Hermann Giesecke

Didaktik der politischen Bildung

Neue Ausgabe (München: Juventa-Verlag, 10. Aufl.  1976)
 

Teil II: DIDAKTISCHE KONSTRUKTION

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis
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Zu dieser Edition:

Meine Didaktik der politischen Bildung erschien 1965. In der 3. Aufl. 1968 wurden sieben kritische Stellungnahmen zu diesem Buch ausführlich abgedruckt. Auf diese und andere Einwände habe ich am Schluß des Buches mit einer  "Kritik der Kritik" geantwortet.
Der Text der Originalfassung wurde mit der 7. Aufl. 1972 grundlegend verändert. Die auf dieser "Neuausgabe"  basierende, hier wiedergegebene 10. Aufl. 1976 entspricht der 7. Auflage 1972, wurde aber ergänzt durch einen  Nachtrag, der in wesentlichen Punkten die Diskussion zwischen  1972 und 1976 aufgreift. Der Text ist vollständig wiedergegeben, es fehlen lediglich 2 der Arbeit vorausgeschickte Motti und das Sachregister.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Über den damaligen politisch-pädagogischen und persönlichen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.
© Hermann Giesecke

Inhalt

ZWEITER TEIL: DIDAKTISCHE KONSTRUKTION
Die politische Bildung im Demokratisierungsprozeß
Grundgesetz und Mitbestimmung
Richtlinien und Lehrpläne
Die Lernziele des politischen Unterrichts
[Teilziel I: Analyse aktueller Konflikte - Teilziel II: Training systematischer gesamtgesellschaftlicher Vorstellungen - Teilziel III: Historisches Bewußtsein - Teilziel IV: Training selbständiger Informationsermittlung und Informationsverarbeitung - Teilziel V: Training praktischer Handlungsformen - Zusammenfassung ]
Aktionswissen und Kategorien der Konflikt-Analyse
Aktionswissen und Lernziele
Entwurf eines didaktischen Modells
[Die Umwandlung der Kategorien in Grundeinsichten - Der didaktische Aufbau des politischen Unterrichts ]
Objektive und subjektive Konflikte
Kategorien und Parteilichkeit
[Exkurs über "Klassenbewußtsein" ]
Folgerungen für die Methodik des politischen Unterrichts
Politische Bildung und unmittelbare politische Praxis
Politische Bildung als Korrektur der politischen Sozialisation


 

ZWEITER TEIL: DIDAKTISCHE KONSTRUKTION
Die politische Bildung im Demokratisierungsprozeß
Die bisherige Erörterung der "Grundsatz-Diskussion" und einiger vorliegender didaktischer Modelle hat bereits klarwerden lassen, daß Didaktik des politischen Unterrichts selbst ein politisches Thema ist, das zuvor einer politisch-historischen Ortsbestimmung bedarf. Wenn dazu überhaupt noch ein Beweis nötig war, so hat ihn die leidenschaftliche Diskussion der letzten Jahre geliefert - etwa über die Frage, ob die politische Bildung nicht nur den gesellschaftlichen Status quo und damit auch die historisch überkommene Verteilung von Macht und Ohnmacht, Reichtum und Armut mit pädagogischen Mitteln reproduzieren könne. Insbesondere die kritischen Beiträge der "Frankfurter Schule« (z. B. Habermas und Negt) haben gezeigt, daß eine inhaltliche Bestimmung des Demokratisierungsprozesses nötig ist, um auch die Grundlage des politischen Unterrichts zu klären.

Die Überlegungen der Autoren der "Frankfurter Schule", wie sie etwas ausführlicher schon am Beispiel des Textes von Habermas referiert wurden, sollen auch für das Folgende als Grundlage dienen.

Darin kommt nicht einfach eine Vorliebe für diese wissenschaftliche Position zum Ausdruck, sondern die Einsicht, daß keine politische Didaktik hinter diese Position mehr zurückgehen kann, will sie sich nicht dem Vorwurf der willkürlichen Handhabung theoretischer Prämissen aussetzen. Didaktische Theorien wie alle anderen auf gesellschaftliche Praxis bezogenen Theorien haben sich vielmehr am jeweils fortgeschrittensten wissenschaftlichen Diskussionsstand zu orientieren, denn ihre Aufgabe besteht ja in erster Linie darin, die Differenz zwischen dem Fortschritt des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes und dem praktischen Bewußtsein möglichst klein zu halten. Meine Option für die "kritische Theorie" impliziert jedoch keineswegs eine Absage an andere wissenschaftstheoretische Positionen wie den "Positivismus" oder den "kritischen

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Rationalismus". Es handelt sich hier nicht um ein weltanschauliches Entweder-Oder, sondern um die Unterscheidung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche und methodischer Reichweiten. Der Gegenstand der "kritischen Theorie" etwa, die Totalität der Gesellschaft in historischer Dimension, wird in den anderen beiden genannten Positionen gar nicht in dieser Weise zum Thema, andererseits wird jemand, der empirisch forscht, zumindest über weite Strecken zu positivistischen Annahmen gezwungen. Das Problem liegt also nicht darin, für welche wissenschaftstheoretische Position man sich entscheiden will, sondern darin, wie man diese Positionen und ihre Ergebnisse in einem für die gesellschaftliche Praxis produktiven Zusammenhang integrieren kann.

An dieser Stelle dient uns die "kritische Theorie" dazu, die Rolle und Aufgabe der politischen Bildung in einem inhaltlich verstandenen Demokratisierungsprozeß näher zu bestimmen.

Demnach ist die neuere Geschichte - setzt man einmal die Französische Revolution als ihr Anfangsdatum - vornehmlich als ein Prozeß zu verstehen, in dem Klassen und Gruppen um ihre politische Emanzipation, also um Freiheit von denjenigen, die über ihr Schicksal einseitig verfügen können, gegen andere Klassen und Gruppen kämpfen. Nun ist dies ursprünglich allerdings keine Auseinandersetzung, die - wie meist heute - als "Interessenkonflikt" angesehen wurde, wobei die Kontrahenten als formal gleichberechtigt gelten und einen Kompromiß anstreben sollen. Vielmehr ging es immer auch um die Gesellschaft als Ganzes, um die gesellschaftliche Totalität. Als das Bürgertum gegen die feudalistische Tradition in seinem Emanzipationskampf den Parlamentarismus und den freien Markt durchsetzte, verwandelte es - zunächst prinzipiell, dann auch Stück für Stück tatsächlich - das "feudale Gesellschaftssystem" in ein "kapitalistisches System". Und als die marxistisch orientierte Arbeiterbewegung sich formierte, ging es nicht nur um Verbesserungen innerhalb des kapitalistischen Systems (wie mehr Freizeit und höhe-

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ren Lebensstandard), sondern prinzipiell auch um die Ablösung des Kapitalismus durch das sozialistische System. Dabei stellte die marxistische Arbeiterbewegung den Bezug zwischen ihrem partiellen Klassen-Interesse und der gesellschaftlichen Totalität durch die ökonomischen Grundkategorien Markt, Mehrwert und Arbeitsverhältnis her. Die theoretische Entdeckung von Marx und die unmittelbare Erfahrung der Arbeiter bestand in der Einsicht, daß von allen denkbaren Abhängigkeiten, denen Menschen durch andere unterworfen sind, die ökonomischen Abhängigkeiten nicht nur an sich die wichtigsten sind, sondern auch alle anderen mit hervorrufen oder zumindest inhaltlich bestimmen. Die Abhängigkeit der Frau vom Manne konnte so ebenso aus dem ökonomischen Charakter ihrer Beziehungen abgeleitet werden wie die zwischen Arbeiter und Unternehmer unmittelbar. Die Quintessenz dieser Überlegungen war, daß das kapitalistische Produktionssystem, charakterisiert durch die Verfügung über Produktionsmittel einerseits und durch die Verfügung über die bloße Arbeitskraft andererseits, keine wirkliche Emanzipation - sei es der Arbeiter, Frauen oder Kinder - zulassen könne, weil es bei Strafe seiner Existenz gezwungen sei, die wirklichen Bedürfnisse der Menschen zu unterdrücken, nämlich die nach gemeinsamer und planmäßiger Entwicklung des gesellschaftlichen Systems zum Wohle aller.

Ein weiteres wichtiges Moment der Marxschen Theorie ist, daß das "Gemeinwohl", also das Wohl der gesellschaftlichen Totalität, in bestimmten historischen Phasen mit den Interessen einer bestimmten Klasse im dialektischen Sinne identisch ist, daß es also weder den Klasseninteressen übergeordnet ist (repräsentiert etwa durch den Staat), noch auch sich etwa durch die Interaktionen und Kämpfe der Klassen, Gruppen und Individuen als mechanische Resultante ergibt. Etwas vereinfacht ausgedrückt heißt das: Zunächst - etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - war das Klasseninteresse der Bourgeoisie mit dem Gemeinwohl identisch; denn dieses Interesse brachte die wirt-

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schaftlichen und technischen Voraussetzungen zustande, die später, im sozialistischen System, zum gleichberechtigten Nutzen aller verwendet werden sollten. Aber eben diesen Sprung, nämlich die Übertragung der im Vergleich zu früher gigantischen wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten aus der privaten Aneignung in gesamtgesellschaftlichen Nutzen und Kontrolle, vermochte das bürgerlich-kapitalistische Interesse nicht zu vollziehen. Im Gegenteil wurde schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland die ursprüngliche Idee des freien Wettbewerbs unter anderem durch Kartell-Bildungen und Marktabsprachen eingeschränkt, um den Status quo der produzierenden Kapitalisten nicht durch eine weitere Entwicklung der Produktionsmittel zu gefährden. Deshalb mußte das partikulare Interesse derjenigen Klasse mit dem Gemeinwohl identisch werden, dem die nun notwendige Sozialisierung der Produktionsmittel nicht widersprach, die andererseits aber als lohnabhängige Klasse unter dem Kapitalismus besonders zu leiden hatte: der Arbeiterklasse.

Folgt man dieser hier nur knapp skizzierten Argumentation, so wäre der inhaltliche Begriff der "Demokratisierung", wie er für den politischen Unterricht zu gelten hätte, verhältnismäßig klar: Die einzig richtige politische Bildung bestünde auch für die politisch aufzuklärenden Nicht-Arbeiter darin, das Arbeiterinteresse gegen das kapitalistische System durchzusetzen und das zu lehren und zu lernen, was dafür nötig ist.

In der Tat ist die marxistische Theorie des gesellschaftlichen Prozesses einschließlich der Weiterentwicklung, die sie z. B. durch die "Frankfurter Schule" erfahren hat, die einzige gesamtgesellschaftliche Theorie geblieben, die allerdings auch in wesentlichen Punkten in sich kontrovers ist. H. Marcuse z. B. hält nicht mehr die Arbeiter, sondern die Intellektuellen für diejenige Gruppe, die am ehesten in der Lage ist, das kapitalistische System zu beseitigen. Strittig ist auch, ob die Herrschaft einiger über die Produktionsmittel noch jene Bedeutung hat, die Marx einmal annahm, und ob man aus diesem Tatbestand alle anderen

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menschlichen Abhängigkeiten hinreichend plausibel erklären kann. Strittig ist ferner, ob die Arbeit, so wie sie Marx verstand, nämlich als Typus der industriellen Arbeit, noch eine so große Bedeutung für die menschliche Selbstdefinition hat, oder ob man hier nicht wie Habermas in einem sehr viel weiteren Sinne von Kommunikation als der entscheidenden anthropologisch-historischen Kategorie sprechen sollte (vgl. Habermas/Luhmann 1971a).

Die Richtigkeit der Marxschen Theorien zu entscheiden ist hier aber weder der Ort noch auch nötig. Hier geht es vielmehr um folgende Überlegung: Für die didaktische Grundlegung der politischen Bildung ist eine inhaltliche Vorstellung über den neuzeitlichen Demokratisierungsprozeß nötig; sie kann nur erwachsen im Rahmen einer historisch verstandenen gesamtgesellschaftlichen Theorie; die Theorien, die es dafür gibt, sind allesamt Variationen des ursprünglichen Marxschen Ansatzes. Gerade weil aber diese Theorie eine historische und nicht etwa eine übergeschichtlich-systematische ist, taugt sie nicht für ein für allemal gültige Deduktionen; nur weil sie vielmehr eine historisch-materielle Theorie ist, kann sie auch als gesamtgesellschaftliche Theorie sich konstituieren, d. h. aber eben auch als eine, die im weiteren geschichtlichen Prozeß ständig neu, z.B. auf dem Hintergrund der einzelwissenschaftlichen Forschungen, bearbeitet werden muß. Würde man sie jedoch - was vielfach heute geschieht - als zwar historisch entstandenes, gleichwohl aber inhaltlich der historischen Relativierung enthobenes System von Sätzen betrachten, aus denen die theoretischen Grundlagen der gegenwärtigen politischen Didaktik lediglich deduziert zu werden brauchten, so würde sie die inhaltliche Frage der weiteren Demokratisierung - zur unwissenschaftlichen Weltanschauung heruntergekommen - nicht erhellen, sondern nur weiter verschleiern.

Die Frage der Inhaltlichkeit des Demokratisierungsprozesses muß also selbst auch weiterhin Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion und Bearbeitung bleiben und ist keineswegs ein für allemal beantwortet. Das wiederum

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kann nicht heißen, daß diese Frage heute beliebig, gleichsam so, als ob sie noch gar nicht stringent bearbeitet worden wäre, diskutiert werden könnte. Zu dem hier vertretenen Wissenschaftsverständnis gehört vielmehr auch die Notwendigkeit der theoretischen Arbeit im Rahmen des bereits erreichten historischen Bewußtseins. Die weitere Bearbeitung der gesamtgesellschaftlichen Theorie muß demnach erfolgen in der Auseinandersetzung mit den vorliegenden marxistischen Variationen.

Wie bedeutsam in unserem Zusammenhang die historische Dimension einer gesamtgesellschaftlichen Theorie ist, zeigt sich im Vergleich mit einer anderen soziologischen Theorie, die zwar auch die gesellschaftliche Totalität im Auge hat, die historische Dimension jedoch als unwesentlich außer Betracht läßt. Es handelt sich um die sogenannte funktionale Theorie der Gesellschaft, wie sie vor allem von dem amerikanischen Soziologen T. Parsons entwickelt wurde. Ihr Interesse richtet sich auf die Gesamtgesellschaft, insofern diese aus einem System von Funktionen besteht, die einander ergänzen, neutralisieren oder stören können. Diese Theorie betrachtet z. B. die politische Bildung nicht primär unter dem Gesichtspunkt, ob sie der politischen Emanzipation der Jugendlichen dient - strenggenommen kann sie gar keine Theorie der Emanzipation formulieren - , sondern z. B. darauf hin, ob diese politische Bildung im Widerspruch zu anderen gesellschaftlichen Funktionen steht, z. B. zu der tatsächlichen Arbeitsorganisation oder zu bürokratischen Strukturen. Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung, oder in ihrer eigenen Terminologie: Funktionalität und Dysfunktionalität in der Wechselwirkung solcher Funktionen zu entdecken, ist ihr eigentliches Erkenntnis-Interesse. Dabei schwingt immer die Absicht mit - wenn auch oft nicht eingestanden - , Dysfunktionen als Störungsquellen, als eine Art von "Reibungsverlust" zu betrachten und möglichst auszuschalten. Historische Prozesse - vor allem insofern sie sich in den Köpfen der Menschen als Bewußtsein niedergeschlagen haben - werden zwar berücksichtigt, aber ebenfalls nur,

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insofern sie funktional störend oder nichtstörend sind. Werden aus dieser Art von "gesamtgesellschaftlicher Theorie" Ziele für die politische Bildung abgeleitet, so können sie sich folgerichtig in erster Linie nur erstrecken auf Verhaltensweisen, die später möglichst funktionales und möglichst nicht dysfunktionales Verhalten garantieren. Daß derartige Ziele zwar an sich einleuchtend, aber keine spezifisch demokratischen sind, hat Habermas in dem von uns referierten Text bereits überzeugend nachgewiesen.

Auch die funktionale Theorie bringt uns in unseren Überlegungen also nicht weiter, obwohl sie in Verbindung zur gesamtgesellschaftlichen Theorie eine wichtige Ergänzung darstellt. Da auch die marxistische Theorie schon wegen ihrer inneren Kontroversen nicht einfach als unbestreitbarer Ausgangspunkt für unsere Überlegungen genommen werden kann, scheint es nützlich, die historische Ableitung eine Ebene tiefer anzusetzen, und zwar so, daß präzisere inhaltliche Feststellungen nicht ausgeschlossen, aber eben auch nicht vorweggenommen werden. Unbestreitbar dürfte demnach sein, daß die Geschichte etwa seit der Französischen Revolution auch von "bürgerlichen" Historikern als eine Geschichte von Emanzipationskämpfen beschrieben wird: des Bürgertums, der Arbeiter, der Frauen und - wenn man so will - schließlich auch der Kinder und Jugendlichen. Immer ging es dabei darum, überlieferte Abhängigkeiten, Benachteiligungen, Unterprivilegierungen, Unterdrückungen und Ausbeutungen zu beenden zugunsten individueller Selbstbestimmung und kollektiver Mitbestimmung. Unbestreitbar ist ferner, daß dabei die ökonomischen Formen und Dimensionen solcher Abhängigkeiten eine überragende Rolle spielen, und zwar nicht nur im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch von Mann und Frau, Kind und Eltern, Fürsorgefällen und Behörden usw. In allen Fällen von Abhängigkeiten, deren unterschiedliche Bedeutung und Qualität hier nicht zur Debatte stehen sollen, ist offensichtlich eine maximale ökonomische Unabhängigkeit ein Hauptziel aller Emanzipationsbestrebungen.

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Die historische Inhaltlichkeit von Emanzipationsprozessen materialisiert sich also in solchen Emanzipationskämpfen, zu denen die klassischen Klassenkämpfe gehören, und relativiert sich zugleich in ihnen; ob z. B. die Stoßrichtung des Emanzipationskampfes der Arbeiter heute noch die gleiche ist wie vor hundert Jahren, ist nicht sicher, sondern muß selbst - z. B. auch im politischen Unterricht - überprüft werden. Die politischen Verfassungen der Bundesrepublik, über deren Bedeutung für die politische Bildung später noch zu sprechen sein wird, stehen also im Kontext dieses historischen Emanzipationsprozesses, den sie einerseits aufgreifen und andererseits - eingeschränkt durch bestimmte Regeln - in die Zukunft verlängern.

