gebrauchen könne. Das kann im Einzelfall so sein, ist aber grundsätzlich nicht zu vermeiden. Diese Unsicherheit ist der Preis, der für eine demokratisierte Bildung zu zahlen ist. Der Schrei nach "Praxisorientierung" bis hin zur Hochschule ist der Versuch, diesen Preis zu verweigern.

5. Bildung ist also der Versuch, aus der Distanz zu den aktuellen Bedürfnissen und Handlungsinteressen heraus die Welt im direkten Zugriff dem Denken und damit auch dem Verhalten verfügbar zu machen. Sie ist also eine spezifische, partikulare Intervention in ein Leben, das auch ohne sie zu führen wäre und tatsächlich ja auch massenhaft geführt wird. Um durch Bildung erschlossen zu werden, muß die außersubjektive Welt - auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse über sie - in bearbeitbare Bereiche, nämlich Schulfächer, aufgeteilt werden, die nicht nur je besonderes Wissen, sondern mehr noch spezifische Methoden seiner Gewinnung und damit kategoriale Vorstellungen vermitteln. Konstitutiv für Bildung ist also ein Kanon von Fächern, Stoffen und Methoden. Für einen solchen Kanon gibt es allerdings keine von irgendwoher deduzierbare Gewißheit. Aber es gibt Gesichtspunkte einer vernünftigen Auswahl und Begründung:

a. Dazu gehört der schon erwähnte Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Partizipation; unter Berufung darauf läßt sich zwar kaum etwas ausgliedern, weil alles, was man lernen könnte, auch in der einen oder anderen Weise der gesellschaftlichen Partizipation zu dienen vermag. Aber der Gesichtspunkt der Partizipation vermag eine Balance zu begründen, insofern Einseitigkeit - etwa im Sinne einer Berufsfixierung - vermieden werden kann.

b. Die Fächer und Stoffe können beschränkt werden auf Grundlagen, von denen aus Weiterbildung möglich ist. Was muß an Grundlagen bekannt sein, um je nach Interesse oder gesellschaftlicher Notwendigkeit erfolgreich an Weiterbildungsmaßnahmen in den Massenmedien oder auf dem Bildungsmarkt teilnehmen zu können? Unter diesem Gesichtspunkt könnte der Schulstoff erheblich zusammengestrichen werden.

c. Zu berücksichtigen ist die moderne Informationstechnologie. Diese macht, was leicht übersehen wird, das Lernen nicht nur leichter, sondern auch schwieriger, nämlich abstrakter, wie jeder weiß, der damit arbeitet. Prinzipien, Regeln, Begriffe, Methoden usw. treten in den Vordergrund. Geschieht dies, kann Stoff im Sinne von Informationswissen entsprechend beschränkt werden.

Bildungslernen bleibt also in seinem Kern an einen Kanon von Fächern und Stoffen gebunden, mag es darüber hinaus auch schon in der Schule Wahlentscheidungen geben. Zur Bildung gehören allerdings auch solche Fächer und Stoffe, die man nicht mag; sonst fällt das eben charakterisierte eigentümliche Subjekt-Objekt-Konstrukt in sich zusammen.

6. Nimmt man den Gesichtspunkt der Partizipation ernst, dann ist der Bildungsprozeß nur in einer qualitativen Stufung denkbar, der wesentlich mit der biographi-

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schen Entwicklung zu korrelieren ist. Die höchste Form ist dann die Fähigkeit, am wissenschaftlich fundierten Diskurs der Gesellschaft teilzunehmen. Das läßt sich etwa an der Fähigkeit operationalisieren, eine Zeitung wie DIE ZEIT lesen zu können. Wenn andererseits viele Hauptschulabgänger nicht einmal einen kurzen Artikel der Bildzeitung verstehen können, bedeutet das eine erhebliche Einschränkung ihrer Partizipationsmöglichkeiten. Unsere bisherigen Erfahrungen mit den unterschiedlichen Lerninteressen und Lernvermögen von Kindern legen die Vermutung nahe, daß Bildung ein elitäres Phänomen bleiben wird, wobei der Zugang zu ihr - im Unterschied zu früheren Zeiten der Standes- bzw. Klassenschule - nun jedem Kind möglichst chancengleich aus demokratisch-politischen Gründen angeboten werden muß und in ökonomischer Hinsicht auch angeboten werden kann.

7. Wenn die erwähnten demokratischen Chancen des Bildungskonzeptes genutzt werden sollen, ist eine Revision des Zusammenhangs von Bildung und Erziehung nötig. Die Bildungsgeschichte zeigt, daß die aufklärerische Emanzipation von den Determinanten der unmittelbaren Lebensvollzüge - die ja zumindest imaginativ auch immer Distanz von Herrschaftsansprüchen war und ist - stets durch erzieherisch formulierte Kanalisierungen konterkariert wurde. Bis heute muß sich Bildung dadurch rechtfertigen, daß sie auf ihre erzieherischen Vorteile verweist. Viele politische und weltanschauliche Unsinnigkeiten, die man in der Vergangenheit der humanistischen Bildung angelastet hat, gehen in Wahrheit auf das Konto ihrer erzieherischen Domestizierung. Sie sollte im Wilhelminismus staatstreu sein, im Nationalsozialismus völkisch, in der Gegenwart wird von ihr etwa solidarische, sozialintegrative und multikulturelle Gesinnung erwartet. Man könnte die Geschichte der modernen Bildung geradezu unter diesem Aspekt erzieherischer Heteronomisierungen schreiben und erzählen.

Bildung wird in jenem Verständnis gleichsetzt mit einer bestimmten moralischen Qualität der Person, die sie entweder dem Begriff nach selbstverständlich aufweist oder die sie zusätzlich erwerben soll. Hartmut von Hentig hat in diesem Sinne den Bildungsbegriff jüngst wieder interpretiert, indem er ein Idealbild des Gebildeten entwirft:

"Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; die Wahrnehmung von Glück; die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen; ein Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen; und - ein doppeltes Kriterium - die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica" (Hentig 1996, S. 75).

Aber Bildung ist keine Garantie für Gutmenschentum. Auch viele SS-Männer waren gebildet, und nicht wenige der RAF-Terroristen gehörten zu den Gebildetsten ihrer Generation. Bildung ist nicht mehr als eine Hoffnung auf Humanität, ob diese zum Zuge kommt, hängt nicht vom pädagogischen Konzept selbst ab, sondern weitgehend von den Sozialisationsbedingungen, auf die der Erwachsene dann trifft (Vgl. Giesecke 1993, S. 279ff.).

Wer sich bildend mit der Welt beschäftigen will, muß sich gewiß bestimmten erzieherisch zu verstehenden Implikationen fügen: Er muß eine gewisse Disziplin aufbringen, kooperativ mit anderen umgehen, sich tolerant und gewaltfrei gegenüber anderen Meinungen verhalten, sonst wird daraus nichts. Aber darüber hinausgehende erzieherische Ansprüche müssen anders begründet werden, nämlich mit

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der Notwendigkeit sozialer und gesellschaftlicher Normen und Regeln. Solche Begründungen haben ihren eigenen Sinn und ihre eigene Dignität, aber sie gelten auch ohne die Ansprüche der Bildung. Erziehung ist immer nötig, Bildung dagegen, insbesondere Bildung für alle, ist eine Zutat, die sich eine Gesellschaft erst einmal leisten können muß und will.

Die demokratischen Tendenzen des Bildungsbegriffs werden sich erst dann durchgesetzt haben, wenn die aufklärende Bildung sich von erzieherischen Attitüden emanzipiert hat, Bildung also als ein pädagogischer Selbstzweck verstanden wird, der keiner anderen Rechtfertigung mehr bedarf. Dafür ist die Zeit gekommen.

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Literaturverzeichnis

Giesecke, H.: Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung. Weinheim/ München 1993

Giesecke H.: Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart 1998.

Hentig, H. v.: Bildung. München -Wien 1996

Humboldt, W. v.: Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts (1809). In: Ders.: Werke. Studienausgabe in drei Bänden. Hg. von K. Müller-Vollmer. Bd. 2., Frankfurt am Main 1971


 
 

201. Verteidigung des Praxiskriteriums (1999)

In: Ethik und Sozialwissenschaften H. 1/1999, S. 89-91

(Der folgende Text antwortet auf den Artikel von Harm Paschen: Zur Systematik pädagogischer Differenzen - ein Forschungsprogramm zur pädagogischen Kompetenz. In: Ethik und Sozialwissenschaften, H. 1/1999, S. 73-82. Die Ziffern im Text beziehen sich auf die entsprechenden Gliederungsangaben in diesem Artikel. Der Beitrag von Paschen wurde vor Drucklegung anderen Wissenschaftlern zur Stellungnahme vorgelegt, mehr als 20 von ihnen äußerten sich, Paschen reagierte auf die Kritik im selben Heft. H.G.)
 
 

Ich halte Harm Paschens Versuch, die teilweise gänzlich unübersichtlich gewordenen (schul)pädagogischen Begründungssysteme nach von einander abgrenzbaren "Pädagogiken" zu ordnen und sie unter erziehungswissenschaftlichen Gesichtspunkten zum Zwecke der Wiedererringung von professioneller Kompetenz vergleichbar zu machen, für sehr verdienstvoll. Die folgenden Überlegungen sollen auf Schwierigkeiten hinweisen, die dabei vermutlich zu bewältigen sind.

