Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 20: 1988 - 1991

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Zu dieser Edition
Dieser 20. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1988 und 1991. In diesem Jahr war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen, nach deren Integration 1978 in die Universität Göttingen am dortigen Fachbereich für Erziehungswissenschaften tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte.

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.

Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

 
 

Inhalt von Band 20

156. Der Mensch muß auch "nein" sagen können (1988)

157. Jugendarbeit und Jugendbildung (1988)

158. Die Gemeinschaft aus dem Chaos (1988)

159. Parteinahme. Parteilichkeit und Toleranzgebot (1988)

160. Pluralistische Sozialisation und Identitätsfindung (1989)

161. Die Berufsethik des Lehrers ist seine Professionalität (1990)

162. Familie als pädagogisches Feld (1990)

163. Was wird aus der "sozialistischen DDR-Pädagogik"? (1990)

164. Markt und Pädagogik (1990)

165. Die pädagogische Vernichtung des Studierens (1991)

166. Vermutungen über die Zukunft der Familie (1991)


 
 
156. Der Mensch muß auch "nein" sagen können (1988)

(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 28/1988)
 

Was menschliche Bedürfnisse sind können wir von jedem Säugling lernen. Er würde verhungern, erfrieren oder mangels Körperpflege umkommen, fände er nicht jemanden, der seine materiellen Bedürfnisse, seine Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung und Pflege befriedigte. Aber auch dies reichte`ihm bei weitem nicht aus. Eine rein professionelle Versorgung, und sei an ihr materiell nichts auszusetzen, würde ihn krank machen, vielleicht sogar töten. Er hat nämlich seelische Grundbedürfnisse, Bedürfnisse nach Liebe, nach liebevoller Zuwendung und Geborgenheit, wie sie ihm seine Eltern denn auch gewähren - in der Regel, von der es, wir wissen es, beklagenswerte Ausnahmen gibt.

Die Position des Säuglings ist höchst einseitig. Er ist auf seine Eltern, auf seine Ernährer und Pfleger angewiesen, ihnen geradezu ausgeliefert, und er präsentiert sich ihnen als ein Bündel von Trieben und Bedürfnissen, das nach Befriedigung schreit. Den Eltern andererseits, den Ernährern und Pflegern bereitet diese Bedürfnisbefriedigung nur bedingt Befriedigung, müssen sie doch auf manches verzichten, nicht nur auf eigene Vergnügungen, zuweilen auch auf die Nachtruhe; sie können sich bestimmte Wünsche nicht leisten; ihre arbeitsfreie Zeit können sie für sich selbst nur eingeschränkt nutzen.

Offenbar verrät diese menschliche Grundkonstellation der Beziehung von Säugling und Pflegeperson etwas Grundlegendes über unsere menschlichen Bedürfnisse: sie sind nur im Rahmen sozialer Kontexte zu befriedigen, berühren also immer auch die Bedürfnisse anderer. Wenn das Kind nicht lernt, die Liebe seiner Mutter seinem Entwicklungsstand entsprechend zu erwidern, dann wird es diese Liebe verlieren - sei es, daß es diese Zuwendung gar nicht mehr wahrnehmen kann, sei es, daß dieses Gefühl sich auf der Seite der Mutter ohne eine entsprechende Rückmeldung allmählich verbraucht. So muß das Kind lernen, seine Bedürfnisse auszubalancieren zwischen dem Wunsch, sie total auszuleben einerseits, und dem Wunsch, von Personen seiner Beziehung geliebt zu werden, andererseits.

Die Balance aber gelingt nur durch partiellen Verzicht auf Bedürfnisbefriedigung oder durch ihren zeitlichen Aufschub. Der Wille zur totalen und sofortigen Bedürfnisbefriedigung, der beim Säugling noch geduldig akzeptiert wird, wäre beim Erwachsenen insofern asozial, als er den sozialen Charakter der Befriedigung ignoriert, und er wäre illusionär, weil Befriedigung ohne soziale Resonanz eine Fiktion ist; denn unter Erwachsenen gilt, anders als in der Beziehung zum Säugling, Gleichrangigkeit der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. Jede Familie kennt das Problem, zum Beispiel die materiellen Bedürfnissen ihrer Mitglieder auszubalancieren, was Verzichte von allen erfordert. Würde einer seine Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die anderen durchsetzen, so würde er auf Dauer die Fundamente der sozialen Gemeinschaft Familie aushöhlen.

In einer Gesellschaft, deren Mittel und Möglichkeiten zu kaum mehr als zum physischen Überleben ihrer Mitglieder ausreicht, wäre diese Balance zwischen Bedürfnisbefriedigung und sozialer Resonanz kein Thema. Wer diese Balance verfehlte, würde ausgestoßen aus der Gemeinschaft, wäre des Todes. In Gesellschaften wie der unseren jedoch, deren Mittel und Möglichkeiten das Grundmaß des physischen Überlebens ganz erheblich übersteigen und die ihre materiellen Überschüsse in subtile kulturelle Differenzierungen investieren kann, differenzieren sich auch die ursprünglichen Grundbedürfnisse, entstehen womöglich auch neue, die jene überlagern. Wer genug zu essen hat, möchte besser essen; wer genug Kleidung hat, um sich vor der Natur zu schützen, möchte mehr und schönere Kleider; wer eine einfache Wohnung hat, möchte mehr Komfort und eine schönere Ausstattung.

Wer die Zeit von 1945 bis heute bewußt miterlebt hat, kennt den Prozeß der Bedürfnisdifferenzierung aus eigener Erfahrung. Während gegen Kriegsende und in der Zeit danach die meisten Menschen in einer Lage sich befanden, die der des Säuglings nicht unähnlich war, erreichten die Konsumgüter- und Dienstleistungsangebote in den Jahrzehnten danach ein Niveau, das damals niemand für möglich gehalten hätte. Nun haben wir einen Stand erreicht, in dem es uns offensichtlich immer schwerer fällt, die Notwendigkeit der sozialen Balance unserer Bedürfnisse und ihrer Befriedigung zu erkennen und zu erfahren. Das gilt übrigens am wenigsten für das kulturkritisch immer wieder denunzierte Konsumentenverhalten; denn hier werden die Grenzen ja immerhin noch durch die vorhandenen Geldmittel gesetzt.

Die Verwirrung betrifft vielmehr den zwischenmenschlichen Bereich. Bedürfnisbefriedigung ist, so scheint es, geradezu zu einem Leitmotiv für unser Denken und Handeln geworden, zu einem Stück des Zeitgeistes. Denunziert wird, was der Befriedigung im Wege steht. Die moderne Reformpädagogik fordert zum Beispiel, die schulischen Anforderungen mit den Bedürfnissen der Schüler in Einklang zu bringen; obwohl Möglichkeiten der Empfängnisverhütung allgemein bekannt sind, fordern viele das Recht auf Abtreibung, weil die Bedürfnisse der betroffenen Frauen Vorrang haben müßten; Männer und vor allem Frauen, die sich in ihren Beziehungen unglücklich fühlen, wird geraten, diese Beziehungen aufzulösen und sich einer Therapie zu unterziehen, weil sie nur auf diese Weise ihre wirklichen Bedürfnisse entdecken könnten.

Entscheidend ist nicht, daß einzelne Menschen so handeln; denn sie mögen in jedem Einzelfall dafür gewichtige Gründe haben, die zu respektieren sind. Bedeutsam ist vielmehr, daß inzwischen eine Ideologie der höchstmöglichen Bedürfnisbefriedigung zumindest in Teilen der veröffentlichten Meinung entstanden ist, die in dieser Frage normsetzend wirkt und den Menschen einredet, nur das Ausleben der Bedürfnisse könne sie glücklich und zufrieden machen. Jede öffentliche Kritik am Rauchen, am Drogenkonsum, am Arzneimittelmißbrauch wird verdächtigt, Freiheitsrechte der Menschen beschneiden zu wollen, obwohl doch klar ist, daß die Folgekosten dafür von allen Mitgliedern der Gesellschaft getragen werden müssen. Die Menschen, die so handeln, heißt es, hätten dafür ihre Gründe, sie würden mit ihrem Leben nicht fertig, oder die gesellschaftliche Situation treibe sie dazu. Auch dies mag in Einzelfällen zutreffen, aber andererseits trifft auch zu, daß die Befriedigungsideologie - wie ich sie bezeichnen möchte - animierend oder zumindest rechtfertigend wirkt.

Wir wissen zum Beispiel, daß viele Jugendliche mehr oder weniger zufällig an Drogen geraten im Rahmen ihrer Gleichaltrigen-Szene, und wenn es gutgeht, bleibt es beim neugierigen Versuch. Tritt jedoch Abhängigkeit ein, dann in den meisten Fällen nicht deshalb, weil diese jungen Menschen vorher Probleme hatten, die sie mit der Droge kompensieren wollten, vielmehr bekommen sie wegen der Abhängigkeit Probleme - zu Hause, in der Schule, im Beruf. Aber eine solche Erkenntnis geht der Befriedigungsideologie gegen den Strich. Sie beharrt auf der umgekehrten Erklärung: erst müsse es da Probleme, sprich: die Nichtbefriedigung wichtiger Bedürfnisse gegeben haben, und dann habe man ersatzweise zur Droge gegriffen.

An diesem Beispiel läßt sich einiges verdeutlichen: Zunächst einmal die Tendenz, die persönliche Verantwortung für das eigene Handeln herunterzuspielen, so als sei der Mensch eine Maschine, gegen deren Mechanik von Bedürfnis und Befriedigung sich wenig machen ließe; sodann, daß die Befriedigungsideologie dazu verführt, Probleme zu erfinden, wenn das Leben nicht immer so verläuft, wie es nach der Strategie optimaler Bedürfnisbefriedigung eigentlich verlaufen müßte. Junge Menschen, deren eigentliches Problem es offensichtlich ist, daß sie keine Probleme haben, jedenfalls keine, die mit der Reproduktion ihres Lebens durch Arbeit zu tun haben, suchen sich Probleme, weil niemand ohne die erfolgreiche Bewältigung von Schwierigkeiten Selbstbewußtsein gewinnen kann, und im Zeitalter der Befriedigungsideologie läßt sich immer etwas finden, was einen als zu kurz gekommen ausweisen kann.

So ist die Kehrseite der Befriedigungsideologie eine Gestimmtheit, der eher nach Jammer und Wehklagen zumute ist als nach Zufriedenheit, und diese Gestimmtheit spornt nicht gerade dazu an, die Lösung der eigenen Schwierigkeiten tatkräftig selbst in die Hand zu nehmen. Der Lage des Säuglings nicht unähnlich erwartet man die Lösung von anderen Menschen und Instanzen, der "Gesellschaft" zum Beispiel. Nun gibt es wahrlich genug Menschen unter uns, deren Armut und Not zu Klagen Anlaß gäbe. Aber merkwürdigerweise scheinen sie am wenigsten die Befriedigungsideologie zu benötigen. Diese hat offensichtlich eher dort ihre Erfolge, wo nicht nur die Grundbedürfnisse befriedigt sind, sondern auch vielfältige, darüber hinausgehende materielle und kulturelle Bedürfnisse. Von einem bestimmten Niveau des Wohlstandes an entsteht offenbar das Bedürfnis, nach noch unerfüllten Bedürfnissen zu suchen.

Die Ausbreitung der Immunschwäche AIDS hat in der Öffentlichkeit deutlich gemacht, was vorher nur die Fachleute wußten, daß es nämlich Gruppen gibt, die ohne jede soziale Balance, ohne jede Verantwortlichkeit ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben, so daß sie vermutlich durch Aufklärung nicht zu erreichen sind. Obwohl angesichts der Verbreitung der Krankheit dieses Verhalten keine Privatsache mehr ist, wehrt sich die Befriedigungsideologie dagegen, dies beim Namen zu nennen; jede Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung gefährdet nämlich ihre Legitimation.

Nun gibt es keine Ideologie dieser Art ohne soziale Träger, die sie verbreiten und in deren Interesse sie liegt. So leben pädagogische, psychologische und therapeutische Berufe davon, daß Menschen Probleme mit sich und ihrer Umwelt haben. Diese Probleme als behinderte Bedürfnisbefriedigung zu definieren erlaubt zwar möglicherweise eine Behandlung von Einzelfällen, sichert aber auch die weitere Klientel, denn Bedürfnisse, die angesichts der gesellschaftlichen Realität nicht befriedigt werden können, sind tendenziell unerschöpflich. Zudem beruht therapeutisches Handeln zu einem guten Teil darauf, die geäußerten Bedürfnisse für uneigentlich, für nur symptomatisch zu halten und so die Klientel zu ermuntern, ihre Energie auf die Aufdeckung der eigentlichen Bedürfnisse und Wünsche zu konzentrieren was zumindest zeitweise zu einer regelrechten Verstrickung in die eigene, grenzenlose Innerlichkeit führen kann. Mit diesen Bemerkungen will ich keine Berufsgruppen angreifen, sondern nur eine Funktion der Ideologie charakterisieren.

Träger der Befriedigungsideologie sind ferner solche Teilgruppen der Gesellschaft, die sich mit ihrer Hilfe emanzipieren wollen, das gilt vor allem für Frauen. In der überlieferten Männerkultur, die durch Bedürfnisverzicht zum Zwecke höchstmöglicher Leistung bestimmt war, hatten Frauen kaum eine Chance, nach eben diesem kulturellen Standard sich zu emanzipieren. Diese Chance bot sich im großen Umfang erst, als durch den Siegeszug psychologischer, vor allem tiefenpsychologischer Vorstellungen neue kulturelle Leitmotive öffentliche Anerkennung erlangten - und zwar vor allem durch Frauen selbst, zum Beispiel durch die von Frauen geschriebene Literatur und ihre Publizität. Diese neuen Leitmotive waren unter anderem die Aufwertung der Emotionalität zuungunsten der Rationalität und die Aufwertung der zwischenmenschlichen Bedürfnisse überhaupt. Die Frauenbewegung hat also gleichsam jene Werte, die die Frauen früher in der alten Rollenaufteilung innerhalb der bürgerlichen Familie zu repräsentieren hatten - nämlich Emotionalität und Harmonisierung der menschlichen Beziehungen - in die Öffentlichkeit transportiert, gleichsam zu öffentlichen Werten gemacht. Damit aber wurden auch wichtige menschliche Bedürfnisse, deren Befriedigung früher im wesentlichen im Nahbereich von Familie und Freundschaft erfolgte; zu einem: öffentlichen Postulat erweitert.

Ein dritter wichtiger Träger der Befriedigungsideologie ist die Konsumgüterwerbung. Ihre eigentliche kulturelle Bedeutung liegt ja nicht darin, daß sie uns bestimmte Güter aufreden will, sondern darin, daß es ihr gelungen ist, eine allgemeine moralische Umwertung durchzusetzen. Ob die Werbung uns Bedürfnisse einreden kann, die wir ohne sie gar nicht hätten, ist umstritten. Unbestreitbar ist aber, daß die Werbung, um Erfolg zu haben, ihre Produkte mit unseren Bedürfnissen in Zusammenhang bringen muß, daß sie auf diese Weise unsere Bedürfnisse hofiert und ihre möglichst schnelle Befriedigung als selbstverständliches Recht erscheinen läßt.

Wahrscheinlich spielt auch die Tatsache eine Rolle, daß immer wenige Erwachsene der relativ begüterten Mittelschicht in Familien leben. Diejenigen, die Kinder aufziehen, sind mit etwa einem Drittel deutlich in der Minderheit. Die anderen zwei Drittel leben entweder allein oder in Paarbeziehungen - vielfach als sogenannte Doppelverdiener. Während nun diejenigen, die in Familien leben, täglich erfahren, wie notwendig und schwierig es ist, die Befriedigung von Bedürfnissen sozial auszubalancieren, sind die anderen sehr viel stärker auf sich selbst zurückgeworfen, auf die innere Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse und Wünsche, und die Versuchung ist größer, nach dem Ausschau zu halten, was einem anscheinend bisher entgangen ist, als nach einer sozialen Balance zu suchen, deren Notwendigkeit kaum unmittelbar erfahrbar wird. Das Interesse kann sich in diesen Fällen viel stärker auf die Frage konzentrieren, ob man nun auch sowohl materiell wie im Rahmen seiner Beziehung auf seine Kosten kommt.

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind jedoch als Träger der Befriedigungsideologie die Kinder und Jugendlichen - vor allem wieder die aus den relativ begüterten Mittelschichten. Von Kindheit an mehr oder weniger materiell und sozial verwöhnt, das heißt ohne Gegenleistung für die Familie oder andere soziale Verpflichtungen erbringen zu müssen, werden sie an einen Lebensstandard gewöhnt, den sie noch lange nicht selbst erwirtschaften können. Der Druck der Gleichaltrigen-Szene auf den einzelnen ist enorm, und sich in dieser Szene behaupten und durchsetzen zu können ist ernsthafte und vielfach auch anstrengende soziale Tätigkeit. Es ist nicht leicht, andere in der Mode vorn zu sehen, Moped und Auto sind zum frühestmöglichen Zeitpunkt selbstverständlich, sonst droht Geringschätzung durch die anderen oder ein angeschlagenes Selbstwertgefühl oder beides.

Merkwürdigerweise lassen sich zwar soziale Träger der Befriedigungsideologie ausmachen, aber keine eigentlichen Wortführer, so wie etwa Herbert Marcuse einer der Wortführer der studentischen Protestbewegung war. Die Befriedigungsideologie hat keine erkennbaren Anführer, keine Philosophen, mit denen man sich auseinandersetzen könnte, sie ist eigentümlich anonym und spukt doch in unseren Köpfen, sie fließt in die Federn von Journalisten ein und präsentiert sich in Reden von Politikern, die gemerkt haben, daß das Versprechen von Befriedigungen ihnen Wähler zuführt. Die Botschaft dieser Ideologie lautet: Du hast ein Recht auf Befriedigung deiner Bedürfnisse, und du hast es jederzeit.

Die Bedürfnisideologie sieht soziale Verbindlichkeiten, die Leistungsanforderungen in Schule und`Beruf, die gesellschaftlichen Gegebenheiten in erster Linie als ärgerliche Hindernisse, die einer optimalen Befriedigung im Wege stehen. Die außersubjektive Wirklichkeit, vor allem die politische, wird uminterpretiert aus der Perspektive der intimen Beziehungserwartungen: Die beste politische Welt wäre die, die sich nach den Regeln einer befriedigenden Nahbeziehung richtet: friedlich, freundlich, machtlos und harmonisch. Problematisch ist diese Erwartung, weil sie konsequenterweise dazu führt, die außersubjektive Realität, die sich nun nicht nach den je subjektiven Bedürfnissen richtet, zu verteufeln, Schuldige dafür zu suchen, daß es Atomwaffen, Atomkraftwerke, die Verschmutzung der Umwelt, die Benachteiligung von Frauen und den Leistungsdruck gibt, ohne Einsicht in die objektiven Gegebenheiten und Bedingungen und ohne Verständnis dafür, wie diese Verhältnisse im gewünschten Sinne realistisch verändert werden könnten. Die Befriedigungsideologie ist notwendigerweise politisch irrational, ignorant gegenüber dem Eigen-Sinn der außersubjektiven Welt, ihre objektiven Bedingungen und Ursachen. Wer auf seine Bedürfnisse fixiert ist, ist nicht politisch aufklärbar, aber in hohem Maße politisch verführbar; denn mit dem Hinweis, es sei der politische Gegner, der die Befriedigung von Bedürfnissen verhindere, läßt sich leicht Stimmung entfachen.

Die Befriedigungsideologie setzt, wie schon gesagt, nicht auf Rationalität, sondern auf Emotionalität. Gefühle aber fixieren uns auf die Gegenwärtigkeit unseres Daseins, auf die aktuelle Borniertheit unserer Existenz, erst wenn wir Gefühle mit der Rationalität des vernünftigen Denkens verbinden, können wir diese Unmittelbarkeit durchbrechen, Perspektiven für ein künftiges, möglicherweise besseres Leben entwickeln. Gefühle sind ohne Bindung an soziale und institutionelle Normen anarchisch, weil sie in sich selbst keine Maßstäbe und Grenzen haben. Die moderne Zivilisation und die gesellschaftliche Kultivierung beruhen geradezu darauf, daß wir in der Öffentlichkeit zweckhaft-rational miteinander umgehen, uns in kalkulierbaren Rollenerwartungen einander nähern und daß wir andererseits unsere umfassenden Gefühle auf bestimmte soziale Orte begrenzen, nämlich auf Soziale Nahsituationen wie Familie und Freundeskreis.

Die Befriedigungsideologie unterstellt ferner, daß unsere Bedürfnisse gleichsam zu unserer natürlichen Ausstattung gehören, so daß sie entweder zum Zuge kommen können oder unterdrückt beziehungsweise verdrängt werden. Dies mag für die elementare Situation des Säuglings sogar zutreffen, wie ja überhaupt die moderne Psychologie gerade in der frühen Kindheit die allgemeine, also auch für das spätere Leben der Menschen gültige Grundkonstellation der Triebe und Bedürfnisse ansetzt. Tatsächlich jedoch werden die materiellen und sozio-emotionalen Grundbedürfnisse, wie wir sie beim Säugling vorfinden, im späteren Leben, nämlich durch Teilnahme an der Kultur und durch Auseinandersetzung mit ihr, differenziert, und weitere Bedürfnisse kommen hinzu. Der Säugling zum Beispiel läßt keine ästhetischen oder künstlerischen Bedürfnisse erkennen. Falls er sie entwickelt, geschieht dies durch Lernen, zum Beispiel dadurch, daß er wiederholt die Erfahrung macht, daß seine Eltern eine bestimmte Gattung von Musik mögen. Insofern führt es auch nach aller Erfahrung nicht weit, Schulkinder nach ihren Bedürfnissen zu fragen, die Antworten sind im allgemeinen vage, so daß es zweckmäßiger ist, ihnen Re-Aktionen zu gestatten, wenn sie zum Beispiel müde sind oder etwas nicht verstanden haben. Kinder müssen und wollen im allgemeinen noch Erfahrungen machen, also lernen, Bedürfnisse und die Chancen ihrer Befriedigung auszuloten.

Kehren wir noch einmal zur Bedürftigkeit des Säuglings zurück. Sie erinnerte uns an die soziale Balance der Bedürfnisbefriedigung. Alle wichtigen menschlichen Bedürfnisse können wir nur dann befriedigend ausleben, wenn wir sie mit anderen teilen und uns mit diesen anderen entsprechend arrangieren. Wer nur allein geliebt werden will, auch wenn er andere dafür benutzt, bleibt einsam, wer nur allein Geborgenheit oder Anerkennung will, wird niemanden finden, der sie ihm gewährt. Das ungehemmte Ausleben der Sexualität mit wechselnden Partnern mag einen gewissen Unterhaltungswert haben, aber er befriedigt kein wesentliches menschliches Bedürfnis. Nicht deswegen also ist die Befriedigungsideologie zu kritisieren, weil sie bestimmten, von außen an sie herangetragenen moralischen Normen nicht gehorcht, sondern weil sie nicht halten kann, was sie verspricht.

Eindrucksvoll bestätigt wird diese These zum Beispiel durch die fehlgeschlagenen Hoffnungen, die man vor etwa zwanzig Jahren an die Liberalisierung der Sexualität knüpfte. Wenn die Tabus, Konventionen und Gesetze beseitigt würden, die das Ausleben der Sexualität behinderten, dann, so versprach man, würden die Menschen glücklicher leben und die Sexualdelikte abnehmen. Tatsächlich jedoch hat zum Beispiel die Zahl der Vergewaltigungen keineswegs abgenommen, die sexuelle Diskriminierung der Frau hat durch den nun möglich gewordenen Pornographiemarkt neue Dimensionen bekommen, und insgesamt gesehen sind die Menschen sexuell nur besser verfügbar gemacht worden. Wer nicht mitmacht, ist verklemmt oder ein Spielverderber. Erst allmählich kommt die Erfahrung zur Geltung, daß nur der an seinem Glück zu schmieden vermag, der auch nein sagen kann zu einer Befriedigung, die ihm eigentlich möglich wäre; denn dieses Nein ermöglicht erst das Ja des anderen, den er braucht. Warum aber droht uns diese elementare Einsicht verlorenzugehen?

Unser materieller und kultureller Wohlstand, der ein solches Problem überhaupt erst entstehen läßt, beruht auf enormen Bedürfnisverzichten der Generationen vor uns. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges gab es nur die menschlichen Hände, mit denen sich etwas erwirtschaften ließ, kaum Kapital. Um Kapital zu bekommen, mußten die meisten Menschen so arm wie möglich bleiben. Und selbst die Reichen waren, wenn sie den asketischen Überzeugungen des Protestantismus treu blieben, zunächst einmal nur reich in ihren Fabriken und Kontoren, wo sie ihr Kapital wuchern ließen, nicht zu Hause, in ihrem Privatleben. Das Geld wurde als ständig sich vermehrendes Kapital gebraucht, nicht zur nutzlosen privaten Verwendung. Müßiggang und Verschwendung wurden gesellschaftlich geächtet. Diese moralische Grundhaltung ermöglichte, wie Max Weber gezeigt hat, den Aufbau der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft. Diese arbeits- und profitorientierte Moral wurde in gesellschaftlichen Institutionen und Konventionen verankert und galt noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann war es vor allem die tiefenpsychologisch orientierte Konsumgüterwerbung, die diese Verzicht- und Sparmoral angesichts des beginnenden Massenwohlstands eingestandenermaßen unterhöhlte, indem sie den Menschen sagte, daß sie ein Recht darauf hätten, möglichst viele ihrer Bedürfnisse zu befriedigen.

Die neue Botschaft begann zu wirken, und sie erfaßte auf Dauer die gesamte menschliche Existenz. Die gesellschaftlichen Institutionen und Konventionen, die früher die Befriedigung der materiellen, sexuellen und psychischen Bedürfnisse der Menschen weitgehend regelten, wurden Zug um Zug beseitigt. Nun dürfen wir vieles, was früher nicht erlaubt war, aber die Lücke, die die alten Normen hinterlassen haben, müssen wir nun in eigener Verantwortung ausfüllen.

Den fundamentalen sozialen Charakter einer gelungenen Bedürfnisbefriedigung müssen wir nun selbst wieder entdecken. Die Befriedigungsideologie unserer Tage ist also auch Ausdruck eines Emanzipationsprozesses. Es genügt, sich daran zu erinnern, wie unsere Eltern und Großeltern noch leben mußten, um zu erkennen, daß ein Plädoyer gegen die Bedürfnisideologie kein Plädoyer für eine Rückkehr zu jenen Lebensbedingungen sein kann. Aber jede Emanzipation hat zwei Seiten, ein "Wovon" und ein "Wozu". So haben wir uns von der alten Sexualmoral befreit, aber wozu eigentlich? Früher sagten uns andere, wo und wann wir zu unserem Wohle nein sagen sollten: die Eltern die Lehrer, die Pfarrer, die Richter, die Nachbarn. Heute müssen wir es selbst herausfinden. Ja zu sagen zu unseren Bedürfnissen und ihrer Befriedigung haben wir inzwischen gelernt; nein zu sagen fällt uns noch schwer. Aber wenn wir es nicht lernen, bleibt die Emanzipation unvollendet.