Es geht aber nicht nur um solche Fragen, die die Verfassung angehen, also um die im engeren Sinne politischen. Hinzu kommt vielmehr noch das, was Karl Mannheim (1952;1958) die "Fundamentaldemokratisierung" genannt hat: die Demokratisierung aller menschlichen Beziehungen, was immer das, z. B. im Eltern-Kind-Verhältnis, im einzelnen auch konkret heißen mag. Auch und gerade die im Begriff der "Erziehung" implizierten Herrschaftsverhältnisse werden diesem Anspruch unterworfen: Was davon ist notwendig wegen der durch die Konstitution des Kindes gegebenen "Unmündigkeit", was davon ist aber der mehr oder weniger gut kaschierte Anspruch, mit den Mitteln der Erziehung den Heranwachsenden so früh wie möglich fremden Interessen dienstbar zu machen?

Fundiert und konkretisiert man nun die politische Bildung im Rahmen eines so verstandenen historischen Kontextes von Emanzipation, so folgt daraus unausweichlich ihre politische Parteilichkeit. Wie die vorangehenden Kapitel zeigen, hat man lange versucht, dieser Konsequenz z. B. dadurch auszuweichen, daß man jeden Heranwachsenden als grundsätzlich gleichen "Staatsbürger" ansah, oder auch dadurch, daß man reale politische Konflikte eben wegen der Furcht vor Parteilichkeit überhaupt aus dem Unterricht ausklammern wollte. Wird jedoch die demokratische Inhaltlichkeit des historischen Emanzipationsprozesses

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ernstgenommen, so ist politische Bildung nicht neutral, sondern selbst ein Stück eigentümlicher politischer Tätigkeit: sie ist für die Interessen des Lehrlings, des Arbeiters, des "Sozialfalles", des Jugendlichen, und somit folgerichtig gegen die Interessen des Meisters, des Unternehmers, der Fürsorgebehörde, der Schulbehörde usw., allgemeiner: sie ist für die Interessen und Bedürfnisse des jeweils Schwächeren, Ärmeren, Unterprivilegierten. Man kann dies jedoch heute nicht aussprechen, ohne sogleich hinzuzufügen, daß dies weder "Revolution" heißt - dazu taugt Pädagogik sowieso nicht - noch Randalieren, noch hysterische Aktivität nach außen und schon gar nicht das Indoktrinieren politischer Phrasen. Es heißt zunächst vielmehr nur, daß bei jedem denkbaren politischen Thema der Schüler je nach seinem sozio-ökonomischen Status ein spezifisches Interesse an diesem Thema haben muß, daß Didaktik und Methodik dies einkalkulieren müssen und daß es ohnehin eine der schwierigsten Aufgaben politischer Bildung ist, solchen Interessen-Aspekten zur Entdeckung zu verhelfen. Bei Licht besehen waren die traditionellen Konzepte des politischen Unterrichts ja auch nur scheinbar politisch neutral. Eine ideologiekritische Analyse würde mühelos erweisen, daß sie objektiv nur für die jeweils "andere Seite" parteilich waren. Schon die Vorform des politischen Unterrichts, der Geschichtsunterricht, hatte - mit nicht unwesentlichen Resten bis in die Gegenwart hinein - die Funktion, die bereits ihrer naiven Selbstverständlichkeit beraubten konservativen Privilegien mit pädagogischen Mitteln zu stabilisieren oder wenigstens zu verlängern. Für den politischen Unterricht im engeren Sinne läßt sich dieser Zusammenhang ebenso nachweisen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn der historische Demokratisierungsprozeß ist ja nicht gradlinig verlaufen, sondern hat massive - und in den Zeiten des Faschismus barbarische - Gegner gefunden, und auch heute darf man sich nicht wundern, daß ein Konzept der politischen Bildung wie das hier vertretene politischen Widerstand bei denjenigen findet, gegen die es sich letzten Endes ja auch richtet. Auf dem formalen

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Boden unserer Verfassung können Gruppen, Parteien und Verbände operieren, die zwar nicht verfassungsfeindlich sind, die aber andererseits aufgrund ihrer objektiven Interessen - oder was sie dafür halten - gegen einen Fortschritt an Demokratisierung verbal oder durch Maßnahmen optieren können.

Aus dem bisher Gesagten läßt sich ein erstes allgemeines Lernziel der politischen Bildung ableiten: Wenn es politisch darum gehen muß, den historischen Prozeß der Demokratisierung in die Zukunft zu verlängern, so müssen unter pädagogischem Aspekt solche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten gelernt werden, die dazu befähigen; und das sind vor allem solche, die vergleichsweise unterprivilegierte Gruppen zur Erkenntnis und Durchsetzung ihrer Interessen benötigen. Ob jedoch solche Lernprozesse im Sinne von Oskar Negt irgendwann zur Entdeckung der "wahren" Bedürfnisse führen und somit zur Überwindung des kapitalistischen Systems, ist sicher zweifelhaft, könnte aber anders auch nicht unmittelbar intendiert werden.
 

Grundgesetz und Mitbestimmung

Die eben abgeleitete grundsätzliche "Parteilichkeit" des politischen Unterrichts könnte zu der Schlußfolgerung veranlassen, daß die unterschiedliche Interessenlage und sozioökonomische Ausgangsposition eigentlich nur eine "klassenspezifische" politische Bildung nahelege und für eine gemeinsame politische Unterrichtung der ja aus verschiedenen Schichten und Klassen kommenden Kinder keine Basis in der Schule mehr abgebe. Eine solche Schlußfolgerung wäre aus folgenden Gründen unrichtig:

Erstens existieren die verschiedenen Klassen und Schichten nicht isoliert voneinander, sondern ihre materiellen und ideellen Lebensbedingungen sind aufs engste miteinander im Rahmen der gesellschaftlichen Totalität verbunden. Gerade die gesamtgesellschaftliche Theorie beschreibt diesen

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Zusammenhang nicht nur formal, sondern auch historisch-inhaltlich.

Diese gesamtgesellschaftliche Verbundenheit stellt sich zweitens nicht nur dar als theoretisches Bewußtsein, nicht nur als realer soziologischer Funktionszusammenhang, sondern auch als eine bestimmte politische Verfaßtheit des gemeinsamen Lebens, also in der Form einer bestimmten staatlichen Ordnung und Regelung. Nur in ihrem Rahmen kann sich Fortschritt an Demokratisierung konkretisieren, überhaupt in kalkulierbare und zielstrebige politische Arbeit umgesetzt werden.

Die vorhin begründete politische Parteilichkeit des politischen Unterrichts bleibt also gebunden an diejenigen politischen Konventionen und Regeln, die eine den partikularen Interessen gemeinsame Politik und politische Pädagogik überhaupt erst konstituieren können. Und nur unter wirklich revolutionären Bedingungen müßte sich die Bindung des emanzipatorischen politischen Kampfes an die politische Verfaßtheit lösen.

Die politischen Konventionen, die diese politische Verfaßtheit ausmachen, sind bei uns die Verfassungen der Länder und des Bundes. Wir konzentrieren uns im folgenden zur weiteren Klärung der Probleme auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Das Grundgesetz steht selbst im Kontext des vorhin beschriebenen historischen Demokratisierungsprozesses. Es ist zu verstehen als Ausdruck eines langfristigen historischen Emanzipations- und Demokratisierungsprozesses, dessen Ergebnisse im Grundgesetz teils fixiert sind (z. B. die Grundrechte), teils als einzulösende Versprechungen noch ihrer kündigen Realisierung harren (z. B. Chancengleichheit). Daraus ergibt sich ganz allgemein die Aufgabe, die für die entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen notwendige Aktivität zu entwickeln, an der weiteren Demokratisierung der staatlichen, gesellschaftlichen und insbesondere auch pädagogischen Institutionen mitzuwirken und die eigenen Interessen in diesem Prozeß zu erkennen und durchzusetzen. Nun gelten die Bestimmungen des

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Grundgesetzes für ganz unterschiedliche klassen- und schichtspezifische Voraussetzungen innerhalb der Bevölkerung und somit auch für ganz unterschiedliche Motivationen und Interessen. Vereinfacht ausgedrückt: In vielen Fragen erlaubt das Grundgesetz die Verteidigung des Status quo ebenso wie dessen Veränderung, weil tatsächlich eben nicht alle Menschen die vom Grundgesetz gewährten Chancen im gleichen Maße in Anspruch nehmen können. Es gibt - gemessen an diesen Chancen - immer Bevorteilte und Benachteiligte. Dies, so wie überhaupt die "Dynamisierung" des Grundgesetzes, sei an folgenden Beispielen erläutert:

a) Das verfassungsmäßige Grundrecht der "freien Entfaltung der Persönlichkeit" (Artikel 2 GG) ist keine Rechtsvorschrift, die eo ipso in der gesellschaftlichen Realität sich auch einlöst. Vielmehr zeigt schon die Lebenserfahrung, daß je nach sozio-ökonomischem Status die Individuen ganz unterschiedliche Chancen haben, dieses Grundrecht für sich auch zu realisieren. Es erfordert also zu seiner optimalen und vor allem gleichmäßigen Realisation permanentes kollektives gesellschaftliches Handeln.

b) Ähnlich wäre der verfassungsmäßige Gleichheitsgrundsatz (Artikel 3 GG) als ein Prinzip zu begreifen, das nur in der Aktion gegen die sozialen und ökonomischen Bedingungen faktischer Ungleichheit der Realisierung nähergebracht werden kann.

c) Der verfassungsmäßige Grundsatz der Volkssouveränität (Artikel 20 GG), also der Kern des Demokratiebegriffes, wäre als ein Prinzip zu verstehen, das nicht durch bestimmte institutionelle Regelungen ein für allemal gesichert ist, sondern im historischen Prozeß jeweils neu sich als konkrete Utopie und politische Aktion den faktischen Herrschaftsverhältnissen konfrontieren muß.

d) Das Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 GG, sowie die Artikel 14 und 15 GG) wäre zu begreifen als Aufforderung zur Demokratisierung der ökonomischen Verfügungsverhältnisse.

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e) Die verfassungsmäßige Sicherung der Informations- und Meinungsfreiheit (Artikel 5 GG) wäre als ein Grundsatz zu verstehen, der ständig gegen politisch-ökonomisch bedingte und technologisch erleichterte konzentrierte Verfügungsmacht über Information und die damit verbundene Manipulation von Meinungen durchgesetzt werden muß

f) Der verfassungsmäßige Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Artikel 20 GG) wäre als eine Aufforderung zu begreifen, bestehende Rechtschancen durch Inanspruchnahme zu realisieren und notwendige gesellschaftliche Veränderungen durch rechtliche Neuregelungen ("Rechtsfortschritt") abzusichern.

g) Die verfassungsmäßige Verpflichtung auf Friedenspolitik, Völkerrecht und Überwindung nationalstaatlicher Beschränktheiten (Artikel 24, 25, 26 GG) wäre zu verstehen als Aufforderung zum Engagement für die globale Durchsetzung politischer und sozialer Emanzipation, also als Aufforderung zur Aktion für eine Welt ohne Krieg, ohne Ausbeutung, ohne imperialistische Herrschaft.

Die Ziele der politischen Bildung wären also nicht in blinder Parteilichkeit, gleichsam durch ein "ussteigen" aus den historischen Kontexten des Demokratisierungsprozesses zu bestimmen, sondern durch Aufgreifen der fortschrittlichen Implikationen des Grundgesetzes selbst. "Parteilichkeit" heißt demnach nichts anderes, als die im Grundgesetz zugestandenen Chancen für die bisher Benachteiligten optimal zu realisieren. Und pädagogisch gewendet heißt das: Die obersten, allgemeinen Lernziele für den politischen Unterricht müssen aus den historisch-dynamisch zu interpretierenden Bestimmungen des Grundgesetzes abgeleitet werden; sie müssen solche Lernleistungen ermöglichen, die - spezifizierbar für den jeweils vorgegebenen sozio-ökonomischen Ausgangsstatus - zur optimalen Durchsetzung der im Grundgesetz versprochenen Lebenschancen geeignet sind. Umgekehrt heißt das aber auch, daß solche politischen Lernziele, die den Bestimmungen des Grundgesetzes widersprechen, zumindest an den öf-

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fentlichen Schulen keine Realisierungschance erhalten können. Die politische Bildung und die ihr zugrunde liegende didaktische und methodische Theorie dürfen nicht grundgesetzwidrig sein. (Vgl. zum ganzen Komplex die aufeinander bezogenen Beiträge von Andreae 1972; Assel 1972; Roloff 1972 und 1972a; Sandmann 1972; Sutor 1972).
 

Richtlinien und Lehrpläne

Die erste praktische Konsequenz aus dem bisher erörterten Zusammenhang von Parteilichkeit des politischen Unterrichts einerseits und Verbindlichkeit des Grundgesetzes andererseits ergibt sich bei der Beurteilung von Richtlinien und Lehrplänen. Bis etwa zum Jahre 1920 gab es für jedes Unterrichtsfach "Lehrpläne", die das für das Schulwesen zuständige Ministerium erließ. Sie legten die Reihenfolge der im Unterricht zu behandelnden Stoffe sowie diese selbst verhältnismäßig eindeutig fest, die Lehrer waren dazu da, die in diesen Lehrplänen geforderten Lernziele möglichst effektiv zu verwirklichen. Das, was wir heute "Didaktik" nennen, stand also gar nicht zur Debatte, eben weil alle inhaltlichen und Zielfragen der Mitbestimmung der Lehrer (und ihrer "Berufswissenschaft", der Pädagogik) entzogen waren; die Lehrer mußten vielmehr außer in ihrem Fach nur noch methodisch ausgebildet werden, und auch die Lehrmethoden waren weitgehend vorgeschrieben. Selbst ohne genauere Kenntnis der damaligen Lehrpläne ist plausibel, daß es sich entsprechend den politischen Herrschaftsverhältnissen um gegen-emanzipatorische Vorschriften gehandelt haben muß, die insbesondere die Kinder der unteren Klassen auf die Unterprivilegierungen ihres sozioökonomischen Status fixieren sollten.

Etwa ab 1920 wurden diese staatlichen Lehrpläne in "Richtlinien" umgewandelt. Darin kam die nun stärker gewordene Mitbestimmung der Lehrer zum Ausdruck, die nicht mehr nur Erfüllungsbeamte staatlicher Lehrplanvor-

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schriften sein wollten - zumal diese oft von einer hoffnungslosen Rückständigkeit waren - , sondern auch für die Inhalte ihrer beruflichen Arbeit mehr Mitbestimmung wollten, die sie jedoch überwiegend nicht politisch begründeten, sondern pädagogisch: das Schulehalten sei ein pädagogischer Beruf und jede Einmischung, auch die des Staates, müsse als unfachlich zurückgewiesen werden. Von dieser Zeit an wurde die Unterrichtsmethode dem Lehrer praktisch freigestellt.

Heute gibt es für jedes Schulfach Richtlinien, die im Unterschied zu den früheren Lehrplänen nur noch prinzipielle Aussagen und allgemeine Stoffanforderungen enthalten und vom zuständigen Kultusminister erlassen werden. Formuliert werden sie in der Regel von Experten-Kommissionen, die das Kultusministerium beruft; diese haben jedoch nur beratende Funktion, d. h., die endgültige Fassung muß das Ministerium auch politisch selbst vertreten. Mit den Richtlinien drückt das Ministerium, als stellvertretender Repräsentant des demokratischen Staates und kontrolliert durch das Parlament, seine allgemeinen Lernzielerwartungen an den Fachunterricht aus. Daher bestehen sie meistens aus einer Art von Präambel, die die zu lernenden Verhaltensmuster enthalten (z. B. "Fähigkeit, sich in die Gemeinschaft einzufügen"), und einen mehr oder weniger verbindlichen Stoffvorschlag, dessen didaktische und methodische Konkretisierung aber dem einzelnen Lehrer bzw. dem Lehrerkollegium überlassen bleibt.

Wegen ihrer allgemeinen und vagen Ausdrucksweise werden Richtlinien in ihrer Bedeutung oft unterschätzt, ja, sie erhalten dadurch leicht den Anstrich des Unverbindlich-Deklamatorischen, des Leerformelhaften. Untersucht man Richtlinien jedoch in ihrer historischen Reihenfolge oder im gleichzeitigen Vergleich, so muß man erkennen, daß sie für das Selbstverständnis des politischen Unterrichts durchaus wichtig sind; interpretiert man nämlich die Leerformeln ihrer Aussagen im Kontext des "Zeitgeistes" oder "herrschender Meinungen", so füllen sie sich erstaunlich schnell mit konkreten Inhalten. Das liegt daran, daß Richt-

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linien einen (vergleichsweise konservativen) common sense erwünschter Lernziele darstellen, einen Kompromiß also, der sich oft daran zeigt, daß die Zielvorstellungen durchaus widersprüchlich sind. Richtlinien sind eine Institution, d. h., sie produzieren nicht automatisch vernünftiges pädagogisches Handeln, aber sie geben dafür eine allgemeine, d. h. auf den Staat und die Gesellschaft beziehbare Orientierungsmöglichkeit ab. Mit anderen Worten: Will man den Zustand des politischen Unterrichts verbessern, so müssen auch dementsprechend neue Richtlinien erlassen werden. Wie alle gesellschaftlichen Institutionen sollen Richtlinien gesellschaftsbezogenes Handeln orientieren.

Dem widerspräche es, wenn Richtlinien überhaupt entfallen und die inhaltlichen Entscheidungen ganz an die Schule verlagert würden. Dagegen ließe sich nicht nur einwenden, daß die Schule ja eine Veranstaltung des Staates sei; wichtiger ist die Überlegung, daß die Verantwortung des Staates zumindest für die Prinzipien erhalten bleibt, die in den Richtlinien zum Ausdruck kommen; denn nur dann sind sie der allgemeinen öffentlichen Diskussion und Kontrolle zugänglich. Zumindest solange die gesellschaftliche Demokratisierung, z. B. die allgemeine Kontrolle nichtstaatlicher Institutionen und Organisationen, noch weit hinter der staatlichen Demokratisierung zurückhängt, wäre ein Verzicht des Staates auf seine Richtlinienkompetenz zugunsten der Lehrer oder auch gesellschaftlicher Institutionen - wie in manchen Curriculum-Theorien gefordert - auch ein Verlust an weiteren Demokratisierungschancen. Der politische Charakter der Richtlinien darf nicht verschleiert werden.

Mit der schon erwähnten Unterschätzung ihrer Bedeutung hängt wohl auch zusammen, daß die Herstellung von Richtlinien noch nicht zum Gegenstand systematischer theoretischer Überlegungen gemacht worden ist, wenn man von Mickels Arbeit einmal absieht (1971). Offenbar spielt bei diesem Verzicht auch die Vorstellung eine Rolle, das Verfassen von Richtlinien sei eine politische Willenserklärung und sei somit der wissenschaftlichen Reflexion als

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eine Tatsache vorgegeben. In demokratischen Gesellschaften jedoch gilt: Weil es sich hierbei um politische Entscheidungen handelt, müssen sie öffentlich diskutierbar gemacht werden, und dazu ist ihre wissenschaftliche Analyse eine unabdingbare Voraussetzung.