((1)) Der Text läßt offen, was als eine "Pädagogik" definiert werden soll. Welche Kriterien muß ein pädagogischer Argumentationszusammenhang erfüllen, um zu verhindern, daß lediglich Einzelaspekte einer Theorie oder gar vergängliche Moden des Zeitgeistes schon als eine "Pädagogik" bezeichnet werden? Die als Beispiel angeführten beiden Texte sind nur schwer miteinander vergleichbar. Der Text der "Kommissionen" (35-37) ist ein politischer, eine bildungspolitische Willenserklärung, meiner hingegen (38-42) ergibt sich aus einem umfassenden Argumentationszusammenhang über das Aufwachsen von Kindern unter den heutigen pluralistischen gesellschaftlichen Bedingungen. Hätte ich eine bildungspolitische Resolution verfassen wollen, hätte ich anders formuliert. Obwohl Harm Paschen diese beiden Texte nur als knapp resümierte Beispiele verstehen will, wird daran ein Grundproblem deutlich: Texte über Pädagogisches werden auf verschiedenen Ebenen formuliert, und deshalb muß deren Quellenqualität bei der Interpretation immer berücksichtigt werden. Mindestens drei solcher Ebenen wären wohl zu unterscheiden: Die (bildungs)politische, die (hochschul)wissenschaftliche und die "untere" Handlungsebene in der Schule selbst. Auf diesen verschiedenen Ebenen können pädagogische Texte verfaßt werden, die in erster Linie für den eigenen sozialen Rahmen produziert werden (etwa politische Alibitexte, Texte zum Zweck der wissenschaftlichen Qualifizierung, Handreichungen für Lehrer durch Lehrer), Texte also, die die jeweils anderen Ebenen gar nicht im Blick haben müssen. Ein Vergleich meiner Vorstellungen etwa mit von Hentigs Schultheorie oder mit der älteren von Theodor Wilhelm wäre ergiebiger, weil sich daraus ein idealtypischer Rahmen für solche Kriterien ergeben könnte, die mindestens erfüllt sein müssen, um ein schulpädagogisches Konzept als eine "Pädagogik" neben anderen bezeichnen zu können.

((2)) Diese drei Ebenen entwickeln jeweils eigene Kriterien für die Beurteilung der von ihnen produzierten Texte. Ein bildungspolitischer Text kann pädagogisch unsinnig, irrelevant oder undurchführbar sein, aber gleichwohl dem politischen Gegner schaden oder die eigenen Anhänger ideologisch wieder zusammenschließen. Er kann dabei die beiden anderen Ebenen als bloße Legitimation benutzen. Vieles von dem, was gegenwärtig etwa unter dem Stichwort "Schulautonomie" oder "Selbstevaluation" abläuft, dürfte so zu verstehen sei, etwa als politische Ratlosigkeit oder Beschwichtigung. Deshalb können solche Forderungen oder Tatsachen nicht ohne genaue Prüfung zur Begründung der Notwendigkeit von "Pädagogiken" ins Feld geführt werden, wie Harm Paschen offensichtlich meint (10-11).

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Für die wissenschaftliche Ebene der Universität läßt sich entsprechendes sagen. Die hier unter Experten vorfindbare "Vielfalt" (12) ergibt sich möglicherweise vor allem aus dem innerbetrieblichen Zwang zu Publikationen, deren Bedeutung für die beiden anderen Ebenen dabei als nachrangig oder gar unwichtig eingeschätzt wird. Je bunter das Spektrum von pädagogischen Theorien wird, um so besser stehen die Universitäten bzw. deren pädagogische Institute da. "Konsensfindung" (12) liegt nicht unbedingt im Interesse solcher Institutionen. In ihnen kann fast beliebig Pädagogisches erfunden werden, solange es nur logisch als halbwegs konsistent erscheint. Daraus die Notwendigkeit einer systematischen Theorie über "Pädagogiken" abzuleiten, ist zumindest voreilig, weil dabei möglicherweise ein Marktphänomen mit einem pädagogisch-systematischen Problem verwechselt wird. Vielleicht kommt in Paschens Konzept der Pädagogiken überhaupt nur ein Bedürfnis dieser universitären Ebene zum Ausdruck, nicht auch eines der anderen Ebenen. Das wäre selbstverständlich per se kein Argument gegen das Vorhaben überhaupt, würde seine Wirkung jedoch von vornherein begrenzen. Wie also sollen die Produktionen dieser unterschiedlichen Ebenen in einer "Pädagogik" aufeinander bezogen oder zusammengefaßt werden, ohne daß ihre substantiellen Besonderheiten dabei vernachlässigt werden?

((3)) Jedenfalls ist nicht ohne weiteres einzusehen, wieso die dritte Ebene - die pädagogische Praxis etwa in den Schulen - an solchen Überlegungen ein Interesse haben sollte. Hier ist Pädagogik ein unmittelbarer Handlungszusammenhang, und zwar ein sozialer, d.h. ein wechselseitiger; die Schüler können ebenfalls handeln - mit dem Lehrer oder gegen ihn. Soziales Handeln aber bedeutet immer, sich zwischen mehreren Möglichkeiten zu entscheiden, sonst wird daraus ein eindimensionales Exekutieren; Handeln ist nicht die bloße Anwendung oder Ausführung von etwas Vorgebenem, sondern immer auch ein Schritt ins Ungewisse. Sich Entscheiden ist aber nur möglich, wenn man von dem "Besseren" seiner Lösung überzeugt ist - woran immer das gemessen wird. Das schließt die Kenntnis von Alternativen folgerichtig ein, sonst würde es sich im strengen Sinne nicht um eine Entscheidung handeln. Wer solche Alternativen nicht kennt, kann in der Tat nicht als professionell gelten. So muß ein Lehrer das Repertoire verschiedener Unterrichtsmethoden kennen und in seiner Unterrichtsstrategie produktiv anwenden können. Aber diese Alternativen können nur in der Vorbereitung der Handlung offen sein, nicht im Akt des Handelns selbst. Sobald der Lehrer Unterricht macht, muß er sich entschieden haben, weil er sonst nicht handeln kann, auch wenn dieser Wechsel sich während eines längeren Unterrichtsprozesses ständig wiederholt. Alternativen kann man zwar immer neu denken, aber im Augenblick des Handelns muß man sie ausblenden. Andererseits kann man aus der Tatsache, daß ein Lehrer sich entschieden hat - auch wenn er dabei einem wiederkehrenden Muster folgt - , nicht schließen, daß er Alternativen dazu nicht kennt, also im Sinne Paschens nicht "kompetent" wäre.

((4)) Der Handlungscharakter der Pädagogik engt nun aber die mögliche Auswahl von Alternativen auch ein, insofern nur das von Interesse ist, was etwa in Gestalt von Zielen und Bedingungen das Handeln auch tatsächlich bestimmt. Dazu gehören für den Lehrer z.B. Kenntnisse über die Partner, die zu erarbeitende Sache, die Kommuniationsstruktur, die Ziele des Handelns und seine didaktisch-methodische Organisation, die rechtlichen Rahmenbedingungen usw. . Was darüber hinausgeht, ist hier zumindest nicht mehr von unmittelbarem Interesse. Insofern dürfte nach wie vor - für die pädagogische Praxis wie für die Ausbildung - ausreichen, sich kritisch mit den wesentlichen historisch überlieferten und gegenwärtig auf den Markt gebrachten schulpädagogischen Entwürfen zu befassen, ohne daß eine neue Systematisierung versucht wird, wie Paschen sie vorschlägt; ich vermag noch nicht einzusehen, was sie für wen verbessern könnte.

((5)) Ein wichtiges, sogar das entscheidende Kriterium für differente Pädagogiken ist für Paschen ihre "Wirkungsdifferenz" (2-3). Gäbe es diese nicht, so wäre in der Tat ein Streit über solche Differenzen überflüssig. Wie aber kann man die Wirksamkeit einer "Pädagogik" im Vergleich zu anderen ermitteln? Was immer an Wirkungen im Rahmen der einen oder anderen Variante festgestellt würde, es dürfte forschungstechnisch gar nicht möglich sein, sie auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen - etwa darauf, ob der Lehrer nach den Maximen Gieseckes oder der "Kommissionen" agiert hat. Der komplexe Charakter des pädagogischen Handelns als eines sozialen enthält zu viele und teilweise nur schwer identifizierbare Variablen. Deshalb sind ja auch die TIMMS-Studien, die immerhin mit einem erheblichen internationalen Forschungsaufwand erstellt wurden, wegen der Grenzen ihrer Reichweite kritisiert worden. Wegen dieser im Prinzip unaufhebbaren Erkenntnisgrenze könnte jeder, dessen Wirkungsweise in Frage gestellt würde, sich darauf berufen, daß die von ihm angestrebten Wirkungen gar nicht oder nur unzulänglich gemessen worden seien. Als die Schulleistungen im Sinne meßbaren Wissens unabweisbar geringer wurden, haben die betroffenen Reformpädagogen darauf hingewiesen, daß es ihnen ja auch um etwas ganz anderes gehe. Wirkungsforschung ergäbe also nur Sinn bei Gleichartigkeit der Intentionen.

((6)) Will man auch die Intentionen, also die Ziele, miteinander vergleichen, so stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Bezugspunkt. Die Autoren der "Kommissionen Schulpädagogik/ Didaktik" in der DGfE wollen etwas anderes als ich. Ich sehe nicht, wie diese Differenz durch die argumentative Kraft systematischer "Pädagogiken" gemindert oder konsensfähig werden könnte. Ein Konsens könnte doch nur im Sinne eines Kompromisses hergestellt werden, aber das ist wiederum eine politische Kategorie, keine erziehungswissenschaftliche. Auf dieser Ebene wird letzten Endes durch einen politischen Willen entschieden und durch die Macht, die dafür mobilisiert werden kann - sei es auf dem Weg über die staatlich-administrativen Instanzen, sei es dadurch, daß jeder die Schule bekommt, die er sich wünscht.

((7)) Fazit: Die Einheit des pädagogischen Denkens in der Vielfalt der Möglichkeiten ist nur über die Praxis zu gewinnen. Die Praxis ist das entscheidende Kriterium, an dem sich das pädagogische Denken zu bewähren hat. Für die Schule heißt das, die wesentlichen Faktoren des schulpädagogischen Handelns in den Blick zu nehmen, die sich etwa unter folgenden Stichworten zusammenfassen lassen: Kindheit, Jugend, Aufwachsen, Lernen, Erziehung, Bildung, Unterricht, Didaktik und Methodik. Aufgabe der Pädagogik als Wissenschaft

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ist, die diese Faktoren betreffenden Zusammenhänge unter Erschließung der einschlägigen wissenschaftlichen Ergebnisse aufzuklären und diese Erkenntnisse in Ausbildung umzusetzen. Wenn unterschiedliche Pädagogiken nach derartigen Gesichtspunkten geordnet werden könnten, wäre das zweifellos ein Gewinn für die Systematisierung der Erziehungswissenschaft wie auch für Ausbildung und Praxis.