 
 

157. Jugendarbeit und Jugendbildung (1988)

(In: Wolfgang W. Mickel/Dietrich Zitzlaff (Hrsg.): Handbuch zur politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1988, S. 458-461)
 

1. Definition: Unter "Jugendarbeit" (JA) werden solche Bildungs- , Erziehungs- und Freizeitmaßnahmen verstanden, die Kindern und Jugendlichen außerhalb der Schule unter Anleitung Erwachsener öffentlich angeboten werden. Die am meisten verbreiteten Formen sind Angebote der (z. B. im "Deutschen Bundesjugendring" und im "Ring politischer Jugend" zusammengeschlossenen) Jugendverbände, lokaler Jugendfreizeitstätten und überregionaler Jugendbildungsstätten. Der Begriff "Jugendarbeit" hat sich inzwischen gegenüber dem ursprünglichen Begriff der "Jugendpflege", der fast nur noch in Rechtstexten zu finden ist, durchgesetzt, wobei die Grenzen zur "Jugendfürsorge" (Arbeit mit "gefährdeten" oder "»verwahrlosten" Jugendlichen) fließend geworden sind.

2. Geschichtliche Entwicklung: Die heutige JA als öffentliche Aufgabe entstand in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit entwickelten sich eine bürgerliche Jugendbewegung ("Wandervogel", ab 1901), dem Grundgedanken einer partiellen "Selbsterziehung" verpflichtet, und eine sozialistische Arbeiterjugend (ab 1904), in der der Grundgedanke des Schutzes der Arbeiterjugendlichen vor wirtschaftlicher Ausbeutung vorrangig war. Von den damaligen staatlichen Gruppen wurde das Anwachsen der Arbeiterjugendbewegung als politisch bedenklich angesehen, weil man eine Nachwuchsschulung für die als revolutionär geltende Arbeiterbewegung fürchtete, und als pädagogisch bedenklich, weil eine zu früh einsetzende Politisierung und möglicherweise Radikalisierung erzieherischen Zielen zuwiderliefe. Das "Reichsvereinsgesetz" von 1908 verbot daher Personen unter 18 Jahren politische Betätigung und Teilnahme an politischen Veranstaltungen. Andererseits wurde versucht, die Arbeiterjugend im Rahmen der "Jugendpflege" in bürgerliche Jugendorganisationen zu integrieren.

Preußen legte mit dem "Jugendpflegeerlaß" von 1911 (1913 auch für Mädchen) die Grundstruktur der JA als öffentliche Aufgabe fest, wie sie heute im wesentlichen noch gilt: Der Staat veranstaltet selbst keine JA, sondern unterstützt die "Freien Träger" (z. B. die Jugendverbände) durch Subventionen ("Subsidiaritätsprinzip"). Im Jahre 1911 stellte Preußen dafür eine Million Mark zur Verfügung. Der Staat wird heute nur dort selbst tätig, wo keine entsprechenden Angebote solcher Träger vorliegen. So betreiben viele Kommunen lokale "Jugendhäuser" oder "Jugendfreizeitstätten". Wichtigste Rechtsgrundlage für die staatliche Tätigkeit ist das "Jugendwohlfahrtsgesetz" (JWG, 1961 in der Fassung von 1977).

Die verbandliche JA in der Bundesrepublik Deutschland wird seit 1950 gefördert; seit 1956 weist der Bundesjugendplan ein Förderungsprogramm für die pB aller Jugendlichen aus. Diese wird im Durchführungserlaß des Bundesjugendplans vom 12. Dezember 1983, II 1 (1) wie folgt umschrieben:

"Politische Bildung soll jungen Menschen Kenntnis über Gesellschaft und Staat vermitteln, die Urteilsbildung über politische Vorgänge und Konflikte ermöglichen, zur Wahrnehmung der eigenen Rechte und Interessen ebenso wie der Pflichten und Verantwortlichkeiten gegenüber der Gesellschaft befähigen, sowie zur Mitwirkung an der Gestaltung einer freiheitlich-demokratischen Lebens- und Staatsordnung anregen."

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Ende 1984 haben die in der politischen JA engagierten kirchlichen, gewerkschaftlichen und freien Verbände ein "Plädoyer für die außerschulische politische Jugendbildung" veröffentlicht (Materialien zur Politischen Bildung, 4/1984), in dem neben anderen Aspekten der politische Diskurs als die einer demokratischen Gesellschaft angemessene Form der Konfliktaustragung hervorgehoben wird. Ferner gehe es darum, "ethische Maßstäbe und politische Beurteilungskriterien zu finden [...]. Voraussetzungen dafür sind Wissen und Bemühen um einen Grundkonsens von Werten und Zielen in einer sinnvollerweise plural strukturierten Gesellschaft".

In der Weimarer Republik erlebte die JA einen großen Aufschwung; die Prinzipien des Wandervogels - "jugendgemäßes Leben" in Gleichaltrigengruppen, Naturnähe, Distanz zur großstädtischen Zivilisation - bestimmten nun praktisch die gesamte JA, von welchem politischen oder weltanschaulichen Ansatz her sie auch betrieben wurde. An der Arbeit der Mitgliederverbände des "Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände" - des Vorläufers des heutigen Bundesjugendrings -  waren circa 40 Prozent aller Jugendlichen beteiligt. Allerdings wurden gegen Ende der Republik die Jugendverbände mehr oder weniger in die politische Polarisierung einbezogen, bis die Hitlerjugend die JA und damit die Freizeitmöglichkeiten der Jugend überhaupt in Form der "Staatsjugend" monopolisierte ("Hitlerjugend-Gesetz" von 1936). Nach 1945 setzte sich die Tradition des "Staatsjugendverbandes" in der sowjetischen Besatzungszone SBZ/DDR in Gestalt der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ) fort, während in den westlichen Besatzungszonen die JA wieder an diejenigen Formen anknüpfte, die sich in der Weimarer Zeit herausgebildet hatten.

3. Bedeutung der Jugendarbeit für die politische Bildung und Erziehung: Die JA ist selbst ein Teil der politischen Struktur. Abgesehen von der unverhüllten politischen Monopolisierung in der Zeit des Nationalsozialismus, ging es vorher und nachher immer auch darum, möglichst viele Jugendliche für die politischen oder weltanschaulichen Bestrebungen der unterschiedlichen Erwachsenenverbände zu gewinnen. Zudem beruht das System der staatlichen Subventionen, ohne die heute JA kaum mehr zu finanzieren wäre, auf bestimmten politischen Prämissen, die sowohl die geförderten Tätigkeiten wie die Träger betreffen. Manche Tätigkeiten werden mehr, andere weniger oder gar nicht gefördert, manche Träger - z. B. kommunistische - werden von der Förderung ausgeschlossen. Die finanzielle Abhängigkeit der Träger vom Staat birgt also innenpolitische Konflikte in sich. Da in diesem Sinne JA selbst ein Teil der politischen Realität ist, können Jugendliche dort auch entsprechende politische Erfahrungen machen.

Nach 1945 spielte die "politische Umerziehung" in der in den Formen von Weimar wieder auflebenden JA eine zentrale Rolle. Zunächst ging es vor allem darum, sich der noch vorhandenen Reste der nationalsozialistischen Ideologie zu widersetzen und den Jugendlichen in den wieder geschaffenen Jugendverbänden oder in den von den westlichen Besatzungsmächten eingerichteten Jugend- und Kulturhäusern Raum für demokratische Lebensformen und für Mitbestimmung anzubieten. Zudem gab es einen erheblichen Nachholbedarf an von den Nationalsozialisten vorenthaltenen kulturellen und politischen Informationen, und nicht zuletzt kam es darauf an, möglichst viele Jugendliche "von der Straße zu holen".

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An politischen Sachfragen orientierte "politische Bildung" spielte zunächst kaum eine Rolle; der Idee des "jugendgemäßen Lebens" unter Gleichaltrigen in der Tradition der bürgerlichen Jugendbewegung waren sachorientierte Bildungsmaßnahmen fremd. Die Arbeiterjugendbewegung allerdings sah in der pB von Anfang an eine ihrer Hauptaufgaben, um sozialistische Gedanken und Vorstellungen zu verbreiten und um ein Gegengewicht gegen die "vaterländische Erziehung" in den Schulen zu entwickeln. Aber angesichts der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gehörten auch die meisten Arbeiterjugendlichen nach dem Kriege zur "skeptischen Generation" (Schelsky 1957), die zunächst gegenüber allen politischen Ideen auf Distanz blieb.

Erst Ende der 50er Jahre, als innenpolitische Gegensätze sich verschärften und Hakenkreuzschmierereien die Öffentlichkeit verunsicherten, wurde pB nachhaltig gefördert. Bedeutsam in diesem Zusammenhang war die zunehmende Professionalisierung, die die bis dahin überwiegend ehren- und nebenamtlichen Mitarbeiter teilweise verdrängte. Die nun hauptamtlich Beschäftigten brachten politik- und sozialwissenschaftliche Kenntnisse in die JA ein. Besondere Bedeutung erlangten in diesem Zusammenhang die "Jugendbildungsstätten", die Tagungen zur pB vor allem für Gymnasiasten und Lehrlinge anboten. Die dabei entwickelten didaktisch-methodischen Konzepte beeinflußten auch die Schuldidaktik.

Der Vorteil dieser außerschulischen politischen Bildungsangebote gegenüber dem Schulunterricht liegt vor allem darin, daß die Teilnahme freiwillig ist und wegen des Fehlens von Lehrplanvorschriften einen erheblichen Spielraum für didaktisch-methodische Experimente und politische Aktivitäten bietet. Inzwischen ist allgemein akzeptiert, daß neben Schule und Erwachsenenbildung auch die JA als wichtiger Träger für die allgemeine Aufgabe der pB anzusehen ist, und praktisch alle Jugendverbände verfügen über dafür geeignete Bildungsstätten (z.B. Stätte der Begegnung/VIotho, Haus Sonnenberg, Jugendhof Steinkimmen, Jugendhof Dörnberg, Deutsche Landjugend-Akademie und andere Jugendbildungsstätten der Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und Verbände). Da die JA immer "Kurzzeitpädagogik" ist, also - anders als die Schule - langfristige Bildungsprozesse nicht initiieren kann, liegt ihre besondere Chance darin, aktuelle und kontroverse Themen aufzugreifen und dabei die Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmer weitgehend zu berücksichtigen.

Im Unterschied zur Schule, die politisch überparteilich bleiben muß, bietet die JA - vor allem in Gestalt der Jugendverbände - Möglichkeiten für ein praktisches politisches Engagement, z. B. für eine politische Partei, eine Glaubensgemeinschaft oder eine gewerkschaftliche Organisation. Die Jugendverbände fungieren hier einerseits als Integrationsinstanzen, insofern sie Jugendlichen ein Gruppenleben unter Gleichaltrigen anbieten, das zugleich durch die Verbandsstruktur in die Gesellschaft eingebunden ist, andererseits als Nachwuchsreservoir für den jeweiligen Erwachsenenverband, dem sie junge Führungskräfte und Funktionäre oder zumindest Anhänger zuführen. In dieser Hinsicht hat der Jugendverband den Generationsgegensatz gleichsam institutionalisiert. Deswegen sind Konflikte mit dem öffentlichen Geldgeber oder mit dem jeweiligen Erwachsenenverband nicht selten, die dann auftreten

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können, wenn bestimmte politische Aktivitäten mißfallen. In extremen Fällen kann das den Entzug öffentlicher Mittel oder die Loslösung vom Erwachsenenverband zur Folge haben.

Inhalte und Methoden der JA lassen sich prinzipiell in einem relativ weiten Spielraum realisieren, hängen faktisch aber eng mit den Problemen zusammen, die die Jugendlichen - ihrem Alter entsprechend - individuell bewegen, wobei die Spannweite groß ist: gegenwärtig z. B. unauffällige Anpassung auf der einen Seite, Zukunftsangst, Orientierungsmangel, Eskapismus, "Selbstausbürgerung" und Suche nach alternativen Lebensformen auf der anderen Seite. Insofern ist JA immer auch ein Reflex auf allgemeine Probleme der Jugend oder macht diese der Gesellschaft bewußt. In den letzten Jahren hat sie darüber hinaus zunehmend sozialpädagogische Aufgaben übernommen, z. B. die Entwicklung von "zielgruppenorientierten" Programmen für arbeitslose Jugendliche, für Mädchen oder auch für ausländische Jugendliche.

Die Jugendbildung ist nicht zuletzt deutlich international orientiert, indem sie ihre Ziele auf Versöhnung, Verständigung, Abbau von Vorurteilen, Solidarität, Freundschaft, Erziehung zum Frieden, Sicherung des Weltfriedens hin ausrichtet. Im internationalen Bereich steht die Hervorhebung der Notwendigkeit und Möglichkeit des Ausgleichs von Gegensätzen, nicht so sehr das Aufgreifen von gesellschaftlichen Konflikten oder die Diskussion möglicher gesellschaftlicher Veränderungen im Vordergrund. Beim interkulturellen Lernen treffen nationale Verhaltensmuster aufeinander, die reflektiert, problematisiert, verglichen und im Umgang erprobt werden können.

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Literatur

Artmann, Th.: Jugend, Jugendarbeit und Kommerz, in: Deutsche Jugend, 3/1986. - Behr, W.: Jugendkrise und Jugendprotest, Stuttgart 1982. - BpB (Hrsg.): Jugendprobleme im Unterrichtn Bonn 1983. - Dies. (Hrsg.): Politische Bildung mit Jugendlichen, Bonn 1983. - Brenner, G.: Erwachsene an Jugendarbeit beteiligen?, in: Deutsche Jugend, 4/1986. - Eisel, ST. u.a.: Außerschulische Jugendbildung. Wesen und Aufgaben, in: APuZ, 43/1981. - Essig, P./Matzen, J.: Außerschulische politische Jugendbildung im gesellschaftlichen Wandlungsprozeß. Frankfurt 1986. - Faltermaier, M. (Hrsg.): Nachdenken über Jugendarbeit: Zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren. München 1985. - Fischer, D./Klawe, W./Thiesen, H.-J. (Hrsg.): (Er-)Leben statt Reden. Erlebnispädagogik in der offenen Jugendarbeit. München 1985. - Franke, K. (Hrsg.): Jugend, Politik und politische Bildung. Opladen 1985. - Gebauer, B. (Hrsg.): Außerschulische Jugendbildung. Ein Positionspapier. Eichholz 1981. - Giesecke, H.: Die Jugendarbeit. München 6. Aufl. 1983. - Ders.: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. München 1981. - Hafeneger, B. (Hrsg.): Politisches Lernen in Jugendverbänden. Reinheim 1984. -Hornstein, W.: Jugendprobleme, Jugendforschung und politisches Handeln, in: APuZ, 3./1982. - Jaide, W.: Achtzehnjährige. Zwischen Reaktion und Rebellion. Opladen 2. Aufl. 1982. Jugendwerk der deutschen Shell (Hrsg.): Jugendliche + Erwachsene '85, 5 Bde., Opladen 1985. - Krafeld, F. J.: Geschichte der Jugendarbeit. Weinheim 1984. - Krienke, B.: Forderungen zur Gestaltung politischer Jugendbildung, in: Materialien zur Politischen Bildung, 4/1986. - Münchmeier, R./Böhnisch, L.: Jugendarbeit. Die Zukunft bleibt offen, in: Sozialmagazin, 7-8/ 1987. - Otten, H.: Zur politischen Didaktik interkulturellen Lernens. Opladen 1985. - Peter, H.: Politische Jugendbildung. Kritik kurzzeitpädagogischer Formen. Bielefeld 1979. - WICKE, R.: Literatur zum Thema "Situation und Zukunft Jugendlicher". Eine Auswahl, in: Materialien zur Politischen Bildung, 4/1985. - Wollenweber, H. (Hrsg.): Außerschulische Jugendbildung und Jugendarbeit. Paderborn 1981. - Ziehe, Th./Stubenrauch, H.: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Ideen zur Jugendsituation. Reinbek 1982.


 
 
 

158. Die Gemeinschaft aus dem Chaos (1988)

Erinnerung an Anton Semjonowitsch Makarenko, den Pädagogen und Publizisten. Am 13. März wäre er hundert geworden

(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 11/1988/13.3.88)
 

Das Buch machte ihn weltberühmt: "Ein pädagogisches Poem", bekannt auch unter dem Titel "Der Weg ins Leben". Beschreibung der Maxim-Gorkij-Kolonie, die 1920 unter Leitung des damaligen Lehrers Anton Semjonowitsch Makarenko in der Nähe des ukrainischen Poltawa zur Resozialisierung jugendlicher Rechtsbrecher eingerichtet wurde. Kein Pädagoge dieses Jahrhunderts hatte vergleichbaren publizistischen Erfolg wie Makarenko, dessen wichtigste Werke in über fünfzig Sprachen übersetzt sind. Am 13. März 1988 wäre er hundert Jahre alt geworden.

1920. Als Opfer des Krieges`und des Bürgerkrieges streunten damals sieben bis neun Millionen Kinder und Jugendliche in der Sowjetunion umher, heimat-, eltern- oder obdachlos, die ihr Leben selten auf legale Weise fristen konnten. Sie wurden aufgegriffen, in Heime gebracht, aus denen viele so bald wie möglich wieder Reißaus nahmen. Mit der alten zaristischen Prügelmethode hätte man sie vielleicht festhalten können, aber nach der Revolution brach in der Sowjetunion ein erzieherischer Optimismus durch, der an der internationalen Reformpädagogik jener Zeit orientiert war, der an das Gute im Kind glaubte und durch ein einfühlsames Verständnis und ein pädagogisches Umfeld den "neuen Menschen" wollte. Zu diesen Reformpädagogen gehörte auch Lenins Frau. 

In diesem Sinne begann Makarenko seine Arbeit in der Kolonie, aber bald mußte er einsehen, daß das Gute nicht von selbst wächst. Die Zöglinge ließen sich zunächst kaum dazu bewegen, ihre Lage durch Arbeit zu verbessern; als sie eines Tages - anstatt Holz im Wald zu schlagen - das Mobiliar verfeuerten, verprügelte Makarenko einen von ihnen in blinder Wut. Zu seiner Überraschung schlugen die Eleven weder zurück, noch zeigten sie ihn an. Prügeln war gesetzlich verboten. Von da an war der Bann gebrochen, und die Organisation des Kollektivs konnte beginnen; denn die Zöglinge mußten sich durch handwerkliche und landwirtschaftliche Arbeit ihren Lebensunterhalt weitgehend selbst unter zunächst primitivsten Bedingungen erwirtschaften. Rußland litt damals unter unvorstellbaren Hungersnöten.

Die Faszination des "Pädagogischen Poems" kommt nicht nur aus dem schriftstellerischen Rang dieses Werkes, zu dem der Dichter Maxim Gorkij den Autor ermuntert hatte, sondern aus der Schilderung, wie aus einem Chaos verwahrloster Individuen eine Gemeinschaft entsteht, die in der Lage ist, ihre Angelegenheiten zunehmend selbständig zu regeln. Erst aus den Erfahrungen dieses Prozesses entwickelte Makarenko seine pädagogische Theorie. Er entdeckte dabei, daß seine Schüler weniger individuell einfühlsam behandelt werden wollten. Ihre Bedürfnisse waren primär sozialer Natur. Sie wollten gemeinsam etwas leisten und sich gemeinsam nach außen präsentieren. So entstand die Kollektiverziehung: Die anfallenden Aufgaben wurden Gruppen, Abteilungen zugeordnet, die von einem Zögling als Kommandeur geleitet wurden. Eine komplizierte Sozialstruktur entstand, in der viele für ihre Abteilungen Funktionsträger wurden, andererseits aber auch anderen Kommandeuren je nach Sachlage gehorchen mußten, so daß keine Machtelite aufkommen konnte. Militärähnliche Rituale setzten sich für den dienstlichen Umgang durch, die Makarenko nicht als vormilitärische Ausbildung, sondern als eine der Altersstufe angemessene Ästhetik des menschlichen Umgangs verstand.

Auch "Disziplin" erschien ihm deshalb wichtig, er glaubte nicht, daß es kindgemäß sei, wenn in den Heimen die Kinder sich in schreienden Haufen bewegten. Dienstliche Anweisungen wurden mit "zu Befehl!" wiederholt. Neue Zöglinge wurden mit Marschmusik und militärischem Zeremoniell vom Bahnhof abgeholt und neu eingekleidet. Die alten, zerlumpten Sachen wurden vor aller Augen verbrannt; die Vergangenheit sollte damit begraben sein.

Makarenkos pädagogisches Leitmotiv: "Möglichst hohe Forderungen an den Menschen und möglichst hohe Achtung vor ihm." Forderungen waren aber nur sinnvoll, wenn sie eine Perspektive enthielten, den Blick auf eine bessere Zukunft, "die Freude auf den morgigen Tag"!

Trotz der offensichtlichen Erfolge geriet Makarenko mit seiner pädagogischen Praxis immer mehr in Gegensatz zu seiner vorgesetzten Behörde, dem zuständigen Volksbildungskommissariat, das reformpädagogisch orientiert war und dessen "sentimentaler Damenpädagogik" (Makarenko) die Kollektiverziehung als ein Rückfall in die zaristische Pädagogik erschien. Er mußte 1928 die Gorkij-Kolonie verlassen und übernahm die Dzierzynski-Kommune, die der GPU, der politischen Polizei, unterstand, die unmittelbar mit den Verwahrlosten zu tun hatte und die Makarenkos Konzept mehr vertraute als die Damen von der Volksbildung. Auch über diese Arbeit schrieb er Erzählungen und den Roman "Flaggen auf den Türmen", von denen aber nicht mehr der Zauber des "Poems" ausgeht.

Die neue Kolonie konnte in den ersten Jahren wirtschaftlich kaum überleben. Es gab keine staatlichen Zuschüsse, sondern nur freiwillige Spenden der GPU-Angehörigen. Erst als ein findiger ehemaliger Kapitalist durch gewagte finanzielle Transaktionen der Kolonie eine bescheidene industrielle Produktionsstätte verschaffte, konnten sogar Gewinne gemacht werden. Die Zöglinge bauten nun die amerikanische Black & Decker Bohrmaschine und die deutsche Leica nach.

In den letzten Jahren seines Lebens - er starb 1939 - widmete Makarenko sich seinen schriftstellerischen Interessen und versuchte, die in den Umerziehungskolonien gewonnenen pädagogischen Erfahrungen zu einer allgemeinen Theorie der sowjetischen Kollektiverziehung zu formulieren. Die Lehre der Pädologen, wie er seine pädagogischen Gegner nannte, wurde 1936 parteioffiziell verboten. In der stalinistischen Ära war Kollektiv ein willkommenes Stichwort, und die "möglichst hohen Forderungen" stellte man gern in der Zeit der rücksichtslosen Industrialisierung, aber die "möglichst hohe Achtung vor dem Menschen" blieb weitgehend auf der Strecke.

Nicht zuletzt wegen dieser historischen Erfahrung ist bei uns der Begriff Kollektiv immer noch anrüchig, als gehe es darum, die menschliche Individualität zu Unterdrücken. Damit wäre Makarenko aber gründlich mißverstanden. Allerdings hatte er die Erfahrung gemacht, daß Individualität, wenn sie nicht zur Verwahrlosung führen soll, sich im Rahmen sozialer Verbindlichkeiten entfalten muß. Eine Einsicht, die manch einseitig psychologisch orientierter Therapie heute guttäte. Dabei treten durchaus antipädagogische Bezüge hervor: Als die industriell orientierte zweite Kolonie fest etabliert war, brauchte man zwar noch Lehrer für die Schule, aber keine Erzieher mehr. Die produktive Arbeit und die sozialen Regeln des Kollektivs hatten sie entbehrlich gemacht. Das Leben selbst hatte die Erziehung übernommen. Allerdings war die Arbeit damals nicht aus pädagogischen Gründen verordnet und inszeniert worden, sondern zunächst zum Überleben, später für ein menschenwürdiges Leben der Zöglinge selbst nötig - ein in unserem Wohlfahrtsstaat kaum nachvollziehbarer Gedanke.

Aber auch die Sowjetunion ist inzwischen zu einer komplexen und differenzierten Industriegesellschaft geworden, mit der Zeit von Makarenkos Kolonien nicht mehr vergleichbar. Gleichwohl erfreut sich Makarenko dort ungebrochener Beliebtheit, nicht zuletzt deshalb, weil seine pädagogischen Ideen nicht dogmatisch fixiert sind und deshalb für die neuen Verhältnisse weiterentwickelt werden können.

Bei uns ist es still um ihn geworden. Noch in den fünfziger und sechziger Jahren gab es eine breite Diskussion über seine Arbeiten, die von der Überraschung geprägt war, daß ein Kommunist derart subtile pädagogische Gedanken entwickeln konnte. Seit 1968 arbeitet an der Universität Marburg ein Makarenko-Forschungsreferat, das unter anderem eine textkritische Gesamtausgabe seiner Werke vorbereitet. Nach 1968 begann auch der Siegeszug der psychologisch orientierten Erziehungsideen, in deren Konzept Makarenko ebenso wenig zu passen scheint wie seinerzeit in das der Pädologen. Aber ist seine Kombination von Forderung und Achtung wirklich pädagogisch unmodern geworden?


 
 

159. Parteinahme. Parteilichkeit und Toleranzgebot (1988)

(In: Wolfgang W. Mickel/Dietrich Zitzlaff (Hrsg.): Handbuch zur Politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1988, S.69-72)
 
 

1. Definition: "Parteinahme" (P) soll hier verstanden werden als situationsbezogener Begriff: Eine Person entscheidet sich angesichts eines politischen Konfliktes für eine bestimmte Lösung des Problems und damit für diejenigen, die ebenfalls für diese Lösung votierten (z. B. für eine politische Partei). P. ist also im Prinzip keine grundsätzliche Entscheidung, sondern erfolgt von Fall zu Fall. "Parteilichkeit" wird hier dagegen strukturell verstanden, als eine grundsätzliche, relativ dauerhafte Einstellung zu politischen Ideen und Organisationen, etwa im Sinne einer parteipolitischen Präferenz. Parteilichkeit präformiert deswegen auch mehr oder weniger die situationsgebundenen Parteinahmen.

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2. Bedeutung für die politische Bildung: Jeder politisch einsichtsfähige Mensch steht politischen Phänomenen mit einer vorgängigen Parteilichkeit gegenüber, die im wesentlichen aus seiner bisherigen Sozialisation, seiner sozialen Lage, seinen normativen Grundorientierungen, seinen einschlägigen Erfahrungen und seinen kulturellen und wirtschaftlichen Interessen resultiert. Ohne Parteilichkeit, nicht nur gegenüber der Politik, sondern auch gegenüber anderen für das Alltagsleben bedeutsamen Tatsachen und Erscheinungen, wäre keine politische Bewußtheit und auch wohl keine Identität möglich; deshalb ändern sich parteiliche Einstellungen in der Regel auch nur allmählich im Zusammenhang mit fortschreitender Lebenserfahrung.

Die pB muß also mit solchen Voreinstellungen rechnen, und ihre Aufgabe besteht darin, sie aufzuklären, bewußt zu machen und damit eine Chance zur Veränderung, Revision oder Korrektur zu eröffnen oder solche Einstellungen auch nur einfach einer Prüfung auszusetzen. Jedoch kann sie darüber nicht verfügen, weil sie über die Ursachen und Beweggründe der politischen Parteilichkeit nicht verfügen kann. Im Gegenteil, eine allzu nachdrückliche Infragestellung der parteilichen Grundeinstellung kann - zumal bei Jugendlichen - zu zeitweiliger Desorientierung und zu sozialer Isolierung führen, da eine solche Grundeinstellung ja kollektive Kontexte hat. Sie wird mit anderen, in der Regel auch persönlich wichtigen Menschen geteilt. Historisch gesehen individualisiert sich die Parteilichkeit zunehmend, d. h. sie war früher - z. B. im Rahmen der starren Klassengesellschaft - viel eher von kollektiver Repräsentanz ("als Arbeiter", "als Handwerker", "als Unternehmer", "als Katholik"). In dem Maße, wie solche "selbstverständlichen" sozialen Verankerungen entfallen, wird Parteilichkeit gleichsam zu einem individuellen Recht. Erst unter dieser Voraussetzung kann sie auch zum Objekt einer aussichtsreichen politischen Werbung und Propaganda werden.