Es gibt z. B. bisher keine wissenschaftlich bearbeiteten Kriterien dafür, auf welchen Grundlagen Richtlinien basieren müssen. In der Praxis scheinen diese weitgehend das Ergebnis dezisionistischer Kommunikationen zu sein: Irgendwelche mehr oder weniger planvoll zusammengesetzten Gremien beschließen sie eben. Dagegen läßt sich jedoch anführen, daß gerade die politische Artikulierung in den Richtlinien nicht einfach beliebig und zufällig erfolgen kann, daß sie vielmehr zurückgehen müßte auf diejenige Konvention in unserer Gesellschaft, die das gemeinsame Leben der Gesellschaft normiert, nämlich auf das Grundgesetz, was jedoch nirgends in einem irgendwie ersichtlichen Begründungszusammenhang geschieht.

Da gegenwärtig starke Tendenzen bestehen, für alle Schulfächer, also auch für den politischen Unterricht, möglichst detaillierte Curricula zu entwerfen, die praktisch die Funktion des alten "Lehrplans" wieder übernehmen würden, muß an dieser Stelle noch einmal das Problem der "Parteilichkeit" unter neuem Aspekt angesprochen werden. Wir haben gesehen, daß die für alle verbindliche Konvention des Grundgesetzes für ganz unterschiedliche sozioökonomische Ausgangs- und Interessenlagen gilt, und damit für ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Chancen: etwa für den Hafenarbeiter ebenso wie für den Besitzer eines Zeitungskonzerns. Und je nach dieser Ausgangslage müssen die Interessen an den einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ganz verschieden sein. Das Recht der freien Meinungsäußerung z. B. hat für den Inhaber einer Zeitung eine andere Qualität als z. B. für ihren Leser, der davon allenfalls im Kollegen- und Freundeskreise Gebrauch machen kann; und den Besitzer einer Zeitung wird der im Grundgesetz verbürgte Schutz des Eigentums mehr interessieren als dessen ebenfalls im Grundge-

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setz geforderte soziale Verpflichtung, die wiederum eher den angeht, der kaum über Eigentum (zumal an Produktionsmitteln) verfügt. Würde nun das Grundgesetz so interpretiert, daß solche Ausgangsunterschiede ignoriert werden, so diente es lediglich der Erhaltung des gesellschaftlichen Status quo, d. h., die Reichen blieben reich, die Armen arm. Dies jedoch würde dem vorhin skizzierten historisch-dynamischen Sinn des Grundgesetzes widersprechen. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Die allgemeinen Lernziele von Richtlinien müßten ermöglichen und legitimieren, daß die Armen reicher werden, daß also - allgemeiner ausgedrückt - unterprivilegierte Gruppen speziell das lernen, was für ihre weitere Emanzipation nützlich ist.

Je genauer und präziser nun aber die Richtlinien (bzw. Curricula) inhaltliche Festlegungen treffen, um so mehr schränken sie notwendigerweise diesen interessegeleiteten Spielraum der Interpretation ein - und dies ganz sicher nicht im Interesse der ohnehin benachteiligten Gruppen und Klassen. Das wird an folgenden Oberlegungen deutlich:

1. Solche allgemeinen und determinierenden Richtlinien bzw. Curricula-Vorschriften wären nur dann zu vertreten, wenn erstens die Lernziele wirklich eindeutig ermittelt werden könnten und zweitens auch für alle Heranwachsenden die gleiche Relevanz hätten. Von einer klaren und Übereinstimmung ermöglichenden Lernzielbestimmung sind wir jedoch noch weit entfernt; sogar die wissenschaftlichen Methoden, die dazu führen könnten, sind gerade auch in der Curriculum-Forschung selbst noch strittig. Ferner dürfte es angesichts unserer Überlegungen zur politischen Doppelgesichtigkeit des Grundgesetztes und der daraus resultierenden Parteilichkeit des politischen Unterrichts unmöglich sein, materiale - und nicht nur formale - Lernziele zu finden, die für alle die gleiche Relevanz hätten. Wie immer die fraglichen Vorschriften also aussehen mögen - sie müssen inhaltliche Alternativen, d.h. zumindest inhaltliche Pluralität zulassen, je nachdem, welches

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Interesse am Grundgesetz jeweils vorliegt. Schon aus diesem Grunde müßten einheitliche und eindeutige Lehrvorschriften zur pädagogischen und damit gerade im Falle des politischen Unterrichts auch zur politischen Benachteiligung bestimmter, in der Regel ohnehin unterprivilegierter Gruppen führen. Daß die heute gültigen Lehrpläne diese ideologische Funktion tatsächlich haben, hat die Untersuchung Mickels (1971) deutlich erwiesen.

2. Einheitliche und eindeutige Lehrvorschriften wären unter den Bedingungen einer pluralistischen und das heißt in Bevorteilte und Benachteiligte gegliederten Gesellschaft nicht zu vertreten. Nicht von ungefähr sind entsprechende Formulierungen etwa in den Richtlinien so abstrakt, formal und vage; auf diese Weise können unterschiedliche Interpretationen zugelassen werden. Wären sie hingegen konkret und präzisiert, so würde sich ihre politische Einseitigkeit sofort herausstellen. Eindeutige und einheitliche Lehrpläne sind immer und überall Symptome eines autoritären politischen Regimes, das das Fach (und die Schule überhaupt) zur Indoktrination für Interessen benutzt, die mit denen der Lernenden höchstens zufällig übereinstimmen.

3. Jede Lehrvorschrift enthält implizit Lernverbote für das, was sie vorenthält; eine Bestimmung darüber, was gelernt werden soll, schließt Bestimmungen darüber ein, was nicht gelernt werden soll. Auch diese Tatsache hat ihre politische Relevanz; denn da es einen Zusammenhang zwischen politischen Lerninhalten und wahrscheinlichen politischen Verhaltensweisen gibt, sind solche Lernverbote immer auch verhüllte politische Handlungs- und Zielverbote. Ein Beispiel dafür ist etwa die in der Bundesrepublik unterdrückte Tradition der marxistischen Arbeiterbewegung in den fünfziger Jahren, die ideologisch unter anderem darauf zielte, die politische Bewußtmachung der Arbeiter zu verhindern.

Zusammenfassend läßt sich also sagen: Beim Entscheidungsprozeß über Inhalte und Ziele des politischen Unter-

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richts müssen zwei Wege miteinander kombiniert werden: Zum einen bleibt dem Staat die Richtlinienkompetenz, d. h. die Zuständigkeit für die Festlegung der prinzipiellen Aufgaben und Ziele des politischen Unterrichts; sie erstreckt sich auch auf den Vorschlag bestimmter, für besonders wichtig gehaltener Themen und Stoffe. Zum anderen jedoch kann die Entscheidung über die didaktische und methodische Konkretisierung des politischen Unterrichts nur Sache der Lehrer und Schüler sein und gehört somit an die "Basis" der pädagogischen Arbeit. Eine klare Abgrenzung beider Entscheidungswege ist nicht immer möglich, und schon wegen ihres impliziten politischen Gehaltes sind Konflikte denkbar. Die politische Didaktik hätte nicht zuletzt die Aufgabe, rationale Kategorien für die Klärung und Lösung solcher Konflikte bereitzustellen und somit zwischen beiden Entscheidungsebenen zu vermitteln. Dabei taucht das schwierige Problem auf, in welcher Weise und in welchem Maße neben der historisch erkämpften Mitbestimmung der Lehrer auch die Mitbestimmung der Schüler realisiert werden kann. Nach dem, was vorhin über die notwendige Parteilichkeit des politischen Unterrichts gesagt wurde, kann nicht davon ausgegangen werden, daß der in der Regel "mittelständische" Lehrer das "wohlverstandene Interesse" eines proletarischen Kindes gegenüber der Gesellschaft einfach zur Geltung bringen kann. Selbst wenn der Lehrer durch entsprechende Studien Kenntnis von diesen spezifischen Interessen hätte, wäre es zumindest an den Punkten, wo das sozio-ökonomische Interesse der Kinder dem seinen widerspricht, schwer oder gar unmöglich, sich jenem voll zu öffnen. Prinzipiell ist deshalb eine inhaltliche Mitbestimmung der Schüler zwingend geboten, praktisch jedoch muß dieses Prinzip wieder eingeschränkt werden: durch die fehlende Rechtsmündigkeit; durch altersspezifische Begrenzung der Fähigkeit zur Mitbestimmung; dadurch, daß politische Interessen nicht einfach "abgefragt" werden können, sondern in der Auseinandersetzung mit politischen Problemen erst entdeckt werden müssen und anderes mehr.

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DieLernziele des politischen Unterrichts

Aus dem Grundgesetz läßt sich nach dem bisher Gesagten als oberstes Lernziel "Mitbestimmung" ableiten: Jeder Bürger hat nach dem Grundgesetz das Recht, die politische Entwicklung in unserem Land mitzubestimmen, und muß folglich auch alle diejenigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten lernen, die zur Wahrnehmung dieses Rechtes erforderlich sind. Bis zu dieser zunächst rein formalen Kennzeichnung des Begriffes "Mitbestimmung" bestand nach 1945 immer schon Einigkeit sowohl unter den Vertretern der demokratischen Parteien wie unter den politischen Erziehern. Wir können jedoch aufgrund der bisherigen Erörterungen weiter präzisieren: Es geht nicht nur um "Mitmachen" in den vorgegebenen Institutionen und Organisationen, sondern auch um deren planmäßige Veränderung in Richtung auf zunehmende Demokratisierung der Gesamtgesellschaft. Dieser Zusatz ist schon deshalb wichtig, weil im Unterschied zur staatlichen Sphäre die gesellschaftliche, z. B. die ökonomische, es teilweise noch nicht einmal zur bloß formalen Mitbestimmung gebracht hat. Im Sinne der "Fundamental-Demokratisierung" wird Mitbestimmung nicht nur im staatlichen Bereich gefordert, sondern in allen Bereichen, in denen Menschen - notwendigerweise oder freiwillig - miteinander kommunizieren: bei der politischen Wahl ebenso wie in der Familie, im Betrieb oder in Schule und Hochschule. Diese prinzipielle Bestimmung sagt jedoch noch nichts über die Modalitäten der Realisierung aus, ob und in welchem Maße z. B. dabei repräsentative oder unmittelbar plebiszitäre Verfahren bevorzugt werden, was "Mitbestimmung" am Arbeitsplatz, an der Hochschule, in der Eltern-Kind-Beziehung oder in der Kirche jeweils inhaltlich heißen kann. Das Ziel der Mitbestimmung aller kann auch - das haben die letzten Jahre an den Universitäten gezeigt - durch inhaltsleeren Formalismus verspielt werden; etwa wenn Mitbestimmung zur Ganztagsbeschäfti-

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gung wird; wenn keine Arbeitsteilung organisiert wird; wenn Institutionen und daraus resultierende Rollenunterschiede fast liquidiert werden; und wenn keine Kontinuität im Prozeß der Demokratisierung mehr zustande kommt, so daß inhaltliche Überlegungen zum Demokratisierungsprozeß kaum noch stattfinden können. Es wäre eine formale Mitbestimmung aller Beteiligten an einer Institution denkbar, die sich auf gruppendynamische Mechanismen reduziert und in ihrer historischen Bewußtlosigkeit den bisher bereits erreichten Stand von Emanzipation ahnungslos - oder auch planmäßig - unterläuft und somit das Potential der Demokratisierung nicht erhöht, sondern vermindert. Um dieser Gefahr zu entgehen, bedürfen die konkreten gesellschaftlichen Realisierungen von Mitbestimmung der ständigen Diskussion im Rahmen von gesamtgesellschaftlichen theoretischen Perspektiven. All dies zeigt aber nur, daß Mitbestimmung sich erst in der Auseinandersetzung mit der politischen Realität, erst indem sie politisch organisiert wird, auch inhaltlich füllen kann. Sie ist zugleich oberstes Lernziel und Gegenstand der politischen Bearbeitung, also auch Ziel und Gegenstand des Unterrichts selbst.

Das gilt auch für die nachfolgende Differenzierung in Funktionsziele. Die Lernziele des politischen Unterrichts können nur so lange als dem praktischen Unterricht "vorgegeben" verstanden werden, wie sie hinreichend inhaltsleer formuliert bleiben; werden sie dagegen inhaltlich präzisiert, so stellt sich sofort heraus, daß sie nur in einem sehr allgemeinen Sinne vorgegeben werden können, daß aber ihre Konkretisierung selbst schon eine Aktivität des politischen Bewußtseins in der Auseinandersetzung mit der politisch-historischen Realität darstellt.

Dies ergibt sich folgerichtig aus dem historisch-materiellen Ansatz unserer Argumentation überhaupt. Die inhaltliche Bestimmung der Lernziele kann immer nur in dem Maße vorgenommen werden, wie sich dies aus ihrer historischen Präzisierung ergibt; gegenüber der Zukunft sind sie dagegen weitgehend offen, und gegenüber der Gegenwart

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bauen sie die kritische Distanz zur Realität auf, um diese in Bewegung zu setzen. So ist in Deutschland die historisch bisher einzig realisierte nennenswerte Form der Mitbestimmung das allgemeine und gleiche Wahlrecht im Rahmen eines repräsentativen politischen Systems. Stellt sich nun heraus, daß unter dem Aspekt weiterer Demokratisierung und Emanzipation plebiszitäre Formen der Mitbestimmung nützlich erscheinen, so kann nur historische Bewußtlosigkeit einfach das Auswechseln jenes Systems durch dieses verlangen; denn offensichtlich ist das bereits erreichte Maß an Demokratisierung und Emanzipation nicht zuletzt eben jenem repräsentativen politischen System zu verdanken, und plebiszitäre Korrekturen müßten demnach gezielt an denjenigen Punkten des politischen Lebens eingerichtet werden, wo sie Emanzipation tatsächlich weitertreiben würden. Ähnlich stellt sich die Frage nach der optimalen Realisierung von Mitbestimmung in bisher nicht entsprechend verfaßten Bereichen wie Betrieben und Hochschulen: Auch hier kann es nur darum gehen, die konkrete historische Gestalt solcher Bereiche so genau wie möglich zu analysieren, um dann Demokratisierung nicht erst am historischen Nullpunkt einzuführen, sondern die vorhandenen Chancen und Strukturen weiterzuentwickeln.

Die Analyse des demokratischen und emanzipatorischen Potentials einzelner Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens geschieht also nicht übergeschichtlich-systematisch, sondern vom jeweiligen historischen Standort aus: sie ist weniger systematische Erfindung als vielmehr Korrektur des historischen Prozesses.

Daraus folgt eine gewisse Vorsicht gegenüber der Meinung, zuerst müsse man inhaltlich präzise Lernziele aufstellen und erst dann könne man auch unterrichten. Von den globalen Lernzielen, von denen gleich die Rede sein wird, läßt sich das vielleicht fordern, aber nur, insofern sie eben so allgemein sind, daß sie nicht unmittelbar im Unterricht angesteuert werden können. Aber in den letzten Jahren ist geradezu ein "Lernziel-Fetischismus" ausgebrochen, der möglichst jeden Lernzielschritt bereits in einem systema-

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tischen Zusammenhang vorausbestimmen will. Diese Mode verkennt die wirklichen Zusammenhänge von Lernziel-Entstehungen gründlich, insofern sie nicht vom praktischen Prozeß ausgeht, sondern von systematischen akademischen Überlegungen, die dieser Praxis einfach gegenübergestellt werden. So wie nämlich die politische Emanzipationsstrategie anknüpfen muß an das historisch Vorliegende, um es in der gewünschten Richtung zu korrigieren, so werden auch Lernziele nicht wie in einer Laborsituation in einem abstrakt-systematischen Zusammenhang neu erfunden, sondern als kritische Korrektur bisheriger Lernzielsysteme formuliert, ohne daß dabei die Illusion vorherrschen darf, man könne so die überlieferten und kritisierten Lernziele über Nacht außer Kraft setzen. Zu organisieren wäre also nicht die jeweils vollständige Erfindung neuer Lernziele, sondern die Korrektur der bestehenden. Wird das nicht eingesehen, so wird sich die ohnehin begrenzte kritische Energie nur in aussichtslosem Vollständigkeitswahn sinnlos verschleißen. Ähnliches gilt für den konkreten Unterricht selbst. Auch hier gilt es - im Rahmen der allgemeinen Globalziele - die jeweils nächsten Lernziele aus dem Lehr- und Lernprozeß für alle Beteiligten plausibel zu entwickeln. Das heißt mit anderen Worten: Das Aufstellen von jeweils erreichbaren Lernzielen ist ebenso wie das Setzen von erreichbaren politischen Handlungszielen ein Akt gesellschaftlicher Praxis selbst. Wird dies nicht eingesehen, bleibt also wie bisher das Setzen politischer Lernziele isoliert von der Reflexion des historischen Standortes und Standpunktes, so sind entweder technokratische Modelle die unausweichliche Folge, oder aber die Lernziele werden innerhalb eines Kommunikationssystems formuliert und revidiert, das nur die ohnehin herrschenden Interessen zum Zuge kommen lassen kann.

Halten wir also fest: Die durch historische Kritik nur teilweise inhaltlich definierten politischen Handlungs- und Lernziele definieren sich um so vollständiger, je mehr sie weiterhin praktiziert und realisiert werden. Dies ist die

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erkenntnisstiftende Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis selbst, wozu auch die pädagogische gehört. Der Eintritt in die jeweils historisch dimensionierte politische und pädagogische Praxis erfolgt nun in der Regel nicht an irgendwelchen beliebigen Stellen, sondern vorzugsweise dort, wo politische und gesellschaftliche Konflikte offenbar werden. Daß es solche Konflikte unvermeidlich geben muß, resultiert schon aus dem noch nicht zu Ende geführten historischen Demokratisierungsprozeß und daraus, daß die formalen Gleichheitschancen des Grundgesetzes über weite Strecken noch nicht für alle realisiert sind.

Politik wird also konkret in politischen Auseinandersetzungen - gleichgültig zunächst einmal, in welchem Maße die einzelnen Individuen davon betroffen sind und in welchem Maße sie an der Herstellung solcher Konflikte beteiligt sind. Solche Konflikte basieren auf gesellschaftlichen Widersprüchen, sind also letztlich nicht nur ein Produkt von "Meinungsverschiedenheiten". Zu unterscheiden sind dabei latente und manifeste Konflikte (und gesellschaftliche Widersprüche). Latente Konflikte sind solche, die epochal-langfristig bestehen, den Kern des Demokratisierungs- und Emanzipationsprozesses betreffen und zeitweise auch verdeckt werden können, z. B. der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit; manifeste Konflikte (und Widersprüche) haben ihren Grund meist in solchen latenten und bringen sie - oft verstellt und immer eigentümlich modifiziert - zum Ausdruck.