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202. Handlungsorientierung im Politikunterricht (1999)

in: Politische Bildung, H. 4/1999, S. 104-108

Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.): Handlungsorientierung im Politikunterricht. Schwalbach: Wochenschau Verlag 1989. (Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1989.

"Handlungsorientierung" ist zu einer didaktisch-methodischen Mode geworden, die nicht nur die Allgemeine Pädagogik, sondern auch die Didaktik politischer Bildung erfaßt hat, als verbindliches Leitbild schon in manche Richtlinien vorgedrungen ist und in nicht wenigen Ausbildungsseminaren als lerntheoretisches Non-Plus-Ultra eines modernen Unterrichts überhaupt gilt. Wenn man solche Entwicklungen betrachtet, fragt man sich, ob der ganze Aufwand an wissenschaftlicher Lehrerbildung in den letzten

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Jahrzehnten nicht für die Katz gewesen ist. Wer sich nämlich auch nur einigermaßen gründlich mit Lernpsychologie befaßt hat weiß, daß "Handlungsorientierung" keineswegs ein didaktischer Königsweg ist, sondern nur unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen den postulierten Erfolg verspricht. Das belegen auch die gründlichen Studien des Max-Planck-Instituts für Psychologie in München. Es ist also höchste Zeit, gegen Übertreibungen mobil zu machen und die theoretische wie praktische Reichweite dieses didaktisch-methodischen Ansatzes genauer zu bestimmen.

Beides geschieht in dem oben genannten Sammelband. Er enthält nach einer Einleitung von Siegfried Schiele 20 Beiträge, die in drei Hauptgruppen zusammengefaßt sind: "Zur Bürgerrolle in der Demokratie", "Handlungsorientierung aus fachdidaktischer Sicht" und "Beispiele aus der Praxis". Während es den Beiträgen der ersten Gruppe darum geht, die Rolle des Bürgers im Staat zu präzisieren, zu deren Aufklärung und Stärkung der politische Unterricht letztlich dienen soll, wird die im engeren Sinne fachdidaktische Problematik im Mittelteil abgehandelt. Abgesehen von den bei solchen Sammelbänden unvermeidlichen Wiederholungen grundlegender Aspekte eröffnet sich dem Leser hier schon im Hinblick auf die Definition des Handlungsbegriffs ein äußerst widersprüchliches Bild, das an dieser Stelle nicht in seinen Einzelheiten wiedergegeben werden kann, aber zu einer spannenden Lektüre führt. Alle Beiträge dieses Mittelteils tragen das Ihre zur Aufklärung der Sachverhalte bei, hervorzuheben ist vielleicht der Aufsatz von Gotthard Breit, weil er die Beliebtheit dieses Ansatzes unter anderem mit dem Niedergang fachdidaktischer Reflexionsfähigkeit in Verbindung bringt. Von den Praxisbeispielen hat mich keines ganz überzeugen können. Entweder treffen sie Politisches nur am Rande, oder sie kommen ihm recht nahe, sind dann aber mit einem derartigen zeitlichen und organisatorischen Aufwand verbunden, daß man sich fragt, ob dieser noch in einem vertretbaren Verhältnis zum Ergebnis steht.

Nach der Lektüre dieses sehr instruktiven Bandes ergeben sich für mich folgende Schlußfolgerungen:

1. Die modische schulpädagogische Vorliebe für "Handlungsorientierung" hat mit fachdidaktischen Überlegungen wenig zu tun. Sie bezieht sich nämlich kaum auf die Analyse von (politischen) Sachverhalten, sondern zielt eher auf die Aktivität von Schülern während des Unterrichts überhaupt - in der Annahme, daß sich dadurch Disziplinprobleme mindern, Motivationen gestiftet, Interessen mobilisiert und für das aktuelle Leben der Schüler verwertbare Ergebnisse entstehen würden. "Handlungsorientierung" in diesem Sinne ist ein Kampfbegriff gegen den klassischen Unterricht der Schule, gegen dessen kognitive Dominanz. Politisches Handeln ist damit in der Regel nicht gemeint.

2. Angesichts unserer repräsentativen politischen Verfassung geht es im politischen Unterricht zunächst einmal darum, das politische Handeln gewählter Akteure zu verstehen und zu beurteilen; zu denen gehören Kinder und Jugendliche und auch die meisten Erwachsenen nicht. Das ist kein Mangel unseres politischen Systems, sondern entlastet die Menschen zugunsten anderer Aufgaben, die ihnen wichtig sind, ohne ihnen die politische Kontrolle zu nehmen. Politisches Handeln ist auf dieser Ebene nicht Gegenstand des Mitmachens, sondern des angemessenen Nachdenkens über das, was da geschieht.

3. Politisches Handeln von Kindern und Jugendlichen findet nicht schon dadurch statt, daß sie im Unterricht zu mehr als zum Denken aktiviert werden. Das mag im Einzelfall methodisch sinnvoll sein, ergibt sich aber aus ganz anderen Begründungen. Wenn etwa Schüler im Rahmen einer Unterrichts-

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(S. 107 ist für Werbung verwendet, H.G.)

aufgabe Bürger befragen, oder wenn sie Recherchen über die Geschichte ihres Wohnortes in der NS-Zeit anstellen, hat das nichts mit Handeln im politischen Sinne zu tun. Anders stellt sich die Sache schon dar, wenn bei den erwähnten Recherchen Ergebnisse herauskommen, die in der Öffentlichkeit politische Aufregung verursachen, wie dies in der Vergangenheit nicht selten der Fall war. Dann muß sich zeigen, ob die Schüler - angeleitet von ihren Lehrern - darauf wirklich politisch reagieren oder etwa nur mit moralisierender Gekränktheit. Wenn sie in der Öffentlichkeit politisches Terrain betreten, gelten die Schutzregeln der Schule nicht mehr, dann werden sie mit Interessen konfrontiert, möglicherweise auch mit Feindschaft und Manipulationsversuchen. Aufgabe der Schule sind solche Arrangements nicht, und viele Beispiele aus der Vergangenheit sprechen dafür, dies nicht unbedingt zu versuchen.

4. Von politischem Handeln der Schüler in der Schule kann man eigentlich nur dann sprechen, wenn es sich um Aktivitäten im Rahmen der schulischen Mitwirkungsmöglichkeiten handelt, weil dann Grundphänomene des Politischen angesprochen sind: Wählen, gewählt werden, sich als gewählter Repräsentant verhalten, ein Amt ausüben, dabei die institutionellen Rahmenbedingungen beachten, Kompromisse eingehen zwischen unterschiedlichen Interessen.

Zu hoffen ist, daß dieser Sammelband dazu beiträgt, eine an und für sich vernünftige unterrichtsmethodische Variation wieder in die Grenzen ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit zu verweisen.

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203. Kurze Anmerkungen zur "emotionalen Bildung" in der Schule (1999)

In: Neue Sammlung, H. 4/1999, S. 583-584

(Der Text bezieht sich auf den Beitrag von Rolf Göppel: "Emotionale Intelligenz" als Bildungsziel? in derselben Ausgabe der Zeitschrift, S. 563-582. H.G.)

Wie der Beitrag von Rolf Göppel zeigt, ist die Frage, ob und wie die Schule die "emotionale Intelligenz" zu fördern mag, wichtig, aber auch schwierig zu beantworten. Deshalb möchte ich dazu noch einige teils kritische, teils weiterführende Überlegungen kurz vorbringen:

1. Insofern die Schule eine öffentliche Institution ist, hat sie nur Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten der Schüler. Im normalen öffentlichen Umgang außerhalb der Schule müssen auch die Erwachsenen sich auf das Verhalten der anderen verlassen können, deren innere Beweggründe und emotionale Dispositionen gehen uns nichts an, sonst müßte jede kalkulierbare Kommunikation zusammenbrechen. Gerade der Fähigkeit also, nicht "ganzheitlich" miteinander umzugehen, sondern unsere Emotionen auf bestimmte soziale Orte und Situationen verteilen und sie entsprechend kontrollieren zu können, verdanken wir einen großen Teil unserer alltäglichen Freiheiten. Diese Fähigkeit mit ihren Mitteln und im Rahmen ihrer Aufgaben zu trainieren, macht die sozialerzieherische Aufgabe der Schule aus.

2. Da die Schule aber nicht nur eine öffentliche, sondern auch eine pädagogische Einrichtung ist, muß das, was die Schüler können sollen, immer auch erst noch gelernt werden. Das bedeutet im einzelnen:

- Der Bildungsprozeß, der durch die Konfrontation mit Schulstoffen in Gang gesetzt wird, hat, insofern er aus je subjektiver Aneignung besteht, notwendigerweise eine mehr oder weniger stark wirkende emotionale Komponente. Diese subjektive Wirkung gehört aber grundsätzlich zum psychischen Eigentum des Schülers, das er für sich behalten darf. Wenn er von sich aus davon etwas während des Unterrichts preisgibt, ist das sein Recht und muß dann auch in der Unterrichtskommunikation aus Gründen der offensichtlich gewünschten Vertiefung der Bildung aufgegriffen werden - solange dies die Intimität der Mitschüler nicht verletzt und wenn es nicht aus taktischen Gründen erfolgt, etwa um Leistungsansprüchen auszuweichen, was im Schülerjargon "labern" heißt. Einen Anspruch hat die Schule nur auf das, was auch sonst öffentlich erwartet werden darf, nämlich auf Argumentationen und Begründungen. Die Bereitschaft zur Preisgabe psychischen Eigentums ist nach aller Erfahrung teils generationsspezifisch begrenzt, teils hängt sie auch vom Vertrauensklima in einer Klasse ab.

- Selbstverständlich können auch Gefühle zum Thema des Unterrichts werden, zumal wenn sie in den Stoffen - zB. in der Literatur - sowieso thematisiert sind. Aber auch dann gelten die Regeln des gedanklich geordneten und ordnenden Unterrichts, und die Emotionen der Schüler selbst bleiben deren Eigentum. Sie müssen dann sachbezogen über Gefühle sprechen, dürfen aber ihre eigenen verschweigen.