P angesichts einer bestimmten Situation oder eines bestimmten (in der Regel konfliktträchtigen) Sachverhaltes ist im Unterschied zur Parteilichkeit nicht unbedingt vorgegeben, sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit politischen Fragen, wobei allerdings die vorgängige Parteilichkeit den Spielraum für die P im allgemeinen begrenzt. In der Regel wird die allgemeine parteiliche Voreinstellung den Rahmen abgeben, in dem die konkrete P formuliert und gerechtfertigt wird. Aufgabe der pB ist es auch, diesen Zusammenhang transparent werden zu lassen, ihn aufzuklären. Sie darf politische P aber nicht verhindern, sondern muß dazu ermutigen; denn jede politische Reflexion endet notwendigerweise mit einer P - oder mit der Feststellung, daß das Thema der Reflexion im wörtlichen Sinne "gegenstandslos" sei.

Aus der Tatsache, daß Menschen ohne Parteilichkeit kein politisches Bewußtsein haben können und daß P das sachlich zwingende Ergebnis einer politischen Situationsanalyse ist, folgt jedoch keineswegs, daß auch Institutionen, die "Träger" der pB, parteilich sein müssen, daß sie also ihre Bildungsangebote entsprechend arrangieren. Für die einschlägigen staatlichen Träger (z. B. Schule und Hochschule) gilt vielmehr das Toleranzgebot, d. h. alle Meinungen und Überzeugungen sind mit gleichem Recht zu behandeln, keine darf priviligiert oder benachteiligt werden (das gilt jedoch nicht im gleichen Maße für politische Aktivitäten, z. B. nicht für verfassungswidrige). Die Schule als ein Monopol des Staates darf z. B. gerade

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auch im pU nicht parteilich für oder gegen partikulare Gruppen, etwa Anhänger bestimmter politischer Parteien, sein. Wie aber kann sie dann mit der eben festgestellten notwendigen Parteilichkeit der Schüler und Lehrer umgehen? Im wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten zur Lösung dieses Widerspruchs:

a) Der pU beschränkt sich auf grundlegende Informationen über den Staat und seine wichtigsten Institutionen ("Staatsbürgerkunde") und läßt so Gelegenheiten für Parteinahmen und für die Mobilisierung von Parteilichkeit gar nicht erst entstehen. Die Konsequenz wäre dann allerdings, daß das politisch Umstrittene nicht zum Gegenstand des Unterrichts wird.

b) Die Behandlung politisch strittiger Gegenstände wird zugelassen; dann aber muß dafür eine Form der Bearbeitung gefunden werden, die den Austausch parteilicher Positionen erlaubt, ohne daß eine davon zum offiziellen Ergebnis des Unterrichts erklärt wird. Möglich ist dies, wenn man wissenschaftsanaloge Verfahren verwendet (z. B. Entwicklung allgemeiner, sachbezogener Fragestellungen und "Kategorien"; methodisch kontrolliertes Vorgehen; Perspektivenwechsel; Suche nach "Wahrheit" und "Richtigkeit"). In diesem Fall kann die Mobilisierung von Parteilichkeit - weil sie methodisch diszipliniert erfolgt - nicht nur zu reflektierten P führen, sondern selbst zu einer wichtigen Erfahrung des Toleranzgebotes werden, also des verständnisvollen Umgangs mit anderen Positionen und deren Begründungen.

Anders als etwa die Schule können "Tendenzbetriebe", z. B. die Bildungseinrichtungen von politischen Parteien, der Kirchen, der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Verbände, durchaus parteilich orientierte pB anbieten, indem sie ihre "Tendenz" schon durch die Auswahl der Themen und Gegenstände zur Geltung bringen oder durch die Wahl geeigneter Mitarbeiter, von denen sie sich die Darstellung der gewünschten Positionen erhoffen. Jedoch zeigt die Erfahrung, daß im allgemeinen bei Bildungsveranstaltungen - im Unterschied zu ausdrücklich politischen Veranstaltungen - mit diesem Recht auf Parteilichkeit behutsam umgegangen wird, weil die Veranstalter im außerschulischen Bereich untereinander im Wettbewerb stehen, die Teilnehmer Meinungsfreiheit als wichtiges persönliches Recht verstehen und andererseits "Agitation" (das nachdrückliche Werben für ein bestimmtes Handeln) und "Indoktrination" (das Geltenlassen nur der eigenen Meinung) nicht Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses der Mitarbeiter sind - unabhängig davon, in welchem "Tendenzbetrieb" sie tätig sind. Die - in der Regel ''universitäre" - Ausbildung der Dozenten hat also zu einer gewissen Gemeinsamkeit im Hinblick auf die Regeln des Argumentierens und des Umgangs mit anderen Meinungen und Positionen geführt. Tendenzen zur Agitation und Indoktrination gelten daher eher als Mangel an Professionalität.

3. Didaktisch-methodische Konsequenzen: Die große Bedeutung von P und Parteilichkeit für das politische Bewußtsein und Verhalten der Menschen legt die Schlußfolgerung nahe, beides bei der didaktisch-methodischen Organisation der Bildungsprozesse möglichst zu berücksichtigen. Demnach wären politische Probleme, Konflikte und Kontroversen besonders geeignete Gegenstände für die Mobilisierung und Aufklärung von P und Parteilichkeiten. Dies ist von der Didaktik

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auch nachdrücklich betont worden ("konfliktorientierte" Didaktik). Unter dem Aspekt eines kontinuierlichen politischen Bildungsprozesses jedoch - den zu ermöglichen insbesondere Aufgabe der Schule ist -, besteht bei einem derart einseitigen didaktisch-methodischen Arrangement die Gefahr einer lediglich additiven Reihung von "Fällen", bei der systematische Vorstellungen über die politische Realität, die auf andere Fälle und Ereignisse übertragbar wären, nicht entstehen können. Ohne systematische Kenntnisse des jeweiligen "objektiven", also der je subjektiven P und Parteilichkeit wiederum vorgegebenen politischen Rahmens - z. B. der staatlichen und gesellschaftlichen Organe und Institutionen und der jeweiligen tatsächlichen Machtverhältnisse - bleibt politisches Denken und Handeln letztlich unaufgeklärt.

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Literatur: CLAUSSEN, B., Dimensionen von Konsens und Parteilichkeit in der politischen Bildung. In: Zs. f. Päd., 6/1978, S. 933-952. - FISCHER, K. G. (Hrsg.): Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der Politischen Bildung. Stuttgart 5/1986. - GIESECKE, H.: Didaktik der politischen Bildung. München 12/1982. - DERS.: Wer macht den politischen Unterricht parteilich? In: Materialien zur Politischen Bildung, 4/1977 - MOMMSEN, W.J./Rüsen, J.: Objektivität und Parteilichkeit in den Gesellschaftswissenschaften. München q977. - SCHIELE, S./SCHNEIDER, H. (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977. - SUTOR, B.: Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde. Paderborn 1984 - Ders.: Parteilichkeit politischer Bildung? In: Materialien zur Politischen Bildung, 4/1974 

 

  
 

160. Pluralistische Sozialisation und Identitätsfindung (1989)

(In: Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Die "Arbeitszeit" der Schüler. Anhörung zur Belastung und Beanspruchung von Kindern und Jugendlichen durch Schule und Umwelt. Hannover, 22./23. Juni 1989. Dokumentation. Hannover 1989, S. 97-103
 

Ich möchte nicht über einzelne Lebensbereiche und über davon ausgehende Belastungen der Schüler bzw. Jugendlichen sprechen, sondern über ein grundsätzliches Problem, das alle Jugendlichen, wenn auch in unterschiedlicher Weise betrifft und in dem sich alle einzelnen Belastungen akkumulieren. Ich meine das Problem der Identitätsfindung angesichts einer normativ und strukturell pluralistisch gewordenen Sozialisation. Als Beweismittel für meine folgenden Thesen führe ich einschneidende historische Veränderungen an, die etwa seit der Jahrhundertwende zu beobachten sind, die den Status des Jugendalters in der Gesellschaft betreffen und die sich in den letzten zwanzig Jahren radikalisiert haben. Auf diese historische Genesis kann ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen, ich setze vielmehr beim gegenwärtigen Ergebnis dieses Prozesses an.

1. Kinder - etwa vom Schuleintritt an - und Jugendliche werden heute pluralistisch sozialisiert, d.h. sie sehen sich von früh an auch und gerade in normativer Hinsicht unterschiedlichen Erwartungen ausgesetzt, je nach dem sozialen Ort, in dem sie sich bewegen (Familie, Schule, Gleichaltrigen-Szene, Freizeit- und Konsumsysteme, Massenmedien). Ein gemeinsames, kollektiv abgesichertes Erziehungsbündnis von privater Ebene (Familie) und Öffentlichkeit existiert kaum noch real, wohl aber noch in zahlreichen Fiktionen, die sich um den Begriff "Erziehung" ranken. Was an Normen und Verhaltensweisen "richtig" und sozial erwünscht ist, richtet sich zu einem erheblichen Teil nach dem sozialen Ort, an dem man sich jeweils befindet. Was in der Familie als richtiges Denken und Verhalten gilt, kann in der Gleichaltrigen-Szene falsch sein und umgekehrt. Aus den Massenmedien z.B. kommen normative Leitbilder ins Haus, die nicht nur untereinander widersprüchlich sind, sondern auch den jeweiligen familiären Werten widersprechen können usw. Aus dem pluralistischen Charakter der gegenwärtigen Sozialisation ergeben sich folgende allgemeine Belastungen:

a) Einerseits fördert die pluralistische Sozialisation Individualisierungsprozesse, Prozesse individueller Autonomie also, insofern den Heranwachsenden ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum und damit auch ein Verantwortungsspielraum angeboten wird. Andererseits kann dieser Freiheitsspielraum auch als Bürde, nämlich als Desorientierung erlebt werden. Zumindest teilweise können bestimmte Teil-Kulturszenen wie Neo-Nazismus, Jugendsekten, Drogenszene insofern als Problemlösungsversuche verstanden

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werden, als auf diese Weise die objektive Desorientierung subjektiv durch die Herstellung sozialer Zugehörigkeit unterlaufen werden kann - bis`hin zur Unterwerfung unter ein Reglement, das den objektiv möglichen Autonomiespielraum wieder aufhebt und dadurch das Gefühl neuer Orientierung aufkommen läßt. Die ideologische Vereinfachung der Weltsicht, wie sie sich etwa im Neo-Nazismus zeigt, ist dabei nur folgerichtig, sie wird zum sozialen Überleben benötigt und ist gerade deshalb so schwer aufklärbar und rational diskutierbar. Es wäre jedoch kurzsichtig, diese objektiv falsche, aber subjektiv jeweils plausible Problemlösung nur als ein Minderheiten-Verhalten einzuschätzen; denn unter den Bedingungen der pluralistischen Sozialisation kann im Prinzip jeder Jugendliche zumindest zeitweise in diesen Minderheitenstatus geraden. Die modernen Sozialisationsbedingungen sind also ambivalent: sie ermöglichen einerseits früher Verantwortung, Selbständigkeit, Autonomie und dadurch auch Selbstbewußtsein; andererseits können sie auch "verwahrlosend" wirken.

b) Wo immer Menschen einen Entscheidungsspielraum zur Verfügung haben, also zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen können, gibt es Interessenten, die auf diese Entscheidungen Einfluß nehmen möchten. Was aus der Sicht des einzelnen Heranwachsenden scheinbar nur privat geschieht, wird in Wahrheit in die Öffentlichkeit gehoben. Interessenten sind in diesem Sinne nicht nur die schon erwähnten Teilkulturszenen, sondern auch der Markt mit seinen Werbestrategien sowie darüber hinaus alle möglichen politischen und weltanschaulichen Anbieter. Auch diese jeweils partikularen, im Wettbewerb miteinander stehenden Interessen sind ambivalent einzuschätzen. Sie können einerseits Orientierungshilfe leisten, wenn z.B. jemand in einem politischen oder kirchlichen Jugendverband mitarbeitet, sie können aber auch das Bedürfnis nach Orientierung für ihre Zwecke mißbrauchen, ohne daß dies subjektiv so erlebt werden muß, weil ja gerade die Orientierung und die daraus resultierende Erfahrung noch fehlt, die zum Erkennen des Mißbrauchs nötig wären. Teile der Kindheit und das Jugendalter sind also der pädagogischen Leitung und Kontrolle weitgehend enthoben, zu einer Sphäre der Öffentlichkeit geworden. Wie bedeutsam hier konkurrierende Leitbilder sind, zeigt sich am Widerspruch von Markt und Pädagogik. Das Leitmotiv der Pädagogik ist das Wohl des Kindes, das Leitmotiv des Marktes ist das Wohl des investierten Kapitals. Ich sage das ohne jedes kulturkritische Lamento, weil in diesem Wertkonflikt gerade unter der Maxime des Kindeswohles keineswegs die Pädagogik immer Recht hatte und hat.

c) Die pluralistische Sozialisation hat auch die Erziehungsfunktion der Familie verändert. Die Familie ist nur noch ein Faktor unter anderen in dieser Sozia-

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lisationsstruktur. Die Mittelschichtfamilien reagieren auf diese Situation höchst unterschiedlich. Gemeinsam scheint mir vor allem der Druck auf die Schulleistungen der Kinder zu sein. Abgesehen davon aber können die Familien entweder mit Desinteresse auf das außerfamiliäre Leben der Kinder reagieren - dieses Verhalten möglicherweise für Gewährung von Freiheit haltend - oder andererseits durch Überbehütung versuchen, das an die anderen Sozialisationsfaktoren verlorene Terrain wieder zurückzugewinnen, indem sie die Familienbindung der Heranwachsenden durch emotionale und freizeitkontrollierende Maßnahmen zu erhöhen trachten. Zwischen diesen beiden Extremen findet sich aber auch eine mittlere Position, die sowohl übermäßige Bindung als auch Desinteresse zu vermeiden trachtet und die außerfamiliären Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit ihnen zu interpretieren sucht und insofern Orientierungshilfe anbietet. Es wäre jedoch falsch, diese auf den ersten Blick plausible Haltung als die einzig vernünftige zu propagieren. Die pluralistische Sozialisation läßt die Favorisierung eines bestimmten Familienverhaltens nicht zu, weil die mit dieser Sozialisationsstruktur gegebene Individualisierung des Heranwachsens auch individuelle, auf den Einzelfall bezogene Reaktionen verlangt. Für bestimmte Kinder können also auch zumindest zeitweise die angedeuteten extremen Reaktionen pädagogisch vernünftig sein.

d) Auch die professionellen Pädagogen, z.B. die Lehrer, tragen ihre Erziehungsvorstellungen in individualisierter Form an ihre Partner heran. Die Schüler begegnen in ihren Schulen Lehrern, die nicht nur in politisch-weltanschaulichen Fragen, sondern auch in grundlegenden pädagogischen Fragen unterschiedliche Positionen vertreten, die tief in das professionelle Selbstverständnis hineinreichen und zu miteinander unvereinbaren pädagogischen Strategien führen können. Auch diese Erfahrung kann einerseits beim Schüler zur größeren Autonomie führen, andererseits aber auch zu Verwirrung.

2. Die pluralistische Sozialisation hat also den Kindern und vor allem den Jugendlichen ein gegenüber früheren Generationen erhebliches Maß an Verantwortung zugespielt: Für die Wahl von Ausbildungsgängen, für das Verhalten im Freizeit- und Konsumbereich, für den Umgang mit anderen Menschen. Daraus folgt aber auch eine besondere Belastung im Hinblick auf die Identitätsfindung. Ich meine dies nicht im Sinne irgendeiner der bekannten Identitätstheorien, sondern in einem schlichten alltagssprachlichen Sinne, wie er auch den Heranwachsenden selbst verständlich zu machen ist. Es geht um die subjektiv befriedigende Beantwortung der Fragen: Wer bin ich? Was

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kann ich? Wozu bin ich da? Im Rahmen der pluralistischen Sozialisation und ihrer Wahlmöglichkeiten kann aber die Beantwortung dieser Fragen nur durch ständige Abgrenzungen in den alltäglichen Auseinandersetzungen erfolgen, also durch die ständige Bearbeitung der Gegenfragen: Wer bin ich nicht? Was kann ich nicht? Wozu bin ich nicht da?

Die notwendige Identitätsfindung wird nun noch dadurch erschwert, daß die kollektiven sozialen Hintergründe dafür brüchig geworden sind. Innerhalb der alten kulturellen Milieus (des Katholizismus, der Varianten des Protestantismus, der sozialistischen Arbeiterbewegung, des Bildungsbürgertums) konnte ein wichtiger Teil der Identitätsfindung durch vorgängige Identifikation erfolgen: Ich bin einer von ... In dem Maße nun, wie diese Milieus an sinnstiftender Verbindlichkeit verloren haben, wird der Maßstab zunehmend in die eigene Innerlichkeit verlegt. Damit ist aber weitgehend eine zuverlässige soziale Resonanz - in Zustimmung wie in Kritik - entfallen. Die eigene Innerlichkeit ist ein höchst unzuverlässiger Maßstab, die Resonanz aus den Medien ist modischen Wechseln unterworfen; dies gilt auch für die Rückmeldungen aus der Gleichaltrigen-Szene. Verläßlich soziale Resonanz angesichts der Versuche zur Identitätsfindung ist aber von enormer Bedeutung. Fehlt sie, dann droht Verunsicherung des Selbstbewußtseins und als dessen Konsequenz eine generelle verminderte Belastbarkeit.

Wenn wir uns also heute über die Belastungen von Kindern bzw. Jugendlichen verständigen wollen, dann müssen wir dieses Problem im Rahmen der von mir knapp angedeuteten strukturellen Sozialisationswidersprüche tun. "Strukturell" soll heißen: sie sind grundsätzlich nicht aufhebbar, weder durch pädagogisches noch durch politisches Handeln. Pädagogisch können wir nur fragen, wie wir in dieser vorgegebenen Situation Orientierungshilfe, Unterstützung und Ermutigung gewähren können.

Die Belastungen sind also nicht an einem bestimmten Punkt des Schülerdaseins festzumachen - auch nicht an der Schulleistung, vielmehr muß man jede dieser Belastungen im Kontext der gesamten Identitätsbelastung sehen. Vielleicht wäre es zweckmäßig, hier mit dem medizinischen Begriff des Risikofaktors zu operieren. Wir kennen diese Probleme z.B. aus Selbstmordversuchen von Kindern und Jugendlichen: Eine einzelne, für sich genommen völlig bedeutungslose Belastung - z.B. ein schlechtes Schulzeugnis - kann zum auslösenden Faktor im Rahmen der übrigen Risikofaktoren werden. In diesem Sinne sind noch folgende Aspekte von Bedeutung:

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a) Das Maß an Belastung ist im Einzelfalle äußerst widersprüchlich. Auf der einen Seite wird die durch die pluralistische Sozialisation objektiv ermöglichte Verantwortung auch eingefordert wie teilweise in der Schule oder im Freizeit- und Konsumbereich oder in der Gleichaltrigen-Szene. Auf der anderen Seite ist aber auch eine gewisse Infantilisierung zu bemerken:

- Wenn in der Familie die Kinder von den Aufgaben der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen bleiben und lediglich ihre Schulleistungen Anerkennung oder Mißbilligung finden;

- wenn in Familien - aus welchen Gründen und Motiven auch immer - Kinder und Jugendliche möglichst klein und unselbständig gehalten werden;

- wenn in der Öffentlichkeit falsche Handlungen (z.B. Beschädigung von Eigentum) durch Versicherungsleistungen - also anonym - korrigiert werden bzw. wenn - wie z.T. in der Schule - Versicherungsträger bestimmen, was etwa in den Pausen erlaubt ist und was nicht.

Derartige Diskrepanzen erschweren den Prozeß der Identitätsfindung und es ist ein Irrtum anzunehmen, die Tendenzen der Infantilisierung brächten eine Entlastung gegenüber anderen Belastungen. Sie sind im Gegenteil eine zusätzliche Belastung. Die notwendige Balance von Belastung und Entlastung kann nicht durch ein System von hohen und niederen Forderungen erreicht werden, sondern nur durch einen Rhythmus von Belastung und Nichtbelastung, und Nicht-Belastung ist - wie die Unterhaltung - ein rein subjektives Phänomen, kann also nur vom Schüler selbst für sich entdeckt werden.

4. Mit der pluralistischen Sozialisation und den damit verbundenen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen ist die Belastung durch ständige soziale Selbstbehauptung enorm gestiegen. Allein die Selbstbehauptung in der Gleichaltrigen-Szene ist harte soziale Arbeit. Je liberaler unsere Schulen im Hinblick auf Disziplin wurden, und je mehr sie auf Selbstdisziplin setzten, um so belastender sind die kommunikativen Ansprüche an die Schüler geworden. Je mehr der Unterricht sich aus dem traditionellen Klassenverband gelöst hat und in wechselnden Kursen erfolgt, um so anstrengender wird die Kommunikation. Entsprechendes gilt für jene Familien, die Konflikte durch argumentative Verbalisierung zu lösen pflegen. Hier wie überall ist der Fortschritt ambivalent, insofern er für zusätzliche Freiheiten auch zusätzliche Belastungen fordert.

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Hält man sich die skizzierte Problematik im ganzen vor Augen, dann stellt sich die Frage, wo unnötige Belastungen gemildert oder ganz vermieden werden können. Realistischerweise können wir das jedoch nur in unseren öffentlichen pädagogischen Einrichtungen versuchen, auf die übrigen Sozialisationsfaktoren haben wir keinen Einfluß, und auch der Familie können wir nur Ratschläge geben, ohne daß wir auf sie einzuwirken vermögen. Ich beschränke mich deshalb auf einige Hinweise für die Schule.

Der eigentliche Zweck der Schule ist zwar Unterricht, aber in diesem Rahmen leben Schüler eben auch einen Teil des Tages ganz einfach zusammen. Diesem Zusammenleben ist als einem Selbstzweck stärker Beachtung zu schenken. Es geht nicht darum, "soziales Lernen" zu instrumentarisieren, damit man z.B. heute Kooperativität lernt, um es morgen - nach der Schulzeit - auch als Tugend zu beherrschen. Dies kann allenfalls ein willkommenes Abfallprodukt sein. Es geht um eine entlastende, integrative, verläßliche, gelassene und nicht zuletzt auch ästhetisch wohltuende soziale Atmosphäre, aus der heraus dann die Energien auf die Unterrichtsarbeit gerichtet werden können. Das setzt eine Überprüfung der Stoffpensen voraus, denn eine solche Atmosphäre braucht ihre eigene Zeit.

Dieses Plädoyer für soziales Wohlbefinden impliziert keineswegs eine qualitative Verminderung der Leistungsanforderungen, wohl aber deren ständige didaktisch-methodische Überprüfung. Dabei müßte allerdings auch überprüft werden, inwieweit die moderne Schuldidaktik ebenfalls zu den infantilisierenden Faktoren zu rechnen ist, die die Begegnung des Schülers mit der außersubjektiven Welt nur künstlich erschwert. Für einige Fächer wie etwa Sozialkunde scheint mir dies eine plausible Hypothese zu sein. Die Schule hilft den Schülern nicht bei der Identitätsfindung, wenn sie sie intellektuell unterfordert, in der falschen Annahme, dies sei eine Entlastung. Unterforderung ist immer eine Mißachtung der Möglichkeiten des anderen.

Die Schüler haben heute genug Probleme mit ihrer Identitätsfindung, sie können nicht auch noch die entsprechenden Probleme ihrer Lehrer übernehmen, z.B. die ihrer gescheiterten Basisbeziehungen, oder ihrer unerfüllten politischen Träume. Derartige, wenn auch nur unbewußte Erwartungen erhöhen ebenfalls die kommunikative Belastung für die Schüler. Dringend notwendig erscheint mir eine Neubesinnung auf das Professionelle an unseren pädagogischen Berufen.

Der Unterricht in unseren Schulen müßte stärker als bisher die Aufgabe der Identitätshilfe sehen, also nicht nur das künftige Leben der Schüler im Blick

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haben, sondern auch das gegenwärtige. Im Rahmen derjenigen Fächer, die für die Identitätsfindung von besonderer Bedeutung sind, sollten Schüler Unterrichtsthemen vorschlagen können, die ihnen besonders wichtig erscheinen - auch wenn sie nicht in den Richtlinien stehen.

e) Abschied zu nehmen gilt es aber vor allem von jenem technologischen Selbstverständnis, wie es sich z.B. in den herrschenden Vorstellungen über die Lehrerfortbildung findet. Unsere Schüler brauchen Lehrerinnen und Lehrer "zum Anfassen", die selbst eine kulturelle Existenz führen und deren Horizont sich nicht beschränkt auf ein Repertoire didaktisch-methodischer Kunststückchen. Unser Beruf basiert nicht auf einer spezifischen Technologie, sondern auf der Qualität des "pädagogischen Bezugs".

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161. Die Berufsethik des Lehrers ist seine Professionalität (1990)

(In: Die Deutsche Schule, H. 1/1990, S. 21-24)
 

Bevor wir ein spezifisches Berufsethos des Lehrers finden können, müssen wir erst einmal zu klären versuchen, was die Professionalität des Lehrers überhaupt ausmacht. Versteht er sich im umfassenden Sinne auch als Erzieher, wird die Antwort anders ausfallen, als wenn ich ihn als eine besondere Species von "Lernhelfer" definiere; dieses Verständnis ist ein partikulares, und entsprechend zu begrenzen sind dann auch die moralischen Ansprüche.

Alle modernen Berufe definieren sich unter anderem durch die Partikularität ihres Selbstverständnisses. Ein Anwalt übernimmt nicht auch seelsorgerische Aufgaben, und ein Arzt erteilt von Berufs wegen keine allgemeinen rechtlichen Ratschläge. Keiner der übrigen am Menschen orientierten Berufe beansprucht, die Klienten in ihrer Gesamtheit zu verändern. Das gilt auch für die psychologischen Berufe. Sie definieren Probleme als psychische und versuchen, sie durch Psychisches zu lösen. Das Beispiel der Psychologie

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zeigt allerdings auch, wie durch eine Expansion der Problemdefinitionen andere Diagnosemöglichkeiten - z. B. soziale - verdrängt werden können. Viele Pädagogen - und eben auch die Lehrer - erheben jedoch unter dem Begriff der Erziehung den Anspruch, für das Wohl der Gesamtpersönlichkeit ihrer Klienten beruflich verantwortlich zu sein. Für dieses Selbstverständnis hat es natürlich auch immer eine Moral gegeben. Zu denken ist dabei etwa an Herman Nohls "Pädagogischen Bezug" oder an jene kultur- und zivilisationskritischen Theoreme, die Erscheinungen des modernen Lebens (wie Freizeit, Konsum und Massenkommunikation) als dem Wohl des Kindes schädlich deklarierten, zu dessen Anwalt für ein "richtiges" und "gutes" Aufwachsen sich die Pädagogen stilisierten. Ich sehe hierin eine Moral ohne Professionalität. Mir scheint, daß die Ethos-Diskussion deshalb aktuell wird, weil diese nicht-professionelle pädagogische Moral auf eine inzwischen unübersehbar veränderte pädagogische Wirklichkeit trifft. Weder in unseren Schulen, noch in der Fürsorgeerziehung wird heute noch "erzogen", es wird - mehr oder weniger gut - unterrichtet bzw. therapiert, und wo noch erzogen wird, handelt es sich um historische Rückzugsgefechte. Eine ausführlichere Begründung für diese These habe ich an anderer Stelle vorgetragen (Pädagogik als Beruf, Weinheim 1987), hier möchte ich nur einige Schlußfolgerungen für das Problem der Berufsethik ziehen.