Indem nun die Konfliktsituation als die eigentliche politische Handlungssituation bestimmt wird, läßt sich das aus dem Grundgesetz abgeleitete Lernziel "Mitbestimmung" in einige Funktionsziele differenzieren, wobei die Leitfrage lautet: Welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten müssen gelernt werden, damit in charakteristischen politischen Handlungssituationen Mitbestimmung optimal realisiert und durchgesetzt werden kann?

Ins Auge zu fassen und zu unterscheiden sind dabei zwei typische Formen von Handlungssituationen: die mittelbare und die unmittelbare. Die mittelbare, z. B. die Teil-

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nahme an der Wahl oder das Unterzeichnen einer Resolution, galt unter dem Eindruck eines eng ausgelegten Verständnisses der "repräsentativen Demokratie" lange Zeit als die "eigentliche" politische Handlungssituation des Bürgers. Für sie genügte ein didaktisches Konzept, das sich im wesentlichen auf das Lernziel der Urteilsfähigkeit beschränkte. Politisches Handeln im Rahmen gesellschaftlicher Organisationen, z. B. im Betrieb, und im Rahmen staatlicher Basisinstitutionen, z. B. Schule und Hochschule, waren dabei kaum vorgesehen. Erst seit etwa 1967 wurden unmittelbare politische Handlungen in diesen Basisbereichen von Staat und Gesellschaft üblich, und es zeigte sich, daß die politische Erziehung für diesen Handlungstypus keine spezifischen Lernziele entwickelt und realisiert hatte. Die folgenden Funktionsziele versuchen, beiden Handlungstypen gerecht zu werden, wobei sie zunächst einmal nacheinander entwickelt werden.
 

Teilziel 1: Analyse aktueller Konflikte

Gelernt werden muß die Fähigkeit, sich im Sinne des allgemeinen Fortschritts an Demokratisierung und der Durchsetzung der eigenen Interessen in manifesten Konflikten zu engagieren und diese möglichst auf die latenten zurückführen.

Es geht hier also um die Ausbildung einer auf handlungsrelevante politische Realitäten bezogenen Vorstellungs- und Urteilsfähigkeit. Gemessen an diesem ersten Funktionsziel spielen die Stoffe eine sekundäre Rolle. Insofern schwer voraussagbar ist, welche latenten Konflikte in welcher Weise manifest werden (bzw. von den daran Interessierten manifest gemacht werden können), können bestimmte Stoffe zwar aufgrund vorgängiger Analysen der epochalen latenten Konflikte in Aussicht genommen werden, aber in welcher Reihenfolge und in welchen konkreten Organisationen sie zum Thema des Unterrichts werden, darüber entscheidet letztlich die gesellschaftliche Praxis selbst. Im allgemeinen hat der politische Unterricht in der

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Schule Planspielcharakter, d. h., er ist nicht unmittelbar selbst auch einer politischen Praxis zugeordnet. Es kann jedoch sein, daß die Schüler (z. B. in einem Schulkonflikt) unmittelbar politisch tätig werden und deshalb als didaktisches Korrelat dazu den politischen Unterricht organisieren wollen. So wünschenswert diese ideale Kombination von Lernen und Handeln auch sein mag, sie kann nicht vorweg als immer wiederholbare Chance eingeplant werden. Selbst wenn dies jedoch weitgehend möglich wäre, müßte man sich vor der "Borniertheit" lediglich "schulischer" oder "jugendeigener" Konflikte hüten, solange nicht als gesichert gelten kann, daß die zu behandelnden Konflikte auch die wirklich grundlegenden, latenten gesellschaftlichen Konflikte beinhalten.

Was immer also im einzelnen stofflich gelernt wird, es muß sich rechtfertigen lassen vor dem allgemeinen Anspruch, in Handlungssituationen auch politisch brauchbar zu sein. Die Fähigkeit, politische Konflikte richtig und unter der Perspektive der eigenen Interessen zu analysieren, versteht sich keineswegs von selbst. Schon die Lebenserfahrung lehrt - übrigens auch im Rahmen einer jeden Berufsausbildung und Berufspraxis - , daß jemand eine Menge wissen kann, ohne zu einer vernünftigen Anwendung des Gewußten auf praktische Fragen deshalb auch schon in der Lage zu sein. Vielmehr ist die Transformierung des Wissens auf eine konkrete politische Frage, z. B. auf einen politischen Konflikt, eine eigentümliche Leistung des Bewußtseins selber und muß eigens geübt werden. Und man kann bei vielen Menschen beobachten, daß sie solche konkreten Analysen nicht zustande bringen, daß sie vielmehr einen konkreten Konflikt lediglich im Rahmen mehr oder weniger systematischer, in jedem Fall aber verhältnismäßig abstrakter Vor-Einstellungen interpretieren. Dann wird der Konflikt lediglich zu einem "Fall von ... .", etwa zu einem Fall von "kapitalistischer Ausbeutung" oder von "kommunistischer Propaganda" oder, etwa bei Antisemiten, von "jüdischer Weltherrschaft" usw. Eine solche Bewußtseinsstruktur ist deshalb verhängnisvoll, weil politi-

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sche Entscheidungen immer konkrete, einmalige Entscheidungen sind, die - einmal getroffen - allgemeine Konsequenzen für die Betroffenen haben. Ob etwa in einem neuen wichtigen Gesetz ein Detail so oder so geregelt wird, kann für die Betroffenen von entscheiden!der Bedeutung und ein zureichender Grund für Annahme oder Ablehnung des ganzen Gesetzes sein. Wenn es also zutrifft, daß zumindest jede mittelbare politische Handlungssituation eine Konfliktsituation ist - und jede unmittelbare Handlungssituation jederzeit zu einer Konfliktsituation werden kann - , dann muß der politische Unterricht solche realen Handlungssituationen auch soweit wie möglich antizipieren. Dies geschieht vor allem dadurch, daß er aktuelle politische Konflikte, die sich außerhalb der Schule in der Diskussion befinden, zur Bearbeitung in die Schule hereinholt.

Teilziel II: Training systematischer gesamtgesellschaftlicher Vorstellungen

Denkt man jedoch diese Überlegung zu Ende, so würde sich auf diese Weise eine bedenkliche Diskontinuität der politischen Biographie und des politischen Bewußtseins ergeben. Alle Gefahren des "Gelegenheitsunterrichts" würden sich einstellen: Die Thematisierung der Konflikte bliebe zufällig-additiv; der Transfer von Erfahrungen und Einsichten von einem "Fall" auf den anderen bliebe ungesichert; systematische Denk- und Vorstellungszusammenhänge könnten sich nicht aufbauen, das Bewußtsein bliebe diffus.

Das erste Teilziel muß also ergänzt werden durch ein zweites: das Training systematischer gesamtgesellschaftlicher Vorstellungen, das den politisch Handelnden in die Lage versetzt, den "Fall", den er gerade bearbeitet, in größere Zusammenhänge einzubeziehen, schon um seine Gewichtigkeit auch genauer bestimmen zu können. Die Instrumente, die die Wissenschaften uns dafür zur Verfügung stellen, sind wiederum nicht in erster Linie be-

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stimmte Stoffe als solche, sondern sozial- und politikwissenschaftliche Denk- und Interpretationsmodelle (z. B. Funktion und Dysfunktion; Gewaltenteilung; Kommunikation; Interdependenz; Wechselwirkung; Dialektik).

Nun können die eben erwähnten Modelle, die uns eine gewisse Reichweite der politischen Vorstellungskraft ermöglichen sollen, auf eine prinzipiell unbegrenzte Zahl von Sachverhalten (und damit Stoffen) bezogen werden. Im Hinblick auf die gegenwärtigen und künftig voraussehbaren Handlungssituationen ergeben sich aber folgende Schwerpunkte:

1. das Produktions- und Verteilungssystem in hochindustrialisierten (kapitalistischen und sozialistischen) Gesellschaften;

2. das politische Regierungssystem in der Bundesrepublik und in der DDR;

3. das System der Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung derjenigen Verwaltungszweige, die vor allem für den Schüler bzw. dessen Familie von Bedeutung sind (Finanzverwaltung; Sozialverwaltung; Verwaltungen mit beratender Funktion wie Berufsberatung, Erziehungsberatung; Kultusverwaltung am Beispiel der Schule);

4. das System der internationalen Politik;

5. das System der verschiedenen menschlichen Kommunikationsweisen, dargestellt auf der Grundlage des sozialwissenschaftlichen Kommunikationsmodells (z. B. Familie; Bezugsgruppe; Massenorganisation; Massenkommunikation).

Nun könnte man einwenden, diese systematischen Unterrichtspartien ließen sich direkt aus den aporetischen, konfliktorientierten, entwickeln, etwa so, daß sie an denjenigen Stellen der Konfliktanalyse eingeschoben werden - gleichsam als Exkurse - , wo dies den Beteiligten von der Sache her plausibel und zweckmäßig erscheint. Ein Exkurs etwa über das "System der Produktion und Verteilung" scheint bei jeder Konfliktanalyse naheliegend. Obwohl ein solches Verfahren bis zu einem gewissen Grade zweckmäßig sein kann, lassen sich zwei Einwände erheben:

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Erstens besteht die Gefahr einer verkrampften Unterrichtsorganisation, insofern die Analyse eines politischen Konfliktes mit zu vielen systematischen Aspekten belastet wird, deren Hinzuziehung nicht mehr unmittelbar plausibel für die Erklärung des Problems gemacht werden kann; die Gleichzeitigkeit vieler verschiedener Aspekte und Dimensionen könnte verwirren.

Zweitens aber begründet sich dieses Teilziel auch gar nicht von seiner unmittelbaren Funktion für die Klärung eines bestimmten Konfliktes allein her. Vielmehr geht es allgemein um die Strukturierung der politischen Vorstellungen, unabhängig vom "Nutzen" dieser Vorstellungen für die Aufklärung bestimmter politischer Handlungssituationen. Während nämlich die Fähigkeit zur Analyse von Konflikten keineswegs selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, finden sich vermutlich schon bei Kindern, zumindest jedoch bei Heranwachsenden und Erwachsenen, immer schon politisch-gesellschaftliche Gesamtvorstellungen vor, die - wie immer sie im einzelnen strukturiert und zu bewerten sein mögen - im Rahmen der politischen Sozialisation gelernt wurden und nun als Potential für politische Urteile und Bewertungen zur Verfügung stehen. Die ubiquitäre Massenkommunikation verändert diese "gesamtgesellschaftlichen" Vorstellungen vermutlich kaum, läßt sie aber zumindest als nötig erscheinen, schon "damit man mitreden kann". Die Schule ist also praktisch niemals in der Notwendigkeit, solche Gesamtvorstellungen vom Nullpunkt an erst aufbauen zu müssen - wie etwa im Falle der meisten Fremdsprachen - , der politische Unterricht muß sie also nicht herstellen, sondern korrigieren und verbessern.

Über diese auf die politisch-gesellschaftliche Totalität bezogenen Vorstellungen wissen wir im einzelnen leider noch nicht sehr viel. Wir kennen aber einige genügend erforschte Beispiele: etwa das "dichotomische" Bewußtsein von Arbeitern, in dem die Gesellschaft als ein nicht-vermitteltes Gegenüber von "oben" und "unten" erscheint; oder das "hierarchische" Bewußtsein, insbesondere in den Mittel-

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schichten verbreitet, das die Gesellschaft als hierarchisch von oben nach unten gegliedert ansieht, wobei aber durch sozialen Aufstieg die Position der Individuen nach oben bzw. unten geändert werden kann; oder das antisemitische Bewußtsein, in dem der naturhaft-unabänderliche Kampf zwischen Juden und Nicht-Juden die gesellschaftliche Totalität bestimmt.

Allen bisher bekannten "Gesellschaftsbildern" ist ihre vergleichsweise einfache Struktur gemeinsam, und in der Regel beruhen sie auf vor-wissenschaftlichen Vorstellungen und Meinungen, vermischt mit unbewußt-magischen Anteilen. Insofern diese "gesamtgesellschaftlichen" Vorstellungen Reflex des undurchschauten gesamtgesellschaftlich-historischen Realzusammenhangs sind, sind sie ein Stück "falsches Bewußtsein". Als solches wären sie aber auch nicht in der Lage, politische Konfliktsituationen angemessen und für die eigenen Interessen erfolgreich zu analysieren. Selbst wenn - was später noch zu tun ist - für die Analyse solcher Konflikte Kategorien entwickelt werden und somit zur Verfügung stehen, würde die Konfliktanalyse ständig im Widerspruch stehen zum "Gesellschaftsbild". Und in diesem Widerspruch würde überwiegend das "Gesellschaftsbild" siegen, weil dieses das für die soziale Selbstbehauptung nötige Bewußtsein verkörpert, während die Konfliktanalyse selbst gar kein Bewußtsein ist, sondern nur seine Anwendung.

Deshalb ist es nötig, das "Gesellschaftsbild" unmittelbar anzugehen, und zwar mit - wenn auch zunächst elementarisierten - wissenschaftlichen Modellen. Dabei erhebt sich allerdings sofort die Frage, welches Verständnis-Modell nun verwendet werden soll. Für den Komplex "System der Produktion und Verteilung" gibt es z. B. mindestens zwei einander sogar ausschließende Grundmodelle: das marxistische und das liberalistische. Mit anderen Worten: Die hier gemeinten Verständnis-Modelle sind selbst keineswegs der politisch-ideologischen Beurteilung enthoben. Nun hat es aber schon aus unterrichtspraktischen Gründen keinen Sinn, deshalb etwa eine "pluralistische" Verwen-

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dung aller denkbaren sozialwissenschaftlichen Verständnismodelle zu fordern. Vielmehr käme es darauf an, überhaupt das in den Köpfen vorgefundene "gesamtgesellschaftliche Bewußtsein" mit auch methodisch (den Schülern) einsichtigen sozialwissenschaftlichen Verständnis-Modellen zu konfrontieren, weil es beim politischen Unterricht nicht darum gehen kann, "richtiges Bewußtsein" punktuell und ein für allemal herzustellen, sondern darum, einen Prozeß einzuleiten, der die Verbesserung des Bewußtseins in der Auseinandersetzung mit der Realität in Gang zu setzen vermag. Die These, die auf die gesellschaftliche Totalität gerichteten "Gesellschaftsbilder" müßten auch unmittelbar, und nicht nur auf dem "Umweg" über die Konfliktanalyse anvisiert werden, entspringt - um es noch einmal zu betonen - nicht einer rein theoretischen Vorliebe für die hier schon mehrfach berufene "gesamtgesellschaftliche Theorie", sondern der Tatsache, daß sie in den Köpfen der Menschen - als notwendiges Korrelat ihrer gesellschaftlichen Existenz selbst - vorliegt und infolgedessen auch im Unterricht bearbeitet werden muß.

Die Schwierigkeit besteht also darin, daß es "die" gesamtgesellschaftliche Theorie, als einen fraglos vorgegebenen Zusammenhang von Sätzen, nicht unbestreitbar gibt. Unstreitig ist vielmehr nur das Problem, daß Menschen so oder so ein gesamtgesellschaftliches Bewußtsein haben und daß dieses als solches auch bearbeitet werden muß.

Damit plädieren wir für eine Kombination von induktivem und deduktivem Vorgehen. Während die im Teilziel I entwickelte Konflikt-Analyse induktiv vorgeht, geht es nun um ein deduktives Verfahren. Mit Recht nämlich hat W. Maier (1972) gegen die scheinbar so naheliegende pädagogische Bevorzugung des induktiven Weges, der "Anknüpfung am Unmittelbaren", eingewandt: "Die Teilnehmer ... am politischen Unterricht haben ja nicht nur unmittelbare Konflikterfahrungen, sondern zumeist auch Kenntnisse und Vorstellungen über die Gesamtheit der Gesellschaft. So chaotisch diese Vorstellungen, zu denen die unmittelbaren Erfahrungen verarbeitet sind, auch sein

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mögen, an ihnen anknüpfend und sie ordnend kann sich allein politisches, d. h. gesamtgesellschaftliches Bewußtsein entwickeln. Jedes andere Vorgehen würde die Jugendlichen als politisch urteilende Menschen nicht ernst nehmen und verfängt sich in dem Irrtum, daß vom einzelnen Konfliktfall im Betrieb aus die Gesamtheit der Klassenbeziehungen einer Gesellschaft entfaltbar sei. Es verkennt die Tatsache, daß das Begreifen einer Gesellschaftsformation eine Wissenschaft ist und nicht Ergebnis zufälliger Konflikterfahrungen" (S. 22).

Allerdings ist für W. Maier "gesamtgesellschaftliches Bewußtsein" inhaltlich definiert: als marxistisches Klassenbewußtsein. Die Frage, ob und auf welche Weise Klassenbewußtsein als Lernziel angesteuert werden kann, soll uns noch in einem späteren Exkurs beschäftigen. Hier soll zunächst nur festgehalten werden, daß die vorgeschlagenen fünf systematischen Zusammenhänge der Korrektur der jeweils vorliegenden gesellschaftlichen Totalitätsvorstellungen dienen, insofern auf diese Weise die fortgeschrittenen sozialwissenschaftlichen Erkenntnismodelle in den Schulunterricht eingebracht werden können. Daraus folgt auch, daß zumindest beim I. Komplex auch die marxistische Interpretation angeboten werden muß.

Teilziel III: Historisches Bewußtsein

Die eben beschriebenen systematischen Bearbeitungsmöglichkeiten des immer schon vorhandenen "gesamtgesellschaftlichen Bewußtseins" erreichen jedoch bestenfalls nur einen Teil dessen, was theoretisch fundiertes gesamtgesellschaftliches Bewußtsein mit Recht heißen könnte. Es fehlt die historische Dimension. Es hat den Anschein, als ob aber gerade ihr steigende Bedeutung im Rahmen des hier vertretenen Konzeptes zukommt. Wenn nämlich eben gesagt wurde, daß die Menschen eine irgendwie geartete gesellschaftliche Totalvorstellung empirisch nachweisbar haben, so gilt das offensichtlich immer weniger für deren historische Dimension. Nicht nur ist Geschichtsunterricht

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eines der am wenigsten beliebten Schulfächer, nicht nur ist gegenwärtig selbst die Adaptation des Marxismus von einer geradezu fatalen historischen Ahnungslosigkeit, sondern auch empirische Untersuchungen zeigen ein zunehmendes Verschwinden der historischen Vorstellungskraft an (vgl. von Friedeburg/Hübner 1964). Diese Entwicklung ist verhältnismäßig jungen Datums, denn das politische Selbstverständnis des Bürgertums wie des Proletariats wurde herkömmlich gerade durch historisches Bewußtsein wesentlich konstituiert.