- Wenn eine konzentrierte Arbeit an der Sache nicht möglich ist, weil emotional bedingte Störungen dies verhindern, zeigt dies nur an, daß die Schüler noch nicht gelernt haben, ihre emotionalen Impulse entsprechend zu steuern. Sie lernen es aber nicht dadurch, daß man ihre Emotionen als solche

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zum Thema macht, sondern indem man ihnen erklärt, warum emotionale Selbstkontrolle unerläßlich für die gemeinsame Bearbeitung einer Aufgabe ist - was außerhalb der Schule, etwa im Beruf, ebenfalls gelten muß. Emotional bedingte Störungen sind ein Disziplinproblem, kein Bildungsproblem. Auch in diesem Falle gilt, daß der Schüler nicht verpflichtet ist, seine emotionalen Beweggründe offenzulegen, wenn er es nicht will; aber das notwendige Verhalten muß angemahnt werden.

- Wenn in einer Klasse massive Konflikte entstanden sind, die die Arbeit behindern, müssen diese selbstverständlich zunächst bearbeitet werden, aber mit dem klaren Ziel, das Verhalten entsprechend zu korrigieren. Ob und inwieweit dabei emotionale Aspekte durch die Schüler zur Sprache kommen, bleibt auch in solchen Fällen ihnen überlassen.

3. Von der bisher erwähnten formellen Ebene ist die informelle zu unterscheiden. Zum Angebot der "pädagogischen Beziehung" gehört seitens des Lehrers auch zu signalisieren, daß er in Konfliktfällen zu Gesprächen bereit ist, in denen Schüler auch Persönliches preisgeben können - wenn sie es denn wollen. Aber dafür muß sich der Schüler seine Lehrer wählen können.

4. Wer der Meinung ist, daß dies alles für eine notwendige "emotionale Bildung" nicht ausreicht, muß sich außerhalb der Schule an den freien Bildungs- oder Therapiemarkt wenden.

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204. Erziehung statt Unterricht. (1999)

In: Michael Felten (Hrsg.): Neue Mythen in der Pädagogik. Warum eine gute Schule nicht nur Spaß machen kann. Ein bildungspolitisches Lesebuch. Donauwörth 1999, S. 77-93

Kinder sind immer anders, als ihre Eltern als Kinder waren - von den Großeltern ganz zu schweigen. Das liegt daran, daß die Zeiten sich ändern und somit auch die Erfahrungen, die Kinder machen können oder müssen. Selten jedoch wurden aus der "veränderten Kindheit" derart teilweise radikale pädagogische Schlußfolgerungen gezogen wie gegenwärtig. Die pädagogische Literatur ist voll von Klagen darüber, daß die überlieferten pädagogischen Vorstellungen in Familie wie Schule überholt seien angesichts der aus einer veränderten Lebenslage resultierenden Einstellungen und Bedürfnisse der neuen Kinder.

Die leitenden Stichworte sind: Verschärfung der sozialen Gegensätze, Arbeitslosigkeit und neue Armut, gravierende familiäre Unterschiede, Berufstätigkeit beider Elternteile, viele Alleinerziehende, zahlreiche Einzelkinder, der kulturelle Pluralismus, Integrationsprobleme von Aussiedler- und Ausländerfamilien. Dazu kommen Umweltbelastungen, multimediale Berieselung, belastete Atemluft, ungesunde Ernährung, verbauter Lebensraum, Straßenlärm, Bewegungsmangel. Kinder, die unter derartigen Bedingungen aufwachsen, könne man nicht einfach mehr wie früher unterrichten, vielmehr müsse die Schule zu einem umfassenden "Lebensraum" werden, in dem die Schüler Geborgenheit finden, zu sich selbst kommen und nachholen können, was sie an Erziehung bisher entbehrt hätten. Derartige Analysen kulminieren in einem tiefen Ressentiment gegen den herkömmlichen Unterricht und gegen die Leistungen, die er abverlangt. Aber sind solche Diagnosen wirklich zutreffend und sind es vor allem die Schlußfolgerungen, die daraus gezogen werden?

Wenn ich die gegenwärtige Kindheit mit meiner eigenen - Jahrgang 1932 - vergleiche, sind die Veränderungen unübersehbar. Ich wuchs wie wohl die meisten meiner Generation in einer Familie auf, die nur pädagogisch gefilterte Informationen über das wirkliche Leben an mich heranließ, und in einer Schule, die ebenso verfuhr. Fernsehen gab es nicht, der Rundfunk war "gleichgeschaltet", Konsumgüterwerbung hätte keinen Sinn gemacht, weil es keine Massenkaufkraft gab - für das, was auf Lebensmittelkarten zu erhalten war, brauchte man keine Werbung. Die Freizeitoptionen waren ebenso gering wie 

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die des Konsums, Kleidung mußte aufgetragen oder möglichst gut erhalten an die jüngeren Geschwister weitergegeben werden, Spielzeug war eine Rarität. In allen Fragen, die für das Alltagsleben eines Kindes von Bedeutung sind, stimmten Familie und Öffentlichkeit überein: Was den Erwachsenen als noch nicht "kindgemäß" erschien, war dem Kind auch nicht zugänglich; selbst das Grauen des Krieges - die Bombennächte an der "Heimatfront" - sollte ihm möglichst verheimlicht werden durch Evakuierung in "bombensichere" Gebiete, und in den Wochenschauen wurden vergewaltigte Frauen zwar als tot, aber immer voll bekleidet dargestellt. Modern gesprochen stimmten in meiner Kindheit Erziehung und Sozialisation überein: Was Familie und Schule dem Kind sagten und von ihm erwarteten, entsprach im wesentlichen dem, was es im Rundfunk und sogar bei der Hitlerjugend hörte. Für aggressive Jugendgangs hätte man nicht einmal die Polizei gebraucht, damit wurden die Männer vor Ort allein fertig. "Ungebührliches" Benehmen in der Öffentlichkeit wurde von jedem gerade anwesenden Erwachsenen moniert, und die so Gerügten wären nicht auf die Idee gekommen, über ihre Eltern einen Anwalt einzuschalten; die hätten ihnen statt dessen eher eine Tracht Prügel verabreicht. Kindheit war ebenso geprägt durch Fürsorge wie durch eine fast lückenlose soziale Kontrolle.

Nichts von dem, was ich hier skizziert habe, gilt heute noch; das muß man keinem Zeitgenossen mehr beweisen. Allerdings war schon damals die von den Nazis herbeigeführte "Gleichschaltung" des öffentlichen Lebens, der ich meine eindimensionale, durch pluralistische Widersprüche nicht angefochtene Kindheit verdanke, historisch überholt. Vorher, in der Weimarer Republik, hatte sich die Pluralisierung der Gesellschaft und damit auch ihrer Werte bereits breit entfaltet - als notwendige Konsequenz einer modernen Gesellschaft. Die nun von den Nationalsozialisten politisch wieder erzwungene Übereinstimmung von Erziehung und Sozialisation brachte ihnen zwar nicht geringe Sympathien in der Bevölkerung ein, machte aber auch die Erwachsenen zu Objekten von Erziehung, was wohl auch die eigentliche Absicht war. Die fast sentimentale Einstellung des Regimes zum Kind war zudem insofern verlogen, als sie der planmäßigen Ermordung jüdischer und osteuropäischer Kinder offensichtlich nicht widersprach.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Verbrechen selbstverständlich verurteilt, aber die Vorstellung, man könne und müsse Kindern und Jugendlichen ein möglichst nicht-pluralistisches Aufwachsen garantieren, blieb in den Köpfen der damals Erwachsenen weitgehend intakt. In diesem Punkte waren sie - wenn auch meist unbewußt - der Gleichschaltung weiterhin verbunden, während sie sonst in fast allen Belangen wieder an die Zeit vor 1933 anknüpfen wollten. Daraus entstand ein Widerspruch, der viel zum späteren 

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Zorn der Studentenbewegung beigetragen hat: Man wollte zwar den Pluralismus für Staat und Gesellschaft, weil nur in seinem Rahmen politische Demokratie und wirtschaftlicher Fortschritt möglich waren, aber man wollte ihn nicht auch für die Erziehung. Deshalb geriet die deutsche Pädagogik erneut in eine Art von Verspätung im Vergleich zu anderen westlichen Ländern, für die die Tatsache des pluralistischen Aufwachsens seit Jahrzehnten selbstverständlich und nicht durch eine Phase wie die des Nationalsozialismus unterbrochen war. In diesen Ländern finden wir deshalb auch nicht das allgemeine Gejammer von Pädagogen über die Schlechtigkeit der Welt, über die bösen Einflüsse des Fernsehens oder über die fehlenden Perspektiven für junge Menschen; dort weiß man seit langem, daß Erziehung im Rahmen dieser pluralistischen Widersprüche erfolgen muß, bei uns jedoch hat diese Einsicht bis heute nicht recht gegriffen.

Sozialisation und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft

Die erwähnten Veränderungen der Kindheit lassen sich im Kern unter dem Stichwort der "Pluralisierung" der Gesellschaft zusammenfassen. Die Kinder heute werden ja nicht nur von der Familie und der Schule erzogen bzw. sozialisiert, sondern auch von den Massenmedien, der Konsumgesellschaft (symbolisiert durch das Kaufhaus) und nicht zuletzt von den Gleichaltrigen, und diese Faktoren ziehen nicht mehr - wie noch zur Zeit meiner Kindheit - am gleichen Strang. Unter Sozialisation werden alle gesellschaftlichen Einwirkungen verstanden, die Kinder und Jugendliche erreichen und mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Zur Erziehung dagegen wird nur derjenige Teil der Sozialisation gerechnet, der mit entsprechenden Absichten von bestimmten Personen - Eltern, Lehrern, Sozialpädagogen - ausgeht. Wir können uns das Aufwachsen der Kinder insgesamt als eine Art von Kräftefeld vorstellen, dessen einzelne Faktoren nach unterschiedlichen Maßstäben auf das Kind einwirken und mit denen es sich auseinandersetzen muß. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine erste wichtige Konsequenz:

Im Rahmen ihrer pluralistischen Sozialisation müssen die Kinder lernen, sich an unterschiedlichen sozialen Orten unterschiedlich je nach den dort geltenden Regeln zu verhalten - anders in der Diskothek als in der Schule, anders im Kaufhaus als in der Kirche, in der Familie anders als unter Gleichaltrigen. Es gibt also keinen generellen Maßstab mehr für "richtiges" Verhalten überhaupt; "richtig" verhält sich ein Kind vielmehr, wenn es sich am jeweiligen Ort erfolgreich verhält, nämlich entsprechend den allgemeinen Erwartungen, auf 

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die es dort trifft. Im Konfirmandenunterricht soll es sich z.B. nach innen gekehrt und konzentriert verhalten, in der Diskothek aber extrovertiert seinen Gefühlen freien Lauf lassen. An jedem dieser Orte kann es zum Außenseiter werden, wenn es die jeweils gebotenen Verhaltenserwartungen verwechselt. Im Unterschied zu meiner Kindheit müssen Kinder also heute lernen, ihr Sozialverhalten bereits früh zu differenzieren - je nachdem, wo sie sich gerade befinden.