Wenn professionelles pädagogisches Handeln als "Lernhilfe" zu bestimmen ist, dann ergibt sich daraus für Lehrer im Hinblick auf ihre Schüler folgendes:

1. Die Lernhilfe des Lehrers ist eine partikulare Intervention in ein Schülerleben, über das der Lehrer im ganzen nicht verfügen kann.

2. Diese partikulare Intervention heißt "Unterrichten". Das ist in einem weiten Sinne zu verstehen, ohne jede didaktisch-methodische Einschränkung. Auch das Erarbeiten eines Theater- oder Musikstückes zum Zwecke der Aufführung ist in diesem Sinne Unterricht.

3. Die Intervention des Lehrers ist dann professionell, wenn sie didaktisch-methodisch fundiert und von Sachverstand getragen ist, wenn sie die Persönlichkeit der Schüler achtet und respektiert, jeden nach seinen Fähigkeiten zu fördern und zu ermutigen sucht, auf Agitation und Indoktrination verzichtet, sich dabei aber authentisch präsentiert, wenn der Lehrer also z. B. selbst für wichtig hält, was er unterrichtet, wenn er ferner seine Qualifikation durch Fortbildung zu erhalten und möglichst zu verbessern trachtet (wobei es nicht nur um spezifische Fortbildungsveranstaltungen geht, sondern überhaupt um die Teilnahme am geistig-kulturellen-politischen Leben).

Man kann nun das Insgesamt dieser professionellen Details als Berufsethos bezeichnen, obwohl ich nicht sicher bin, ob dies nötig ist. Mir reicht zu sagen, daß optimale Professionalität selbst die Moral ist und daß dem nichts "Höheres" hinzugefügt werden muß.

Nun wissen wir aber, daß es eine nicht geringe Zahl von Lehrern gibt, die diesem professionellen Standard zumindest teilweise nicht entsprechen. Das führt zu der Frage, ob Professionalität des Lehrers überhaupt in seinen sozialen Handlungskontexten benötigt bzw. gewünscht wird. Dazu einige Hinweise.

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1. Die administrative Reglementierung der Schule - deren Sinn ich unter anderen Aspekten nicht in Zweifel ziehe - begünstigt einen Lehrertypus, dem man nichts anhaben kann, solange er die Vorschriften erfüllt. Genau daran ist die Administration interessiert, nicht an besonderer Professionalität, schon gar nicht an einer, die Schwierigkeiten machen könnte. Ein auf Professionalität beruhendes Berufsethos ist in diesem System ein Luxus, der nicht weiter honoriert wird, ist eine Moral ohne nennenswerte soziale Resonanz. Ein Beispiel dafür ist die administrative Lizensierung der Fortbildungsveranstaltungen. Wenn ein Deutschlehrer an einem Germanisten-Kongreß teilnimmt, ist das keine Fortbildung, sondern Privatsache. Professionell fundierte Berufsethik wird also nicht vom System der Administration sozial oder sonstwie honoriert, sondern allenfalls von den Schülern. Und die Eltern? Sie interessiert das Berufsethos der Lehrer im allgemeinen nur, insofern ihre Kinder dabei erfolgreich sind. Auch bei den Kollegen ist positive soziale Resonanz für das Bemühen um Professionalität nur eingeschränkt zu erwarten. Ein Lehrer, der wirklich Professionalität anstrebt, ist also in einem hohen Maße auf seine einsame Innerlichkeit als Maßstab verwiesen. Zudem bringt ihn Professionalität in Konflikte mit administrativen Direktiven, wenn diese die professionelle Aufgabe der Lernhilfe behindern oder gar verhindern. Eine derartige politische Dimension der Berufsethik hat aber nicht einmal einen Ort in den Standesorganisationen der Lehrer, die ja deren Interessen zu vertreten haben, nicht die der Schüler, was bekanntlich keineswegs identisch ist.

2. Auch in der Erziehungswissenschaft findet der professionell orientierte Lehrer zu unserem Problem keine klare Antwort. Die Wende von der "Lehrerbildung" zur "Lehrerausbildung" in den 70er Jahren hat die Professionalität nicht gefördert, sondern nur einseitig technologisch instrumentalisiert. Erst nach dieser Wende wurde z. B. Iegitimierbar zu trennen zwischen dem, was den Lehrer selbst interessiert, und dem, was er unterrichtet. Dabei geriet die Tatsache aus dem Blick, daß jedes Lehren und Lernen in einer Vis-a-vis-Situation nichts weiter als eine besonders organisierte Form des allgemeinen menschlichen Erfahrungsaustausches ist und nur in dieser wechselseitigen Komplexität glaubhaft, weil authentisch sein kann. Der durch die Instrumentalisierung des unterrichtlichen Handwerks freigewordene, früher durch den Anspruch der "Selbstbildung" gefüllte Teil der Lehrerpersönlichkeit wird nun als reine Privatsache betrachtet und kann deshalb mit allen möglichen unaufgeklärten Vorstellungen von "Erziehung" besetzt werden. Gleichsam als Kompensation hat die Lehrerausbildung versucht, durch entsprechende Trainingskurse die Verhaltensebene, also den verbalen wie nicht-verbalen Umgang einschließlich Konfliktlösungsverhalten zu professionalisieren. Aber wenn ein solches Verhalten nicht persönlich verbindlich präsentiert wird, wird seine pure Zweckhaftigkeit leicht durchschaut und von den Schülern abgelehnt. Daran scheitern nicht wenige Lehrer, obwohl sie sich im übrigen große Mühe für einen interessanten und effektiven Unterricht geben. Das liegt wohl einfach daran, daß eine Lehre, die sich nicht auf einen Erfahrungsaustausch einläßt, der sowohl auf der Gleichwertigkeit aller menschlichen Erfahrung als auch auf ihrer

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Ungleichartigkeit beruht, menschlich deshalb schwer zu ertragen ist, weil sie von strikt monologischer Struktur ist. Das scheint für jede Lehre zu gelten, auch für die universitäre.

Nun ist "Lernhilfe" allerdings nicht die einzige professionelle Aufgabe, die dem Lehrer obliegt. Hinzu kommt über die Zensuren die Verteilung von Berechtigungen. Der professionelle Maßstab liegt hier in der sachgerechten Anwendung der allgemeinen Verwaltungsprinzipien, also z. B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung. Nicht professionell wäre z. B., bei der Zensurenvergabe persönliche Animositäten mitwirken zu lassen. Beide Berufsaufgaben, die pädagogische und die administrative, haben also ihre eigenen professionellen Maßstäbe, die sich zwar in der Person des Lehrers verbinden, die aber auch gegenüber den Schülern auseinandergehalten werden müssen. Hat also ein Lehrer seine Aufgaben der Lernhilfe und der Verteilung von Berechtigungen optimal erfüllt, dann hat er auch die ihm mögliche Verantwortung erfüllt, alles weitere unterliegt der Verantwortung des Schülers bzw. - je nach Alter - seiner Eltern.

Fazit: Niemand außer vielleicht den Schülern will eigentlich eine wirkliche Professionalität oder gar eine darüber hinausgehende Berufsethik des Lehrers - außer natürlich in Sonntagsreden. In unserem Schulsystem ist Professionalität Privatsache, deshalb verdienen diejenigen, die sie trotzdem anstreben, unsere besondere Hochachtung. Gebraucht werden Lehrer, die man angesichts von Kinder- und Jugendkrisen verantwortlich machen kann, weil sie "erzieherisch" - was immer damit gemeint sein mag - versagt hätten. Die für unsere Profession nötige Partikularität der Aufgabendefinition impliziert nämlich auch eine Partikularisierung der Verantwortung für das Aufwachsen der Kinder. Fragt man Schüler, wen sie für einen guten Lehrer (männlich wie weiblich) halten, so hört man immer wieder. "Er/sie soll etwas können, soll es gut beibringen können und im übrigen nett sein." Ich halte dies für eine gute Antwort auf die Frage nach dem Berufsethos des Lehrers.

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162. Familie als pädagogisches Feld (1990)

(In: Neue Sammlung, H. 2/1990, S. 223-231)
 

Familie ist innerhalb der letzten Jahre zu einem beliebten Thema der öffentlichen Diskussion geworden. Unterstrichen wird dieses Interesse nicht nur durch zahlreiche Publikationen, sondern auch durch die Tatsache, daß im bereits vom Bundestag verabschiedeten "Kinder- und Jugendhilfegesetz" (KJHG) die Familie in den Mittelpunkt der Jugendhilfebestrebungen gerückt wird. Diese sollen in einer sehr differenzierten Skala dazu dienen, die Erziehungsfunktion der Familie zu stärken.

Interessant erscheint mir nun, daß die Favorisierung der Familienhilfe durch die moderne Jugendhilfe so gut wie gar nicht auf pädagogischen Annahmen oder Begründungen über die Chancen und Grenzen des Aufwachsens in der Familie beruht, sondern ganz überwiegend auf einem therapeutischen Paradigma. Je nach Art und Ausmaß der "Erziehungsschwierigkeiten" gibt es demnach einigermaßen präzise wirkende Interventionsmöglichkeiten, die das Problem zu kurieren versprechen. Die Familie wird in dieser Vorstellung als ein Ensemble von Menschen verstanden, deren Probleme sich im wesentlichen als psychische verstehen lassen, die auf der Beziehungsebene virulent werden, und die sich - da ja eigentlich jeder guten Willens ist und sich eine harmonische Familie wünscht - durch psychologisierende Aufklärung - vielleicht ergänzt durch materielle Unterstützung - auf der Grundlage dieses Harmoniebedürfnisses bereinigen lassen. Werden die Kinder dann trotzdem dissozial - und sie werden heute in erster Linie in und wegen ihrer Familie dissozial - dann werden sie z. B. zu "sozialen Trainingskursen" eingeladen und schlimmstenfalls in einer Pflegefamilie oder auch in einem Heim untergebracht - dies jedoch nur zeitweise, und nicht etwa, solange die Kinder dies selbst wünschen; denn nach der Reparatur ihrer Probleme sollen sie möglichst schnell schon aus Kostengründen wieder ihrer Familie zugeführt werden.

Jedenfalls ist das neue KJHG Anlaß genug darüber nachzudenken, was heute "Erziehung" in der Familie noch heißen kann, was also die Familie als Lernfeld noch hergibt und wo demgemäß die pädagogischen Chancen und Grenzen der Familie heute liegen. Dieser Frage will ich in der folgenden Skizze nachgehen, die nicht mehr als ein Diskussionsbeitrag sein kann.

1. Offensichtlich müssen wir den Veränderungen der Familienstruktur dadurch Rechnung tragen, daß wir das bisher herrschende normative Leitbild der "Erstfamilie" (Mann und Frau heiraten und ziehen gemeinsam gezeugte Kinder auf) aufgeben und die übrigen wichtigen Varianten (Zweitfamilie/Stieffamilie; Alleinerzieherfamilie; Adoptivfamilie; Pflegefamilie) als gleichrangig in den Blick nehmen. Wir dürfen also diese Varianten nicht als von vornherein defizitäre Abweichungen von der Normalform ansehen, wie das bisher meist geschehen ist. Das schließt selbstverständlich ein, daß die verschiedenen Familienformen auch spezifische Chancen und Probleme haben, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen möchte. Unter pädagogischem Aspekt ist also Familie zu verstehen als das Zusammenleben von mindestens einem

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Erwachsenen und einem Kind in einer gemeinsamen Wohnung, wobei grundsätzlich gleichgültig ist, ob eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen Kindern und Erwachsenen besteht und welcher rechtlichen Art gegebenenfalls die Beziehung des erwachsenen Paares ist (ob verheiratet oder nicht); denkbar ist auch, daß Freunde oder Freundinnen oder Verwandte in einem gemeinsamen Haushalt mit Kindern leben. Entscheidend ist das auf Kontinuität angelegte Zusammenleben von Erwachsenen mit Kindern "rund um die Uhr". In diesem weiten Sinne definiert auch der Kommentar zum KJHG-Entwurf Familie, indem er alle "auf persönlichen Beziehungen gegründeten Gemeinschaften" dazu rechnet, "in denen Erwachsene und junge Menschen auf Dauer angelegt miteinander leben, dabei aufeinander Einfluß nehmen und füreinander Verantwortung tragen".

Diese Definition enthält also eine ganze Fülle von Familienvarianten, die im einzelnen zu untersuchen sehr reizvoll wäre, aber hier soll das Prinzipielle im Vordergrund bleiben. Unsere pädagogische Argumentation erfolgt also aus der Sicht des Kindes, seiner Lern- und Verhaltensmöglichkeiten. Das gilt auch im Hinblick auf die sogenannte "Commuter-Familie", die aus zwei Haushalten besteht, weil aus beruflichen Gründen beide Ehepartner nicht am selben Wohnort leben können. Für die Kinder ist derjenige Haushalt ihre Familie, wo sie täglich leben, mögen die Erwachsenen ihre beiden Haushalte auch als gleichrangig ansehen. Ähnlich ist die Lage bei geschiedenen Familien: Für die Kinder ist dort ihre Familie, wo sie leben, bei der Familie des abwesenden Elternteils sind sie nur zu Gast.

2. Die pädagogische Funktion der Familie läßt sich nur an ihrer sozialen Qualität festmachen. In einem sozialen Feld kann nur das gelernt werden - und dies ist der eigentliche pädagogische Gesichtspunkt - was in ihm auch gebraucht wird. Übertragbar auf andere soziale Orte ist das Gelernte nur dann, wenn diese anderen Orte entweder eine ähnliche Erwartungsstruktur haben, oder wenn das an einem Ort Gelernte durch Reflexion auf andere soziale Orte mit entsprechenden Modifikationen transferiert werden kann.

3. Kinder leben heute zumindest vom Schuleintritt an nicht nur in einem sozialen Feld - der Familie - sondern zunehmend in mehreren (Kindergarten, Schule, Gleichaltrigengruppe, Freizeitmarkt), die zumindest teilweise unterschiedliche soziale Erwartungen präsentieren. Man kann die Gesamtheit dieser Erwartungen und Einflüsse "pluralistische Sozialisation" nennen.

4. Diese pluralistische Sozialisation hat unter anderem ein früher nicht gekanntes Maß an Individualisierung zur Folge, d. h., schon verhältnismäßig früh muß das Kind im Rahmen dieser Sozialisation relativ autonom balancieren, eigene Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit entfalten. Werden diese Fähigkeiten nicht unterstützt und ermutigt, droht das Kind lebensuntüchtig zu werden. Es muß also an jedem seiner sozialen Orte erfolgreich nach den dort jeweils geltenden Maßstäben unter Beibehaltung seiner Identität leben können.

5. Aus der pluralistischen Sozialisation folgt notwendig eine Relativierung der Erziehungsansprüche der pädagogischen Orte, auch und gerade der Familie. Es ist nicht mehr möglich, von einem dieser Orte aus die Gesamtsozialisation zu steuern.

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Angesichts dieser Lage stellt sich die Frage nach der besonderen, unverwechselbaren pädagogischen Bedeutung der Familie im Kontext der anderen Sozialisationsfaktoren neu. Wenn der Ideal-Typus der Erstfamilie nicht mehr als Leitbild für alle heute vorfindbaren Familien-Varianten taugt, dann muß ein neues Modell für das Aufwachsen in Familien gefunden werden, das die einzelnen Varianten einerseits gleichrangig zu werten weiß, andererseits aber auch die jeweiligen strukturell bedingten Unterschiede zu berücksichtigen vermag. Ich suche eine Antwort darauf im folgenden auf zwei Ebenen: Einmal geht es um die Analyse der Familie als soziales Feld, genauer: um die sozialen Implikationen dieses Feldes. Zum anderen geht es um die Frage, was Kinder zum befriedigenden Aufwachsen in einer Familie eigentlich brauchen, und was dort auch von den zuständigen Erwachsenen glaubhaft arrangiert werden kann.

Im Hinblick auf die erste Ebene gehe ich davon aus, daß sich die pädagogischen Chancen eines sozialen Ortes - also auch der Familie - nicht von der je individuellen Beziehungsebene her beschreiben lassen, sondern nur von den objektiv vorgegebenen sozialen Implikationen des Lernortes selbst. Der psychologisierende Blick auf die Beziehungsebene ist etwas sekundäres, setzt eigentlich einen mehr oder weniger starken Verlust der sozialen Selbstverständlichkeiten voraus, der durch Psychologisierung korrigiert werden soll. Die psychologisierende Intervention und Korrektur wird also entweder nötig, weil Unsicherheit herrscht über die Bedeutung dieser sozialen Implikationen, oder weil wegen der Ignorierung dieser Implikationen die Familienbeziehungen bereits gestört sind; denn diese sozialen Implikationen stellen keine normative Wunschliste dar, die man auch anders formulieren könnte, sondern sie sind bei Strafe der sozialen Zerstörung nicht hintergehbar. Insofern können therapeutische Interventionen nur dann auf Dauer erfolgreich sein, wenn sie diese sozialen Vorgaben zur Geltung bringen. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil die psychologisierende Betrachtungsweise - auftauchende Probleme werden möglichst als psychische definiert und durch Psychisches zu lösen versucht - zumal in ihren populär verbreiteten Fassungen, die sozialen Vorgaben weitgehend ignoriert, sie geradezu voluntaristisch zu überspielen trachtet. Dem Ideal der - psychologisch aufgeklärten - Verständigung der beteiligten Personen scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein, Familie erscheint zum Beispiel in diesem Zusammenhang als weitgehend beliebiges psycho-emotionales Vertragsverhältnis. Die aus dieser Illusion resultierende Ignorierung des Sozialen - so möchte ich zeigen - wirkt gerade auch dort zerstörerisch, wo sie sich als Therapie einzumischen versucht. Ich meine nun, mindestens sechs solcher sozialer Implikationen der gegenwärtigen Familie unterscheiden zu können, die zugleich auch ihre pädagogischen Chancen charakterisieren lassen.

1. Die Familie ist nach wie vor eine besondere soziale Lebensgemeinschaft, die in der übrigen Gesellschaft keine Entsprechung findet. Ihre soziale Einzigartigkeit beruht im Zusammenleben rund um die Uhr in einer gemeinsamen Wohnung, in der vorbehaltlosen Akzeptanz ihrer Mitglieder untereinander, in der Möglichkeit, elementare Grundbedürfnisse nach Liebe, Anerkennung und Geborgenheit geltend machen zu können. Dies gilt im Prinzip auch im Falle von Familien-Karrieren, wenn also nach einer Scheidung bzw. Trennung neue familiäre Bindungen eingegangen werden. Lebenslänglichkeit der Elternehe ist also kein unbedingtes Kriterium für die pädagogische Funktion der Familie. Erst wenn diese soziale Einzigartigkeit der Familie zerbrechen würde, wäre sie an ihr historisches Ende gekommen und müßte

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durch Formen der öffentlichen Erziehung ersetzt werden. Familie ist nicht professionalisierbar, auch nicht in SOS-Kinderdörfern oder ähnlichen Einrichtungen, deren Verdienste durch einen solchen Hinweis im übrigen nicht geschmälert werden; aber ihre pädagogischen Chancen und Grenzen als Lernfeld müßten anders bestimmt werden.

Aus dieser sozialen Dimension folgt, daß der pädagogischen Intentionalität in der Familie relativ enge Grenzen gesetzt sind. Der pädagogische Sinn der Familie besteht nicht darin, daß Eltern nach Belieben an ihren Kindern herumerziehen, auf diese Weise ihr So-Sein attackieren und damit das Gefühl der Akzeptanz und Geborgenheit brüchig werden lassen; er besteht vielmehr in der Art und Weise des Zusammenlebens selbst. Die pädagogische Qualität der Familie liegt also in erster Linie auf der funktionalen Ebene. Wenn wir dies übersehen, dann kann es gerade der - wie auch immer gut gemeinte - erzieherische Wille sein, der die Familie sozial und damit natürlich auch emotional zerstört. Anders ausgedrückt: Die Familie ist primär eine Lebensgemeinschaft und keine pädagogische Inszenierung. Damit sind auch Grenzen der Therapierbarkeit angesprochen. Die Familie bedarf eines Mindestmaßes an dumpfer, unaufgeklärter, unbefragter Selbstverständlichkeit gerade auf der psychoemotionalen Ebene. Mag rationale Aufklärung etwa über Fragen der Kindererziehung oder der Haushaltsführung noch akzeptabel sein, so ändert sich das, wenn - etwa im Zusammenhang einer entsprechenden Therapie - Tiefenschichten der Persönlichkeit, ihre "wahren Motive" und andere unbewußte Strukturen "aufgedeckt" werden, und wenn als Folge davon z. B. spontane Zärtlichkeit "reflektiert" wird unter der Frage, welche unbewußten Motive dabei eine Rolle spielen könnten. Zur Akzeptanz des So-Seins in der Familie gehört offensichtlich auch die Akzeptanz des unbewußten So-Seins, und eine Psychotherapie, die Unbewußtes aufzudecken trachtet, saniert nicht, sondern zerstört, und in den meisten Fällen ist das Ergebnis ja auch eine Auflösung der Partnerbeziehung bzw. der Ehe und damit auch der Familie. Dieses Ergebnis beruht wohl nicht zuletzt auch darauf, daß das entlarvte Unbewußte des Partners - und für die Kinder gilt entsprechendes - diesen uninteressant macht, ihm das Geheimnis seiner Persönlichkeit nimmt, das zu entdecken ja doch zu den reizvollen Impulsen einer nahen, intimen Beziehung gehört. Familien-Therapie, wenn sie wirklich stabilisierend wirken will, muß sich auf Vordergründiges, auf die Verhaltensebene begrenzen, etwa in dem Sinne: Ein bestimmtes Verhalten macht meinen Kindern Angst, also muß ich lernen, dieses Verhalten zu ändern, weil es ja nicht meine Absicht ist, den Kindern Angst zu machen.

2. Die Familie ist eine Haushalts-Gemeinschaft. Ihr stehen begrenzte Einnahmen zur Verfügung, auf die die Ausgaben und alle damit verbundenen sozialen Handlungen abgestimmt sein müssen. In dieser sozialen Dimension ist die Familie aufs engste mit der gesellschaftliche Realität verbunden. Die Höhe ihres Einkommens ist weitgehend abhängig von Bedingungen, die außerhalb ihres Einflusses liegen. Zwar kann die Familie durch sparsamen Umgang mit ihren Mitteln und durch sorgfältige Pflege der Gebrauchsgüter das Budget entlasten, aber gegen Arbeitslosigkeit z. B. bleibt sie machtlos. Nun ist bekannt, daß bestimmte Familien - z. B. kinderreiche und Alleinerzieherfamilien - wirtschaftlich äußerst bedrängt leben müssen, und dieser Mangel ist durch Pädagogik oder Therapie nicht kompensierbar. Eine Familie, deren Etat in der Nähe des Existenzminimums liegt, die deshalb kaum über ein Freizeitbudget

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verfügen kann, ist auch in ihrer pädagogischen Funktion sehr gefährdet, weil die sozialen und kulturellen Teilhabemöglichkeiten vor allem auch der Kinder dauerhaft erheblich eingeschränkt sind. Insofern bleibt die finanzielle Absicherung der Familie - und zwar deutlich über dem Sozialhilfesatz - die wichtigste sozialpolitische Forderung. Soll die Familie nun ihren Charakter als soziale Gemeinschaft behalten, müssen alle ihre Mitglieder - auch die Kinder nach ihren jeweiligen Fähigkeiten - an der Haushaltsverantwortung beteiligt werden. Tatsächlich jedoch wachsen in vielen Familien die Kinder zum sozialen Nulltarif auf, während möglicherweise die Eltern untereinander ihre Statusgefechte hinsichtlich der Arbeitsteilung und der Haushaltsführung vor den Kindern durchspielen. Es ist schon bemerkenswert, daß in den Diskussionen über die Gleichstellung von Mann und Frau im Haushalt die Kinder entweder gar nicht auftauchen oder aber lediglich als Objekte der umstrittenen Versorgung und Betreuung. Als soziale Gemeinschaft wird die Familie in Frage gestellt, wenn an ihren Aufgaben nicht jedes Mitglied in angemessener Weise arbeitsteilig beteiligt wird. In dieser Frage sind viele pragmatische Varianten denkbar, aber es reicht nicht, wenn der Status der Mitgliedschaft der Kinder in der Familie lediglich in ihrer Freisetzung für eine erfolgreiche Schullaufbahn gesehen wird. Dies käme einer sozialen Mißachtung der Kinder gleich, die die Gefahr der emotionalen Ausbeutung verschärft. Bei Licht besehen gibt es nämlich keinen Nulltarif in menschlichen Gemeinschaften, irgend etwas wird immer als Gegenleistung für erbrachte Leistungen erwartet.

3. Die Familie ist eine Generationengemeinschaft. Das führt zu einer klaren Differenzierung zwischen Eltern einerseits und Kindern andererseits. Insofern kann es sinnvollerweise keine mechanische Gleichheit geben wie beim Wahlrecht. Den Erwachsenen gebührt die letzte Entscheidungskompetenz über den ökonomischen und kulturellen Standard der Familie. Das schließt "Familienkonferenzen" nicht aus. Im Rahmen dieser sozialen Dimension zahlen die Erwachsenen, indem sie Kinder aufziehen - ihre eigenen oder andere - nur gleichsam einen Kredit zurück, den sie selbst in ihrer Kindheit erhalten haben, als andere Erwachsene für ihr Aufwachsen verantwortlich waren. So sollten dies auch die jetzt heranwachsenden Kinder verstehen - jedenfalls so lange der sogenannte "Generationenvertrag" eine Grundidee unserer sozialen Konstruktion bleibt. Das kann sich allerdings ändern, und manches an der gegenwärtigen Entwicklung scheint darauf hinzudeuten. Nur würde dann das wichtigste moralische Prinzip für das Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern entfallen und ich sehe keines, das an diese Stelle treten könnte. Vielleicht wäre dann marktgerechte Bezahlung für die pädagogische Betreuung des Aufwachsens die einzige Alternative. Dieses Problem ist deshalb von großer Bedeutung, weil auch die Konstruktion unserer sozialen Sicherungen auf der Idee des Generationenvertrages basiert. Versuche, die soziale Sicherung als reines Vertragsverhältnis zu definieren - man zahlt ein und hat anschließend Ansprüche - sind volkswirtschaftlich unhaltbar. Solche Leistungen fordernde Verträge sind nur erfüllbar, wenn zum Zeitpunkt der Erfüllung eine entsprechende wirtschaftliche Produktivität vorliegt. Die These von der Nicht-Gleichheit von Erwachsenen und Kindern, von der notwendigen A-Symmetrie ihrer Beziehungen in der Familie gilt manchen Zeitgenossen als pädagogisches Sakrileg. Aber so wie es in der Politik realistischer ist, Macht offenzulegen und öffentlich zu diskutieren, so gilt das auch für andere soziale Verhältnisse. Der

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Vorrang der Erwachsenen in der Familie resultiert schlicht aus der Tatsache, das sie durch ihre Arbeit die Existenzgrundlage der Familie sichern, und daß es umgekehrt Aufgabe der Heranwachsenden ist, diese Fähigkeit zu erwerben. Man kann diesen Sachverhalt natürlich ignorieren, aber dann stellt sich schnell heraus, daß die Machtbehauptung der Erwachsenen nur psychologisch-subtiler und für die Kinder rational nicht mehr durchschaubar und überprüfbar wird.