Allerdings nicht durch ein beliebiges; vielmehr hatte historisches Bewußtsein immer eine bestimmte politisch-ideologische Funktion. Es diente eben der politischen Selbstverständigung der bürgerlichen bzw. der proletarischen gesellschaftlichen Existenz, wobei in den Schulen eigentlich nur die bürgerliche Selbstinterpretation zum Zuge kam. Die Vermutung liegt nahe, daß das Schwinden des historischen Interesses auf einen Funktionsverlust des historischen Bewußtseins selbst zurückgeht, daß es gleichsam "für das Leben" nicht mehr "nötig ist". Funktional-technokratische und technologische Kategorien scheinen als politische Orientierungslinien geeigneter und zureichend, und die vorliegenden didaktischen Konzepte für den Geschichtsunterricht sind offenbar immer noch bezogen auf einen historischen Standort, in dem die alte politische Funktion des Geschichtsunterrichts noch selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte.

Eine detaillierte Kritik des herkömmlichen Geschichtsunterrichts wäre hier zwar wünschenswert und notwendig, würde aber unseren Rahmen sprengen. An seiner Unzulänglichkeit zweifelt heute kaum noch jemand. Problematisch ist er jedoch vor allem aus folgendem, bisher selten erwähntem Grunde: Indem er die aus der Tradition der Arbeiterbewegung kommenden materialistischen Impulse und Perspektiven fast vollständig abwehren konnte, wurde er nicht nur zu einem Instrument der politisch-ideologischen Parteilichkeit gegen die gesellschaftlichen Interessen der Arbeiter, er vermochte deshalb auch darüber hinaus

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nicht den Demokratisierungsprozeß der Neuzeit zu thematisieren. Bis heute gibt es keine didaktische Konzeption des Geschichtsunterrichts, die den Beitrag des Geschichtsunterrichts zum Demokratisierungsprozeß plausibel begründet hätte. Abgesehen von den planmäßigen Verfälschungen des Nationalsozialismus scheint der Geschichtsunterricht selbst immer noch eine Sache sui generis zu sein, relativ unabhängig eben auch von der notwendigen Thematisierung des Demokratisierungsprozesses selbst.

So haben denn seit dem Ende der fünfziger Jahre die Theoretiker der politischen Bildung zum Geschichtsunterricht auch ein eher distanziertes Verhältnis entwickelt (vgl. Tietgens 1960). Denn noch im didaktischen Konzept von Erich Weniger (1965) war der Geschichtsunterricht das zentrale Fach für den politischen Unterricht, und "Politik" und "Sozialkunde" konnten sich nur schwer gegen dessen Dominanz behaupten. Mit Recht wurde dagegen eingewandt, daß der Geschichtsunterricht zur Flucht vor den entscheidenden politischen Konflikten der Gegenwart werden könne und damit überhaupt zur Flucht vor politischem Engagement.

Andererseits haben die Beiträge der "Frankfurter Schule" wieder deutlich gemacht, daß die historische Perspektive unentbehrlich ist für die inhaltliche Bestimmung des weiteren Demokratisierungsprozesses. Hinzu kommt, daß unser Grundgesetz nur dann zur politischen Lernzielbestimmung herangezogen werden kann, wenn es historisch-dynamisch interpretiert wird, d. h. so, daß es einen bestimmten historischen Prozeß widerspiegelt und diesen in die Zukunft verlängert.

Nicht jeder beliebige Geschichtsunterricht erfüllt also die ihm zugedachte Funktion. Vielmehr muß er so angelegt sein, daß er den Prozeß der gelungenen bzw. gescheiterten Demokratisierung erklärt. Oder anders ausgedrückt und wieder auf das Grundgesetz bezogen: Der Geschichtsunterricht hat in didaktisch geeigneter Weise diejenigen Prozesse zu erklären, die zu den Formulierungen des Grundgesetzes geführt haben. Im Rahmen des politischen Unterrichts

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wäre dieses Prinzip in zweierlei Hinsicht zu realisieren: erstens als Unterrichtsprinzip,insofern die unter dem ersten Teilziel genannten aktuellen Konflikte auf ihren geschichtlichen Ursprung zurückverfolgt werden;

zweitens als selbständiges Teilziel des Sozialkundeunterrichts. Dabei wären zwei Gesichtspunkte zu verbinden.

a) Eine chronologische ereignisgeschichtliche Darstellung unter dem Leitgesichtspunkt des Demokratisierungsprozesses in der Neuzeit müßte in einer pragmatischen Entscheidung einen Kanon wichtiger Schlüsselereignisse der neueren Geschichte bis 1945 in ein Kontinuum unter den Leitgesichtspunkt ihrer fördernden bzw. hemmenden Demokratisierungswirkung stellen. Zu einem solchen "Kanon" wären mindestens die folgenden Ereignisse zu rechnen: die Französische Revolution, Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit in Deutschland; das Jahr 1848; das Sozialistengesetz; die Bismarcksche Sozialpolitik; der Erste Weltkrieg; die russische Revolution; die deutsche Revolution 1918/19 und die Entstehung der Weimarer Republik; die Weltwirtschaftskrise; die nationalsozialistische Machtergreifung; die Nürnberger Gesetze; der Zweite Weltkrieg; das Potsdamer Abkommen.

b) Empirische Untersuchungen haben jedoch erwiesen (vgl. von Friedeburg / Hübner 1964), daß ein ereignisgeschichtlich orientierter Unterricht - nach welchen didaktischen Prinzipien er immer gestaltet sein mag - allein nicht zu tragfähigen geschichtlichen Vorstellungen führt. Offensichtlich muß eine "strukturgeschichtliche" Orientierung hinzutreten. "Moderne Industriegesellschaft« muß als ein zusammenhängendes Ganzes verstanden werden können, als ein Zusammenhang gleicher oder ähnlicher Probleme, die im konkreten Feld der Geschichte sich immer wieder modifizieren und verändern. Die grundlegenden Gemeinsamkeiten des modernen industriegesellschaftlichen Lebens erschließen sich nicht schon einem didaktisch noch so gut durchdachten ereignisgeschichtlichen Unterricht, sondern bedürfen eines davon unabhängigen eigenen und unmittelbaren didaktisch thematisierten Zugangs. "Ereignisge-

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schichte" und "Strukturgeschichte" stehen in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis zueinander wie die Teilziele I und II: Ereignisgeschichtliche Chronologie ohne strukturgeschichtliche Interpretation führt zu einem bloß additiven geschichtlichen Verständnis; strukturgeschichtliche Interpretation wiederum ohne ein Minimum an ereignisgeschichtlicher Konkretisierung führt zum undifferenzierten Subsumieren von Ereignissen unter ein statisches Verständnismodell, also im Grunde zu einem eklatant ungeschichtlichen Verständnis von Geschichte.

Teilziel IV: Training selbständiger Informationsermittlung und Informationsverarbeitung

Denkt man noch einmal an die beiden vorhin definierten Typen von politischen Handlungssituationen, so ergibt sich die Notwendigkeit, in einer bestimmten Konfliktsituation sich optimale Informationen zu beschaffen und zu verarbeiten. Diese Fähigkeit folgt keineswegs notwendig aus den bisher erläuterten Lernzielen; denn einmal benötigt man dafür bestimmte intellektuelle Techniken und zum anderen eine eigentümliche Aktivität, die wiederum eine gewisse Verhaltens-Souveränität voraussetzt. Bekanntlich ist es z. B. vom Verhalten her nicht jedermanns Sache, sich öffentlicher Dienstleistungs-Institutionen zu bedienen. Gleichwohl darf aber dieses Teilziel nicht als bloß auf Verhaltenstechniken gerichtet verstanden werden; Techniken können vielmehr nur dann bewußt gelernt werden, wenn die systematische Bedeutung der Qualität und der Herstellung von Informationen selbst einschließlich ihrer medienspezifischen "Verpackung" hinreichend verstanden wird. Im einzelnen ist hier gemeint:

a) die planmäßige Benützung von Lexika und anderen Nachschlagewerken;

b) die Inanspruchnahme öffentlicher Informationsdienstleistungen, z. B. Beratungsinstitutionen (Berufsberatung) oder der Presse- und Informationsbüros von Behörden, Verbänden, Gewerkschaften, Industriebetrieben usw.;

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c) die planmäßige Übung der Informationsermittlung und Informationsanordnung aus dem Material der Presse und sonstiger Massenmedien;

d) eine elementare "Kunde" des modernen Informationswesens, nämlich der organisierten Informations-Beschaffung (z. B. Pressedienste), der Informations-Bearbeitung (z. B. Nachricht, Kommentar, Dokumentation, Feature), der damit verbundenen medialen Gesichtspunkte (Sprache, Sprach-Bild-Kombinationen) sowie schließlich der politischen Implikationen dieser "Schlüsselindustrie des 20. Jahrhunderts".
 

Teilziel V: Training praktischer Handlungsformen

Unter der Voraussetzung, daß es ausschließlich oder in erster Linie auf den Typus des mittelbaren politischen Handelns ankomme, würden die ersten vier Teilziele wahrscheinlich ausreichen. Soll jedoch politische Mitbestimmung auch an der gesellschaftlichen "Basis", z. B. in Betrieben und Schulen, realisiert werden, so müssen Verhaltensmöglichkeiten hinzukommen, die - wie die Erfahrung gezeigt hat - nicht einfach von selbst entstehen. Im Gegenteil: Solche Strategien der "unmittelbaren Demokratie" verlangen ähnliche Fähigkeiten, wie sie auch Berufspolitiker benötigen:

a) Die Fähigkeit, mit einfachen Rechtstexten umzugehen, um in einer konkreten Situation den Rechtsspielraum im Sinne der eigenen Interessen wahrnehmen zu können

b) die Fähigkeit, inhaltlich und methodisch eine Diskussion zu strukturieren, Diskussionsergebnisse zu protokollieren, Diskussionen zu leiten;

c) die Fähigkeit, unter Beachtung gruppendynamischer Erkenntnisse andere für den eigenen Handlungszweck zu gewinnen und Koalitionen zu bilden, sowie andererseits die Fähigkeit, die eigenen Interessen von anderen kontrolliert vertreten zu lassen;

d) die Fähigkeit, überlegte Freund-Feind-Unterscheidun-

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gen zu treffen und die Zahl der möglichen Gegner der eigenen Interessen so gering wie möglich zu halten;

e) die Fähigkeit, politische Urteile und Forderungen wirksam zu artikulieren und zu formulieren (z. B. in Form von Kurzreferaten, Flugblättern usw.).

f) Auch diese Fähigkeiten lassen sich nicht als bloße Techniken lernen, vielmehr werden sie nur dann plausibel, wenn sie auf Einsichten in menschliches Verhalten überhaupt beruhen und wenn solche Einsichten auch emotional erfahrbar werden. Nötig sind also elementare gruppendynamische Kenntnisse sowie Kenntnisse über psychologische Grundbegriffe (z. B. Projektion; Aggression; Frustration; Verdrängung).

Die meisten neueren Lernzieltheorien heben darauf ab, ein bestimmtes Verhalten in bestimmten, antizipierten Realsituationen als Lernziel zu definieren. Solche Überlegungen, denen wir hier Rechnung zu tragen versuchen, vermögen in der Tat den Begriff des "politischen Bewußtseins" bis zu einem gewissen Grade zu präzisieren. Werden sie jedoch verabsolutiert, so gefährden sie auch einen angemessenen Begriff des politischen Bewußtseins, indem sie dessen utopische Momente eliminieren, die - aus objektiven oder subjektiven Gründen - gerade nicht in konkrete Handlungssituationen aufgehen. Die oft berufene Differenz zwischen Bewußtsein und Verhalten signalisiert nämlich nicht nur die "praxis-ferne" Qualität dieses Bewußtseins, sondern auch dessen Kraft, reale Handlungssituationen auf die Dauer zu verändern. Gäbe es diese Differenz nicht und wird im Rahmen der genannten Lerntheorien nur der zum jeweils gewünschten Verhalten drängende Anteil des Bewußtseins belohnt, so gäbe es weder Kriterien für die Setzung von Verhaltensweisen noch auch Fortschritte hinsichtlich dieser Verhaltensweisen selbst. Dafür ein Beispiel: Es ist überaus nützlich, Hauptschülern als künftigen Arbeitern klarzumachen, welche Rechte sie z. B. als Lehrlinge haben und wie sie diese optimal ausschöpfen können. Die Lernziele dafür können im Rahmen des Musters "Situationsanalyse - wünschbares Verhalten - Kontrolle des

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tatsächlichen Verhaltens" hinreichend formuliert werden. Ein Bewußtsein darüber jedoch, ob die formulierten Verhaltensziele im Interesse desjenigen liegen, der sich nach ihnen richten soll, oder in welcher Richtung ein Rechtsfortschritt zu erfolgen hätte, kann auf diese Weise höchstens zufällig entstehen, bzw. entsprechend korrigiert werden.

Zusammenfassung

Wir waren ausgegangen von dem aus einer historisch-dynamischen Interpretation des Grundgesetzes abgeleiteten übergeordneten Lernziel "Mitbestimmung" und hatten versucht, dieses Lernziel in fünf Teilziele aufzugliedern. Ganz allgemein ließe sich also sagen, daß ein politischer Unterricht auf die Dauer dann optimal ist, wenn er diese fünf Teilziele auch tatsächlich realisiert. Umgekehrt heißt das aber auch, daß jedes dieser Teilziele seinen Zweck verfehlen muß, wenn es von den anderen isoliert wird. Die Analyse politischer Konflikte allein stellt noch kein richtiges systematisches politisches Bewußtsein her und garantiert auch noch kein angemessenes politisches Verhalten in Konfliktsituationen; das systematische Training des "gesamtgesellschaftlichen Bewußtseins" allein garantiert noch keine richtige Analyse eines bestimmten Konfliktfalles und ebensowenig ein angemessenes politisches Verhalten; historisches Bewußtsein allein kann zur Abstinenz von aktuellen politischen Kontroversen und zu politischer Passivität führen; das Training von Informationsermittlung allein nutzt so lange wenig, wie nicht klar wird, wozu man die Informationen eigentlich benutzen will; und das Training politischer Verhaltensformen allein würde nur blinde Aktivität fördern, die für ganz verschiedene Zwecke in Anspruch genommen werden kann - und keineswegs nur für den der fortschreitenden Demokratisierung. Nur wenn man also diese fünf Teilziele in einem Zusammenhang sieht, können sie als Operationalisierungen des übergeordneten Lernziels "Mitbestimmung" verstanden werden.

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Nun sind diese Lernziele zwar gleich wichtig, aber keineswegs gleichwertig. Unsere These ist vielmehr, daß es beim politischen Unterricht im Kern auf die Bearbeitung des politischen Bewußtseins als eines gesamtgesellschaftlich-historischen ankommt und darauf, dieses Bewußtsein für politisches Handeln in konkreten Situationen nutzbar zu machen. Emotional-affektive und gruppendynamische Probleme interessieren hier nur insofern, als sie die Bearbeitung des Bewußtseins zu verhindern oder einzuschränken vermögen, und die Ergebnisse der "politischen Psychologie", die solche Aspekte untersucht, können hier wichtige Beiträge sein (vgl. Politische Erziehung ... 1966; Jacobsen 1968). Aus diesem Grunde enthalten mit voller Absicht auch die mehr "technisch" orientierten Teilziele bewußtseinsbildende Elemente. Überhaupt unterscheiden sich die Teilziele nicht dadurch voneinander, daß die einen mehr den kognitiven, die anderen mehr den emotional-affektiven oder verhaltenstechnischen Bereich ansprechen. Vielmehr geht es bei allen um die Bearbeitung des Bewußtseins unter verschiedenen Aspekten, und die Aufteilung der Lernziele erwächst eher aus einer intellektuellen Notlage, weil nur so die erforderlichen Präzisierungen und Differenzierungen darstellbar werden. Gleichwohl bleibt aber die Frage offen, ob das, was mit "Bearbeitung des Bewußtseins" gemeint ist, sich nicht noch weiter präzisieren läßt.
 

Aktionswissen und Kategorien der Konflikt-Analyse
 

Wenn das Bewußtsein einen politischen Konflikt bearbeiten soll, muß es seine Informationen und Interpretationsmuster in eigentümlicher Weise darauf hin organisieren. Es gibt keinen direkten, ungebrochenen Weg vom allgemeinen Bewußtsein zu seiner konkreten Anwendung. Nur wer nicht politisch handeln will oder sein Handeln nicht rationaler Kontrolle zu übergeben wünscht, beläßt es bei allgemeinen Theorien, wie sie etwa unserem Teilziel II ent-

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sprechen. Das Problem ist jedoch, wie man theoretisch überzeugend das Bewußtsein derart instrumentalisieren kann, daß es einerseits sein Potential für die Bearbeitung eines Konfliktes wirklich einzusetzen vermag, andererseits aber die dabei gewonnenen Erfahrungen auch wieder zurückholen kann. Wir wollen diese Tätigkeit des Bewußtseins die Mobilisierung von Aktionswissen nennen. "Irgendwie" geschieht das täglich, unser Ziel ist jedoch, dieses Verfahren rational durchschaubar zu machen.

In der Selbsterfahrung bzw. Selbstbeobachtung stellt sich die Mobilisierung von Aktionswissen zunächst so dar, daß wir an einen Konflikt irgendwelche Impulse richten, in denen Erkenntnisse, Wünsche, Hoffnungen und sonstige Gefühle vermischt sind. Man könnte sagen: Wir befragen diesen Konflikt darauf hin, was er für uns bedeuten könnte, und wir antizipieren dabei zumindest in unserer Phantasie auch mögliche, den Motiven unseres Fragens entsprechende Entscheidungen: Wie würden wir diesen Konflikt lösen, wenn wir die Macht dazu hätten? Und warum so und nicht anders? Eben diese Entscheidungssituation soll nun weiter thematisiert werden, wobei noch einmal daran erinnert sein soll, daß wir diese Entscheidungssituation angesichts konkreter Konflikte für den Kern dessen halten, dem der politische Unterricht mit allen seinen Lernzielen letzten Endes zu dienen hat.

Einen Konflikt politisch zu analysieren heißt, politische Fragen an ihn zu stellen. Solche Fragen aber haben ihrerseits bereits eine inhaltliche Implikation, bevor sie gestellt werden. Methodologisch ausgedrückt: Um eine Frage als politische klassifizieren zu können, muß ich sie vorher als solche begründet haben. Wenn dies gelingt, heißt das, daß den Fragen politische Kategorien zugrunde liegen.