Wenn das aber so ist, dann können Kinder das, was sie für ihr gegenwärtiges und künftiges Leben insgesamt brauchen, nicht mehr an einem Ort - weder in der Familie, noch in der Schule - umfassend lernen. Was man wo braucht, kann man nur durch Teilnahme lernen, ohne daß es von einem sozialen Ort auf alle anderen einfach übertragbar wäre. Man kann in der Familie nicht lernen, was Schule ist, weil die Familie nicht unterrichtet; man kann in der Schule nicht lernen, wie man sich erfolgreich in einer Diskothek verhält, weil die Schule keine Unterhaltungsveranstaltung ist. Die traditionelle Erziehungsidee beruhte jedoch auf einer ganz anderen Vorstellung: Man formt unter pädagogischen Gesichtspunkten in einem dafür geeigneten pädagogischen Milieu - Familie, Schule - den jungen Menschen so, daß er danach als sittlich gefestigte Persönlichkeit den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen vermag und seinen moralischen Standpunkt überall im Leben durchhalten kann. Erst kommt die Erziehung, dann das Leben; oder aber das Leben wird - wie im Nationalsozialismus - insgesamt so organisiert, daß die Unterschiede von Erziehung und Sozialisation bedeutungslos werden. Diese Vorstellung entspricht aber nicht mehr der Wirklichkeit des modernen Aufwachsens. Erziehung, also das, was Eltern und Lehrer tun, kann nur noch als Intervention in das Leben von Kindern und Jugendlichen verstanden werden, das im ganzen auch von solchen Einwirkungen geprägt ist, die nicht nach pädagogischen Grundsätzen verfahren. Der Konsummarkt fragt z.B. nicht danach, was für Kinder gut ist, sondern danach, was sich an Kinder oder durch deren Vermittlung gut verkaufen läßt.

Die unterschiedlichen Einflüsse, denen die Kinder ausgesetzt sind, gehorchen also verschiedenen Maximen, die miteinander in Konkurrenz treten und jeweils eigentümliche Maßstäbe zur Geltung bringen. Die Maßstäbe der schulischen Aufklärung sind nicht die des Journalismus, des Freizeitmarktes oder der Fernsehunterhaltung und umgekehrt. Alle diese Sozialisationsfaktoren haben ihren eigenen Sinn und ihre eigenen Qualitätsmaßstäbe. Der Journalismus will z.B. Partei für bzw. gegen etwas ergreifen, der schulische Unterricht dagegen muß - wenn er konsensfähig bleiben will - auf solche Parteinahmen verzichten; seine Art der Aufklärung ist von ganz anderer Art. Derartige Unterscheidungen muß das Kind erfahren können und sich entsprechend zu 

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verhalten lernen: die Welt ist aufgeteilt in einzelne Bereiche, deren Werte nicht miteinander identisch sind. Die besondere Schwierigkeit des heutigen Aufwachsens besteht im wesentlichen darin, daß die Kinder diese widersprüchlichen Erwartungen, die ja nicht zuletzt auch Wertwidersprüche zum Ausdruck bringen, produktiv in ihre Persönlichkeit zu integrieren und für ihre Lebensplanung zu nutzen lernen.

Darin steckt Chance und Gefahr zugleich: Einerseits ist diese Pluralisierung die Voraussetzung dafür, daß die Kinder schon früh autonome Handlungs- und Entscheidungskompetenzen erhalten und sich in diesem Sinne individualisieren können; denn Individualisierung hätte ja ohne diesen Pluralismus keinen sozialen Sinn. Individualisierung setzt ihrem Begriff nach Handlungsspielräume voraus. Andererseits ist diese Freiheit aber auch ein Zwang, der insbesondere für diejenigen Kinder zur Last werden kann, die nicht über die geistigen, materiellen und sozialen Fähigkeiten verfügen, die für eine produktive und befriedigende Nutzung dieser Chancen erforderlich sind. Jugendliche Randgruppen muß man zumindest auch als den Versuch deuten, diese Schwierigkeiten durch Regression bzw. durch Unterwerfung unter einen die Welt vereinfachenden Gruppenzwang zu lösen. Die nationalsozialistische Bewegung bezog aus einem derartigen antipluralistischen Affekt einen großen Teil ihrer Dynamik und ihres Ansehens in der Bevölkerung.

Das Leben unter radikal pluralistischen Bedingungen enthält also auch eine politische Brisanz; denn der einzelne kann auch im Pluralismus nicht pluralistisch leben, er kann z.B. nicht zugleich Christ, Atheist, Muslim sein oder sich für politisch rechts und links zugleich halten. Diese Widersprüche von Optionen für sich in eine überzeugende Fassung zu integrieren, und dies nicht ein für allemal, sondern ein Leben lang: das ist eine notwendige persönliche Leistung, die wir im allgemeinen als Identität bezeichnen, und diese Leistung kann kein Erzieher mehr stellvertretend für das Kind übernehmen. So gesehen ist der Versuch abweichender jugendlicher Subkulturen, sich eine möglichst eindeutige "Szene" zu verschaffen, in der die pluralistischen Widersprüche und Freiheitsräume nicht gelten sollen, eine mißlungene Suche nach Identität - mißlungen deshalb, weil sie außerhalb der eigenen Szene nicht erfolgreich sein kann.

Was aber bleibt von der Erziehung, wenn der moderne Pluralismus den persönlichen Freiheitsspielraum von Kindern immer mehr vergrößert hat? Was wir traditionell unter Erziehung verstehen, setzt einen Bezug zu einem Kollektiv voraus. Zur Individualität kann man nicht erziehen, man kann sie fördern und ermutigen oder behindern, aber nicht zum Ziel pädagogischen Handelns machen. Das Individuum findet seine Form in tätiger Auseinandersetzung mit äußeren Ansprüchen, auch mit erzieherischen. Erziehung zielt 

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jedoch immer auf etwas, was ein Individuum mit anderen gemeinsam haben soll. Man darf sich da nicht durch die reformpädagogische Tradition täuschen lassen, die immer die Individualität des Kindes gepriesen hat: In Wahrheit wollten auch die Reformpädagogen Gefolgschaft für ihre Ziele, denen sie eine für das Kollektiv der Schule, des Volkes, des Staates usw. erhebliche Bedeutung beimaßen und auch heute beimessen. In Wahrheit geht es ihnen lediglich um einen Wechsel der kollektiven Verbindlichkeit bzw. der Bezugspunkte dafür.

Zwischen dem Prozeß der Individualisierung der Kindheit und dem Erziehungsanspruch gibt es also einen Widerspruch. Die Reichweite von Erziehung im Sinne eines kollektiven Bezugs geht nämlich in dem Maße zurück, wie die Individualisierung fortschreitet; es ergibt keinen Sinn, diesen individuellen Spielraum wieder durch Erziehung besetzen zu wollen. Wenn es zutrifft, daß Erziehung sich auf soziale Zusammenhänge bezieht, dann kann sie heute nur noch die Grenzen zur Geltung bringen, deren Überschreiten den sozialen Zusammenhalt gefährden würde. Erziehung wird so zu einem eher negativen Begriff, etwa nach dem Motto: Ich schreibe Dir nicht vor, was du tun sollst, sondern nur noch, was Du nicht tun darfst. Nicht von ungefähr ist deshalb gegenwärtig von Grenzsetzungen die Rede, wenn Erziehungsprobleme erörtert werden.

Im öffentlichen Leben ist diese Grenze die Legalität: Solange ein Kind oder Jugendlicher kein Gesetz bricht, gibt es auch keine Möglichkeit der pädagogischen Intervention etwa durch staatlichen Druck. Früher griff der Staat bereits ein, wenn "Verwahrlosung" drohte. In diesem Wandel kommt zum Ausdruck, daß unser Rechtssystem zugeschnitten ist auf diejenigen Bürger, die - vor allem durch ihre Bildung und persönliche Autonomie - in der Lage sind, nicht nur im Rahmen der Legalität zu verbleiben, sondern den individuellen Handlungsspielraum auch produktiv zu nutzen. Um deren Freiheit zu schützen, müssen wir darauf verzichten, rechtzeitig in das Leben derjenigen Kinder und Jugendlichen kontrollierend und helfend einzugreifen, die diesen Ansprüchen nicht gewachsen sind, obwohl frühe, präventive Interventionen ihnen vielfach helfen würden. Vielmehr sind wir auf deren freiwillige Mitwirkung angewiesen. Freiwilligkeit ist jedoch nur zu erwarten, wenn es ein entsprechendes Problembewußtsein gibt, aber gerade das haben diese Kinder und Jugendlichen in der Regel nicht: Sie wissen nicht, was ihnen fehlt, und wenn man es ihnen sagt, streiten sie es ab. Diese Rechtslage ist für die Arbeit der Jugendhilfe zu einem großen Problem geworden; denn selbstverständlich gibt es nach wie vor das, was früher "Verwahrlosung" genannt wurde - jenen schleichenden Prozeß, den wir vielleicht am besten bei 

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der Drogenabhängigkeit beobachten können: mehr und mehr werden die menschlichen Beziehungen zur Familie, zu Freunden, zur Schule, zum Arbeitsplatz ruiniert, bis das Leben in einer sozial isolierten Existenz versinkt.