4. Die Familie ist eine Interpretationsgemeinschaft. Unsere moderne Familie ist nach außen sehr offen geworden. Für mehr oder weniger große Teile des Tages schwärmen ihre Mitglieder aus - in den Beruf, in den Kindergarten, Schule, in die individuell verbrachte Freizeit - aber irgendwann finden sie immer wieder zusammen, um die außerfamiliären Erfahrungen miteinander auszutauschen und sie dabei zu interpretieren. Dies geschieht nicht aufgrund einer pädagogischen Theorie, sondern schlicht dadurch, daß die Familienmitglieder miteinander kommunizieren, und dabei handelt es sich um den Austausch von Erfahrungen. Ich halte diese Einwirkungsmöglichkeit der Eltern auf ihre Kinder für sehr bedeutsam; denn wenn die Kinder ihre Familie als halbwegs befriedigende Lebensgemeinschaft erleben, haben die Eltern als Interpreten der Erfahrungen und Erlebnisse der Kinder für diese eine große Bedeutung, auch wenn das nicht immer gleich offenkundig wird. Jedoch ist dies keineswegs eindimensional zu verstehen, auch die Interpretationen der Kinder - zumal wenn sie älter werden - sind für die Erwachsenen interessant; denn es gehört ja zu den wichtigen Phänomenen einer Generationsgemeinschaft, daß sie notwendig auch zu unterschiedlichen Erfahrungen und deren Deutungen führt. Auch in der professionellen pädagogischen Beziehung (z. B. Schule und Hochschule) ist ja der Austausch grundsätzlich gleichwertiger, aber eben auch ungleichartiger Erfahrungen das Kernstück aller Lehre.

5. Die Familie ist eine dynamische, sich ständig verändernde Gemeinschaft. Dies resultiert schlicht daraus, daß ihre Mitglieder älter werden und sich damit auch ihre Interessen und Bedürfnisse verändern. Das gilt insbesondere für die aufwachsenden Kinder, und es fällt vielen Eltern bekanntlich schwer, sich immer angemessen auf das "Größer-Werden" der Kinder einzustellen. Pädagogisch folgt daraus, daß das Kind sein Größer- und Anders-Werden auch erfahren können muß als ein Leben in der Zeit, dessen Fortsetzung sich planen oder auch nur träumen läßt, und für die Erwachsenen folgt daraus die Notwendigkeit, sich immer wieder neu auf diese Veränderungen einstellen zu müssen. Auf der emotionalen Ebene ergibt sich daraus die schwierige Aufgabe, die richtige, nämlich den Veränderungen angemessene Balance von Nähe und Distanz immer wieder neu zu finden.

6. Die Familie ist eine zeitlich begrenzte Gemeinschaft, sie ist von Anfang an auf ihre Auflösung angelegt. Das wollen viele Eltern nicht wahrhaben, vor allem, wenn die Kinder klein sind. Aber vom ersten Tag ihres Lebens an sind Kinder dabei, ihre Familie zu verlassen. Lediglich die Eltern wollen - jedenfalls der Idee nach - lebenslang zusammen bleiben. Aus dieser geradezu naturwüchsigen sozialen Implikation der Familie entstehen bedeutende Konsequenzen, zunächst einmal die, daß das Aufwachsen der Kinder in Familien diese Verselbständigung der Kinder auch ermöglichen muß, daß also keine Fixierungen und Umklammerungen stattfinden. Anderer-

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seits ergibt sich daraus auch die Konsequenz, daß das Zusammenleben des erwachsenen Paares - ob verheiratet oder nicht - zu jedem Zeitpunkt seinen Eigenwert behalten muß, also nicht aus den Bedürfnissen der Kinder einseitig abgeleitet werden kann. Das gilt sinngemäß auch dann, wenn nur ein`Erwachsener Mitglied der Familie ist oder wenn die Erwachsenen keine Liebesbeziehung zueinander unterhalten.

Die pädagogische Funktion der Familie, so war meine These, läßt sich nur bestimmen im Rahmen der sozialen Implikationen dieser Gemeinschaft selbst. Nur so lassen sich auch ihre pädagogischen Chancen und Grenzen ermitteln. Unsere kleine Skizze hat nun gezeigt, daß die Chancen gerade nicht in irgendeinem abstrakt zu denkenden Erziehungswillen der Eltern liegen, daß dieser vielmehr zerstörerisch wirken kann, wenn er die sozialen Grenzen mißachtet und überschreitet, die konstitutiv für ein befriedigendes Leben in der Familie sind. Die Chancen liegen vielmehr einerseits in den praktischen Anforderungen, die die Gemeinschaft notwendigerweise stellen muß, und in der Möglichkeit, die außerfamiliären Erfahrungen der Kinder mit ihnen zusammen zu interpretieren. Diese Möglichkeit hat nun ihre Grenze im Erfahrungsrepertoire der Eltern selbst, das von vielen Faktoren bestimmt wird (z. B. Beruf, Bildung, Lebensgeschichte usw.), andererseits aber auch in ihrer Fähigkeit, ihre Erfahrungen zum Ausdruck bringen zu können.

Die Grenzen des Lernfeldes Familie liegen einmal im sozialen Charakter der Familie selbst (Was kann man durch das Mitleben in ihr lernen ?) zum anderen aber auch in den Autonomiebestrebungen der Kinder. Im Rahmen der pluralistischen Sozialisation sind diese Bestrebungen nicht nur objektiv nötig, weil niemand anders ihnen einen gewissen Handlungs- und Entscheidungsspielraum abnehmen kann, sie sind vielmehr auch bei Strafe der Weltfremdheit und Lebensuntüchtigkeit subjektiv geboten. Aber gerade für die so notwendige Autonomisierung des Kindes bietet die moderne Familie wegen ihrer hohen Emotionalität eher problematische Bedingungen. Das zeigt sich vor allem im vielfach schwierigen Umgang mit Heranwachsenden. Die Familienbeziehungen wären noch problematischer, wenn die Kinder und Jugendlichen nicht Kompensationen in öffentlichen Bereichen fänden, wenn also die Familie nicht im Vergleich zu früher offener nach außen geworden wäre. Mir scheint, daß die Möglichkeiten für Kinder und vor allem für Jugendliche, in außerfamiliären, nämlich öffentlichen Orten zu leben und zu lernen, erweitert werden müssen. Skepsis bleibt jedoch geboten gegenüber einem Jugendhilfe-Konzept, das sich ausschließlich auf die Familie und deren Sanierung ( = Erhaltung ihrer Erziehungsfähigkeit) konzentriert. Als soziales Gebilde ist die Familie sehr anfällig geworden, und wer sozialpolitisch und sozialpädagogisch etwas für ihre Stabilisierung tun will, sollte vor allem ihre pädagogischen Möglichkeiten nicht überfordern. Die subtile Skala von Interventionsmöglichkeiten, die der Entwurf zum KJHG anbietet, kann zudem dazu führen, daß die Verantwortungsbereitschaft der Familie geschwächt wird, insofern die Hilfsangebote bei jeder kleinen pädagogischen Störung als selbstverständliche öffentliche Dienstleistung in Anspruch genommen werden, etwa nach dem Motto, das Beste sei für die eigenen Kinder gerade gut genug.

Wenn die genannten sozialen Implikationen beachtet werden, markieren sie Grenzen eines im übrigen immer noch weit gesteckten pädagogischen Feldes, in dem sich zahlreiche unterschiedliche, den individuellen Bedingungen und Vermögen entsprechende Interaktionen entfalten können. Nun sind wir vom Ideal-Typus der Erstfami-

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lie her gewohnt anzunehmen, daß Eltern ihre eigenen Kinder "lieben" und aufgrund dieser emotionalen Verbindlichkeit auch zumindest im großen und ganzen das pädagogisch Richtige tun werden, daß umgekehrt bei den anderen Familienvarianten von vornherein größere Erziehungsprobleme vermutet werden müßten. Tatsächlich jedoch zeigen uns gerade diese Varianten, daß es auch auf andere Aspekte ankommt, denn jene "Kindesliebe" kann dort nicht vorausgesetzt werden, wo es sich nicht um eigene Kinder handelt und schon gar nicht darf sie vorgetäuscht oder planmäßig gewollt werden. Abgesehen davon ist die starke Betonung der Emotionalität im Umgang mit den Kindern eine Erfindung der Erwachsenen, nicht der Kinder, und sie wird ja auch als "Kinderzentriertheit" zunehmend kritisiert. Die Frage ist also, was Kinder brauchen für ein befriedigendes Aufwachsen in der Basis-Sozialität Familie. Erst dieser Perspektivenwechsel von den Erwachsenen zu den Bedürfnissen der Kinder ermöglicht, alle Familienvarianten gleichrangig in den Blick zu nehmen, weil sie auf eine gemeinsame Norm verpflichtet werden können, nämlich Bedingungen für ein befriedigendes Aufwachsen bereitzustellen.

Das pädagogische Ideal des befriedigenden Aufwachsens müßte also das alte Ideal der Erstfamilie ersetzen, diese selbst wäre an jenem neuen Ideal zu messen. Mit "Ideal" meine ich, daß wir - wie pragmatisch wir uns auch selbst verstehen und unsere Handlungen orientieren mögen - immer ein Leitbild des "gelungenen Lebens" brauchen, das wir anstreben können. Im Hinblick auf die Familie müssen nun - als Schlußfolgerungen aus ihren sozialen Implikationen - zwei Ebenen des "gelungenen Lebens" unterschieden werden, die sich zwar überschneiden, aber nicht identisch sein dürfen: das befriedigende Leben der Erwachsenen (z. B. des Paares) und das der aufwachsenden Kinder. Was diese dafür brauchen, habe ich am Beispiel der Zweitfamilie bzw. Stieffamilie ausführlicher darzulegen versucht (vgl. Die Zweitfamilie, Stuttgart 1987).

Als Ergebnis läßt sich feststellen, daß Kinder dann befriedigend aufwachsen,

a) wenn sie auf die soziale Stabilität und Zuverlässigkeit ihrer Familie - welcher Variante auch immer - vertrauen können;

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b) wenn sie von Anfang an einen autonomen Handlungsspielraum bekommen, der mit zunehmenden Alter größer wird und der durch den Nachweis zunehmender Verantwortungsfähigkeit Zug um Zug "erobert" werden muß;

c) wenn sie von den Erwachsenen in "Grenzkämpfe" um diesen Handlungsspielraum unter dem Maßstab gewachsener Verantwortungsfähigkeit verwickelt werden;

d) wenn sie Zuwendung für ihre Persönlichkeit im ganzen, für ihr So-Sein, und Aufmerksamkeit für das, was sie tun und sagen, erhalten, und Teilnahme im Sinne einer grundlegenden Solidarität mit den Problemen ihres Lebens - Freude und Leid, Erfolg und Mißerfolg - und somit Unterstützung und Ermutigung erwarten können;

e) wenn ihnen Aufgaben und Herausforderungen innerhalb wie außerhalb der Familie zugemutet werden;

f) wenn sie Respekt vor ihren Gefühlen erfahren können;

g) wenn sie auf "Erwachsene zum Anfassen" treffen, mit denen sie Gedanken, Meiungen und Gefühle austauschen können - authentisch, ohne pädagogisches oder psychologisches`Getue.

Dieser Handlungs- bzw. Verhaltenskatalog ließe sich vielleicht noch erweitern, aber im Prinzip markiert er diejenigen Bedingungen, die Erwachsenen in der Familie für ein befriedigendes Aufwachsen von Kindern arrangieren können, ohne dabei Gefühle investieren zu müssen, die sie nicht haben. Wohlgemerkt: Es handelt sich hier um Bedingungen der Möglichkeit, nicht um Garantien; Scheitern bleibt trotzdem schon deshalb immer möglich, weil selbst die besten Möglichkeiten vom Kind auch realisiert werden müssen und niemand dies an seiner Stelle tun kann.

Dem möglichen Einwand, bei diesem Konzept kämen die emotionalen Dimensionen zu kurz, ließe sich entgegnen: "Kindesliebe" - was immer das sein mag - muß sich in solchen Operationalisierungen zu erkennen geben, sonst ist sie ein fragwürdiges Gefühl und kann von den Kindern nicht erlebt werden. Abgesehen davon muß sich das pädagogische Denken auf die Handlungs- und Verhaltensebene beschränken, auf das, was - guter Wille vorausgesetzt - auch tatsächlich getan werden kann. Gewiß ist ohne ein Mindestmaß an emotionaler Harmonie keine soziale Stabilität in der Familie möglich, aber abgesehen von der erotischen Dimension in der Zweierbeziehung z. B. der Eltern ist emotionales Wohlbefinden nicht nur Voraussetzung für die soziale Stabilität und Zuverlässigkeit der Familie, sondern in hohem Maße die Folge davon. Mit anderen Worten: Durch bestimmte soziale Handlungen, die der Idee eines "gelungenen Lebens" dienen, kann auch emotionale Zufriedenheit wenn nicht hergestellt, so doch zumindest gefördert werden; denn die Bedingungen für ein befriedigendes Aufwachsen, von denen eben die Rede war, sind - sinngemäß übertragen - auch wichtige Bedingungen für ein befriedigendes Leben der Erwachsenen in der Familie. Auch die "Liebe" eines erwachsenen Paares läßt sich in einem erheblichen Maße sozial operationalisieren.

Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß ein realitätsgerechtes Konzept von Familienpädagogik, das im Prinzip alle Familienvarianten gleichrangig betrachtet, einerseits die erwähnten sozialen Implikationen ernst nehmen, andererseits in diesem Rahmen Bedingungen für ein befriedigendes Aufwachsen arrangieren muß. Erst auf diesem Hintergrund lassen sich auch die typischen, d. h. strukturell bedingten Chancen und Grenzen der einzelnen Familienvarianten beschreiben, ohne daß sie von vornherein als defizitär definiert werden müßten. Dies kann hier nicht mehr geleistet werden, wäre aber deshalb von erheblicher praktischer Bedeutung, weil nicht wenige Familien daran scheitern, daß sie sich am "gelungenen Leben" der traditionellen Erstfamilie orientieren und nicht an dem Ideal, das ihrer Familienform gemäß wäre.

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163. Was wird aus der "sozialistischen DDR-Pädagogik"? (1990)

(In: Pädagogik und Schulalltag, H. 11/1990, S. 861-868)
 

Ob nun aus Neigung oder nur der Not gehorchend: Die DDR ist dabei, vieles von der Bundesrepublik zu übernehmen: das Grundgesetz, die Währung, das Wirtschaftssystem, die grundlegenden Verwaltungsstrukturen, das System der sozialen Sicherung und anderes mehr. Wird das auch für die Pädagogik und Erziehungswissenschaft gelten? Wird die DDR-Pädagogik, die sich offiziell eine "sozialistische" nannte, nun auch ersetzt werden durch bundesrepublikanische Theorien und Konzepte?

Im Hinblick auf die künftige Grundstruktur des öffentlichen Bildungs- und Erziehungswesens läßt sich die Frage verhältnismäßig einfach beantworten: Nach unserem Grundgesetz sind die Bundesländern dafür zuständig, das gilt auch für die noch zu konstituierenden Länder der DDR. Wenn die DDR in den Geltungsbereich des Grund-

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gesetzes eintritt, wird schon aus rechtlichen Gründen eine Anpassung erfolgen müssen, damit alle Ausbildungsabschlüsse in allen deutschen Ländern anerkannt werden können. Dann wird z. B. das Abitur in Leipzig oder Schwerin dem im Passau oder Hamburg vergleichbar sein müssen. Eltern müssen dann in der Lage sein, z. B. aus beruflichen Gründen von drüben nach hüben und umgekehrt ihren Wohnsitz wechseln zu können, ohne daß dadurch der weitere Schulbesuch der Kinder ernsthaft behindert werden darf. Einstweilen ist noch offen, welche eigenen bildungspolitischen Vorstellungen die DDR dabei geltend machen will und durchsetzen kann.

Vorstellungen über Erziehung lassen sich jedoch nicht so einfach ändern wie technische und administrative Verfahren. Sie befinden sich in den Köpfen von Menschen, sind aufs engste verbunden mit deren Lebensgeschichte und den daraus resultierenden Erfahrungen; sie beruhen auf Werten, die als sinnvoll erlebt werden. Sie sind ein wichtiges Stück der persönlichen und sozialen Identität. Wenn sich solche Vorstellungen ändern sollen, dann muß dies in der Kontinuität der jeweiligen Lebensgeschichte geschehen, durch neue Erfahrungen, die die bisherigen zu ergänzen oder auch zu korrigieren vermögen; sonst drohen Verwirrung, Orientierungslosigkeit, ja, Beschädigungen der Persönlichkeit. Vielleicht ist dies in nächster Zeit eine der großen Belastungen, die auf die DDR zukommt, daß dort nämlich ganze Berufsgruppen in eine kollektive Identitätskrise geraten, weil sie den Eindruck gewinnen oder weil ihnen von uns aus suggeriert wird, ihr bisheriges berufliches Leben und Engagement sei rundweg verfehlt und sie müßten nun ganz von vorne anfangen. Aus der Zeit vor 1933 wissen wir, welche politische Brisanz in solchen massenhaften Identitätskrisen stecken kann. Schon deshalb ist es interessant, darüber nachzudenken, wie der DDR-Pädagogik die nötige Neuorientierung gelingen könnte, ohne daß die Betroffenen ihre Selbstachtung verlieren und ihre berufliche Vergangenheit verleugnen oder verdrängen müssen.

Im Vergleich zur Bundesrepublik lassen sich vier Besonderheiten der bisherigen DDR-Pädagogik erkennen, die nun zweifellos aufgegeben werden müssen.

Erstens hatte die Pädagogik auf allen Ebenen des Erziehungswesens offiziell die Aufgabe, die von der Staatspartei SED vorgegebenen politischen Ziele auf ihre Weise, mit den ihr eigenen Methoden ebenfalls anzustreben. Pädagogik war - wie die Publizistik auch - Politik mit anderen Mitteln, sollte politische Loyalität sicherstellen. Diese politische Zielvorgabe hatte vor allem zwei Folgen: Zum einen konnte sich ein wissenschaftlicher Meinungsstreit in der Pädagogik so gut wie gar nicht entfalten; denn er wäre sofort dem Verdacht der politischen Abweichung anheimgefallen. Das Prinzip der "Parteilichkeit" führte vorweg zu einer Abwertung westlicher Forschungsansätze und -ergebnisse, da diese als Produkte der sogenannten "bürgerlichen" Wissenschaft notwendigerweise den Interessen des Kapitals entsprächen. Da aber wissenschaftlicher Fortschritt ohne öffentlichen Meinungsstreit gar nicht denkbar ist, blieb der erziehungswissenschaftliche Standard hinter dem der Bundesrepublik und anderer westlicher Länder zurück. Die erziehungswissenschaftliche Publizistik der DDR war in dem Bemühen, die Parteilinie nicht zu verlassen, aus unserer Sicht überwiegend geprägt von einer trostlosen Monotonie der Thematik wie der Argumentation. Bestand haben werden nur wenige Arbeiten, vor allem historischer Art, wie sie etwa in der Forschungsreihe "Monumenta Pädagogica" oder im Rahmen von Klassiker-Editionen publiziert wurden, weil hier das Prinzip der sozialistischen Parteilichkeit weniger aufdringlich zutage trat. Das Margot-Honecker-Ministerium hatte sich mit der sogenannten Akademie der Pädagogischen Wissenschaften eine nachgeordnete Behörde mit

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über 800 Erziehungswissenschaftlern geschaffen, deren wesentliche Aufgabe es war, Konzepte für das Bildungswesen zu entwerfen und ideologische Kontrolle zu gewährleisten. Allerdings ist zu vermuten, daß Erziehungswissenschaftler der DDR nun auch Arbeiten präsentieren werden, die aus ideologischen Gründen bisher nicht veröffentlicht werden konnten.

Zweitens war auch das Bildungswesen in der DDR planwirtschaftlich ausgerichtet. Es sollten nur so viele Absolventen "produziert" werden, wie anschließend auch beruflich gebraucht wurden. Daraus folgte umgekehrt, daß derjenige, der einen Ausbildungs- bzw. Studienplatz bekam, auch mit einem entsprechenden Arbeitsplatz rechnen konnte. Eine Folge dieses planwirtschaftlichen Denkens war, daß die Ausbildung bis hin zur Universität streng reglementiert war, analog zur möglichst effektiven Produktion von Gütern. Vom ersten bis zum letzten Tag seines Studiums wußte der Student genau, was er zu tun und zu leisten hatte. Individuelle Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten gab es so gut wie gar nicht. Selbständiges und eigenverantwortliches Denken und Handeln konnten sich in diesem Rahmen nur schwer entwickeln.

Drittens ergab sich sowohl aus der politisch-ideologischen Zielsetzung der Erziehung wie auch aus dem planwirtschaftlichen Ansatz eine im Vergleich zu unseren Verhältnissen strenge Disziplinierung. Die für das ganze Land einheitlichen Schullehrpläne waren minutiös ausgearbeitet. Die Schüler saßen in der Regel hintereinander, mit Blickkontakt nur zum Lehrer, nicht zueinander. Für die Kindergärten war ebenfalls einheitlich vorgeschrieben, was zu welchen Zeiten mit den Kindern zu geschehen habe. Man kann diese Verhältnisse als didaktisch-methodischen Formalismus bezeichnen, dessen Standard deshalb rückständig blieb, weil wegen der fehlenden Flexibilität die Lernchancen nur ungenügend genutzt werden konnten. Wir lernen ja in den sozialen Orten, in denen wir leben, nur das, was dort auch gebraucht wird. Nicht oder kaum gebraucht wurden in der DDR-Schule kritisches Nachfragen, Diskussion unterschiedlicher Standpunkte, soziale Phantasie, Initiative zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen. Das galt auch für die pädagogischen Ausbilder z. B. an den Hochschulen, da sie kaum gezwungen waren, ihr Wissen zu vertiefen und zu ergänzen, also weiter zu forschen, sondern sich mit der ständigen Wiederholung des einmal Erarbeiteten zufriedengeben konnten. So verhielten sich nicht alle, aber die Versuchung war groß. Der Unterricht trug insofern dogmatische Züge, als der Lehrer lediglich die Aufgabe hatte, den vorgeschriebenen Stoff einschließlich der vorgegebenen Interpretationen zu vermitteln. Fragen waren nur sinnvoll, sofern man etwas nicht verstanden hatte.

Zusammenfassend läßt sich viertens sagen, daß die DDR sich zu einem eigentümlichen Erziehungsstaat entwickelt hatte, in dem Politik und Pädagogik eine unheilige Allianz eingegangen waren. Erzogen wurden nicht nur Minderjährige, sondern auch Erwachsene. Dazu dienten zahllose Versammlungen von Partei-, Massen- und Berufsorganisationen, denen der einzelne sich kaum entziehen konnte und deren wesentliche Funktion die politisch-ideologische Kontrolle war. Zum Wesen des Erziehungsstaates gehörte die Überwachung der Medien und der kulturellen Öffentlichkeit ebenso wie der bis ins letzte Dorf hineinreichende Stasi. Wer vor der Wende - etwa beim Grenzübergang in die DDR - Bekanntschaft mit Staatsorganen machte, war nicht selten verwundert über den belehrenden Ton, auf den er traf.

Die politische Führung vertrat offenbar das Ideal einer Gesellschaft, die so konstruiert ist, daß sie selbst möglichst widerspruchslos erzieherisch wirkt. Wo immer in der Öf-

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fentlichkeit die Menschen sich aufhielten, sollten sie durch ihre soziale Umwelt zum sozialistischen Verhalten animiert werden. Die ganze Gesellschaft eine einzige Schule des Sozialismus! Auf diesem Ziel beruhte das Bündnis von Politik und Pädagogik.

Aber es war ein auf Dauer zum Scheitern verurteilter Versuch, die Entfaltung einer pluralistischen Gesellschaft mit den für diese typischen kulturellen, ökonomischen und normativen Konflikten und Widersprüchen zu verhindern. Politisch durchsetzbar war dies nur durch Maßnahmen der Unterdrückung, weil eine moderne Industriegesellschaft einer hinreichenden inneren Differenzierung bedarf, die mit Notwendigkeit zu pluralistischen Ausdrucksformen drängt. An diesem Widerspruch, einerseits eine hochentwickelte Industriegesellschaft anzustreben, andererseits aber die dafür notwendigen politisch-kulturellen Differenzierungen nicht zuzulassen, ist der SED-Staat letztlich gescheitert.

Eine wichtige Konsequenz der pluralistischen Gesellschaft ist die Individualisierung, d. h. die Tatsache, daß eine solche Gesellschaft nur dann funktionieren kann, wenn die in ihr lebenden Individuen wichtige politische, berufliche, wirtschaftliche und auch normative Entscheidungen selbst treffen und nicht auf von außen kommende Reglementierungen warten. Dies sind die alltäglichen Freiheiten, die wir bisher den DDR-Bürgern voraus hatten. Würden wir unsere Kinder so erziehen, wie sie bisher im Erziehungs- und Bildungswesen der DDR erzogen wurden, würden wir sie lebensuntüchtig machen. Auch bei uns hat es lange gedauert, bis die Bildungspolitiker begriffen haben, daß das Bildungssystem nicht mehr taugt als Transportmittel für politisch-weltanschaulich motivierte Lernziele, die von Staats wegen verbreitet werden sollen, obwohl sie doch nur partikulare, d. h. nur von einem bestimmten Teil der Bevölkerung akzeptierte Ziele sein können. Bei uns wird das öffentliche Bildungswesen zunehmend zu einer Dienstleistung, deren Aufgabe es ist, die Fähigkeiten der jungen Menschen zur Entfaltung kommen zu lassen. Darüber hinausgehende Erziehungsansprüche des Staates verschwinden immer mehr beziehungsweise verkommen zur Phrase.

Die DDR-Pädagogik steht also vor der Aufgabe, sich die Leitmotive des Pluralismus und der Individualisierung zu eigen zu machen, nicht, weil sie einer Art von Bekehrung oder weltanschaulicher Konversion bedürfte, sondern weil sie demnächst eine gesellschaftliche Struktur und Verfassung vorfinden wird, die ihr gar keine andere Wahl läßt.

Aufgeben muß sie auch die Hoffnung, bedarfsgerecht ausbilden zu können. Das im Grundgesetz verankerte Recht der freien Berufswahl duldet keine Beschränkung für Ausbildungschancen. Wer z. B. das Abitur als Zulassungsberechtigung zum Studium in Händen hat, darf auch studieren, was er will. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem "numerus-clausus-Urteil" von 1972 deutlich gemacht, daß Zugangsbeschränkungen nur befristet und nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen dürfen. Dieses Urteil liegt ebenfalls im Trend der Individualisierung von Lebensentscheidungen. Der einzelne soll über seine berufliche Perspektive selbst entscheiden, aber er muß für das damit verbundene Risiko auch die Verantwortung übernehmen; einen Anspruch auf einen der Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz hat er nicht.

Damit entfällt auch die Legitimation für die bisherige planwirtschaftliche Kontingentierung der Ausbildungsplätze sowie für allzu rigide Studienreglementierungen. Derartige Vorschriften ergeben nur Sinn, wenn sie mit einer beruflichen Einstiegsgarantie verbunden sind. Nun jedoch müssen sich, wie auch bei uns, die Studierenden selbst marktfähig machen, und dafür brauchen sie Entscheidungsspielräume.

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Pluralisierung und Individualisierung treffen aber auch den Kern des Erziehungsbegriffes selbst. Erziehung kann nicht länger verstanden werden als Möglichkeit zur Planung einer erwünschten Biographie, sondern nur noch als begrenzte Intervention in Lebensgeschichten, die wesentlich durch ungeplante Sozialisation zustande kommen. Kinder und Jugendliche nehmen teil am sozialen Leben innerhalb wie außerhalb der Familie, und durch diese Tätigkeit und durch die dabei auftretenden Erfahrungen bilden sie Zug um Zug ihre Persönlichkeit heraus. Planmäßige öffentliche Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen haben nur noch die Bedeutung einer begrenzten Einmischung in diesen sowieso ablaufenden Sozialisationsprozeß. Die Heranwachsenden lernen nicht`nur durch absichtsvolle erzieherische Einwirkungen in Elternhaus, Kindergarten und Schule, sondern auch durch den Umgang mit dem Freizeit- und Konsumsystem, mit den Massenmedien und mit den Gruppen der Gleichaltrigen. Diese Einflüsse wirken nicht in gleicher Richtung, sondern widersprüchlich, je nach ihren eigenen Maßstäben. Der Freizeitmarkt z. B. fragt nicht danach, was für Heranwachsende gut und nützlich ist, sondern danach, was sich an sie verkaufen läßt oder für was sie als Werbeträger taugen. Nicht nur die Gesellschaft der DDR, sondern auch die Sozialisation in ihr wird pluralistisch werden, und eben daraus ergibt sich die Notwendigkeit für Kinder und Jugendliche, Verantwortung für ihre Lebensperspektive weitgehend selbst zu übernehmen.