Bevor aber nun von diesen Kategorien gesprochen wird, muß ein mögliches Mißverständnis ausgeräumt werden: Es handelt sich hier um politische Fragen, nicht um wissenschaftliche, d. h. um solche, hinter denen nicht nur der Wunsch nach Erkenntnis steht, sondern auch ein "erkenntnisleitendes Interesse" (Habermas), also eine Art von Wert-

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urteil. Nach dem heute vorherrschenden Wissenschaftsbegriff würde man von einer wissenschaftlichen Frage erwarten, daß sie ohne Beimischung eines Werturteils nur auf Erkenntnis zielt. Nun könnte man diesem Problem dadurch ausweichen, daß man jede der folgenden Kategorien noch einmal in eine "normative" und "analytische" unterteilt, also erst nach den Tatsachen, und dann nach der Bewertung dieser Tatsachen fragt. Aber erstens ist nicht recht ersichtlich, was eine solche Trennung wirklich erbringen würde, und zweitens ist die Trennung von Analyse und Bewertung für unseren Gegenstand kein konstituierendes Moment der Wissenschaft. Entscheidend ist vielmehr nicht nur, daß Behauptungen empirisch verifiziert und falsifiziert werden können, sondern auch, daß Argumentationen rational diskutiert werden können. Nun zu den einzelnen politischen Kategorien.

1. Konflikt: Wir betrachten Politik unter dem Aspekt der Widersprüche bzw. der Auseinandersetzung zwischen Menschen und Gruppen. Auf den ersten Blick mag es eine tautologische Aussage sein, wenn wir einen Konflikt unter der Kategorie des Konfliktes betrachten wollen. Aber es ist durchaus möglich, einen objektiv vorhandenen Widerspruch bzw. Konflikt zu verleugnen und die Sachverhalte zu harmonisieren und also auch entsprechend nach ihnen zu fragen. Das Bemühen nämlich, den Konfliktcharakter eines Sachverhaltes möglichst zu verschleiern, ist selbst schon eine Form des interessegeleiteten politischen Verhaltens. So läßt sich z. B. nachweisen, daß die Arbeitgeber im allgemeinen einen objektiven, "latenten" Widerspruch zwischen sich und ihren Arbeitern verneinen und statt dessen zu pragmatischer Interpretation von Konflikten neigen. Das hängt damit zusammen, daß im Falle der Annahme eines prinzipiellen Widerspruchs ihre Argumentation in der Auseinandersetzung auch entsprechend schwieriger würde.

Aufgabe dieser Kategorie ist also, den tatsächlichen Konfliktcharakter von Konflikten und Widersprüchen aufzu-

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decken und so genau wie möglich material zu beschreiben. Dabei ist die schon erwähnte Unterscheidung von "latenten" und "manifesten" Konflikten zu beachten. Es kann z. B. sein, daß ein innerbetrieblicher Konflikt lediglich auf "menschliches Versagen", etwa auf einen autoritären Führungsstil oder auf vermeidbare Fehler der Arbeitsorganisation zurückzuführen ist; es kann aber auch sein, daß dieser Konflikt nur einen latenten manifest macht, etwa im Sinne des Widerspruchs von Kapital und Arbeit. Die erstere Art von Konflikten ist leichter zu lösen, im zweiten Falle dürfte es eine allseits befriedigende Lösung kaum geben, sondern allenfalls eine "bessere" Regelung als bisher. Von welcher Art der vorliegende Konflikt nun wirklich ist, kann nicht allein von dieser Kategorie her entschieden werden, vielmehr müssen andere, z. B. "Geschichtlichkeit" hinzukommen. Epochale latente Konflikte lassen sich nur im Kontext historischer Reflexion ermitteln.

2. Konkretheit: Politische Entscheidungssituationen sind jedoch immer konkreter, einmaliger Art. Die allgemeine Konfliktanalyse muß also ergänzt werden durch eine Analyse der konkret gegebenen Handlungsmöglichkeiten. Dabei können gerade Einzelheiten von erheblicher Bedeutung sein. Selbst wenn es sich beim vorliegenden Konflikt um einen latenten handeln sollte, einen z. B., der seit dem Entstehen der kapitalistischen Gesellschaft eine Rolle spielt, so kann die Kenntnis früherer Zusammenhänge bzw. Teillösungen noch nichts Hinreichendes über die jetzt vorliegenden Möglichkeiten aussagen. Das gilt ebenso für die Folgen einer politischen Entscheidung. Die Kategorie der Konkretheit hat es vielleicht am schwersten von allen hier vorgeschlagenen, weil sie die intellektuelle und praktische Disziplinierung am Detail verlangt.

Der ereignisgeschichtlich orientierte Geschichtsunterricht vermag die Anwendung dieser Kategorie besonders gut zu trainieren, zumal in der Regel dort auch das Ergebnis konkreter Entscheidungen bekannt ist, was die Überprüfung der Entscheidung erheblich erleichtert. Jedoch ist eben

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aus diesem Grunde die ungelöste Gegenwartssituation nicht ersetzbar durch die Analysen des Geschichtsunterrichts. Gerade das Risiko von "Erfolg" oder "Mißerfolg" unterscheidet politische Gegenwartsentscheidungen von historischen "Fällen".

3. Macht: Politische Handlungssituationen sind immer auch durch konkrete Macht-Konstellationen definiert. Macht erhält den Status quo einer Gesellschaft, Gegen-Macht verändert sie. Die Kategorie der Macht sollte weitgefaßt verstanden werden: als Inbegriff aller tatsächlichen Möglichkeiten, andere zu einem bestimmten gewünschten Verhalten zu veranlassen. Es gibt die Macht staatlicher Institutionen, ökonomische Macht, die Macht des Streiks, der öffentlichen Meinung, des spontanen kollektiven Widerstandes an der Basis usw. Im politikwissenschaftlich-systematischen Sinne handelt es sich hier zwar um höchst unterschiedliche Formen der Macht, die im Rahmen unterschiedlicher Teildisziplinen abzuhandeln wären, unter dem Aspekt des politischen Handelns jedoch werden diese Unterschiede relativ belanglos, hier gilt in erster Linie das Kriterium der Wirksamkeit einer politischen Machtform.

Diese Kategorie fragt in erster Linie nach den durch Macht möglichen Realisierungschancen bestimmter Interessenpositionen angesichts eines Konfliktes und wird dabei unter anderem entdecken, daß die einzelnen Interessenpositionen sowohl hinsichtlich des Macht-Umfangs wie hinsichtlich der Macht-Formen keineswegs gleich sind. Über ökonomische Macht z. B. verfügen relativ wenige, die Mehrheit verfügt dagegen nur über das Machtmittel der gemeinsamen Arbeitsverweigerung; und nicht unbedeutende Minderheiten, z. B. Wohlfahrtsempfänger und Obdachlose, verfügen von sich aus praktisch über keinerlei Macht für die Durchsetzung ihrer Interessen - selbst das Wahlrecht verschafft ihnen praktisch keine Chancen. Diese Kategorie fragt aber nicht nur nach der realen Machtverteilung angesichts einer konkreten Entscheidung, sondern auch nach der Möglichkeit der Macht-Vermehrung, woran insbeson-

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dere benachteiligte Gruppen interessiert sein müssen. Gerade in den letzten Jahren wurden dafür neue Möglichkeiten durchgespielt: die Demonstration, die gewaltlose Verweigerung, die Verfremdung gegnerischer Macht-Rituale etwa in Gerichtssälen und anderes mehr.

4. Recht: Alle politischen Entscheidungen bewegen sich jedoch nicht nur im Rahmen bestimmter Machtstrukturen, sondern auch im Rahmen rechtlich markierter Zusammenhänge. Das bedeutet zunächst einmal eine Einschränkung an sich möglicher Formen der Machtgewinnung und Machtanwendung, zugleich aber eben auch eine Art von Machtgarantie. Denn nicht selten zielt politisches Handeln gerade darauf, versprochenes Recht einzulösen bzw. beschränktes Recht wiederherzustellen.

Andererseits fragt diese Kategorie aber auch nach den Möglichkeiten und Bedürfnissen des Rechtsfortschritts; denn Rechtslagen haben historisch betrachtet immer auch den Charakter politischer Vereinbarungen - unbeschadet der rechtsphilosophischen Frage nach der Herkunft und Bedeutung der Rechtsprinzipien. Rechtssetzungen sind in der Regel das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen und Widersprüche und nicht nur, wie oft glauben gemacht wird, ein Instrument der "herrschenden Klassen" zur Unterdrückung der anderen Klassen. Zwar sind die rechtlich zugelassenen Chancen auch heute noch, vor allem im ökonomischen Bereich, zum Teil höchst ungleich verteilt, andererseits kann es jedoch keinen Zweifel daran geben, daß der historische Fortschritt an Demokratisierung und Emanzipation geradezu konstitutiv auf dem Wege rechtlicher Entscheidungen erfolgt ist, so daß die Identifizierung von "demokratischem" Staat und "Rechtsstaat" keineswegs eine leere Formel ist. Im Gegenteil dient das Rechtssystem im ganzen gerade auch denjenigen Gruppen und Klassen, die im Falle der Rechts-Unsicherheit sofort der größeren Macht der anderen ausgeliefert wären. Daraus folgt, daß die Kategorie des Rechts angesichts eines bestimmten Konfliktes nicht nur nach den notwendigen

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Rechtsfortschritten fragen muß, sondern ebenso auch nach der Erhaltung des bestehenden Rechtes.

5. Interesse: Die Kategorie des subjektiven Interesses vermag bei derartigen Entscheidungen, ob nämlich z. B. in einem konkreten Falle Rechtsfortschritt angestrebt werden soll oder nicht, eine wichtige Hilfe zu geben. Gemeint sind hier im Sinne von Adorno die "unmittelbaren" Interessen (1960, S. 14), also die materiellen wie immateriellen persönlichen Wünsche und Bedürfnisse, deren Erfüllung irgendwie an politisch-gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden und nicht allein im Rahmen der privaten Lebensführung zu erreichen ist. Nicht gemeint ist hier der marxistische Begriff des "wahren" Interesses bzw. Bedürfnisses, etwa im Sinne von Oskar Negt, der nicht auf das Individuum, sondern auf die menschliche Gattung bezogen ist.

Nun ist im politischen Unterricht allenthalben von Interessen die Rede, vor allem in der Formel von den Interessenverbänden. Es ist aber ein Unterschied, ob solche Interessen lediglich als eine Art verobjektiviertes Gegenüber den Kindern und Jugendlichen vorgestellt werden, als hätten sie selber zu ihnen keinen Bezug, oder ob die Jugendlichen von der politischen Pädagogik dazu ermuntert werden, ihre eigenen Interessen zu ermitteln und sich nach den Chancen der Verwirklichung umzusehen. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß politische Mitbestimmung und Verantwortung nur dort sinnvoll übernommen werden kann, wo dem ein subjektives Interesse zugrunde liegt. Interessen sind gleichsam die subjektive Seite von Politik; und wenn man die Grundrechte des Grundgesetzes nicht abstrakt, sondern in ihrer historischen Entstehung interpretiert - als einen gewissen Abschluß der Klassenkämpfe und der Emanzipation - , dann versteht sich politische Mitbestimmung vornehmlich als das Recht, die je individuellen Interessen ins politische Spiel zu bringen.

Nun wird oft eingewendet, Kinder und Jugendliche hätten angesichts ihrer noch nicht festgelegten sozialen Stellung

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auch keine oder jeweils keine gravierenden politischen Interessen zu vertreten; der politische Unterricht habe also nur propädeutischen Charakter. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil die gesellschaftlichen Institutionen wie Schule und Lehrbetrieb selber notwendigerweise einen Interessenwiderspruch produzieren. Kinder, die keinen Kindergartenplatz finden, Fürsorgezöglinge, die die objektiv mögliche pädagogische Hilfe nicht erhalten, Schüler, die durch das vorhandene Schulsystem benachteiligt werden, Lehrlinge, die ausgebeutet werden: sie alle haben politische Interessen, die sich möglicherweise sogar von denen ihrer Eltern oder auch der Gewerkschaften teilweise unterscheiden. Zudem repräsentieren sich in weitem Maße in den Interessen von Kindern und Jugendlichen die politischen, ökonomischen und sozialen Interessen der Familien bzw. ihrer sozialen Schicht - wie wohl überhaupt solche Interessen zwar je individuell artikuliert werden, aber jeweils auf soziale Beziehungen zurückverweisen. Nicht, daß Jugendliche keine politischen Interessen hätten, ist das didaktische Problem, sondern daß sie meist noch nicht gelernt haben, solche Interessen zu erkennen und zu artikulieren. Wie sehr scheinbar private Konflikte des Alltags auf objektive Widersprüche zurückzuführen sind, zeigt schon die eigene Lebenserfahrung. Wie schwer es andererseits ist, aus dem Wust der von außen unermüdlich angesonnenen Interessen das, was man nun wirklich will und wünscht, wieder herauszufiltern, ist ebenfalls eine allgemeine Erfahrung.

6. Solidarität: Diese Kategorie zielt auf einen durchgehenden Tatbestand des Politischen. Jede politisch-gesellschaftliche Aktion nützt bestimmten Gruppen und benachteiligt gleichzeitig andere. Andererseits kann der einzelne nicht allein seine Interessen und Wünsche realisieren. Er bedarf dazu der Hilfe einer oder mehrerer Gruppen.

Da der Begriff "Solidarität" am meisten von allen hier verwendeten Kategorien emotional beladen ist, sind bei seiner Verwendung auch Mißverständnisse möglich. In der deutschen Arbeiterbewegung bezeichnete er die schicksal-

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hafte Verbundenheit derjenigen, die von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ausgebeutet und unterdrückt waren. Die Notwendigkeit, gleichsam unter allen Umständen - auch bei Meinungsverschiedenheiten und Konflikten - zusammenzuhalten gegen den Klassengegner, weil nur so die Beseitigung der gemeinsamen Not erreichbar war, hat verständlicherweise solidarisches Verhalten mit einem hohen moralischen Anspruch ausgestattet. Unsolidarisches Verhalten war nicht nur politisch falsch, sondern auch moralisch verwerflich.

Diese hohe Emotionalität und Moralität kann heute nicht mehr einfach zur Bedingung gemacht werden. Die Einsicht, daß die individuellen Interessen politisch nur dann wirksam werden können, wenn sie so umfassend wie möglich als kollektive organisiert werden können, verlangt zwar auch ein gewisses Maß an wechselseitiger Loyalität zwischen diesen Individuen und ihren Organisationen, aber doch auch ein bestimmtes Maß an rationaler Distanz: die Gruppen, Verbände und Organisationen haben die Aufgabe von politischen Willensbildungs- und Aktions-Instrumenten angenommen. Das bedeutet grundsätzlich, daß die Solidarität nicht mehr ein für allemal festgelegt ist, sondern sich teilweise auf mehrere, konkurrierende Gruppen erstrecken kann, so daß der Entzug der Solidarität - etwa gegenüber einer politischen Partei bei der Wahl - selbst ein wichtiger Aspekt des politischen Handelns sein kann.

Andererseits ergibt sich aus der faktischen gesellschaftlichen Ungleichheit, daß Solidaritäten sich nicht völlig beliebig ergeben können. So wäre es für einen Arbeiter absurd, sich mit dem politischen Handeln einer Arbeitgebervereinigung zu solidarisieren. Zwar wären zeitweilig begrenzte Bündnisse denkbar, etwa zur Überwindung einer wirtschaftlichen Krise. Aber im ganzen schreibt ihm der gesellschaftliche Standort eine kontinuierliche Solidarität mit den Gewerkschaften vor. Und ein politischer Unterricht, der hier sich auf einen bloß formalen Pluralismus zurückzieht, handelt in Wahrheit gegen die Interessen der Arbeiter bzw. ihrer Kinder. Bei der Solidarität gegenüber

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politischen Parteien sieht die Sache inzwischen anders aus. Seitdem es keine allgemein akzeptierte Arbeiterpartei mehr gibt, legt der gesellschaftliche Standort auch nicht mehr eine prinzipielle Loyalität zu einer bestimmten Partei nahe.

Das alles bedeutet aber nichts anderes, als daß nicht nur das subjektive Interesse, sondern auch die ihm angemessene kollektive Vertretung bzw. Organisation im konkreten Falle nicht vorgegeben ist, sondern erarbeitet und ermittelt werden muß.

7. Mitbestimmung: Die Mitbestimmung ist ein Fundamentalprinzip unseres Grundgesetzes, weshalb wir sie früher schon als oberstes Lernziel für den politischen Unterricht setzten. Als didaktische Kategorie soll sie einerseits die konkret vorliegenden Möglichkeiten der Mitbestimmung ermitteln, die auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen liegen: angefangen von der politischen Wahl über die Benutzung eines gesellschaftlichen Interessenverbandes bis hin zu "Bürger-Aktionen" an der Basis. Andererseits vermag diese Kategorie auch zu zeigen, an welchen Punkten Möglichkeiten der Mitbestimmung gar nicht oder nicht hinreichend vorhanden sind. So wurde gerade in den letzten Jahren angesichts der Lehrlingsproteste entdeckt, daß es für die Interessenvertretung von Lehrlingen keine angemessene Regelung gibt. Ähnlich verhielt es sich in Schulen und Hochschulen. Ferner vermag diese Kategorie, auf eine bestimmte Situation angewendet, auch zwischen realistischen und illusionären Handlungsmöglichkeiten zu unterscheiden.

8. Funktionszusammenhang: Diese Kategorie sucht der Tatsache Rechnung zu tragen, daß unter modernen politisch-soziologischen Bedingungen alle politischen Einzelaktionen und Situationen auf zahlreiche andere einwirken, daß es also in der arbeitsteiligen Gesellschaft keine isolierten politisch-gesellschaftlichen Erscheinungen mehr gibt. In dieser Kategorie kommt sachlich wie ethisch das Ganze des politischen Zusammenlebens in den Blick. Sie enthält

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zudem die Forderung, die Verantwortung für Folgen zu übernehmen, die durch eine politische Maßnahme oder Unterlassung im Rahmen des Ganzen hervorgerufen werden. Mit dieser Kategorie kommt auch der Begriff des Gemeinwohls in den Blick. Allerdings wird "Gemeinwohl" hier als Produkt eines ständig zu überprüfenden politischen Prozesses verstanden. "Das Gemeinwohl als die richtige Ordnung des Zusammenlebens verwirklicht sich im ständigen Dialog von Meinungen, Interessen und Ideen" (H. Schneider 1962, S. 214).

Die wissenschaftlichen Möglichkeiten, die Art und Weise des Zusammenhangs der politischen Erscheinungen materiell zu konkretisieren, nehmen zu. Je mehr die Gesellschaft auf diese Weise in der Lage ist, Wirkungen und Folgen von Maßnahmen oder Unterlassungen im Ganzen des menschlichen Zusammenlebens mit hinreichender Genauigkeit vorauszusehen, um so mehr kann das politische Bewußtsein auch diese Wirkungen und Folgen in seine Verantwortung übernehmen.

Die Zeitperspektive dieser Kategorie ist die Zukunft; sie bezieht sich auf Wirkungen, die nach einer Entscheidung eintreten können und die möglicherweise die mit dieser Entscheidung intendierten Ziele rückwirkend wieder gefährden können.

Die Raumperspektive dieser Kategorie ist grundsätzlich global, sie erstreckt sich - je nach Art des vorliegenden Konfliktes - auch auf weltgesellschaftliche Zusammenhänge.