Der eben erwähnte, durch den Zwang zur Individualisierung eröffnete autonome Handlungsraum wird nun selbstverständlich nicht aus der bloßen Innerlichkeit des Kindes heraus ausgefüllt. Es entscheidet nicht allein von sich aus, was darin geschieht. Vielmehr spielen sich hier vielfältige Kommunikationen ab, aus denen sich die Kinder eine Strategie entwickeln. Auch hier gibt es Kollektives - z.B. durch den Einfluß der Massenmedien - , aber dieses Gemeinsame kann nicht mehr durch Erziehung erzwungen werden. In diesen freien Handlungsspielraum können natürlich auch Erwachsene - Eltern, Lehrer - hineinwirken, indem sie etwa im Unterricht der Schule die Vorstellungswelt und die Phantasie des Kindes mit entsprechenden Aufgaben beschäftigen, oder indem Eltern zu Auseinandersetzungen über Normen und Regeln des Lebens auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen anregen. Innerhalb der durch Erziehung unmißverständlich zu ziehenden Grenzen können sich vielfältige und produktive pädagogische Einwirkungen ergeben. Diese jedoch ebenfalls als "Erziehung" zu bezeichnen, wäre unzweckmäßig, weil dadurch die wichtige Unterscheidung zwischen Grenzsetzung und freiem Spielraum der Kommunikation verwischt würde. Die modernen psychologisch orientierten Erziehungsratgeber beschäftigen sich im wesentlichen mit diesem freien Gestaltungsraum, nicht mit den sozial notwendigen Grenzsetzungen; deshalb können sie sich auch so modern-antiautoritär gerieren, weil sie lediglich die Honigseite der Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern im Blick haben. Über die Gestaltung des freien Handlungsraumes kann man z.B. gleichberechtigte Vereinbarungen mit Kindern treffen, über die Grenzen im Kern jedoch nicht. Wenn beispielsweise in einer Schule - was als pädagogisch modern gilt - Lehrer und Schüler sich in einer vertragsähnlichen Verabredung verpflichten, auf Gewalt zu verzichten, dann ist das eine Illusion, weil die Gewaltfrage längst geklärt ist - durch den Gesetzgeber. Gewaltfreiheit ist als erzieherische Aufgabe durchzusetzen, Vereinbarungen, die durchaus sinnvoll sein können, müssen davon als von einer Vorgabe ausgehen, die den Beteiligten nicht zur Disposition steht.

Was wir traditionell "Erziehung" nennen, hat sich also in zwei verschiedene Ebenen aufgeteilt: als Grenzsetzung durch die Normen und Regeln der jeweiligen sozialen Orte einerseits und als persönliche pädagogische Einwirkung (von Eltern und Lehrern) im Rahmen des individualisierten Handlungsspielraums der Kinder und Jugendlichen andererseits. Man kann, wie es heute üblich ist, beides unter dem Begriff der Erziehung zusammenfassen, 

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muß dann aber die Unterschiede deutlich sehen. Im zweiten Falle geht es z.B. nicht darum, Gehorsam zu verlangen, sondern eher um Vorbild sein, überzeugen, Perspektiven entwickeln, unterstützen und ermutigen.

Wenn es nun zutrifft, daß im gesamten Konzert der unterschiedlichen Sozialisationsfaktoren Familie und Schule nur jeweils ein Instrument darstellen, und wenn es weiter zutrifft, daß Erziehung (im engeren Sinne) gebunden ist an den sozialen Sinn der jeweiligen sozialen Organisation, dann folgt daraus, daß jede dieser pädagogischen Instanzen auch ihre eigenen Wertmaßstäbe zur Geltung bringen muß: die Familie ebenso wie in anderer Weise die Schule. Beide erziehen zunächst einmal für sich selbst, für ihren eigenen Sinn und Zweck. Es gibt also keine einheitliche, auf den ganzen Menschen bezogene Erziehungspraxis mehr, die einzelnen Erziehungsräume - Familie, Schule - können sich nur noch partikular verstehen, eben als begrenzte Intervention.

Zum Stellenwert der Schule

Damit sind wie bei der Schule, von der dieses Buch ja handelt. Es ist bemerkenswert, daß die eben beschriebenen, durch den radikalisierten Pluralismus erzwungene Revision der Erziehungsvorstellung im Hinblick auf die Schule kaum beachtet wird. Im Gegenteil werden aus der Öffentlichkeit alle möglichen Wünsche an sie herangetragen: Sie soll die Defizite der Familie kompensieren, den Rechts- und Linksradikalismus unter Jugendlichen eindämmen, präventiv gegen Kriminalität und Verwahrlosung wirken, Aids verhindern, die Verkehrstoten minimieren. Es gibt inzwischen kein gesellschaftliches Problem mehr, das nicht lauthals der Schule zur Lösung aufgetischt wird. Betrifft das Problem in erster Linie die Erwachsenen, so soll die Schule langfristig vorbeugen, betrifft es die Kinder und Jugendlichen selbst, soll sie möglichst schnell und effektiv intervenieren. Jedes halbwegs für wichtig gehaltene politisch-gesellschaftliche Problem - und davon gibt es wahrlich genug - wird zumindest auch als pädagogisches formuliert und damit zur Aufgabe der Schule erklärt. Wenn es aber zutrifft, daß Erziehung immer einen kollektiven Bezug haben muß, stellt sich die Frage, woher entsprechende Selbstverständlichkeiten heute kommen sollen. Denkbar wären gemeinsame Vorgaben durch die Lehrer als Kollegium, durch die Eltern und durch den Staat.

Der Pluralismus hat aber längst auch die Lehrerkollegien ergriffen, die in vielen pädagogischen Fragen nicht mehr einer Meinung sind und angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus auch nicht mehr sein können. Wenn es hoch 

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kommt, einigt sich ein Kollegium über Grundsätze des gemeinsamen Umgangs mit den Schülern und deren Eltern. Aber das kann nur ein wenn auch wichtiger Minimalkonsens sein. Im übrigen vertreten die Lehrer jeweils einzeln ihre persönlichen Auffassungen in pädagogisch relevanten Fragen. Das muß übrigens für die Schüler keineswegs verwirrend sein, weil sie auf diese Weise ja auch erfahren können, wie ein und derselbe Beruf individuell gestaltet werden kann.

Hinzu kommt, daß im Unterschied zu früheren Zeiten die Schule sich von ihren jeweiligen Milieus emanzipieren mußte. "Erziehung" durch die Schule war früher im wesentlichen Erziehung zu demjenigen Milieu, in dessen Rahmen sie sich verstand: katholisch, evangelisch, bildungsbürgerlich, sozialistisch. Im Pluralismus ist jedoch dieser kollektive Bezug weitgehend verschwunden, die Schularbeit befindet sich nicht mehr in Übereinstimmung zur übrigen Sozialisation, sie wird vielmehr zu einem spezifischen Instrument im Konzert der gesamten Sozialisation.

Die Elternschaft repräsentiert ebenfalls kein kollektives Milieu mehr, auf das sich ein schulischer Erziehungswille generell stützen könnte. Vielleicht ist ein Rest davon noch im Umkreis privater konfessioneller Schulen zu finden. Aber sonst stehen die Eltern der Schule im allgemeinen einzeln gegenüber. Wenn es hier etwas Kollektives gibt, dann handelt es sich meist um von den Massenmedien transportierte pädagogische Moden, denen aber keine soziale Wirklichkeit und vor allem auch keine Verbindlichkeit im Sinne der alten Milieus mehr entspricht.

Und der Staat kann in seinen Schulen nicht erziehen, weil er andererseits diesseits der Legalität alle wesentlichen normativen Entscheidungen freigegeben hat und deswegen den Schülern nicht mehr vorschreiben kann, wie sie sich in Alltagsfragen zu verhalten haben. In der Öffentlichkeit ist inzwischen alles erlaubt, was nicht per Gesetz verboten ist. Zu meiner Schulzeit konnte die Schule noch Rechenschaft über mein außerschulisches Freizeitverhalten verlangen, das war in der Schulordnung so vorgesehen und wurde im Konfliktfall auch geltend gemacht, und dies weit vor einem Gesetzesverstoß; von einem Schüler wurde damals ein "sittlich einwandfreies" Verhalten in der Öffentlichkeit "selbstverständlich" gefordert, da wartete man nicht erst darauf, daß ein Gesetz übertreten wurde.

Merkwürdigerweise wird der Ruf nach "mehr Erziehung" in der Schule zu einem historischen Zeitpunkt laut, an dem die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür weitgehend entschwunden sind. Es ergibt also keinen Sinn mehr, einfach eine Liste des erzieherisch Wünschbaren aufzustellen und der Schule zu sagen, sie solle das alles nun auch verwirklichen. Und wie immer, wenn einer Idee die Wirklichkeit davongelaufen ist, für die sie einmal 

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tragfähig war, entsteht daraus fast folgerichtig eine Ideologie. Ein großer Teil dessen, was sich heute schulpädagogisch fortschrittlich gibt, ist in diesem Sinne tatsächlich ideologisch geworden. Das zeigt sich insbesondere an drei Tendenzen:

1. Unter dem Postulat eines unreflektierten Erziehungsanspruchs droht die eigentliche unterrichtliche Aufgabe zugunsten anderer, für erzieherisch wichtig gehaltener, immer mehr zurückgedrängt zu werden. Ein großer Teil dessen, was schulpädagogisch "in" ist, erklärt sich von daher, etwa "Schülerorientierung", "soziale Integration", "soziales Lernen" oder "Lebensweltorientierung". Solche erzieherischen Vorgaben werden dann auf den Unterricht übertragen, so daß nur noch das gelehrt wird, was diesem Ziel dient; die objektive Wirklichkeit, die der Unterricht ja aufklären soll, wird von daher sortiert und instrumentalisiert. Das wird erkennbar in den sogenannten "Lernzielen", die der Unterricht erreichen soll. Derartige erzieherische Ansprüche erweisen sich darüber hinaus als bodenlos, weil der Unterricht von immer neuen erzieherisch gemeinten Absichten geradezu überschwemmt wird; über die Schiene "Erziehung" werden Ansinnen an die Schule herangetragen, die im Prinzip grenzenlos und auch allen möglichen Moden des Zeitgeistes ausgeliefert sind: Was immer an Kindern und Jugendlichen zu bemängeln ist, wird der Schule übertragen, die diese Aufgaben unter den Bedingungen des Pluralismus jedoch nicht mehr erfüllen kann.