Der Wandel von der stalinistischen zur pluralistischen Gesellschaft wird also nicht nur einen Bedeutungswandel der öffentlichen Erziehung, ihrer Organisation und ihrer Ziele zur Folge haben, er wird darüber hinaus auch das Ansehen der pädagogischen Berufe und ihrer Ausbildungsstätten mindern. Das früher politisch aufgepäppelte Image wird auf das fachlich vertretbare Maß zurückschrumpfen müssen.

Bietet sich nun in dieser Lage unsere bundesrepublikanische Pädagogik und Erziehungswissenschaft als Alternative an, deren Übernahme die Probleme der DDR-Pädagogik zu lösen vermag? Auf den ersten Blick mag eine solche Überlegung einleuchten, denn schließlich haben wir mit der Pluralisierung und Individualisierung bereits Erfahrungen gemacht, die wir zur Verfügung stellen könnten. Dennoch bleibt Skepsis angebracht.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sich unsere Erziehungswissenschaft in einer ziemlich desolaten Lage befindet. Es gibt nicht einmal Einverständnis über die Bedeutung ihrer wichtigsten Grundbegriffe. Dafür ließen sich mehrere Ursachen nennen, eine davon ist die schlichte Tatsache, daß es in einer pluralistischen Gesellschaft keine eindeutige Erziehungswissenschaft geben kann. Orientierung in`dem Sinne, daß nun die "veraltete" stalinistische Erziehungswissenschaft durch eine moderne, westliche ersetzt werden könnte, ist also nicht zu erwarten.

Gewiß besteht ein Nachholbedarf im Hinblick auf die Kenntnisnahme westdeutscher Forschungen und Konzepte und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen. Aber das führt nur zur Normalität des wissenschaftlichen Arbeitens, nicht schon zur Überwindung der pädagogischen Krise.

Auch die unsere pädagogische Praxis beherrschenden öffentlichen Meinungen empfehlen sich nicht zur kritiklosen Übernahme. Sie sind zu sehr modischen Wandlungen unterworfen. Gegenwärtig führt die Feminisierung der pädagogischen Berufe und des pädagogischen Denkens z. B. dazu, die Grenze von privaten Bedürfnissen und öffentlichen Aufgaben zu verwischen, was unter anderem die Schule ihrem eigentlichen Unterrichtszweck zu entfremden droht. Unsere pädagogische Praxis und die diese be-

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gründenden erziehungswissenschaftlichen Theorien sind keineswegs die einzig mögliche Reaktion auf die gesellschaftlichen Tatsachen der Pluralisierung und Individualisierung. Zudem ist ein großer Teil unserer erziehungswissenschaftlichen Forschung für die pädagogische Praxis von geringer Bedeutung; sie wird nur für die Universität produziert, z. B. zum Zwecke der wissenschaftlichen Qualifizierung. Mit anderen Worten: Unsere bundesrepublikanische Erziehungswissenschaft und Pädagogik ist viel zu kompliziert, als daß sie auf Anhieb für die DDR von Nutzen sein könnte.

Eine Lösung der pädagogischen Krise kann vielmehr nur gelingen, wenn die DDR-Pädagogen Gelegenheit bekommen, neue Erfahrungen zu machen. Wer bei uns Französisch unterrichtet, hat sich mehr oder weniger lange in Frankreich aufgehalten. Schon eine solche selbstverständliche Horizonterweiterung war den DDR-Bürgern bisher verwehrt. Zu fördern und zu unterstützen wären also umfangreiche Austausch- und Begegnungsprogramme für Erziehungswissenschaftler und Pädagogen nicht nur zwischen Bundesrepublik und DDR, sondern möglichst auch mit dem westlichen Ausland. Vor allem die jetzt heranwachsende Generation von Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern muß solche Möglichkeiten erhalten, damit in den Kollegien wieder eine Generationsspannung und damit eine produktive fachliche Diskussion vor Ort entstehen kann. Solche Programme zu ermöglichen ist eine bedeutsame kulturpolitische Aufgabe für die nächsten Jahre.

Wir Westdeutschen haben ja eine ähnliche Erfahrung hinter uns. In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg luden die Amerikaner Tausende westdeutscher Fachleute, darunter viele Pädagogen, in die USA ein, damit sie dort demokratische Lebensformen und berufliche Handlungsstrategien beobachten und miterleben konnten. Sie wurden damals gezielt ausgesucht, weil sie Multiplikatoren sein sollten, die nach ihrer Rückkehr ihre Erfahrungen an andere weitergeben konnten. Wie immer man derartige Programme mit der DDR organisieren und finanzieren mag: bei dem notwendigen Umlernprozeß, dem die DDR-Pädagogik schon deshalb ausgesetzt sein wird, weil das Land praktisch über Nacht in eine fundamental andere Gesellschaft verwandelt wurde, kann es nicht darum gehen, alte Gesinnungen, Überzeugungen und Theorien einfach durch neue auszutauschen. Das müßte wie Opportunismus wirken, und schon der Verdacht würde das Kernstück aller pädagogischen Arbeit, die vertrauensvolle pädagogische Beziehung mit jungen Menschen, gefährden. Vielmehr kommt es darauf an, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, zugleich aber biographische Kontinuität zu wahren: Der bisherige berufliche Lebenslauf muß so reflektiert und kritisch bearbeitet werden können, daß er weiterhin als sinnvoll verstanden werden kann.

Dabei könnte hilfreich, wenn nicht sogar unentbehrlich sein, das Thema "Sozialistische Erziehung" historisch aufzuklären. Das Marxsche Ideal der allseits entwickelten Persönlichkeit, die disponibel ist für unterschiedliche gesellschaftliche Anforderungen und Tätigkeiten, bleibt ja gerade unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft durchaus diskussionswürdig. Die theoretischen und praktischen Konzepte einer sozialistischen Erziehung, die dann im Rahmen der deutschen Arbeiterbewegung entstanden, bleiben ein bedeutsamer Bestandteil der deutschen Pädagogikgeschichte. Erinnert sei nur an das Beispiel der Kinderrepubliken in der Weimarer Zeit, jener großen Ferienlager, in denen das Ideal einer sozialistischen Gesellschaft erlebbar gemacht werden sollte und in denen das Kind als "kleiner Genosse" gleichberechtigt mit den erwachsenen Pädagogen leben und agieren konnte. Allerdings bezog die sozialistische Pädagogik ihre wesentlichen Impulse aus dem Widerstand gegen die bürgerlichen Erziehungsmaßstäbe, denen die Arbeiterkinder insbesondere in der Schule un-

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terworfen waren. Zu untersuchen wäre nun, wann und warum jener Umbruch in der Entwicklung der DDR begann, in dessen Verlauf dann die Prinzipien einer sozialistischen Erziehung mehr und mehr diskreditiert wurden. Eine der Ursachen dafür könnte sein, daß die marxistischen pädagogischen Prinzipien zwar geeignet sind zur Kritik bürgerlicher Erziehung und Bildung, aber für sich genommen zu wenig hergeben für die Planung und Konstruktion eines gesamtgesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungssystems.

Auf jeden Fall aber bedarf die "sozialistische Erziehung" einer historischen und erziehungswissenschaftlichen Aufklärung - auch in der bundesrepublikanischen Erziehungswissenschaft, die diesem Thema bisher keine nennenswerte Aufmerksamkeit geschenkt hat. Im übrigen gibt es ja weiterhin die Möglichkeit, sozialistische pädagogische Konzepte zu realisieren, nämlich im Rahmen der verbandlichen außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, die durchaus partikulare politische und weltanschauliche Ziele vertreten darf, was im Begriff des "Tendenzbetriebes" auch rechtlich garantiert ist.

Nun folgt aus der Tatsache, daß die DDR-Pädagogik den politischen Willen der SED vollstrecken sollte, keineswegs, daß die pädagogischen Einrichtungen der DDR pure Unterdrückungsanstalten gewesen wären. Vielmehr muß zwischen der offiziellen ideologischen Ebene und ihrer Sprachregelung einerseits und dem pädagogischen Alltag andererseits unterschieden werden. Nichts spricht z. B. dafür, daß in der DDR mehr Schüler`unter ihrer Schule gelitten hätten als bei uns. Die DDR-Schule war zwar didaktisch rückständig und dogmatisch, aber deshalb nicht unbedingt kinderfeindlich. Im Gegenteil, sie kannte auch solidarische Hilfen z. B. gegenüber lernschwachen Schülern. In der Sozialpädagogik gab es beachtenswerte Versuche, dissoziale Jugendliche nicht zu isolieren, sondern vorsichtig und ihren Verhaltensmöglichkeiten entsprechend wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern. Wenn nun überprüft werden muß, was sich bewährt hat und was zu verändern ist, sollte der ehemalige ideologische Überbau von der fachlichen Ebene unterschieden werden.

Da Erziehung und Bildung Ländersache sind, hat die DDR eine gewisse Chance, in diesem Bereich eigene Traditionen weiterzuentwickeln, die z. B. aus der sozialistischen Norm der Solidarität erwachsen sind. Die Neubesinnung kann nicht bei bundesrepublikanischen Anleihen ansetzen, sondern nur bei der eigenen bisherigen Praxis und ihrer theoretischen Fundierung. Beides ist der Aufklärung und kritischen Überprüfung bedürftig. Wir leben nicht an einem historischen Nullpunkt, wo gleichsam alles neu erfunden werden muß. Es geht nur um notwendige Veränderungen, deren Sinn jedoch im dunkeln bleiben müßte, wenn sie nicht aus der kritischen Bearbeitung des bisherigen Handelns erwüchsen. Dabei mögen einige unserer Erfahrungen und Lösungsmöglichkeiten von Nutzen sein, aber die Entscheidungen darüber können nur in der DDR getroffen werden. Vermutlich wird das Hauptproblem bei der Neuorientierung der DDR-Pädagogik nicht die Abwendung von der stalinistischen Ideologie sein - nur noch sehr wenige Menschen werden sich damit weiter identifizieren.

Viel schwieriger dürfte die kritische Überprüfung dessen sein, was man in Sachen Erziehung das "gesunde Volksempfinden" nennen könnte, woraus jene Ideologie ja einen wichtigen Teil ihrer Plausibilität ziehen konnte: Das erwähnte SED-ldeal einer Gesellschaft, in`der Erziehungsziele und öffentliches Verhalten harmonisch übereinstimmen, hat eine gewisse Suggestivkraft, weil es eine klare Unterscheidung von "richtig" und "falsch" und "gut" und "böse" erlaubt. Die Verführungen, denen junge Menschen nun durch den Konsummarkt, die unbeaufsichtigte Freizeit und durch die Massenme-

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dien ausgesetzt sein werden, können allzu leicht als Mangel der neuen demokratischen Verhältnisse ausgelegt werden. Ebenso könnte als wenig plausibel und sogar verschwenderisch erscheinen, wenn qualifiziert Ausgebildete keinen angemessenen Arbeitsplatz finden - ganz zu schweigen von jenen Alltagsweisheiten wie, daß Hans nimmer lernen könne, was Hänschen nicht lernte. Angesichts solcher Schwierigkeiten und Probleme könnten Pädagogen ein falsches Selbstverständnis entwickeln, als seien sie gegenüber dem Kind von Berufs wegen die Vertreter einer besseren als der realen Welt.

Wie bei uns, so wird auch in der DDR die Einsicht schwerfallen, daß unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft und der in ihr notwendigen Individualisierungsprozesse die Verantwortung für eine gelingende Sozialisation immer mehr auf die Heranwachsenden zurückfallen wird und daß öffentliche pädagogische Einrichtungen immer mehr zu einer Dienstleistung dafür werden. Die Notwendigkeit, junge Menschen, die in einer solchen Gesellschaft aufwachsen, schon früh verantwortungsfähig werden zu lassen und verantwortliches Handeln auch einzufordern, wird bei uns in mancher Hinsicht pädagogisch unterlaufen. In vielen unserer Mittelschichtfamilien wachsen die Kinder zum sozialen Nulltarif auf, als Prestigeobjekte ihrer Eltern, und solche Infantilisierungstendenzen setzen sich inzwischen im öffentlichen Bildungswesen fort bis zur Universität. Der künftige Weg der DDR-Pädagogik sollte nicht einfach zu bundesrepublikanischen Vorstellungen führen, sondern in eine vom politischen Auftrag endlich emanzipierte Professionalität.

Dann ändert sich zunächst einmal die Perspektive. Die öffentliche Erziehung und Bildung - z. B. in Schulen - betrachtet das Kind nicht mehr als Objekt von Erziehung, sondern als lernendes Subjekt, das der methodisch gezielten Lernhilfe bedarf. Vielleicht wäre es sogar zweckmäßig, fürs erste die monströsen erziehungswissenschaftlichen Begriffsapparate beiseite zu lassen, die sich im Laufe der Zeit in beiden deutschen Staaten vor die Wirklichkeit geschoben haben, und wieder von unten her an die pädagogischen Phänomene heranzugehen: daß Kinder halbwegs befriedigend aufwachsen müssen; daß sie dabei vieles lernen müssen; daß sie das meiste davon durch soziales Handeln lernen, für manches aber eben auch der Hilfe professioneller Pädagogen bedürfen, die sie z. B. in Schulen unterrichten oder die ihnen in der Sozialpädagogik Gelegenheit geben, Konflikte mit ihrer Umwelt zu lösen.

Jedenfalls stehen die Chancen der DDR-Pädagogik, zu einem neuen Selbstbewußtsein zu finden, gar nicht schlecht, wenn sie sich auf das Professionelle an den pädagogischen Berufen besinnt. Vermeiden sollte sie allerdings, was bei uns zu einer lästigen Mode geworden ist, nämlich die Kollegien in Selbsterfahrungsgruppen zu verwandeln, wo man die kollegialen Beziehungskisten thematisiert und einander seine Probleme vorjammert. Das wäre alles andere als eine professionelle Lösung, aber ein solcher Vorschlag wird zu den unnützen Ratschlägen gehören, die nun auf die DDR zukommen.

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164. Markt und Pädagogik (1990)

Chancen für organisatorische Arrangements und Lernmöglichkeiten

(In: Animation, Januar/Februar 1990, S. 11-13)
 

Alle den Menschen in ihrer Freizeit angebotenen pädagogischen Maßnahmen unterliegen der Konkurrenz durch kommerzielle Angebote. Freizeitpädagogik ist also ein subventionierter Teil des Freizeitmarktes.

Die Angebote der Freizeitpädagogik sind kommerziell nicht interessant, weil sie keinen Gewinn versprechen. Wäre dies anders, so würden kommerzielle Anbieter auch Freizeitpädagogik betreiben. Umgekehrt heißt das aber auch, daß Freizeitpädagogik einschließlich Jugendarbeit eine Restfunktion hat: Sie bietet an, was die subventionierenden politischen Instanzen für wichtig halten, was aber nicht das Interesse kommerzieller Anbieter findet.

Nun ist jedoch Voraussetzung eines Freizeitmarktes, daß die Menschen genügend Freizeit haben und daß sie genügend Geld haben, um es auf diesem Markt auszugeben. Bekanntlich hat es lange gedauert, bis diese Voraussetzungen erfüllt waren. Interessant ist jedoch, daß es gegen die Durchsetzung des Freizeitmarktes heftige Widerstände gegeben hat, nicht zuletzt von Seiten der Pädagogik. Die Geschichte der modernen Massenfreizeit ist die Geschichte von Versuchen, sie unter gesellschaftliche Kontrolle zu bringen. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Schulordnungen, die den Schulen erlaubten, mißliebiges Freizeitverhalten von Schülern zu sanktionieren. Der Wandervogel wurde seinerzeit nicht zuletzt deshalb gegründet, um angesichts des Ansehens der erwachsenen Repräsentanten den Gymnasien zu erleichtern, ihren Schülern die Teilnahme an den Veranstaltungen des Wandervogels zu erlauben.

Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Kontrollabsicht im Umgang mit der Arbeiterjugend. Die Einführung der Fürsorgeerziehung (1900 in Preußen), wonach Jugendliche mit Freiheitsentzug zu erzieherischen Zwecken belangt und in eine Fürsorgeerziehungsanstalt gebracht werden konnten, auch wenn sie gar keine Straftat begangen hatten, und die Einführung der staatlich subventionierten Jugendpflege vor dem Ersten Weltkrieg gehören innerlich zusammen: In beiden Fällen ging es darum, die Kontrollücke zu schließen, die zwischen Schulabschluß und Eintritt in den Militärdienst entstanden war. Nicht kontrollierte Freizeit galt seitdem als ein Problem der inneren Sicherheit (Jugendkriminalität) und als pädagogisch bedenklich, nämlich als jugendgefährdend.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte also eine kulturelle Auseinandersetzung ein, um die es uns heute geht: die zwischen Pädagogik und Polizei auf der einen, und dem Kommerz auf der anderen Seite. Beide Seiten folgten unterschiedlichen Leitmotiven. Die Pädagogik fragte nach dem, was gut und richtig für das Aufwachsen von Kindern sei, der Kommerz fragte danach, was sich an Kinder oder über sie verkaufen ließe. Es begann mit der Polemik gegen die Schundliteratur durch H. Wolgast (Das Elend unserer Jugendliteratur, 2. Auflage 1899). Nächster Höhepunkt waren die Jugendschutzgesetze der Weimarer Zeit, die in der Nazizeit während des Krieges noch verschärft wurden, und die im Kern bis heute gelten. Es handelte und handelt sich dabei um Freizeitschutzgesetze, deren Sinn es war, Kinder und Jugendliche sowohl vor bestimmten Produkten des Marktes zu schützen (Schmutz und Schund; bestimmte Filme) wie auch vor bestimmten sozialen Orten des Marktes (Gastwirtschaften; Amüsiergewerbe). Jugendarbeit und Jugendpflege sollten dagegen das für positiv Gehaltene anbieten, das sogenannte "Jugendgemäße".

Dieses Bündnis von Pädagogik und Polizei erreichte in der Nazizeit seinen historischen Höhepunkt, zerbrach aber in dem Maße, wie Jugendliche Geld genug bekamen, um sich jugendtouristischen also kommerziellen Angeboten anzuschließen. Das geschah in größerem Umfange Anfang der 60er Jahre. Diese jugendtouristischen Unternehmungen fanden ganz überwiegend im Ausland statt, und dort galten die deutschen Jugendschutzbestimmungen nicht, und die jeweils zuständige Polizei interessierte sich nicht für die Interna dieser touristischen Projekte, solange die öffentliche Ordnung im übrigen nicht gestört wurde. Zu Hause war mit dem Rock'n RoIl die erste kommerzielle, im großen Stil verbreitete, gezielt für junge Menschen inszenierte Unterhaltungsmusik entstanden, eine generationsspezifische Musik also. Das gab es vorher nicht. In den 50er und 60er Jahren erreichte die pädagogische Kulturkritik gegen die Freizeit- und Konsumgewohnheiten und damit verbundenen Freiheiten ihren letzten Höhepunkt, - wenn man absieht von der 68er Bewegung, die mit neo-marxistischer Begründung meinte, Konsum- und Kulturindustrie hielten die Menschen nur davon ab, ihre wahren, objektiven Bedürfnisse zu entdecken und zu verfolgen. Die Geschichte der modernen Massenfreizeit ist also eine Geschichte ständig zunehmender Siege des Marktes über die Normen der Pädagogik. Heute gibt es keine marktfreien pädagogischen Räume mehr, und Marktbeschränkungen gesetzlicher Art sind entweder geschwunden (z.B. Freigabe der Pornographie) oder sie erfolgen eher halbherzig (Jugendschutz). Ausschlaggebend für den Sieg des Marktes waren nicht zuletzt die elektronischen Massenmedien, vor allem das

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Fernsehen. Indem diese Medien allen dasselbe sagen und zeigen, "zersetzen" sie eben auch die pädagogischen Schutzzonen, die ja nicht zuletzt davon zehren, daß hier nicht alles gesagt, sondern ad usum delphini ausgewählt wird. Ließ sich der soziale Ort Kino noch öffentlich kontrollieren, so waren solche Kontrollen im privaten Wohnzimmer nicht mehr möglich.

Über diesen hier nur knapp skizzierten historischen Prozeß läßt sich vielleicht folgende Bewertung abgeben:

1. Die Durchsetzung des Marktes im Kindes- und Jugendleben hatte emanzipatorische Folgen. Sie ermöglichte zunächst den Jugendlichen und zunehmend auch älteren Kindern eine relative Distanz zu den traditionellen Erziehungsmächten (Familie, Schule, Kirche) und insoweit die Chance zur relativen Individualisierung und persönlichen Autonomie.

2. Die Durchsetzung des Marktes hat die Pädagogen zu einem Wettbewerb gezwungen im Hinblick auf ihre eigenen Vorstellungen und Praktiken - vor allem im außerschulischen Bereich, wo man ja mit den Füßen abstimmen kann. Als einer der ersten Erziehungswissenschaftler hat das Heinz Hermann Schepp am Beispiel der Jugendhöfe Anfang der 60er Jahre eindrucksvoll gezeigt (Offene Jugendarbeit, Weinheim 1963). Diese Jugendhöfe waren und sind pädagogische Einrichtungen, nämlich Bildungsanstalten, andererseits aber sind sie auch Wirtschaftsunternehmen, die darauf achten müssen, daß sie ihren Haushalt ausgleichen. Einer der wichtigsten Einnahmeposten sind aber die Teilnehmerbeiträge - auch wenn diese selbst weitgehend subventioniert sind. Daraus folgte die Notwendigkeit, die Gäste nicht wie Zöglinge, sondern eher wie Kunden zu behandeln. In didaktisch-methodischer Hinsicht ergaben sich aus dieser`Lage eine Reihe von Innovationen, die später auch teilweise in die Schuldidaktik Eingang fanden. Ähnliche Unterschiede ergaben sich in der pädagogischen Beziehung. Schon früh setzte sich in diesem außerschulischen Bereich eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Pädagogen und Jugendlichen durch.

Man kann also sagen, daß pädagogische Reformvorstellungen seit den 60er Jahren sich nicht durch innerpädagogische Veränderungen durchgesetzt haben, sondern wesentlich auf Druck des Marktes. Pointiert gesagt: Nicht die Pädagogik brachte die Emanzipation des Jugendalters - auch nicht die fortschrittliche - sondern der Markt, die fortschrittlichen Pädagogen waren nur die nützlichen Gehilfen des Marktes, und ihre konservativen Gegner haben das immer schon bemerkt.

Das Wesentliche an der Wirkung des Marktes ist nicht, daß im Wettbewerb für den Kauf von Gütern und Dienstleistungen geworben wird, sondern daß sich dabei ein grundlegender Wertewandel durchgesetzt hat, der die Moral der modernen Arbeitsgesellschaft an wesentlichen Punkten überlagert und teilweise sogar korrigiert hat: Daß individuelle Bedürfnisse wichtig genommen werden dürfen; daß man ein Recht darauf hat, es sich so gut wie möglich gehen zu lassen; daß man Recht daran tut, die Mühen des Lebens zu minimieren; daß alle Menschen - also auch Kinder und Jugendliche - das gleiche Recht auf Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse haben. Solche prinzipiellen Botschaften waren es, die die traditionellen pädagogischen Autoritäten untergraben haben, und die Pädagogen mußten einsehen lernen, daß ihre Vorstellungen darüber, was gut für Kinder sei, zumindest revisionsbedürftig waren. In der Auseinandersetzung mit den vom Markt verbreiteten Werten mußte die Pädagogik entdecken, daß ihre eigenen Werte auch nur historisch und biographisch relativ waren. Schelsky hat in seiner "Skeptischen Generation" z.B. den Pädagogen seiner Zeit vorgehalten, daß sie ihre eigenen Jugenderfahrungen im Topos des "Jugendgemäßen" zu verewigen suchten. Ja, es zeigte sich, daß der Markt selbst ein wichtiges Sozialisationsfeld wurde, in dem sich zu bewegen und zu behaupten zu einem wichtigen Teil der persönlichen Autonomie auch schon von Kindern und Jugendlichen wurde.

3. Dieser Markt nun verbreitet bisher im wesentlichen Mode und Unterhaltung. Das kommt nicht von ungefähr; denn beides ist kurzlebig. Das Verkaufte verbraucht sich schnell und muß durch neue Kräfte ersetzt werden, was den Markt am Leben erhält. Deshalb haben der Markt und die ihn fördernde Werbung die Tendenz, möglichst alles modischen Wechseln zu unterwerfen, bzw. möglichst alles in Unterhaltung zu verwandeln. Daran entzündet sich ja auch die einschlägige Kulturkritik, und in der Tat ist zu fragen, ob der Markt als moralische Idee nicht auch einen neuen Sozialisationstypus hervorgebracht hat oder hervorbringen wird: verwöhnt, verweichlicht, wenig belastbar, wenig selbstbewußt, mit permanenten Identitätsstörungen und ständig therapiebedürftig, was wiederum neue Marktchancen eröffnet. Sicher ist, daß das Leben in einer Gesellschaft, in der es keine marktfreien Lücken und Nischen mehr gibt, von Kindern und Jugendlichen mindestens drei Lernleistungen verlangt, wenn individuelle Autonomie erreicht werden soll.

- Mit der Tatsache produktiv fertig zu werden, daß Zeit nicht vermehrbar ist und daß sie immer knapper ist, als man Möglichkeiten hätte, sie subjektiv sinnvoll zu verbringen. Daraus folgt ein`ständiger Entscheidungsdruck, der zu unterschwelliger Unzufriedenheit führt, weil das, wofür man sich nicht entschieden hat, vielleicht besser gewesen sein könnte.

- Mit der anderen Tatsache produktiv umzugehen, daß immer weniger Geld vorhanden ist, als man subjektiv sinnvoll ausgeben könnte. Auch daraus kann sich unterschwellige Unzufriedenheit entwickeln mit dem, wofür man sich entschieden hat.

- Unterscheiden zu lernen zwischen denjenigen Bedürfnissen, die durch den Markt befriedigt werden können und denen, die nur auf andere Weise befriedigt werden können, nämlich durch soziales Handeln.

Der Markt selbst liefert keine Kriterien für seine souveräne und autonome Nutzung, er hält dafür nur Mittel und Möglichkeiten bereit. Die normative Leitidee eines autonomen, aufgeklärten Lebens wird zwar auch am Markt angeboten, z.B. auf dem Buchmarkt, aber unter vielen anderen Leitideen, und die Last der Optionen bezieht sich nicht nur auf Zeit und Geld, sondern auch auf die grundlegende Strategie eines gewünschten und dann auch im Rahmen des Marktes realisierten Lebens. Aber die Idee einer aufgeklärten, autonomen Existenz läßt

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sich nicht als individuelle Entscheidung realisieren, sie bedarf einer verbindlichen sozialen Stütze, des gemeinsamen Lebens mit anderen.