9. Ideologie: Diese Kategorie unterwirft Begründungen für das politische Handeln bzw. für eine gesellschaftliche Situation einer rationalen Kontrolle. Alles politische Handeln wird schon deshalb immer mit Begründungen versehen, weil Menschen dafür gewonnen werden müssen. In der "pluralistischen" Gesellschaft gehen solche Ordnungsvorstellungen in der Regel von bestimmten sozialen Gruppen aus, erstrecken sich aber auf die Gesamtheit der Gesellschaft. Die Doppelbödigkeit des Ideologiebegriffs - Ver-

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deckung des partikularen Interesses und Theorie für die Ordnung des Ganzen - müßte sich in der Relation zur Kategorie der Solidarität ergeben. Es kommt für die politische Beurteilung auf beide Seiten an: Keine politische Aktion erfolgt letztlich ohne ein Mindestmaß an übergreifenden Ordnungsvorstellungen; jede politische Aktion aber droht gerade diese Theorien zum Vorwand für partikulare Interessen zu machen. Mit der Kategorie der Ideologie bedient sich der Bürger der Erkenntnisse der Ideologiekritik, um seine Interessen wie auch seine erfolgreiche Interessenvertretung jeweils neu ermitteln zu können.

10. Geschichtlichkeit: Die Bedeutung dieser Kategorie ist schon bei der Lernzielbestimmung ausführlicher begründet worden. Sie fragt nach dem Geschichtlichen, insofern es einen Konflikt mitbestimmt oder geradezu mitbegründet. Diese Frage öffnet eigentlich erst den Horizont für das Aktuelle. Dabei geht es nicht um einen Geschichtsunterricht aus Anlaß eines politischen Konfliktes, sondern um die Bereitstellung des historisch Gewußten unter einem spezifischen Aspekt, der allein niemals einen Geschichtsunterricht begründen könnte. Keine wesentliche politisch-gesellschaftliche Streitfrage unserer Tage ist begreifbar ohne diesen historischen Aspekt. Der Verzicht auf ihn müßte also von vornherein den Sinn des politischen Unterrichts in Frage stellen. Wenn wir politische Urteile ohne Bewußtsein von der historischen Kontinuität fällen, dann werden diese Urteile auch bald ihre demokratischen Perspektiven verlieren. Strenggenommen muß die Kategorie der Geschichtlichkeit auf alle übrigen Kategorien selbst wiederum angewandt werden. Eine ideologische Begründung etwa für eine politische Maßnahme ist überhaupt wohl nur durch einen Rückgriff auf ihren historischen Entstehungszusammenhang angemessen zu verstehen. Aber uns geht es hier zunächst ganz vordergründig um die Kontinuität des Faktischen und des Bewußtseins. In welcher Weise die geschichtliche Erfahrung politisch bedeutsam ist, hängt wesentlich davon ab, wie sie im Bewußtsein der Zeitgenossen

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verankert ist. Wenn z. B. die Erinnerung daran, wie in der jüngsten Vergangenheit demokratische Ansätze in Diktatur umschlugen, verlorengeht, geht auch die Möglichkeit weitgehend verloren, diktatorische Tendenzen in der Gegenwart frühzeitig zu erkennen. Gewiß werden solche Tendenzen nicht immer in gleicher Form in Erscheinung treten, aber sie lassen sich leichter erkennen und ihre Konsequenzen werden stärker bewußt, wenn die Erinnerung an ähnliche Entwicklungen in der Vergangenheit lebendig erhalten bleibt.

Die hier gemeinte Kategorie deckt jedoch nicht alles, was früher im Rahmen des Lernziels "historisches Bewußtsein" entwickelt wurde. Dieses ist vielmehr in gewisser Weise Voraussetzung dafür, daß diese Kategorie überhaupt sinnvoll angewendet werden kann. Unter der politischen Kategorie der Geschichtlichkeit kann immer nur von einer politischen Verlegenheit der Gegenwart her in die Geschichte zurückgefragt werden. Die Antworten aber, die die Geschichte bzw. das historische Bewußtsein im Einzelfall darauf bereithält, hängen unter anderem davon ab, ob das historische Bewußtsein der Fragenden das, was jeweils gebraucht wird, übersteigt oder nicht. Wenn also auf der Ebene der historischen Vorstellungen nur das zu finden ist, was für die Aktualität der Gegenwart Bedeutung hat, dann gerät das historische Wissen gerade in die Versuchung, als Legitimation für aktuelle Entscheidungen mißbraucht zu werden. Unter dem Aspekt des historischen Bewußtseins ist also nicht nur wichtig, was bestimmte historische Erscheinungen und Erfahrungen für die Gegenwart bedeuten, sondern auch, was die Gegenwart vor dem Anspruch bereits vorliegender historischer Erfahrungen bedeutet.

11. Menschenwürde: Die Kategorie der Menschenwürde ergibt sich aus den Maximen der Grundrechte und prüft politische Aktionen und Situationen darauf hin, in welcher Weise sie auf die davon betroffenen Menschen einwirken. In ihr kann man die einzelnen Grundrechte wohl zusam-

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menfassen, so daß wir sie hier nicht als einzelne Kategorien aufführen müssen. Der Unterricht muß aber vermeiden, die Normen der Grundrechte abstrakt vorzuführen. Nicht nur sind sie auf diese Weise dem Jugendlichen nicht einsichtig und begreiflich zu machen, vielmehr geht auch ihre politische Bedeutung verloren, wenn man sie nicht als Maßstab konkreter Politik versteht. Sie legitimieren erst in zweiter Linie demokratische Formalitäten, in erster Linie und substantiell beziehen sie sich auf das konkrete Dasein konkreter Menschen. Auch politische Unterlassungen können demnach gegen die Menschenwürde verstoßen.
 

Aktionswissen und Lernziele

Bevor die didaktische Funktion dieser Kategorien weiterverfolgt wird, muß noch einmal Klarheit über ihren Zweck hergestellt werden und darüber, was sie nicht leisten können und sollen. Die beste Lernzielbestimmung nützt bekanntlich wenig, solange nicht auch die Frage ihrer praktischen Vermittlung geklärt ist. Unsere Ausgangsüberlegung war, daß das Bewußtsein sich in bestimmter Weise auf Konflikte und Auseinandersetzungen hin strukturieren müsse und daß dies eigens gelernt werden müsse. Wir haben weiter vorgeschlagen, dies durch die Anwendung der eben begründeten Kategorien zu tun. Nun setzt dies aber schon rein logisch voraus, daß das Potential des Bewußtseins größer sein muß, als seine konkrete Anwendung erforderlich macht, sonst würde sich ja der Konflikt im Bewußtsein bloß abbilden. Unsere Kategorien werden aber aus den Konflikten nicht "abgelesen", sondern an sie mit einer bestimmten Begründung herangetragen, d. h. also, sie erwachsen selbst aus einem systematischen theoretischen Verständnis, das der aporetischen Orientierung an Konflikten vorausgeht. Dieser Tatsache, daß nämlich aporetisches und systematisches Bewußtsein sich immer schon ge-

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genseitig voraussetzen, suchte unsere Aufgliederung der Lernziele Rechnung zu tragen. Die Frage ist nun, ob die eben entwickelten Kategorien diese Lernziele wieder zu integrieren vermögen. Oder anders ausgedrückt: Mobilisiert das Aktionswissen alle vorhin erörterten Teilziele?

Theoretisch läßt sich diese Frage bejahen; denn die systematischen Partien des Orientierungswissens z. B. (Teilziel II) müssen in Gang gesetzt werden, sobald die Kategorien angewendet werden. Das historische Bewußtsein (Teilziel III) wird zumindest durch die Kategorie "Geschichtlichkeit" angesprochen. Auch die Techniken der Informationsermittlung (Teilziel IV) werden - wenn auch jeweils in unterschiedlichem Maße - bei allen Kategorien benötigt. Und die Techniken des politischen Verhaltens (Teilziel V) schließlich sind notwendig im Zusammenhang der Kategorien "Mitbestimmung" und "Solidarität" gefragt.

Allerdings gilt auch die Umkehrung: Indem diese Kategorien auf einen politischen Konflikt angewendet werden, machen sie auch durch die Aufdeckung von systematischen Kenntnis- und Verhaltensdefiziten diese Lernziele plausibel und motivieren vielleicht sogar dafür.

Allerdings gibt dieser theoretische Zusammenhang von Aktionswissen und den einzelnen Teilzielen noch kein methodisches Konzept für die Unterrichtsorganisation her. Es dürfte schwerfallen, etwa von der Bearbeitung eines bestimmten politischen Konfliktes her alle Teilziele hinreichend zu erschließen. Die Fülle der dabei gleichzeitig auftretenden Aspekte und Perspektiven würde die Unterrichtskommunikation verwirren und zu allgemeiner Frustration führen. Doch über die methodischen Konsequenzen später mehr.

Wenn also akzeptiert werden kann, daß das Aktionswissen die verschiedenen Teilziele des politischen Unterrichts zu integrieren vermag, so darf nicht übersehen werden, dass diese Integration nicht unter einem bloß politischen Aspekt erfolgt, sondern unter einem politisch-didaktischen, d. h. unter dem Aspekt eines lernenden (und handelnden) Individunms. Eben dies wird vor allem von Soziologen

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und Politologen gelegentlich falsch eingeschätzt, weil ihnen diese Perspektive fachlich fremd ist, so daß die irrige Auffassung entsteht, diese didaktische Theorie sei als solche bereits eine politische Theorie. Im Unterschied jedoch zu politischen und gesellschaftlichen Theorien ist es Aufgabe einer didaktischen Theorie, die fraglichen Sachverhalte unter einem subjektiven Aspekt zu konstruieren, eben unter dem Aspekt eines lernenden Individuums; denn Lernsubjekte sind faktisch nur Individuen, nicht etwa Gruppen oder Klassen. Die Rede davon, daß Gruppen oder "die Arbeiterklasse" lernen, ist nur im übertragenen Sinne sinnvoll. Präziser müßte es heißen, daß Gruppen, Klassen oder Kollektive das Lernen von Individuen erleichtern (und natürlich auch erschweren) können, etwa indem sie zu neuen Lernleistungen ermuntern und neue Lerninhalte sozial kommunizierbar machen und schützen.

Damit hängt eine weitere Implikation zusammen. Unser didaktisches Modell ist nicht nur keine politische Theorie, die als solche zu lernen wäre, sie ist vielmehr auch notwendigerweise keine inhaltlich endgültig bestimmte Theorie über "richtiges" Bewußtsein. Selbstverständlich enthält sie gewisse inhaltliche Vorentscheidungen darüber, was zum "richtigeren" Bewußtsein gehören müßte, etwa die inhaltlichen Implikationen der Kategorien selbst oder der formulierten Lernziele. Im großen und ganzen jedoch enthält unsere Theorie nur Verfahrenshinweise darüber, wie man zu einem "richtigeren" Bewußtsein kommen könnte, sowie darüber, was "richtigeres" Bewußtsein im Kontext der eigenen Interessen heißen könnte. Es ist vorauszusehen, daß dies als "formalistisch" kritisiert werden wird. Aber nur auf Indoktrination angelegter politischer Unterricht könnte die Inhaltlichkeit des "richtigen" Bewußtseins vollends didaktisch antizipieren; dann aber wäre die didaktische Theorie überhaupt überflüssig, nötig wäre nur noch als Sozialtechnik verstandene Unterrichtsmethodik. Vielleicht gäbe es Möglichkeiten, die inhaltlichen Vorentscheidungen noch zu erweitern, ohne das eben erläuterte Prinzip zu verletzen; aber ich sehe sie vorläufig nicht und

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finde auch in der vorliegenden Literatur keine plausiblen Hinweise dafür.

Exkurs über Geschichtsunterricht: Unter der Voraussetzung, daß diese Kategorien im ganzen als im pragmatischen Sinne hinreichend für solche Analysen angesehen werden können, deren Ziel die weitere Realisierung des Grundgesetzes und allgemeiner Mitbestimmung ist, geben sie auch die wichtigsten Leitgesichtspunkte für einen unter Teilziel III genannten ereignisgeschichtlichen Geschichtsunterricht ab. Dessen Aufgabe sollte ja sein, den historischen Prozeß der Demokratisierung sowie der Widerstände dagegen an bestimmten "Schlüsselereignissen" aufzuklären. Mit Ausnahme der Kategorie des subjektiven "Interesses", die allenfalls auf wenige handelnde Persönlichkeiten zurückprojiziert werden könnte, soweit die Quellenlage das gestattet, würden alle anderen sich auch als Kategorien eines so verstandenen Geschichtsunterrichts eignen. Auf diese Weise könnte das bisher ungelöste Problem bearbeitet werden, wie die Forderung nach einem in diesem Sinne "demokratischen" Geschichtsverständnis nun auch didaktisch realisiert werden kann. Dann wären unsere politisch-didaktischen Kategorien zugleich auch diejenigen Unterrichtsperspektiven, die die nötige Kontinuität innerhalb des ereignisgeschichtlich orientierten Geschichtsunterrichts stiften könnten. Wird der Geschichtsunterricht so realisiert, und stellt man sich weiter vor, daß das einzelne politische Bewußtsein kontinuierlich die jeweilige politische Aktualität mit diesen Kategorien bearbeitet, so würde das Kategorien-Ensemble auf die Dauer nicht nur zu einem analytischen Instrument, sondern auch zu einem mehr oder weniger systematischen Strukturmodell des historisch-politischen Einzelbewußtseins überhaupt, das die zunächst aus Gründen der Lernorganisation noch getrennten Ebenen des politischen Wissens und Verhaltens dann von daher subjektiv-einheitlich integrieren kann. Jedenfalls erweist sich hier noch einmal, daß das Kategorien-Ensemble mit Recht das Kernstück unseres didaktischen Modells ist.

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Entwurf eines didaktischen Modells
 

Die Kategorien können nur dann sinnvoll für den politischen Unterricht sein, wenn sie drei Bedingungen erfüllen.

1. Sie müssen alle in jedem politischen Konflikt enthalten sein bzw. - als Fragen an ihn gestellt - zu sinnvollen Antworten führen. Es muß also zutreffen, daß in jeder aktuellen Auseinandersetzung von politischem Gewicht sich darüber hinausgehende Konflikte repräsentieren; daß ein solcher Konflikt dennoch nicht allgemein, sondern konkret entschieden wird (Konkretheit); daß in jeder Auseinandersetzung wenigstens mittelbar das Interesse eines jeden Bürgers getroffen wird; daß der Bürger Möglichkeiten der Mitbestimmung hat; daß er nur in Solidarität mit einer Gruppe oder Klasse diese Mitbestimmung wahrnehmen kann; daß jede politische Entscheidung ausgesprochen oder unausgesprochen mit einem auf das politische Ganze zielenden Begründungszusammenhang versehen ist, der zugleich das partikulare Interesse artikuliert (Ideologie); daß jede politische Entscheidung in der Kontinuität eines faktischen und ideologischen Zusammenhangs steht (Geschichtlichkeit); daß sie in einem positiven Rechtszusammenhang steht; daß sie, obwohl immer partikular im politischen Geschehen angesetzt, immer auch andere Teile des Funktionszusammenhangs und damit das ganze System verändert; daß sie immer konkrete Daseinsbedingungen von Menschen verändert (Menschenwürde); daß alle politischen Beziehungen solche der Macht sind.

2. Die zweite Voraussetzung ist, daß die in diesen Kategorien enthaltenen normativen Implikationen mit denen des Grundgesetzes übereinstimmen und insofern als Konsensus der ganzen Gesellschaft angesehen werden können. Es ist diesen Kategorien ja eigentümlich, daß sie die politische Wirklichkeit nicht nur analytisch befragen, um Sachverhalte zu ermitteln, sondern daß zugleich diese Sachverhalte mit einem Wertakzent versehen werden, der letzt-

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lich Grund der Fragestellung ist. Diese normativen Implikationen lassen sich etwa folgendermaßen skizzieren: Es ist zulässig, die aus der gesellschaftlichen Ungleichheit resultierenden Konflikte im Sinne der eigenen Interessen zu behandeln (Konflikt); es ist zulässig, den Spielraum einer politischen Situation optimal für die eigenen Interessen auszunutzen (Konkretheit); es ist zulässig, individuelle Wünsche zu haben und diese politisch durchsetzen zu wollen (Interesse); es ist zulässig, vorhandene Mitbestimmungsmöglichkeiten wahrzunehmen und bessere zu fordern (Mitbestimmung); es ist zulässig, das individuelle Interesse mit dem einer Gruppe, Klasse oder Organisation zu verbinden (Solidarität); es ist zulässig, die eigenen Hoffnungen, Wünsche und Interessen nicht nur als partikulare, sondern auch als auf das Gemeinwohl bezogene Ideen zu formulieren und entsprechende andere abzuwehren (Ideologie); es ist zulässig, Erfahrungen aus dem historischen Zusammenhang aufzuspeichern und damit in der politischen Aktualität politisch zu operieren (Geschichtlichkeit); es ist zulässig, den Rechtsspielraum auszunützen für die Verfolgung der eigenen Interessen und um einen Fortschritt der eigenen Rechtsposition zu kämpfen (Rechtlichkeit); es zu zulässig, legitimierte Macht anzuwenden und nach weiteren Durchsetzungsmöglichkeiten Ausschau zu halten; es ist zulässig, daß Menschen in einem höchstmöglichen Maß Subjekt ihrer Lebensbedingungen und frei von Angst, Ausbeutung und Unterdrückung sein wollen (Menschenwürde); es ist zulässig, das eigene Interesse im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Funktionszusammenhangs zu definieren und zu relativieren.

3. Die unterrichtliche Voraussetzung unserer Kategorien ist, daß sie sich angesichts des konkreten Unterrichtsgegenstandes in sinnvolle Leitfragen umwandeln lassen, die in ihrer allgemeinsten Form etwa folgendermaßen formuliert werden können: Worin besteht der Konflitt? Worum geht es im einzelnen bei dieser Auseinandersetzung (Konkretheit)?Welchen Vorteil habe ich von einer Situation oder Aktion (Interesse)? Wie kann ich angesichts einer Situation

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oder Aktion meinen Einfluß geltend machen (Mitbestimmung)? Welcher Gruppe oder Klasse nützt eine politische Situation oder Aktion (Solidarität)? Welche Ideen liegen einer Situation oder Aktion zugrunde (Ideologie)? Welche geschichtlichen Auseinandersetzungen kommen in einer Situation oder Aktion zum Ausdruck (Geschichtlichkeit)? Welcher Zwang kann zur Aufrechterhaltung einer Situation und zur Durchsetzung einer Aktion angewandt werden (Macht)? Welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen bei einer politischen Situation oder Aktion (Recht)? Wie wirkt eine Situation oder Aktion auf andere Situationen oder Aktionen ein (Funktionszusammenhang)? Wie wirkt eine Situation oder Aktion auf die davon unmittelbar oder mittelbar betroffenen Menschen (Menschenwürde)?