2. Über den Begriff der "Erziehung" werden, wenn man genauer hinsieht, im wesentlichen pädagogisch kaschierte ideologische Weltsichten transportiert, die sich gegenüber den realen gesellschaftlichen Bezügen verselbständigen. Deren wesentliche Stichworte sind "Ganzheitlichkeit" und "Integration". Vertrat die Schule früher im wesentlichen die Weltanschauung des ihr zugehörigen Milieus, so produziert sie nun eine eigene, und die ist gekennzeichnet durch einen anti-intellektuellen, anti-kognitiven und insofern auch gegenaufklärerischen Affekt, ferner durch Emotionalisierung und durch Überbetonen menschlicher Nähebeziehungen - alles Momente, die den Unterricht immer mehr entwerten. Eine Variante davon ist die vorgängige Moralisierung von Sachverhalten, die schon bis in manche Richtlinien vorgedrungen ist. Die Moralisierung der Welt tritt an die Stelle ihrer Aufklärung.

3. Unter dem Stichwort der "Sozialpädagogisierung" soll die Schule pädagogische Aufgaben der Kompensation oder gar der Nachsozialisierung übernehmen. Schwierige, lernschwache, geistig behinderte Kinder sollen 

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in den Mittelpunkt der erzieherischen Arbeit rücken. Die Schule soll so zur umfassenden "Lebensschule" werden. Aber für derartige, an sich ungemein wichtige pädagogische Aufgaben ist die Schule nicht qualifiziert, rechtlich nicht verfaßt und auch nicht ausgestattet. Auf diese Weise wird die pädagogische Arbeitsteilung zwischen Familie, Schule und Jugendhilfe unterlaufen, anstatt zu einer produktiven, dem Wohl gerade des schwierigen und lernschwachen Kindes dienenden Zusammenarbeit zu führen. Daß Schule und Jugendhilfe rechtlich unterschiedlich geregelt sind, ist bedeutsam für unsere demokratische Verfassung. nämlich ein wesentliches Moment der Gewaltenteilung. Wenn man das ignoriert, droht die Schule zu einem pädagogischen Monopolisten zu werden, zu einem pädagogischen Leviathan.

Demgegenüber ist die tatsächliche erzieherische Kompetenz der Schule sehr viel enger zu fassen, aber in dieser Beschränkung kann sie durchaus wirksam sein. Ich sehe sie vor allem unter vier Gesichtspunkten, von denen die ersten drei als "pädagogische Einwirkungen" in den Autonomiebereich der Schüler zu bezeichnen wären, die vierte als durch den sozialen Ort vorgegebene verbindliche "Erziehung" gelten muß.

1. Der Unterricht selbst hat eine erzieherische Implikation, die allerdings im Einzelfalle schwer zu kalkulieren und schon gar nicht planbar ist; denn er beschäftigt die Vorstellungskraft der Schüler und stattet sie mit formalen geistigen Fähigkeiten aus. Indem die Schüler sich in der Schule gerade nicht mit sich selbst bzw. ihrer aktuellen Befindlichkeit befassen, sondern mit geistigen Ansprüchen, die die Stoffe und damit auch die natürliche und kulturelle Wirklichkeit an sie stellen, werden sie z.B. auch mit Werten konfrontiert, an denen sie sich abarbeiten können. Zudem fordert der Unterricht wichtige soziale Verhaltensweisen heraus wie Einfühlungsvermögen, Toleranz, Zuhören können sowie gewaltlose, nämlich argumentative Klärung von Meinungsverschiedenheiten.

2. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung, die immer noch von der Persönlichkeit der Lehrerinnen und Lehrer ausgeht: wie sie mit Schülern kommunizieren und sich Konflikten stellen, wie sie sich fachlich und didaktisch präsentieren, wie sie mit dem geistigen Gehalt ihrer Stoffe selbst umgehen, wie sie zwischen persönlicher Meinung und sachlicher Information trennen usw. Nach wie vor können von Lehrerinnen und Lehrern bedeutsame Vorbildwirkungen ausgehen, auch wenn das nicht immer offensichtlich ist.

3. Erzieherische Wirkung kann nicht zuletzt auch von der Art und Weise aus-

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gehen, in der das soziale Miteinander in der Schule gestaltet wird. Dabei ist nicht nur an Stil und Ton des täglichen Umgangs und an die Möglichkeiten der formellen Mitbestimmung der Schüler zu denken, sondern auch an das, was man gemeinhin "Schulleben" nennt, also etwa künstlerische Aufführungen, Feste und Feiern. Es widerspricht der Aufgabe der Schule ja nicht, wenn die Schüler sich dort wohl und sozial akzeptiert fühlen. Aber die Umkehrung dieses Gedankens ergibt keinen Sinn, daß nämlich erst Ziele der sozialen Erziehung festgelegt werden, um daraus dann geeignete Unterrichtsstoffe abzuleiten.

Diese drei erzieherischen Implikationen verbleiben allerdings im psychischen Eigentum des Schülers, der letztlich entscheiden muß, welche Schlußfolgerungen er daraus für sein eigenes Leben und dessen Orientierung zieht.

4. Anders verhält es sich mit den Regeln, die die Schule als Institution geltend machen muß, die können nicht zur Disposition des einzelnen Schülers stehen. Als Institution muß die Schule gewährleisten, daß ihr Zweck, die Abhaltung von Unterricht, auch verwirklicht werden kann. Im Unterschied zur Familie ist die Schule Teil des öffentlichen Lebens, und das Kind tritt mit dem Schulbeginn in dieses öffentliche Leben ein. Daraus folgt unter anderem, daß der Schulunterricht nicht einfach die Fortsetzung des elterlichen Erziehungswillens mit anderen Mitteln sein kann. Im privaten Rahmen der Familie dürfen z.B. Vorurteile aller möglichen Art, etwa rassistische oder sexistische, vertreten werden, jedenfalls kann das niemand verhindern; die Schule dagegen ist universellen Maßstäben wie Toleranz und Wahrheit verpflichtet, also solchen, die für die Gesellschaft im ganzen gebraucht werden. Als Institution muß die Schule also in ihren Mauern die Regeln des öffentlichen Umgangs geltend machen, und die sind im Prinzip identisch mit denen, die auch für einen erfolgreichen Unterriucht benötigt werden. Dazu gehört etwa auch die zivile Art und Weise, in der dort miteinander gesprochen wird.

Ich will das an einem Beispiel aus der Schule verdeutlichen: Die Gleichaltrigen-Gruppe verwendet einen eigentümlichen "Jugendjargon". Wenn die Schule nun in falsch verstandener Anbiederung diesen Jargon generell - in Ausnahmen kann dies durchaus anschaulich sein - als Unterrichtssprache zuläßt, oder Schimpfkanonaden und andere Verbalaggressionen in Gegenwart von Lehrern oder gar während des Unterrichts hinnimmt, verhält sie sich nicht etwa "kindgerecht", sondern verwahrlosend und betrügt die Schüler um eine wichtige Sozialerfahrung: Schule ist eben Schule, keine Diskothek und kein Fußballplatz, und was als Schimpfkanonade während 

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eines Konfliktes in der großen Pause auf dem Schulhof vielleicht noch toleriert werden kann, ist während des Unterrichts fehl am Platze.

Bei den in solchen Fällen gebotenen pädagogischen Interventionen handelt es sich nicht um die Durchsetzung eines allgemeinen Tugendkatalogs, sondern um die Durchsetzung eines bestimmten Verhaltens. Die Öffentlichkeit kann weder von uns Erwachsenen, noch von Kindern eine bestimmte Gesinnung oder eine bestimmte Charakterstruktur erwarten, und beides kann man auch in Schulen nicht überprüfbar anerziehen. Niemand muß z.B. Ausländer oder einen bestimmten Frauen- bzw. Männertyp (oder wen auch sonst immer) mögen, aber verhalten muß sich jeder ihnen gegenüber höflich und zivilisiert und erst recht im Rahmen der Gesetze. Vielfach verkennt die Schule diesen Zusammenhang: Früher hatten die Schüler Angst vor den Lehrern, nun haben sie noch schlimmere Angst vor ihren Mitschülern, weil die Lehrer ihre Macht nicht mehr zum Schutz der Schüler voreinander zur Geltung bringen.

Die Schule erzieht für sich selbst, damit ihr Zweck, das Unterrichten, durchgeführt werden kann. Indem sie dies tut, lehrt sie zugleich die Regeln des vernünftigen und erfolgreichen öffentlichen Verhaltens. Der gelungene Unterricht impliziert die der Schule optimale Sozialerziehung, diese muß nicht erst von außen her als zusätzliche pädagogische Aufgabe dem Unterricht hinzugefügt werden, wie Konzepte des "sozialen Lernens" leicht unterstellen.

3. Rehabilitierung des Unterrichts

Die "veränderte Kindheit", von der anfangs im Vergleich zu der meinen die Rede war, hat in der tonangebenden Schulpädagogik wie in der öffentlichen Meinung dazu geführt, unter Verwendung eines exzessiv gebrauchten Erziehungsbegriffs die Kernaufgabe der Schule zu demontieren: das Unterrichten. Wer die gegenwärtige schulpolitische und schulpädagogische Diskussion verfolgt, wird feststellen, daß der Unterrichtung der Schüler durch ihre Lehrer immer weniger Bedeutung beigemessen wird. Vielmehr sollen die Schüler möglichst selbst herausfinden und bestimmen, was, wie und in welchem Tempo sie lernen wollen. 