Hier nun gibt es ein Problem. Meine These, daß es der Markt war und nicht die Pädagogik, der die Emanzipation der Jugend und der Kindheit von den alten Erziehungsmächten vorangetrieben hat, muß nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß dies auch für die Zukunft gilt. Der Markt hat nämlich nicht nur die alten Erziehungsmächte ausgehöhlt, sondern auch die traditionellen sozio-kulturellen Milieus (der Arbeiterbewegung, des Katholizismus, des Protestantismus, des Bildungsbürgertums) egalisiert. Der Markt hat das Recht auf Individualisierung, also auf Distanz zu den sozialen Kontexten durchgesetzt, aber es gibt keine Individualität ohne verbindliche soziale Kontexte. Deshalb haben sich als Ersatz für die zerstörten traditionellen Gemeinschaften neue, nun freiwillig eingegangene "Bezugsgruppen", wie es vielleicht am besten zu bezeichnen wäre, etabliert. Diese Tendenz begann mit den Vereinsgründungen im 19. Jahrhundert (der bürgerliche "e.V.") und setzt sich über die Jugendbewegung bis hin zu den gegenwärtigen Selbsthilfegruppen fort. Diese Selbsthilfegruppen sind nun marktkonform, weil ihre soziale Labilität dem Wechsel der Moden entspricht und weil die Ernsthaftigkeit der jeweils verfolgten Zwecke gleichwohl mit Unterhaltungswert versehen werden kann - einmal in dem Sinne, daß unterhaltende Geselligkeit eines ihrer wichtigen Merkmale ist, und zum anderen, daß die Ernsthaftigkeit der einen zur Unterhaltung für die anderen werden kann.

Die großen bürgerlichen Emanzipationsbewegungen (der Arbeiter, der Frauen, der Jugendlichen, der Kinder) gelangen allmählich an ihr historisches Ende - jedenfalls in den westlichen Industrieländern. Der Markt hat sie alle befördert, gerade weil er politisch, weltanschaulich und pädagogisch gewissenlos oder zumindest uninteressiert war. Die Frage bleibt nun, wie das Verhältnis von Markt und Pädagogik sich in Zukunft gestalten wird.

Darüber läßt sich natürlich nur spekulieren. Aber folgende Entwicklungen sind denkbar:

1. Die Pädagogik wird weiter konsequent in den Markt einbezogen, auch die Schulpädagogik. Letztere einmal in dem Sinne, daß es in weit höherem Maße als bisher Wettbewerb von der Grundschule bis zur Oberstufe des Gymnasiums zwischen Schulen unterschiedlicher pädagogischer Konzeption geben wird, denn die historischen Grundlagen für das gegenwärtige staatliche Schulmonopol sind weitgehend entfallen; zum anderen in dem Sinne, daß die didaktischen Konzeptionen und der Umgangsstil ("pädagogischer Bezug") sich weiter marktkonform entwickeln werden, d.h. sich den im Freizeitmarkt propagierten Bedürfnissen anpassen werden. Die starke Subjektwendung der modernen Schuldidaktik wäre wohl schon so zu deuten. Was fortschrittliche Schulpädagogen für ihre menschenfreundliche Erfindung halten, ist im wesentlichen eine Anpassung an "König Kunde". Das gilt auch für jene Reformer, die den Wettbewerb der Schüler und damit das Leistungsverhalten relativieren wollen. Das entspricht dem Leitmotiv des Marktes, die Mühen des Lebens zu minimalisieren; dieses Motiv gilt natürlich nur für die Kunden, nicht auch für die Anbieter; die müssen sich ja sputen, damit die Kunden es angenehm haben.

2. Es könnte aber auch sein, daß so etwas wie eine partielle Emanzipation vom Markt entsteht. Auch dafür gibt es Anzeichen, z.B. in der Ökologiebewegung. Das würde bedeuten, daß zumindest Minderheiten Bedürfnisse geltend machen, die der Markt nicht befriedigt, z.B. soziale oder Bildungsbedürfnisse. Solche Bedürfnisse können zu einer Nachfrage führen, die kommerziell interessant wird. So läßt sich heute z.B. schon mit Psycho-Kursen gutes Geld verdienen. Möglicherweise wird Bildung - im weitesten Sinne - so interessant, daß Pädagogen davon auf dem Markt leben können. Daß gegenwärtig auf dem Markt vor allem Mode und Unterhaltung verkauft wird, muß nicht immer so bleiben. Historisch gesehen hängt dies wohl zusammen mit einer entsprechend großen Marktlücke, die die traditionellen Normen der Arbeitsgesellschaft hinterlassen haben. Der Hedonismus des Freizeitmarktes ist komplementär zum sinnenfeindlichen Arbeitsethos der Industriegesellschaft, und mit dessen Schwinden könnte auch eine Neuorientierung der Bedürfnisse entstehen. Der Markt läßt im Prinzip alles verkaufen, auch Bildung. Im modernen Tourismus finden wir die massentouristische Reise ebenso wie die anspruchsvolle Bildungsreise. Partielle Emanzipation vom Markt könnte also einerseits Veränderung der Nachfrage heißen; sie könnte aber auch die Mobilisierung solcher Bedürfnisse bedeuten, die der Sache nach nicht vom Markt befriedigt werden können: die Herstellung verbindlichen sozialen Handelns im Rahmen von gemeinsam für wichtig gehaltenen Projekten. Die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nach Liebe, Anerkennung, Identität, Geborgenheit, nach sinnvollem Leben kann der Markt nicht befriedigen, sie können nur durch entsprechendes soziales Handeln befriedigt werden. Der Markt kann dafür nur Mittel bereitstellen. Kosmetik allein macht bekanntlich niemanden zum Geliebten.

Im Aufgreifen solcher Grundbedürfnisse, nämlich durch die Bereitstellung entsprechender organisatorischer Arrangements und Lernmöglichkeiten, sehe ich nach wie vor pädagogische Chancen. Daneben bleibt aber auch in Zukunft erhalten die sozialpolitische bzw. sozialpädagogische Unterstützung derjenigen Minderheiten, die schon aus finanziellen Gründen am Markt gar nicht oder nur eingeschränkt teilnehmen können. Dazu wären Maßnahmen wie Sozialtourismus (z.B. Kinderferien) oder auch das Betreiben eines Jugendfreizeitheimes für solche Jugendliche zu rechnen, die sonst keinen öffentlichen Treffpunkt finden könnten. Aber auch solche Maßnahmen bleiben am Markt orientiert, nicht zuletzt auch in der Erwartung der Teilnehmer, die den Wert des ihnen Angebotenen am Marktüblichen messen. Eine Pädagogik jedoch, die sich als diesseits oder jenseits des Marktes stehend verstünde, müßte über kurz oder lang zur Sektiererei verkommen.

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165. Die pädagogische Vernichtung des Studierens (1991)

(In: Neue Sammlung, H. 4/1991, S. 544-552)
 

Als ich in den 50er Jahren ein Gymnasiallehrerstudium absolvierte - Geschichte und Latein wollte ich unterrichten -, mußte ich auch ein Schulpraktikum ableisten. Das Gymnasium konnte ich mir aussuchen, es durfte nur nicht das sein, an dem ich das Abitur erworben hatte. Die Universität hatte mit der Sache weiter nichts zu tun, außer daß die Quästur ein Formular bereithielt, auf dem die Ableistung des Praktikums bescheinigt werden mußte. In der von mir gewählten Schule wurde ich einem Lateinlehrer zugeteilt, dessen Unterricht in den verschiedenen Klassen ich beobachtete, um darüber anschließend mit ihm zu sprechen. Zweimal im Verlauf des Praktikums übernahm ich selbst eine Stunde, - beim zweiten Mal mit etwas besserem Erfolg als beim ersten. Ich habe in diesem Praktikum sehr viel gelernt - über mich selbst, über Schüler und über das Geschäft des Unterrichtens. Seine wesentliche Aufgabe war, durch "Selbsterfahrung" festzustellen, ob ich mich für den Lehrerberuf geeignet fühlte.

Aber an der Universität hat mich niemand auf dieses Praktikum "vorbereitet", noch es anschließend mit mir "nachbereitet", und im nachhinein könnte ich mir auch nicht vorstellen, was man da der Sache nach hätte treiben sollen - zweistündig oder gar vierstündig vorher und nachher. Schule und Universität galten als verschiedene Lernorte mit jeweils eigenen Regeln und eigener Dignität, die nötige Anpassung an die Schulwirklichkeit blieb dem späteren Referendariat vorbehalten, und dort wäre letzten Endes über meine Lehrerbefähigung entschieden worden.

Das Studium war kaum reglementiert; bevor wir uns zur Prüfung melden konnten, mußten wir eine Mindestanzahl von Semestern immatrikuliert sein und einige Seminarscheine erworben haben. Diese Scheine wurden nur im Rahmen bestimmter Seminare als Lohn für ein Referat vergeben, und der Zugang zu ihnen war nur offen, wenn man bestimmte Vorleistungen erbracht hatte, z. B. erfolgreich an einer Übung über "Quellenkunde" oder an einem lateinischen Grammatikkurs teilgenommen hatte. Abgesehen davon kümmerte sich niemand darum, ob und was wir studierten und wie intensiv wir es taten. Dies änderte sich nicht einmal nachhaltig nach der Einführung des sogenannten "Honnef-Stipendiums". Zwar mußten wir Stipendiaten in jedem Semester Studienleistungen nachweisen, aber die Professoren, die das überprüften, beschränkten sich darauf, sich berichten zu lassen, an welchen Lehrveranstaltungen wir teilgenommen und wie viele Scheine wir schon erworben hatten. Nichts war in irgendeiner Weise pädagogisiert und eine Reglementierung des Studiums, wie wir sie heute haben, hätte diesen Massenbetrieb angesichts der wenigen Professoren damals sofort funktionsunfähig gemacht. (Münster hatte damals einen einzigen Professor für Neue Geschichte, Werner Conze, dessen Vorlesungen nicht nur das Audi-Max füllten, sondern noch zwei benachbarte Hörsäle, in die sie per Lautsprecher übertragen wurden).

Individuelle Studienberatung durch die Professoren oder Assistenten war angesichts der überfüllten Sprechstunden kaum möglich, so daß die Studierenden auf sich

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selbst angewiesen waren. Die älteren Semester informierten und berieten die jüngeren - was ihnen einen gewissen Status verlieh - und nach jeder Vorlesung oder Seminarsitzung traf man in den Gängen auf diskutierende Gruppen, Mensa-Gespräche hatten oft die gerade gemeinsam gehörte Vorlesung zum Thema.

Unzumutbar war diese Situation nur für die Professoren, deren rein quantitative Arbeitsleistung mir heute, wo ich selbst als Hochschullehrer tätig bin, einen immensen Respekt abnötigt - ganz abgesehen von der erheblichen Forschungsleistung, die viele von ihnen gleichsam zusätzlich noch vorzuweisen hatten.

Für uns Studierende war jedoch diese Situation durchaus zumutbar, sie brachte uns eine Studierfreiheit, von der heute Studierende nicht einmal mehr träumen können, und zwang uns, die Verantwortung für das Studium selbst zu übernehmen. Wir mußten unsere "Studienordnung" selbst zurechtlegen.

Ich erzähle dies nicht aus nostalgischer Schwärmerei, sondern um Jüngeren zwei Erfahrungen mitzuteilen:

1. Freies, individuell organisiertes Studieren war einmal Realität und hat sogar unter extremen Bedingungen einer Massenuniversität funktioniert.

2. Eine Massenuniversität muß nicht unbedingt das Gefühl der Desorientierung und Entfremdung hervorrufen. Und ich füge hinzu: Wäre mein damaliges Studium so reglementiert gewesen wie das heute der Fall ist, dann hätte ich mich sehr wahrscheinlich auch ohnmächtig, desorientiert und entfremdet gefühlt; die Reglementierung ist das Problem, dessen Lösung sie angeblich sein soll.

In Niedersachsen wurden Ende der 70er Jahre "Studienreformkommissionen" von der Landesregierung eingesetzt, die alle Hochschulstudiengänge landeseinheitlich neu regeln sollten. Schon in den Prüfungsordnungen mußte nun festgesetzt werden, wieviele Semesterwochenstunden (=SWSt) nicht nur für ein Studienfach insgesamt, sondern auch`für bestimmte Studiengebiete dieses Faches absolviert werden müssen. Die SWSt sind möglichst hoch angesetzt worden, damit auf diese Weise möglichst viel Lehrpersonal legitimiert werden kann. Sie sind Grundlage der sogenannten "Kapazitätsberechnungen": Wie viele Lehrende braucht man, um eine bestimmte Anzahl von Studierenden mit der vorgeschriebenen Wochenstundenzahl zu "versorgen"? Die Praktika wurden nun "vorbereitet" und "nachbereitet", galten als Teil der universitären Ausbildung. Die Schule kann man nicht mehr wählen, denn die Vor- und Nachbereiter müssen ihre Kandidaten in der Schule selbst "betreuen" können.

Im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Göttingen müssen die Kandidaten bei der Anmeldung zur Prüfung in den Diplomstudiengängen ein 10-seitiges Formular ausfüllen um nachzuweisen, daß sie die vorgeschriebenen Studiengebiete mit der gebotenen Zahl von SWSt auch studiert haben. Aber was heißt das schon? Nachprüfen kann das niemand. Bevor die Studenten das aber begriffen haben, und mit den Vorschriften instrumentell umgehen können, haben sie meist mehrere Semester damit vergeudet, diesen Unsinn ernstzunehmen.

Denn zumal für die Pädagogik ist die Abgrenzung solcher Teilgebiete gar nicht möglich. Gehört Makarenkos "Pädagogisches Poem" nun in die Rubrik "Erziehungswissenschaft" oder "didaktisch-methodische Konstruktionen" oder "Bedingungsgefüge pädagogischer Felder" oder "Theorien der Erziehung und Bildung"? Oder in alle diese Rubriken? Oder soll man das Poem lieber gar nicht erst studieren, weil

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es so schlecht in diese Raster paßt? Wohin gehört ein so zentrales Thema wie "Der pädagogische Bezug" bzw. "Die pädagogische Interaktion"? Für den Studiengang "Freizeitpädagogik" an dem genannten Fachbereich sind sechs SWSt vorgeschrieben für "Freizeitpädagogische Handlungsstrategien". Was soll man denn da unter universitären Ansprüchen lehren? Sechs SWSt sind mindestens 30 zweistündige Seminarsitzungen! Der genannte Fachbereich gibt einen sogenannten "Veranstaltungs-Kommentar" heraus, in dem die Lehrveranstaltungen im Unterschied zum offiziellen Vorlesungsverzeichnis der Universität kurz erläutert werden; sie sind inzwischen nicht mehr nach den anbietenden wissenschaftlichen Einrichtungen gegliedert, sondern nach den Teillehrgebieten der Prüfungsordnung. Armer Makarenko ...

Die Reglementierung des Studiums hat das Studieren zerstört, insofern sie den Studierenden die Verantwortung abgenommen hat. Nun stehen sie nicht mehr in den Gängen und diskutieren, nun hasten sie zur nächsten Veranstaltung, um ihren Stundenplan zu erfüllen, außerhalb der Lehrveranstaltungen - z.B. in der Mensa - haben sie "Freizeit", und da wird nicht über die "Arbeit" geredet.

Die Zerstörung des Studierens in den pädagogischen Studiengängen - nur davon kann ich sprechen - hat nicht etwa den Studienbetrieb entlastet, wie man das gehofft hatte, sondern zu einer gigantischen Verschwendung von Ressourcen geführt. Wer pro Semester an drei Seminaren (=6 SWSt) teilnimmt und dafür jeweils ein gutes Referat schreibt, bewegt sich im allgemeinen an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Nimmt er noch zwei intensiv verfolgte, d. h. durch begleitende Lektüre vertiefte Vorlesungen dazu, dann haben wir es wirklich mit einem fleißig studierenden Studenten zu tun. Warum sollte er seine und seiner Dozenten Zeit darüber hinaus vergeuden, indem er sich in Seminaren herumtreibt, für die er sich nicht engagieren kann?

Die Zerstörung des Studierens ist das Ergebnis zahlreicher Pädagogisierungen. Das soll nicht heißen, daß sich nur Pädagogen daran beteiligt hätten. Manches kam da zusammen: Das - erfolglos gebliebene - Interesse der Administration an möglichst geringen Kosten und an der Senkung der tatsächlichen Studiendauer; das Interesse der Fachbereiche und wissenschaftlichen Einrichtungen an personeller Expansion bzw. Erhalt des personellen Status quo, was nur zu begründen war mit einer möglichst hohen Zahl von unverbindlichen SWSt; Urteile von Gerichten, die von "durchgefallenen" Prüfungskandidaten angerufen wurden, und die eine Präzisierung der Prüfungsanforderungen verlangten. Die Pädagogisierer rechtfertigen sich gern mit dem Hinweis auf derartige angeblich nicht hintergehbare Vorgaben. Aber gerade Pädagogen hätten die Idee des Studierens verteidigen müssen gegen solche Ansinnen, tatsächlich jedoch haben sie diese mit angeregt und radikaler realisiert, als es nötig gewesen wäre. Man muß einfach miterlebt haben, wie in endlosen Beratungen und Debatten an solchen Reglementierungen gefeilt wurde. Es war die Stunde der (nicht nur pädagogischen) Schulmeister! Sie rechtfertigen sich auch heute unentwegt damit, daß sie dies alles im Interesse der Studierenden auf sich nähmen, die man doch nicht ohne Orientierung herumirren oder gar scheitern lassen könne; viele seien einem nichtreglementierten Studium gar nicht gewachsen. Eine solche Auffassung konnte man vor 10 Jahren vielleicht noch haben, als die Reglementierungen eingeführt wurden. Wer aber nach all den Erfahrungen, die wir inzwischen sammeln konnten, heute noch so argumentiert, der muß sich sagen

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lassen, daß er - gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt - die Bedürfnisse der Studierenden ausbeutet. Erst machen wir die Studierenden von unseren Reglementierungen abhängig, und dann bieten wir ihnen Pädagogisierungen an, damit sie damit auch halbwegs leben können. Ein "freies" Studium ist nämlich individuell viel einfacher zu planen als ein reglementiertes, und gegen Empfehlungen und Beratungen ist ja auch nichts zu sagen.

Ein Motiv, trotzdem an den Verschulungen festzuhalten, ist, daß die daraus resultierenden Studienordnungen den Wettbewerb unter den Lehrenden minimieren. Im Prinzip kann man sich damit begnügen, sich auf ein einziges Teillehrgebiet einzulassen, weil einem dafür ja regelmäßige Teilnehmer sicher sind! Sie müssen ja ... . Unverkennbar beruht die Reglementierung auf der schulpädagogischen Idee des Lehrplans und des Unterrichtsaufbaus. Ich bezweifle, ob diese Konstruktion für die Schule selbst voll überzeugend ist. Kann man auf diese Weise tatsächlich einen menschlichen Bildungsgang planen? Oder wird da nicht aus der schlichten Tatsache, daß wir die Kinder jahrelang zur Schule schicken, einfach der Schluß gezogen, daß wir dies auch biographisch sinnvoll tun? Jedenfalls wäre die Administration von sich aus nicht auf die schulpädagogische Reglementierung von Studiengängen gekommen. Das Bündnis von Bürokratie und Schulpädagogik hätte noch radikaler gewirkt, wenn die im Grundsatz garantierte Lehrfreiheit dem nicht im Wege gestanden hätte.

Vorreiter der Pädagogisierung waren die Pädagogischen Hochschulen, die schließlich in Niedersachsen als eigenständige Fachbereiche in die Universitäten eingegliedert bzw. zu Universitäten deklariert wurden. Sie waren ursprünglich als Stätten der Berufsausbildung für angehende Grund- und Hauptschullehrer konzipiert und strukturiert und gründeten ihr Selbstverständnis gegenüber der traditionellen Universität auf eben dieser Berufsorientierung. Dieses Selbstverständnis ergriff auf der Woge der Schulreform-Debatte der 70er Jahre als Pädagogisierung auch die Gymnasiallehrer-Ausbildung mit der`Folge entsprechender Reglementierungen: nun mußten alle auch Psychologie studieren und die Praktika bekamen einen gänzlich unangemessenen Stellenwert, - alles zu Lasten der Fachstudien. Paradoxerweise erfolgte dieser Sieg der Pädagogisierung zu einem Zeitpunkt, als die Reformeuphorie sich längst als falsches Versprechen erwiesen hatte. Heute hätte das alles wohl keine Chance mehr.

Aber für ein geisteswissenschaftliches Studium ist die Pädagogisierung überhaupt unangemessen. Hier vertreten Professoren ihr Lehrgebiet im ganzen, im Prinzip ohne Rücksicht darauf, welche Studiengänge gerade vorhanden sind. Die Studiengänge kommen und gehen, die Forschungs- und Lehraufträge der Professoren bleiben bestehen. Selbstverständlich müssen die jeweils vorhandenen Studiengänge hineichend "bedient" werden, aber doch nur in dem Sinne, wie es Schelsky einmal für die Soziologie gesagt hat, daß es nämlich keine pädagogische Soziologie gebe, sondern nur soziologische Themen, die für Pädagogen interessanter seien als andere. An der Universität steht die Sache im Vordergrund, ihre Verwertbarkeit im Rahmen eines Studienganges muß zwar immer mitgesehen werden, bleibt aber prinzipiell zweitrangig. Insofern ist es schlicht un-akademisch, das Lehrangebot nach den Vorgaben einer Studienordnung zu sortieren.

Eine Fachschule geht aus gutem Grund anders vor. Hier gibt es feste Unterrichtszeiten, einen bestimmten Stoffkanon und begrenzte Lehraufträge für die Dozenten.

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Die Lehre an den pädagogischen Universitäten ist nicht zuletzt deshalb ineffektiv, weil die Studienordnungen bei vielen Studierenden eine Fachschul-Erwartung auslösen, die dann aber doch nicht wirklich eingelöst werden kann.

Die Pädagogisierung treibt inzwischen die seltsamsten Blüten. Für Studienanfänger werden "Stadt-Rallyes" organisiert, damit sie sich ein wenig kennenlernen können und die "Entfremdung" gemildert wird. An einer Universität lernt man sich dadurch kennen, daß man über die Sache ins Gespräch kommt, z.B. über das Referat, das der Nachbar gerade gehalten hat.

Oder es werden von den Studienordnungen vorgeschriebene 4-stündige "Orientierungs-Phasen" oder "Eingangsphasen" inszeniert, die wegen ihrer sachlichen Konfusion die Studienanfänger von Anfang an auf eine falsche Fährte setzen. Das war eine Erfindung der Studentenbewegung, die damals ihre politisch-ideologischen Meinungen auf diese Weise unters Volk bringen wollte. An einer Universität gehört der Studienanfänger in ein sachbezogenes Einführungsseminar des von ihm gewählten Studienfaches. Die Pädagogisierung der Geisteswissenschaften hat zum Ergebnis die Überwältigung der Aufklärung durch vordergründige Verwertbarkeiten, und sie operiert mit 2 Prämissen, die etwas genauer betrachtet werden sollen: "Berufsbezogenheit" und "veranstaltete Integration".

1. Berufsbezogenheit. Von der These, das Studium müsse berufsorientiert sein, nimmt die Pädagogisierung sich einen guten Teil ihrer Legitimation. Wenn das Studium zu einem bestimmten Beruf - z. B. dem des Lehrers - führen soll, so könne man doch den Studierenden nicht freistellen, was sie in ihren gewählten Fächern studieren, und schon gar nicht den Professoren, daß sie gerade das lehren, was ihnen im Augenblick an ihrem Fach besonders wichtig erscheint. Angesichts einer solchen Vorstellung schüttelt sich offensichtlich jedes ehrbare Schulmeistergemüt. Aber ich wage zu behaupten, daß es im Hinblick auf den künftigen Beruf nahezu gleichgültig ist, was jemand in seinen Fächern studiert, wenn er/sie es nur intensiv genug tut und so, daß dabei das Handwerk des wissenschaftlichen Recherchierens und Argumentierens gelernt wird. Sollte der Beruf später gerade das verlangen, was er/sie nicht besonders intensiv studiert hat, so wird das einigermaßen mühelos nachgeholt werden können. Die Frage jedoch, was für den späteren Beruf nun benötigt wird und was nicht, ist sachlich unentscheidbar und nur durch die zuständige Macht - z. B. eines Gremiums - als schlichter politischer Willensakt zu beantworten. Solche Entscheidungen mochten solange hingenommen werden, wie die Berufsaussichten einigermaßen gut waren. Inzwischen jedoch sind diese Aussichten für alle geisteswissenschaftlichen, also auch pädagogischen Berufe sehr unsicher geworden. Das gilt nicht nur für Lehrer-Studenten, sondern noch mehr für außerschulische Studiengänge wie "Freizeitpädagogik" oder "Familienpädagogik", wie wir sie in Göttingen haben. Studienreglementierungen - welcher Art sie auch sein mögen - entsprechen keiner Realität mehr, sie versprechen etwas, was sie nicht halten können, nämlich eine positive berufliche Perspektive, wenn man sich ihnen brav unterwirft.

Geisteswissenschaften studieren heißt heute, sich in einem allgemeinen Sinne marktfähig zu machen und flexibel auf den Markt reagieren zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Numerus-clausus-Urteil von 1972 das Recht zur freien Wahl von Studiengängen - im damaligen Falle der Medizin - aus dem

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Grundrecht der freien Berufswahl abgeleitet. Insofern muß sich jeder Studiengang vor einer künftigen Berufsperspektive rechtfertigen. Aber in bestimmten Bereichen wie bei den pädagogischen Berufen gibt es eben offene Horizonte, sozusagen die Zurücknahme von Spezialisierungen. Wer z. B. "Freizeitpädagogik" studiert, kann anschließend in einem Freizeitheim landen, oder im Journalismus, oder im Tourismus oder auch - nach Absolvierung eines zusätzlichen Informatik-Lehrgangs - in einem Wirtschaftsbetrieb, weil man dort davon ausgeht, daß jemand, der Pädagogik studiert hat, anderen auch etwas beibringen kann. Antizipierbar sind solche Möglichkeiten im Einzelfalle nicht, und deshalb muß die Verantwortung für die inhaltliche Gestaltung des Studiums wieder an die Studierenden zurückgegeben werden. Das muß übrigens auch für die Wahl und die Kombination der Fächer gelten. Alle dem entgegenstehenden Reglementierungen sind dysfunktional geworden, und nach meinen Erfahrungen ging es dabei auch niemals in erster Linie darum, den Studierenden ein optimales Studium zu ermöglichen. Studienordnungen sind primär Marktabsprachen der daran beteiligten Fächer und Perosnen, und deren Einhaltung wird deshalb eifersüchtig überwacht. "Die Studierenden" spielen nur als Legitimation für die jeweilige Position eine Rolle.

Ich gebe zu, daß derartige Absprachen bis zu einem gewissen Grade nötig und menschlich wie institutionell auch normal sind, aber die pädagogische Kritik darf davor nicht Halt machen.

Sucht man nach den berufsorientierten Implikationen eines geisteswissenschaftlichen Studiums, so kann man sie nur in den Regeln des Studierens selbst finden. Sachverhalte präzise recherchieren und das Ergebnis anderen gut gegliedert und "werbend" präsentieren zu können, sind gewiß Fähigkeiten, die für alle kulturellen Berufe von Nutzen sind. Diplom-Arbeiten können so beraten werden, daß die Verfasser sich als Autoren verstehen, die über das von ihnen bearbeitete Thema intellektuell gleichrangige Leser informieren und aufklären wollen (erst Dissertationen werden für Professoren geschrieben). Auch diese Fähigkeiten, nämlich leseorientiert, gut gegliedert und knapp zu schreiben, sind in kulturellen Berufen nützlich. Bei solchen Vorschlägen handelt es sich nicht um Pädagogisierungen, weil sie den Prinzipien eines wissenschaftlichen Studiums nicht widersprechen oder diese gar unterlaufen.

2. Veranstaltete Integration. Die Themen der akademischen Lehre sowie die ihnen zugrundeliegenden Fragestellungen sind im allgemeinen nicht identisch mit den Themen des Schulunterrichts und mit den Fragen, die die Schüler stellen. Sonst könnte man ja die Schüler gleich zu den Professoren in die Universität schicken. In der Diskrepanz zwischen universitärer und schulischer Lehre ist das Problem der Didaktik bzw. Fachdidaktik angesiedelt.

Wenn man nun die Anforderungen der schulischen Lehre unter der Maßgabe der Berufsorientierung auf die universitäre Lehre überträgt, führt das folgerichtig zu Versuchen, die hier übliche Aufteilung der Fachkompetenz zu unterlaufen. Als weiteres Argument wird in diesem Zusammenhang das "Ärgernis" des in den Geisteswissenschaften üblichen weitgehend additiven Lehrangebotes ins Feld geführt.

Es wird darin gesehen, daß die Studienthemen der verschiedenen Fächer, die da studiert werden sollen, unverbunden nebeneinander stehen, eine Art von chaoti-

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scher oder zumindest beliebiger Reihenfolge ergeben. Ist es nicht didaktisch vernünftiger, unter einem übergreifenden Thema verschiedene Fächer in einer Lehrveranstaltung zusammenzufassen, in diesem Sinne also die Fächergrenzen zu überschreiten, "fächerübergreifend" zu arbeiten?

Diese Forderung scheint sich wissenschaftlich rechtfertigen zu können durch den Hinweis auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschungen. In der Tat sind viele Forschungsprojekte nur noch so durchführbar. Aber nach meinem Eindruck muß dabei immer eine Disziplin die Federführung übernehmen, - etwa in dem Sinne, wie Karl Mannheim davon gesprochen hat, daß jede Wissenschaft zur Hilfswissenschaft einer jeden anderen werden könnte. Aber darüber mag man sich streiten. Für die akademische Lehre gilt jedenfalls, daß das Integrierende an solchen Veranstaltungen wissenschaftlich nicht mehr gedeckt ist, auf verhältnismäßig beliebigen Interpretationen beruht. Zur Zeit der Studentenbewegung, als diese Idee aufkam und auch realisiert wurde, waren es vorwiegend politische Deutungen. Welche es auch immer sein mögen, sie werden in irgendeiner Weise normativ-weltanschaulich sein, bzw. auf Sinn-Deutung hinauslaufen.

Nun wird jeder Mensch so handeln, also das, was er erlebt und auch im Studium erfährt, für sich in einen ihm sinnvoll erscheinenden Zusammenhang bringen. Geistiges Lernen ist überhaupt nur so möglich, und man kann dies den Bildungssinn des Studierens nennen. Dann aber geschieht dies in je eigentümlicher Weise individuell-biographisch. Problematisch wird es, wenn es für eine Gruppe veranstaltet wird. Die universitäre Lehre beruht nun einmal darauf, daß Professoren im Rahmen ihres Lehrauftrages lehren. Eine "Integration" verschiedener Fächer - also verschiedener Lehraufträge - kann es im strengen Sinne des Wortes nicht geben, wohl aber eine Addition bzw. einen Perspektivenwechsel, wie wir es vom Typus der Ring-Vorlesungen kennen: Im Rahmen eines Gesamtthemas tragen Vertreter verschiedener Disziplinen ihre jeweiligen Beiträge vor. "Integrieren" kann dies nur der einzelne Kopf, wobei Diskussionen ihm dabei durchaus hilfreich sein können.

Wie problematisch das veranstaltete "Integrieren" werden kann, zeigt ein Beispiel aus dem erwähnten Fachbereich. Dort bieten Vertreter verschiedener Fächer einen "Integrationsbereich Tourismus" an, der im Veranstaltungs-Kommentar wie ein eigenständiges Lehrgebiet präsentiert wird, obwohl kein Professor dieses Fachbereichs einen Lehrauftrag für "Tourismus" oder einen solchen hat, der dieses Lehrgebiet mit einschließen würde.

Aber ist die Nicht-Integriertheit der akademischen Lehre - ihre Additivität - wirklich ein solches Problem? Schließlich besteht unser Leben zu einem guten Teil darin, widersprüchliche Erfahrungen sinnvoll zu integrieren. Wir verhalten uns im privaten und öffentlichen Bereich nach den Regeln unterschiedlicher "Rollen", ohne daß wir allein dadurch unsere Identität verlieren. Studierende, die mit den Regeln eines akademischen Studiums nicht zurechtkommen und sich statt dessen eine pädagogisierte Form der Ausbildung wünschen, haben möglicherweise eine falsche Ausbildungsentscheidung getroffen. In der Tat ist nicht zu übersehen, daß dies für viele Studierende zuzutreffen scheint, die an den "Sachen" und deren Aufklärung gar nicht interessiert sind und eher instrumentelle Motive (Statusgewinn, gutes Einkommen) haben.

Eine Variante der veranstalteten Integration ist die "Integration von Theorie und Praxis", wie sie u. a. bei der schon erwähnten Vor- und Nachbereitung der Praktika

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angestrebt wird. Selbstverständlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn denjenigen, die demnächst z. B. ein Schulpraktikum ableisten, eine entsprechende Lehrveranstaltung angeboten wird zum Komplex Schule, Unterricht usw. Aber wie sollte die Nachbereitung gestaltet werden, außer daß die Studierenden eben normal studieren, nun aber auf dem Hintergrund einer neuen Erfahrung ("In meinem Praktikum habe ich aber erlebt ...")?

An einer Universität kann man nicht lernen, wie man Kinder unterrichtet, weil es dort aus gutem Grunde keine Kinder gibt. Wie an jedem sozialen Ort, so kann man an einer Universität zunächst einmal nur lernen, was man dort auch braucht. Das Praktikum ist ein Lernort eigener Art. Ist die Universität der Ort, an dem Sachverhalte historisch oder systematisch erarbeitet werden, so findet im Praktikum ein`Perspektivenwechsel hin zum pädagogischen Handeln statt. Je klarer dieser Perspektivenwechsel ins Bewußtsein dringen kann, um so produktiver kann er für die Studierenden werden. Alle Versuche einer "Integration" - z. B. durch "Betreuung" seitens der Hochschule in der Schule - kann dem nur im Wege stehen. Die beiden Lernorte sind objektiv, also mit wissenschaftlichem Anspruch nicht vermittelbar, - außer wiederum durch eine Art von pädagogischer Weltanschauung. Entweder muß man für die Betreuung der Praktika durch die Universität Spezialisten - z. B. abgeordnete Lehrer - einstellen, die dann aber - wie die Erfahrung gezeigt hat - geradezu notwendigerweise als fünfte Kolonie der Pädagogisierung wirken; oder aber die Professoren müßten selbst diese Aufgabe übernehmen. Das mag in Einzelfällen sinnvoll sein, wenn sie es selbst wünschen, z. B. weil sie die dabei möglichen Erfahrungen in ihre wissenschaftliche Arbeit einbeziehen können. Aber das darf nicht von allen erwartet werden, weil es nicht die Aufgabe von Universitätsprofessoren sein kann; denn sonst müßten die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu bei Berufungsverfahren mit eingefordert werden, - eine absurde Idee, wenn man daran denkt, wer dann nicht berufen würde.

In den Geisteswissenschaften ist jeder inhaltlich festgelegte "Studiengang" eine Pädagogisierung. Wie zu hören ist, überlegten Journalisten ob sie nicht einen entsprechenden Studiengang für ihren Beruf einrichten sollten. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen kann man davon nur abraten.

Mühelos lassen sich also die beiden Prämissen der Berufsorientierung und der Integration als sachfremd zurückweisen, und damit sind auch die legitimierenden Grundlagen für die Pädagogisierung der Geisteswissenschaften obsolet geworden. Damit leugne ich keineswegs, daß das geisteswissenschaftliche Studieren auch ein pädagogisches Phänomen ist, das sich schon aus dem Generationenverhältnis von Professoren und Studenten ergibt. Es ist ja nicht so, daß auf der einen Seite der Professor steht, niemandem und nichts verpflichtet als seiner "Sache", und auf der anderen Seite befinden sich die Studierenden, die nicht anderes im Sinn haben, als eben diese Sache aus dem Kopf ihres Professors in den eigenen zu transportieren. Die Beziehung zwischen beiden Partnern und zur Sache ist deshalb viel komplizierter, weil auf beiden Seiten unterschiedliche Erfahrungen`sich mit der Sache vermischen, deren Interpretation beeinflussen und so auf je individuelle Weise Sinn ergeben. Auch für das Studieren gilt, daß es sich wie jedes andere Lernen auf einen Erfahrungsaustausch stützt. Dies "verunreinigt" die Arbeit an der Sache nicht, sondern gibt ihr eine menschliche Dignität. Allerdings gilt das nur solange, wie

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Erfahrung als individuelles Phänomen verstanden und jede kollektive Typisierung vermieden wird.

Ich weiß nicht, ob mein Plädoyer für die Wiedereinführung des Studierens in den pädagogischen Studiengängen und damit in den Geisteswissenschaften überhaupt in absehbarer Zeit eine politische Chance hätte. Dennoch will ich kurz skizzieren, was ich damit meine. Nötig wäre ein radikaler Perspektivenwechsel: weg von der Reglementierung von Stundenzahlen und Lehrstoffen und hin zu den studierenden Subjekten. Das ist aber nur möglich, wenn man das Studium nicht von seinem Verlauf, sondern von seinem Ende her regelt, also aus der Perspektive der Abschluß- bzw. Zwischenprüfung. Was soll von jemanden an Vorleistungen (z. B. Scheine) erwartet werden, der sich zu einer bestimmten Prüfung melden will? Und welche Leistungen werden in der Prüfung selbst erwartet?

Die Vorleistung kann man in Gestalt von Scheinen objektivieren, die Anforderungen der mündlichen Prüfungen selbst sind nur durch Vereinbarung zwischen Kandidat und gewähltem Prüfer zu bestimmen, wobei es allgemeine Rahmenbedingungen für ein Fach geben kann und wohl auch sollte. Der Student studiert weitgehend nach eigener Verantwortung und rundet schließlich sein Studium nach rechtzeitiger Absprache mit dem Prüfer ab. Dieses Verfahren läßt sich auf mannigfache Weise gestalten, solange das studierende Subjekt dabei ernstgenommen wird. Dieser Perspektivenwechsel könnte auf eine einfache Weise erreicht werden: Die entsprechenden Vorschriften in den Prüfungs- und Studienordnungen müßten lediglich in Empfehlungen umgewandelt werden.

Nun kann man einwenden, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen der Reglementierung eine solche Individualisierung ebenfalls möglich sei und weitgehend auch praktiziert werde. Das ist zum Teil richtig. Da diese Reglementierungen aus mancherlei Gründen letzten Endes gar nicht durchgesetzt werden können, erweist sich das ganze zumindest teilweise als Papiertiger. Offiziell kann dies aber nicht zugegeben werden, so daß die Studierenden selbst darauf kommen müssen, daß sie damit auch subversiv umgehen können im Interesse der Individualisierung ihres Studiums. Obwohl die Reglementierung in der Sache hohler Schein ist, suggeriert sie, daß das Nicht-Studieren Aufgabe der Studenten sei. Das hat z. B. zur Folge, daß die für die geisteswissenschaftlichen Studien so wichtigen Lektüre-Arbeiten außerhalb der Lehrveranstaltungen zunehmend als Zumutung erlebt werden. Das Studieren wird schlicht dadurch vernichtet, daß wir es nicht mehr verlangen. Aber unsere Pädagogisierer werden auch das Lektüre-Problem lösen: Die Professoren lesen die Bücher, die sie für wichtig halten, einfach vor! Die Studenten und Studentinnen könnten dann Strickzeug, Babys und Haustiere mitbringen, und es wird so richtig gemütlich ... und außerdem kann man dabei eine Menge SWSt absitzen.

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166. Vermutungen über die Zukunft der Familie (1991)

(In: Pädagogik, H. 7-8/1991, S. 6-9)
 

Auf den ersten Blick scheint die Zukunft der Familie als Institution unsicher und fragwürdig zu sein. Jede dritte Ehe wird geschieden, über 100 000 Scheidungskinder gehen jährlich daraus hervor. Nach Schätzungen von Experten wird jedes zweite Kind nicht in der Familie erwachsen werden, in die es hineingeboren wurde. Die Zahl der Erwachsenen, die Kinder aufziehen, nimmt deutlich ab, die der Singles und der kinderlosen Paare nimmt zu. Immer weniger Kinder wachsen mit Geschwistern auf.

Veränderungen zeigen sich auch in den Familienformen. Der "Normalfall" der "Erstfamilie" - ein Paar heiratet und zieht gemeinsam gezeugte Kinder groß - gilt bis heute auch als normatives Maß. Davon abweichende Formen wie die Alleinerzieher-Familie und die Zweitfamilie bzw. Stieffamilie werden daran gemessen und als defizitär angesehen. Die Alleinerzieher-Familie entsteht aber heute überwiegend als Konsequenz aus Scheidungen, weniger wegen Tod eines Partners, das gilt entsprechend auch für Stieffamilien.

Andererseits hat das gerade in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz

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(KJHG), das das von 1922 stammende Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) abgelöst hat, die Familie in den Mittelpunkt seiner Hilfs- und Förderangebote gestellt. Die Maßnahmen und Angebote dieses Gesetzes sollen die Erziehungsfähigkeit der Familie stärken. Zugute kommen sollen diese pädagogischen Hilfen letztlich den Kindern und Jugendlichen, die sie benötigen, aber diese selbst sind nicht antragsberechtigt. Unterstützung können sie im Prinzip nur über ihre Familie erhalten.

Dieses Gesetz drückt also einen gewissen pädagogischen Optimismus im Hinblick auf die Familie aus, der im Widerspruch zu den bekannten Fakten zu stehen scheint. Dazu nun einige Thesen, wobei ich unter Familie alle Formen des auf Dauer angelegten Zusammenlebens von Erwachsenen und Kindern in einem gemeinsamen Haushalt verstehe.

Scheidungen: Ende der Familie?

Die hohe Zahl der Scheidungen kann man als Zeichen von "Zerrüttung" deuten, aber auch als Versuche der "Selbst-Reinigung". Oft sind solche Trennungen nicht nur für die erwachsenen Partner, sondern auch für die beteiligten Kinder zumindest mittelfristig vernünftiger als das Weiterleben in einem mehr oder weniger unerträglich gewordenen familiären Klima. Die andere Seite ist jedoch, daß die meisten Geschiedenen anschließend wieder eine Partnerschaft eingehen - sei es durch Heirat, durch unverheiratetes Zusammenleben oder durch eine Beziehung zu einem Partner, der weiterhin eine eigene Wohnung unterhält. Die offizielle Statistik erfaßt solche Beziehungen entweder gar nicht oder unzureichend. Scheidungen und Trennungen können also die Funktion einer Selbstreinigung von gescheiterten Ehen haben mit dem Ziel, wieder verläßliche und besser fundierte Beziehungen einzugehen. Insofern wäre die Scheidungsrate kein Indiz gegen das Fortbestehen der Institution Familie.

Zweitfamilien: Chancen für Kinder?

Dies deutet darauf hin, daß wir den Begriff Familie komplexer fassen müssen als bisher. Es führt nicht weiter, die in letzter Zeit in den Vordergrund gerückten Varianten Alleinerzieherfamilie und Stieffamilie als im Vergleich zur Erstfamilie von vornherein defizitär zu verstehen. Gerade unter pädagogischem Aspekt - also dem des Aufwachsens der Kinder - müssen wir nicht nur nach den typischen Grenzen dieser Familienformen fragen, sondern auch nach ihren besonderen Chancen (vgl. dazu ausführlicher: H. Giesecke: Die Zweitfamilie. Stuttgart 1987). Um nur zwei Beispiele zu nennen: In der Alleinerzieherfamilie ergeben sich besondere Chancen für das Selbständigwerden der Kinder, und in der Stieffamilie kann der Stiefelternteil eine allzu enge Bindung des Kindes an den leiblichen Elternteil verhindern. Anstatt also die einzelnen Familienformen als soziale Gemeinschaften pauschal zu klassifizieren, ob die eine nun per se für das Aufwachsen von Kindern geeigneter sei als eine andere, sollten wir herausfinden, was Kinder für ein befriedigendes Aufwachsen im Rahmen ihrer Familie wirklich brauchen.

Die Sachlichkeit der Liebe

Darüber nüchtern-sachlich nachzudenken fällt deshalb schwer, weil wir in einem viel zu hohen Maße emotional auf unsere Kinder fixiert sind; angetrieben von einer sehr "weiblich" beeinflußten öffentlichen Meinung neigen wir dazu, unser Leben um die Kinder herum zu organisieren, anstatt daß wir sie einfach "mitlaufen" lassen. Da zudem die Kinder heute dank der Pille zumeist "Wunschkinder" sind, hegen wir auch besonders hohe Erwartungen an sie. Jedenfalls hat sich gerade in unseren Mittelschichtfamilien ein neuartiger "Erziehungsdruck" breitgemacht, der nicht mehr mit Stock und Prügel und mit Drohungen operiert, sondern mit pausenloser "Zuwendung" und mit psychologischen Tricks zur Durchsetzung des elterlichen Willens. Um befriedigend aufwachsen zu können, brauchen Kinder aber etwas anderes: zum Beispiel

- soziale Zuverlässigkeit und Stabilität in ihrer Familie;

- einen autonomen Handlungsraum, der mit zunehmendem Alter entsprechend größer wird;

- Respekt vor ihren Gefühlen;

- Zuwendung, Anteilnahme, Unterstützung und Ermutigung.

Die künftigen Chancen der Familie werden wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, den Umgang mit Kindern zu versachlichen. Der amerikanische Arzt Richard Gardner hat in einem für Kinder geschriebenen Buch über Scheidungen Hinweise dafür gegeben, woran Kinder erkennen können, ob ihre Eltern - einzeln oder gemeinsam - sie wirklich "lieben": Demnach lieben Eltern ihre Kinder nicht, wenn sie die Familie verlassen, keinen Kontakt zum Kind aufnehmen, ihm bei seinen Problemen nicht helfen wollen, kein Interesse bei Krankheiten zeigen, sich nicht über Erfolge des Kindes freuen, auf ihr Kind nicht stolz sind, wenn sie nichts mit ihm unternehmen und wenn sie Berührungskontakte meiden.

Solche Versuche, erkennbare Indizien dafür zu finden, ob Eltern ihre Kinder "lieben", sind gewiß nicht unproblematisch, aber sie verweisen auf Verhaltensdimensionen, die praktikabel sind und im Prinzip von jedem Erwachsenen erwartet werden können, bei dem Kinder aufwachsen.
 

Familie: Ort für Erwachsene?

Die Familie wird nur in dem Maße eine Zukunft haben, wie sie fundamentale menschliche Bedürfnisse befriedigen kann, die an anderen sozialen Orten in der Gesellschaft so nicht befriedigt werden können. Das gilt in erster Linie für die Erwachsenen; denn sie gründen Familien, nicht die Kinder. Kinder können im Prinzip ohne Familie aufwachsen, d.h. sie würden auch weiterhin geboren werden und dann irgendwie auch ohne den sozialen Rahmen einer Familie groß werden. Selbst wenn in unserem Lande zu wenig Kinder geboren würden, als daß von ihnen in der Generationenfolge die Renten für die Älteren gesichert werden könnten, ergäbe sich daraus nicht die zwingende Notwendigkeit, weiter in Familien zu leben. Nach aller historischen Erfahrung würden in diese Lücke kinderreiche Familien aus ärmeren Gebieten strömen. Theoretisch könnten wir auch außerhalb unseres Landes gebären und aufziehen "lassen". Natürlich sind das sehr theoretische Hypothesen; sie zeigen aber, daß es die Erwachsenen sind, die wichtige Motive dafür haben, eine Familie zu gründen. Ein früher so bedeutsames Motiv wie das der "Versorgung" ist in den Hintergrund getreten. Aber es gibt so etwas wie das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Geborgenheit, das unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft so nur in einer solchen Basis-Sozialität zu befriedigen ist. Nirgends sonst in der Gesellschaft haben wir die Chance, in unserer vollen Menschlichkeit, in unserer Ganzheit akzeptiert zu werden. In allen anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen werden wir nur partikular akzeptiert und gebraucht, nämlich im Rahmen von "Rol-

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len". Für die Befriedigung dieses sozialen Grundbedürfnisses reicht auch die kinderlose Zweier-Beziehung auf Dauer nicht aus. Sie weist nicht über sich hinaus, z. B. auf verwandtschaftliche Vernetzungen; löst sie sich auf, bleibt nur die Herkunftsfamilie übrig. Da aber normalerweise Eltern eher sterben als ihre Kinder, ist das Ende familiärer Vernetzungen in solchen Fällen absehbar.

Ein weiteres zur Familie drängendes Motiv könnte sein, daß das Zusammenleben mit Kindern tiefgehende und einzigartige menschliche Erfahrungen ermöglicht, die sonst nicht gemacht werden könnten.

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Familie: die Rentenzahler?

Fraglich bleiben muß jedoch, inwieweit Motive, die zur Familiengründung drängen, nicht verdrängt werden durch die immer offenkundiger werdende sozialpolitische Ausbeutung der Familie. Früher war Kinderreichtum eine unerläßliche Voraussetzung für die spätere Versorgung im Alter. Erst die moderne Sozialversicherung hat diesen persönlichen Zusammenhang aufgelöst und an deren Stelle ein abstraktes Beitrags- und Anspruchssystem eingeführt. Die Konsequenzen dieser revolutionären Veränderung konnten so lange verdeckt bleiben, wie schon aus biologisch-natürlichen Gründen Kinder in allen Schichten der Bevölkerung geboren wurden, die Belastungen durch das Aufwachsen von Kindern also einigermaßen "gerecht" verteilt blieben. Die modernen Methoden der Geburtenregelung haben jedoch dazu geführt, daß ein immer kleiner werdender Teil der Bevölkerung diese Belastungen zugunsten der anderen auf sich nimmt. Wir stehen deshalb vor einem historisch neuen sozialpolitischen Verteilungskampf zwischen denen, die Kinder aufziehen, und denen, die dies nicht tun. Da aber unbestreitbar ist, daß es von der Arbeitsproduktivität der jeweils nachwachsenden Generation abhängt,`ob und wie die aus dem Arbeitsprozeß ausscheidende Generation versorgt werden kann, finanzieren letztlich diejenigen, die Kinder aufziehen, die künftigen Renten der anderen mit. Hier handelt es sich um Größenordnungen, die nicht mit ein paar Steuererleichterungen zu korrigieren sind, sondern nur durch einschneidende Umverteilungen. Nach Berechnungen, die in diesem Zusammenhang angestellt wurden, müßten diejenigen, die keine Kinder aufziehen, etwa 30 % ihres Einkommens in die Rentenkasse zahlen. Wer zwei Kinder aufzieht, erleidet im Verlauf seines Lebens einen Einkommensverlust von etwa einer halben Million Mark. Daß diese Tatsachen bisher nicht zum Politikum wurden, liegt wohl vor allem daran, daß sie außerhalb von Expertenkreisen kaum bekannt geworden sind.

Die notwendigen öffentlichen Alternativen

Die unübersehbare Ausbeutung der Familie durch den Staat, die eindringlich erfahren werden kann, wenn die Kinder bis weit ins Erwachsenenalter hinein studieren, verweist jedoch auf das generelle Problem des Verhältnisses von familiär-privater und öffentlicher Erziehung. Das erwähnte KJHG ist familienzentriert. Die Lebenserfahrung zeigt uns jedoch, daß es zur inneren Stabilisierung einer Familie nicht selten zweckmäßig sein kann, vor allem heranwachsenden Kindern zeitweilig oder dauerhaft eine öffentliche Alternative anzubieten. Das hat es in Form von Internaten immer schon gegeben, aber warum soll es diese Entlastung auch künftig nur für diejenigen geben, die es sich finanziell leisten können? Es gibt heute eine Reihe von Familienkrisen, die leicht dadurch zu entschärfen wären, daß Kindern eine nicht diskriminierende Möglichkeit gegeben wird, eine Weile zu ihren Eltern in eine räumliche Distanz zu treten, ohne daß dabei gleich rechtliche Konsequenzen z. B. hinsichtlich des Sorgerechts entstehen müssen. Oder denken wir an die Konflikte, die sehr häufig dadurch entstehen, daß Jugendliche sich von ihren Eltern ablösen, schon eine eigene Partnerbeziehung gestalten wollen, aber weiterhin auf engem Wohnraum aus finanziellen Gründen mit ihren Eltern zusammenleben müssen.

Und wenn Kinder von zu Hause fort wollen, weil sie es dort nicht mehr aushalten? Wieso dürfen Eltern sich scheiden lassen und dabei um ihre Kinder streiten, als seien sie deren Eigentum, und warum sollen sich umgekehrt nicht auch Kinder von ihren Eltern "trennen" dürfen - durchaus unter Offenhaltung der Möglichkeit einer späteren "Versöhnung"?

Das KJHG sieht eine solche Möglichkeit unter dem Begriff der "Inobhutnahme" durchaus vor. Und ein Jugendlicher, der für einen solchen Schritt gute Gründe anführen kann, kann heute mit einiger Aussicht auf Erfolg durchsetzen, nicht mehr zu Hause wohnen zu müssen. Am bekanntesten in der Öffentlichkeit sind sogenannte "Mädchenhäuser" geworden, in denen körperlich und vor allem sexuell mißhandelte Mädchen Aufnahme finden können. Aber wir werden uns wohl an den Gedanken gewöhnen müssen, daß sozialpädagogisch betreute "Kinder"- bzw. "Jugendhäuser" an Bedeutung gewinnen werden und müssen - und zwar gerade, um Familien zu stabilisieren.

Wenn also die Stärkung der Familie ernsthaft als wichtiges politisches Ziel gelten soll, dann muß es in Zukunft - neben der Lösung des erwähnten Problems der sozialpolitischen Umverteilung - auch attraktive öffentliche Alternativen für das Aufwachsen von Kindern geben, und der schlimmste Feind dieses politischen Ziels wäre eine bornierte Familienideologie.

Heimat jenseits der Idylle

Die künftige Familie wird nämlich voraussichtlich wenig mit der Familienidylle zu tun haben, wie sie noch nach dem Zweiten Weltkrieg die Regel war: Obligatorischer gemeinsamer Sonntagsspaziergang, gemeinsamer Urlaub auch noch mit Heranwachsenden, klare Autoritätsverhältnisse usw. Nur wenn die Familie die schon früh bei den Kindern einsetzenden Individualisierungsprozesse nicht nur aushalten, sondern auch fördern kann, wenn keine dem widersprechenden Fixierungen stattfinden, wenn toleriert wird, daß Kinder schon früh eigene Freizeitinteressen entfalten, die mit denen der Eltern nicht übereinstimmen, wird die Familie das Grundbedürfnis nach langfristiger sozialer Geborgenheit befriedigen können. Ich habe das an anderer Stelle mit dem Begriff des "sozialen Heimathafens" umschrieben: Die Familienmitglieder schwärmen tagsüber aus - in die Schule, an den Arbeitsplatz, in die Freizeitbeschäftigung - und irgendwann kommen sie wieder zurück, und das wichtigste Indiz für ein befriedigendes Familienleben ist, ob alle wieder gern "nach Hause kommen".

Fazit: Ich glaube, daß die menschliche Gemeinschaft, die wir Familie nennen, die schon so oft totgesagt wurde, auch den gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel - wenn auch mit erheblichen strukturellen Veränderungen - überstehen wird; vielleicht wird sie in einer Übergangszeit zu einer Sache von Minderheiten, und vielleicht werden viele Menschen im Laufe ihres Lebens in mehr als einer Familie zu Hause sein. Aber für die Befriedigung der erwähnten menschlichen Grundbedürfnisse gibt es keine erkennbare Alternative.

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