Unterricht, der vom Lehrer ausgeht, gilt im Vergleich dazu als unmodern oder gar als politisch reaktionär. Der Lehrer müsse sich verändern, vom Unterrichter zum Erzieher und zum Moderator von Lernprozessen werden, heißt es vielfach. Das im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung erstellte Gutachten "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" faßt die 

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künftigen Aufgaben der Schule im Bild vom "Haus der Lernens" zusammen, in dem zwar auch noch Unterricht stattfinden soll, aber nur noch als Teil vielfältiger und im einzelnen offener allgemeiner Lernprozesse. Der Begriff des Lernens hat den des Unterrichts weitgehend abgelöst. Fragt man Lehrer nach dem Kern ihres beruflichen Handelns, verweisen sie meist nicht auf ihre unterrichtliche Aufgabe, sondern auf die möglichst gute Beziehung zu ihren Schülern als Voraussetzung einer erzieherischen Einwirkung. Die verbreitete Abwertung des Unterrichts zeigt inzwischen auch dort Wirkung, wo Lehrer sich davon nicht leiten lassen wollen; denn ihre Schüler bleiben von dieser Meinung nicht unbeeindruckt und halten die Leistungsanforderungen der Schule leicht für eine unnütze Quälerei.

Diese Tendenz beruht jedoch auf einer falschen Schlußfolgerung; denn die Aufgabe, durch systematischen Unterricht die Welt zu erschließen und die Lebensmöglichkeiten des Kindes in ihr zu verdeutlichen, wird durch die moderne pluralistische Sozialisation im Prinzip nicht berührt. Um dies zu verstehen, muß man sich die Besonderheiten des unterrichtlichen Lehrens und Lernens klar machen.

Unterricht ist nicht irgendeine beliebige Form des Lernens, sondern eine ganz besondere, und sie ist keineswegs nur für Kinder von Bedeutung, sondern auch in vielfältiger Weise für das Leben der Erwachsenen. Unterricht heißt von der Grundschule bis zur Weiterbildung im oberen Industriemanagement im Kern immer dasselbe: Da gibt es Lehrende, die etwas wissen oder können, und die diesen Vorsprung in didaktisch möglichst geschickter Weise an diejenigen weitergeben, die es noch nicht wissen oder können. Die Fähigkeit, sich erfolgreich unterrichten zu lassen, ist für die produktive Teilnahme am Berufsleben wie auch am politischen und kulturellen Leben unerläßlich geworden, und diese Tendenz nimmt zu und nicht ab, wenn man etwa die steigenden Aufwendungen der Wirtschaft für Fortbildungsmaßnahmen bedenkt; sie setzen alle die Fähigkeit voraus, sich unterrichten lassen zu können. Dazu gehört, einer spezifischen geistigen Ordnung der Dinge folgen und eine entsprechende Konzentration und Disziplin aufbringen zu können. Die Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, muß also heute von (möglichst) allen gelernt werden, und diese Fähigkeit ist durch nichts anderes ersetzbar. Sie bedeutet vielmehr einen Bruch mit denjenigen Lernweisen, die das Kind bisher aus seinem außerschulischen Leben kannte.

Unterricht geschieht nämlich immer in Distanz zum sonstigen Leben, für dessen Bewältigung er andererseits gebraucht wird. Der Grundschüler wie der Manager verlassen ihr normales Leben, um sich unterrichten zu lassen, und kehren danach wieder in dieses zurück. Das Leben selbst lehrt zwar vieles und wichtiges, aber es unterrichtet nicht. So gesehen ist Unterricht eine 

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geniale kulturelle Erfindung, weil sie uns ermöglicht, die Unmittelbarkeit unserer Existenz zu überschreiten und für noch unbekannte spätere Verwendungssituationen gleichsam auf Vorrat zu lernen. Was dagegen das Leben lehrt, bleibt von sich aus fixiert an die Unmittelbarkeit der jeweiligen Situation.

Ohne Unterricht könnten die Menschen im allgemeinen und die Kinder im besonderen die in ihnen schlummernden Fähigkeiten in nur sehr geringem Maße entfalten; sie könnten sich - altmodisch gesprochen - nicht "bilden". Die Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, liegt so gesehen also auch im wohlverstandenen Interesse des Kindes selbst und tritt zu diesem keineswegs in einen prinzipiellen Widerspruch, als sei sie per se nicht "kindgerecht". Im Gegenteil sind die Schulfächer mit ihren unterschiedlichen Anforderungen nicht zuletzt dazu da, die Fähigkeiten des Kindes, die niemand vorher kennen kann, herauszufordern, so daß es immer genauer zu erkennen vermag, was es gut kann und was weniger gut, was ihm mehr liegt und was weniger, damit es allmählich auf diesem Hintergrund seine Zukunftsplanung zu entwickeln vermag. So gesehen ist die weniger gute Zensur genau so wichtig wie die gute, aber auch unterschiedliche Unterrichtsmethoden, die etwa eher auf Einzelarbeit oder eher auf Kooperation setzen, sind dafür wichtige Erfahrungen. Das Kind hat im allgemeinen von sich aus keinen Bildungswillen, der über seinen unmittelbaren Lebenshorizont hinausreicht. Darauf ist sein natürlicher Lernwille zunächst einmal beschränkt, d.h. es will sich in seiner unmittelbaren sozialen Umgebung erfolgreich bewegen und dafür dann auch etwas lernen; das ist wichtig, aber etwas ganz anderes.

Ohne den schulischen Unterricht würde sich ein wichtiges Prinzip unserer demokratischen Gesellschaft nicht realisieren lassen, daß nämlich der gesellschaftliche Status der Bürger nicht mehr wie früher durch Herkunft, sondern durch Leistung geregelt werden soll. Schule ist die einzige Möglichkeit der Emanzipation des Kindes, über die es selbst verfügen kann. Das einzige Kapital, das ein Kind von sich aus vermehren kann, sind sein Wissen und seine Manieren. Ohne Schule würden die Reichen ihren Nachwuchs wieder wie früher privilegieren können. Ohne Schule bliebe das Kind also den gleichsam naturwüchsigen Mechanismen seiner Sozialisation ausgeliefert, die ihrerseits von den Zufälligkeiten seiner Geburt und seines Lebensmilieus abhängen.

Nimmt man jedoch die besondere Bedeutung des Unterrichts ernst, dann dürfen die Lerngruppen - die Schulklassen - nur nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit zusammengestellt sein. Jedes Kind muß in einer solchen Gruppe von seinen Fähigkeiten her einen chancengleichen Zugang zu den zu bearbeitenden Aufgaben haben. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine 

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entsprechende Gliederung des Schulwesens - sei es innerhalb einer Gesamtschule, sei es im Rahmen eines mehrgliedrigen Schulsystems. Jedes Kind hat zwar ohne Rücksicht auf Geschlecht, ethnische und religiöse Zugehörigkeit einen Anspruch auf optimale Förderung seiner Begabungen, und damit auf Integration in die Gesellschaft, aber nur im Rahmen seiner unterrichtsbezogenen Fähigkeiten. Die Schule kann nur im Rahmen ihres Zweckes unterschiedliche Bevölkerungsgruppen integrieren, über den außerschulischen Alltag ihrer Schüler kann sie nicht verfügen.

Die Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, gehört also zu den kulturellen Grundtechniken, die ein Mensch lernen muß - ähnlich wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Daran vermag auch die "neue Kindheit" nichts zu ändern. Diese spielt allerdings eine Rolle bei der konkreten Gestaltung des Unterrichts.

1. Die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen sind anders, nämlich viel komplexer und in gewissem Sinne auch "reifer" als zu meiner Kindheit. In kognitiver Hinsicht ist die heutige Schülergeneration im Vergleich zu früheren in vielen Alltagsfragen - einschließlich der zwischenmenschlichen Probleme von Erwachsenen - sehr viel besser informiert. Wenn die Schule diese Vorerfahrungen durch ihre didaktisch-methodischen Inszenierungen unterbietet, verfehlt sie leicht ihren Zweck und ihre Akzeptanz und infantilisiert die Schüler.

2. Die Erfahrungen der Schüler konkretisieren sich in den Fragen, die sie an die Unterrichtsstoffe stellen. Mit diesen Fragen versuchen die Schüler, den neuen Stoff und vor allem seine innere Logik mit ihren bisherigen Erfahrungen zur Sache zu verbinden. Deshalb ist es wichtig, der Bearbeitung solcher Fragen einen erheblichen Raum zu gewähren, was zu selten geschieht - sei es, weil die Stoffülle es nicht zuläßt, sei es, weil die Lehrer sich vor Fragen fürchten, die sie nicht sofort beantworten können. Den Prozeß der Individualisierung, der aus der Pluralisierung der Gesellschaft erwächst, fördert aber nicht der Unterrichtsstoff als solcher, sondern die je subjektive Art der Aneignung. Dafür ist die Schülerfrage von zentraler Bedeutung.

3. Der Individualisierung müssen auch Stil und Ton des Umgangs zwischen Schülern und Lehrern entsprechen. Schüler werden heute in ganz anderem Maße als Persönlichkeiten geachtet als früher. Dem widerspricht nicht, daß die Lehrer die spezifischen Forderungen der Schule zur Geltung bringen. Aber "autoritäres" Verhalten von ihrer Seite dürfte inzwischen aussichtslos geworden sein.

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4. Die Erfahrungen der Schüler sind jedoch auch in eigentümlicher Weise begrenzt. Es sind im wesentlichen - materielle wie immaterielle - Konsumerfahrungen. Arbeitserfahrungen und solche, die aus dem Erwerb des Lebensunterhaltes resultieren, fehlen. Dieses Mißverhältnis führt leicht zu falschen Erwartungen ("Spaß" haben) an die Schule und zum Desinteresse an den Lernaufgaben, wenn sie anstrengend und mühsam werden.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich Kindheit und Jugend in der Tat erheblich verändert haben, daß daraus aber für die Schule keine falschen Schlußfolgerungen gezogen werden dürfen. Ihre Aufgabe bleibt weiterhin, die Schüler durch Unterricht über die Welt und über ihre Stellung in ihr aufzuklären. Diese Welt hat sich geändert und wird sich weiter ändern, bis die Schüler erwachsen geworden sind, aber sie muß in ihren Grundlagen begriffen sein, wenn sie für die nächsten Generationen bewohnbar bleiben soll.

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