Selbst wenn diese Bedingungen als erfüllt gelten können, bleibt die Frage, ob der Kategorienzusammenhang hinreichend vollständig ist. Dabei muß allerdings gesehen werden, daß die Kategorien einem praktischen Zwecke dienen, nämlich ein Verfahren für die Verbesserung des Bewußtseins zu ermöglichen. Eine Vermehrung der Kategorien würde den politischen Unterricht leicht unpraktikabel machen, während ihre Reduktion die Sachverhalte allzusehr verengen müßte. Ob also eine Interpretation eines politischen Sachverhaltes als angemessen gelten kann, hängt von der Anzahl der angewendeten Kategorien ab. Keine einzige von ihnen garantiert für sich genommen ein angemessenes Verständnis. Ihre Funktionen erfüllen sie nur im ganzen. Die Kategorien lassen sich auch nicht weiter in einen systematischen Zusammenhang bringen. Auch die Reihenfolge, in der wir sie erläutert haben, ist beliebig, weshalb wir sie auch mehrmals änderten. Sie lassen sich nicht voneinander ableiten, sie sind insofern gegeneinander autonom. Welche im konkreten Falle eine dominante Bedeutung hat, kann nicht vorweg durch eine logische Analyse entschieden werden. Grundsätzlich stehen sie nur im Zusammenhang der Interdependenz. Daß sie keinen eindeutigen systematischen Zusammenhang zueinander haben

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können, erklärt sich daraus, daß sie eben nicht das Abbild einer politischen Theorie sind, sondern Elemente einer didaktischen Konstruktion. Nur wenn beides identisch sein könnte, gäbe es auch einen systematischen Zusammenhang der Kategorien.
 

Die Umwandlung der Kategorien in Grundeinsichten

Wenn die in unseren Kategorien beschlossenen Sachverhalte und Bewertungen allen politischen Auseinandersetzungen immanent sind, dann lassen sie sich auch als politische Grundeinsichten, als Ergebnis eines politischen Unterrichts formulieren. Damit kommen wir auf den kritisierten Ansatz von Fischer/Herrmann/Mahrenholz zurück, übernehmen sogar einige ihrer Grundeinsichten, glauben sie aber überzeugender im Gesamtzusammenhang begründet zu haben. Solche Grundeinsichten lassen sich für Jugendliche etwa folgendermaßen formulieren, wobei zu bedenken ist, daß diese Formulierungen in der Unterrichtspraxis sowohl den Altersklassen angepaßt wie auch im einzelnen je nach der Art des zu behandelnden Gegenstandes ausführlicher dargestellt werden müssen.

1. Politik geht heute zurück auf die fundamentale Tatsache der sozio-ökonomischen Ungleichheit in einer Gesellschaft. Diese Ungleichheit führt zu Konflikten, die die eigentliche Triebfeder des politischen Prozesses sind und die daher vornehmlich Gegenstand des politischen Engagements sind. Ein Engagement in Konflikten eröffnet die Möglichkeit, das Maß an Ungleichheit zu verringern (Konflikt).

2. Politische Entscheidungen sind konkrete und einmalige Entscheidungen. Keine politische Situation ist mit einer anderen voll identisch, mag sie ihr auch noch so ähnlich sehen. Deshalb muß man sich auch im einzelnen informieren, was jeweils zur Debatte steht (Konkretheit).

3. Politik hat es im wesentlichen mit der Gewährung oder Nicht-Gewährung von Interessen zu tun. Die Klarstellung,

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welche Interessen jemand hat, gehört zu den wichtigsten politischen Entscheidungen, die jeder einzelne für sich treffen muß. Nur wenn jemand seine eigenen materiellen, kulturellen und sozialen Interessen erkannt hat, kann er sinnvoll politische Verantwortung übernehmen oder an andere übertragen (Interesse).

4. Daß jeder Mensch in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen Möglichkeiten vorfindet, seine Interessen soweit wie möglich zu verwirklichen, ist ein normatives Postulat des Grundgesetzes. Deshalb ist es immer wichtig zu wissen, wo es solche Möglichkeiten gibt und wo sie vielleicht erst noch geschaffen bzw. erweitert werden müssen (Mitbestimmung).

5. Jede politische Situation und jede politische Aktion bringt einigen Gruppen oder Klassen Vorteile, anderen gleichzeitig Nachteile. Betroffen sind davon also letztlich alle Bürger eines Staates, unter Umständen auch Bürger anderer Staaten. Die Behauptung, politisches Handeln könne gerecht gegen alle Betroffenen sein, ist ein politischer Trick. Der einzelne kann nur mit Hilfe anderer Menschen, die die gleichen Interessen vertreten wie er selbst, seine Wünsche in der politischen Wirklichkeit durchsetzen (Solidarität).

6. Politischem Handeln liegt immer eine Vorstellung darüber zugrunde, wie das Zusammenleben der Menschen geordnet sein soll. Ohne eine solche Vorstellung könnte es keinen Maßstab für politisches Handeln geben. Diese Vorstellungen dienen andererseits aber auch dazu, dem notwendigen Egoismus des politischen Handelns den Mantel des Allgemeinwohls umzuhängen. Politisches Urteil wird beide Seiten immer sorgsam unterscheiden müssen (Ideologie).

7. Alle wichtigen Streitfragen und Interessengegensätze unserer Tage sind älter als wir selbst, sind geschichtlich bedingt. Gerade ihre Verschärfungen können aus früheren Erfahrungen der Väter erwachsen. Oft sind sie nur dann verständlich, wenn man diese Erfahrungen kennt (Geschichtlichkeit).

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8. Jedes politische Handeln hat eine Kettenreaktion von Ergebnissen zur Folge: Es wirkt sich im Ganzen der menschlichen Gesellschaft aus, obwohl es vielleicht nur auf eine engumgrenzte Einzelfrage gerichtet war. Die Wirkung, die eine politische Aktion erzielt, kann als Ursache zurückwirken und so die ursprüngliche Absicht zerstören. Die Wirkung kann Folgen haben, die man nicht wollte. Trotzdem müssen sie mit verantwortet werden. Gerade diese Kettenreaktion politischer Maßnahmen macht es immer mehr erforderlich, politische Probleme durch langfristige Planungen zu lösen, in denen auch die gewünschten und unerwünschten Nebenwirkungen sorgfältig kalkuliert werden (Funktionszusammenhang).

9. Alles politische Handeln muß sich auf seine Rechtlichkeit hin befragen lassen. Auch in scheinbaren Kleinigkeiten ist es wichtig, daß Rechtsgrundsätze eingehalten werden. Rechtliche Regelungen haben friedenstiftende Wirkung: Man muß sich auf sie verlassen können. Andererseits schaffen Rechtsregelungen wegen der gesellschaftlichen Ungleichheit auch rechtliche Ungleichheiten. Deshalb sind Rechtsfortschritte nötig (Recht).

10. Über dem Recht, das sich vor allem in den Grenzen ausdrückt, steht das Grundrechtsprinzip der Menschenwürde. Maßstab für alles politische Handeln soll also das Schicksal des einzelnen Menschen sein (Menschenwürde).

11. Jedes politische Handeln hat es mit Macht zu tun, d. h., es muß mit der Möglichkeit rechnen können, für eine politische Entscheidung Gehorsam von anderen Menschen zu erhalten. Ohne Macht kann kein politisches System aufrechterhalten werden, ohne Macht ist aber auch eine Besserung der politischen Verhältnisse nicht zu erreichen (Macht).
 

Der didaktische Aufbau des politischen Unterrichts

Aufgrund der bisherigen Überlegungen können wir nun in idealtypischer Weise einen didaktischen Aufbau des politischen Unterrichts konstruieren.

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1. Ein politischer Konflikt, der entsprechendes Interesse findet, wird als Einstieg erörtert. Dabei kommt es vor allem darauf an, durch die Kenntnisse und Meinungen der am Unterricht Beteiligten schon einen ersten Eindruck von der Vielschichtigkeit des Problems zu gewinnen.

2. Anwendung der in Leitfragen umgewandelten Kategorien auf den Gegenstand = Mobilisierung des Ausgangsbewußtseins zum Aktionswissen.

3. Zusammenhängende, systematische Darstellung des von den verschiedenen Leitfragen her erworbenen Wissens = Neustrukturierung und Differenzierung des Ausgangsbewußtseins im Hinblick auf die Korrektur gesamtgesellschaftlicher Vorstellungen.

4. Rückgang auf den Einstieg: Vertiefte Beurteilung aufgrund des neuerworbenen Wissens = Wiederholung dieses Wissens unter neuem Aspekt.

5. Umwandlung der Leitfragen in Grundeinsichten = neue Bezugspunkte für das gesamtgesellschaftliche Bewußtsein.

6. Rückgang auf den Einstieg: Willens- und Urteilsbildung aufgrund der materialen Kenntnisse und formalen Einsichten.

7. Gegebenenfalls Ermittlung der realen Handlungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten und deren praktische Organisation.

Dieses idealtypische Modell ist weniger als Stufenmodell für den politischen Unterricht gedacht, sondern mehr als Orientierungshilfe für den Leser, damit er sich die bisher erörterten didaktischen Dimensionen in Form einer zeitlichen Reihenfolge vorstellen kann; denn für den Unterricht selbst kommt es ja entscheidend darauf an, die systematische Gleichzeitigkeit der Gesichtspunkte in eine plausible zeitliche Reihenfolge umsetzen zu können. Dieses Problem muß jedoch ausführlich in der "Methodik" behandelt werden.

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Objektive und subjektive Konflikte
 

Bisher haben wir von Konflikten im objektiven Sinne gesprochen, wie sie etwa zum Gegenstand parlamentarischer Auseinandersetzungen werden können. Als Beispiele könnten gelten der Vietnam-Krieg, der Kampf um die Ostverträge, um die Änderung des § 218, um die innerbetriebliche Mitbestimmung usw. Von derlei objektiven Konflikten sind alle Bürger unserer Gesellschaft zwar in einem objektiven Sinne auch persönlich betroffen, gleichwohl kann aber das subjektive Ausmaß einer solchen Betroffenheit mit höchst unterschiedlicher Intensität erlebt werden. Es gehört ja zu den durchgängigen Erfahrungen der politischen Bildung, daß selbst naheliegende objektive Betroffenheiten subjektiv auf Gleichgültigkeit stoßen. So hatte etwa über lange Zeit die von den Gewerkschaften vertretene innerbetriebliche Mitbestimmung nicht nur verständlicherweise bei den Unternehmern, sondern auch bei vielen Arbeitern geringe Resonanz, und ebensowenig subjektives Interesse fand in der politischen Bildungsarbeit mit Lehrlingen die Thematisierung ihrer Ausbeutung im Produktionsbereich - von dem allgemeinen Desinteresse der Bevölkerung gegenüber wichtigen politischen Problemen ganz zu schweigen. Es müßte im Detail untersucht werden, worin dieses Auseinanderklaffen von objektiver und subjektiver Betroffenheit begründet ist und vor allem, warum sich dies in verhältnismäßig kurzer Zeit ändert. Sicher ist jedoch, daß Pädagogik in einer aktuellen Situation dies kaum ändern kann; sie kann zwar latent oder manifest vorhandene Betroffenheiten aufgreifen und bearbeiten, aber sie kann sie nicht herstellen.

Deshalb kann der politische Unterricht auch nicht einfach davon ausgehen, daß die objektiven Konflikte als solche auch unbedingt jene Betroffenheit auslösen, die für die in unserem didaktischen Modell bisher entwickelte Konzeption nötig wäre. Das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche. Würde der politische Unterricht hinsichtlich

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der Stoff- und Themenauswahl ausschließlich auf der Bearbeitung der objektiven Konflikte bestehen, so könnte dies zur Folge haben, daß an den wirklichen Betroffenheiten der Jugendlichen vorbei unterrichtet wird. Im Zuge der antiautoritären Schüler- und Studentenbewegung und unterstützt durch die Verbreitung psychoanalytischer und gruppendynamischer Erkenntnisse hat sich eine gewisse Gegen-Bewegung Geltung verschafft. Sie besteht darauf, die unmittelbar erfahrenen Probleme und Konflikte nicht mehr als bloß privat-subjektive zu verstehen, sondern als Widerspiegelungen objektiver gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche in den einzelnen Individuen. Wenn jemand Autoritäts-Konflikte mit seinen Eltern und Lehrern hat, von sexuellen Ängsten und Frustrationen gequält wird oder unter Arbeitsstörungen oder Kontakthemmungen leidet, so ist dies demnach nur die private Besonderheit eines allgemeinen objektiven gesellschaftlichen Konflikts oder Widerspruchs, der als solcher gar nicht sich vergegenständlicht und auch nicht ausdrücklich etwa zum Gegenstand parlamentarischer Debatte und Entscheidung wird. Der Schluß liegt nahe, die kollektive Selbstthematisierung dieser subjektiven Konflikterfahrungen und daraus resultierende Befreiungsstrategien (politische Aktionen) zum eigentlichen Gegenstand des politischen Unterrichts zu machen.

Auf den ersten Blick scheint dies in der Tat ein optimaler Ausgangspunkt für den politischen Unterricht zu sein: Eine hohe Motivierung ist zu erwarten, und die von uns mehrfach angesprochene Durchsetzung gerade individueller Lebensinteressen im politischen Raum böte sich hier geradezu in idealer Weise an. Jedoch wäre dafür unser Kategorien-Modell nicht mehr brauchbar. Kategorien wie Macht, Recht, Funktionszusammenhang, Geschichtlichkeit lassen sich nicht, ohne bis zur Unkenntlichkeit umgeformt zu werden, auf subjektive Konflikte anwenden. Würden vielmehr diese subjektiven Konflikte zum ausschließlichen Thema des politischen Unterrichts, so ließen sich allenfalls die Kategorien "Interesse"

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und "Solidarität" noch sinnvoll anwenden; eine solche Reduktion aber, so hatten wir vorher gesagt, sei ein Beweis dafür, daß es sich tatsächlich nicht um einen politischen Gegenstand handele.

Diese These, daß subjektive Konflikte der genannten Art als solche keine hinreichenden politischen Gegenstände sein können, wird bestätigt durch die folgenden Überlegungen. Zunächst einmal hat gerade die antiautoritäre Bewegung gezeigt, daß es sich bei den fraglichen Problemen und Konflikten zwar nicht nur um individuelle, aber doch um gesellschaftlich-partikulare gehandelt hat; es waren typische Konflikte der bürgerlich-mittelständischen Jugend, kaum jedoch auch solche der Arbeiterjugend. Wenn sie also politisch aufgeklärt und bearbeitet werden sollen, so bedarf es dazu eines diesen Konflikten äußerlichen Gegenstandes, der etwa die klassen- oder schichtspezifische Funktion dieser Konfliktlage erkennen läßt. Denn die Frage muß doch lauten: Wenn es zutrifft, daß persönliche Konflikte einen politischen Ursachenzusammenhang haben, wie ist es dann möglich, zu diesem Zusammenhang vorzudringen? Wenn dieser Schritt jedoch nicht gelingt, dann verbleibt die "Selbstthematisierung" in einem selbstgenügsamen Circulus vitiosus, an dessen Ende dann nicht politisches Bewußtsein, sondern eher Albernheiten stehen: etwa Ladendiebstähle, um auf diese Weise den angelernten Respekt vor Eigentum in sich zu zerstören; oder die prinzipielle Verweigerung von intellektueller Arbeit, um auf diese Weise das gesellschaftliche Leistungsprinzip zu vernichten usw. Mit anderen Worten: Offensichtlich ist eine zu starke persönliche Fixierung auf ein bestimmtes Problem keine geeignete Motivationslage mehr für dessen intellektuelle politische Bearbeitung; in einem solchen Fall müssen vielmehr Möglichkeiten geschaffen werden, sich zugleich auch von dieser persönlichen Fixierung distanzieren zu können. Zumindest also müssen die persönlichen Konflikte von vornherein in einen Bezug zu objektiven gesellschaftlichen Konflikten gebracht werden; jene können durch diese modifiziert werden, aber der gesellschaftliche Konflikt ist nicht

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einfach die Verlängerung des persönlichen und von diesem induktiv anzusteuern. Wird das übersehen, so akkumuliert sich das ohnehin falsche Bewußrsein nur mit blinden Affekten.

Nicht nur sachlich sind die objektiven Konflikte mehr und anderes als die bloße Kehrseite subjektiver Wahrnehmungen und Empfindungen; auch didaktisch-methodisch spricht vielmehr alles dafür, daß subjektive Fixierungen nur an objektiven Gegenständen wirklich abgearbeitet werden können. Damit bleibt die Priorität der in unserem Kategorien-Schema gemeinten Konflikte weiterhin gültig. Das bedeutet aber nun nicht, daß die subjektiven Konflikte - auch in ihrer extremen Fixiertheit - überhaupt kein pädagogisches Thema zu sein hätten; in einem anderen Zusammenhang habe ich der außerschulischen Jugendarbeit gerade unter diesem Aspekt eine wichtige Bedeutung beigemessen (Giesecke 1971); denn daß es einen Zusammenhang zwischen subjektiven und objektiven Konflikten gibt, kann ja ernsthaft nicht bestritten werden. Solange jedoch dieser Zusammenhang noch nicht hinreichend klar wissenschaftlich beschrieben ist, kommt es darauf an, ihn im Rahmen unseres Kategorienmodells jeweils konkret für die unterrichtliche Bearbeitung zu erschließen. Daher geht es jetzt noch einmal um die Kategorie "Interesse".

Traditionell gehört zu jeder didaktischen Reflexion, die objektive Struktur der Sachverhalte mit den Interessenlagen der Kinder bzw. Jugendlichen so in einen Zusammenhang zu bringen, daß sie sich "wechselseitig erschließen" können (Klafki). Dabei geht man gemeinhin davon aus, daß die Interessenlagen der Kinder und Jugendlichen durch entwicklungspsychologische Erkenntnisse je nach Altersklasse so hinreichend zu klären sind, daß sie vorweg als mehr oder weniger feste Größe ins didaktische Kalkül übernommen werden können. So nahm man etwa an, daß die Personalisierung abstrakter Zusammenhänge zu den charakteristischen Merkmalen der Vorpubertät gehöre, und daß ein Unterricht nur Interesse finden könne, wenn er sich diese eigentümliche "Fragehaltung" zu eigen mache.

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Nun ist ohne Zweifel richtig, daß 6-Jährige einen anderen Zugang zum Politischen haben als etwa 15-Jährige, daß sie also etwas Unterschiedliches jeweils daran interessiert. Gleichwohl aber ist es heute nicht mehr möglich, solche altersspezifischen Interessenzusammenhänge weiterhin präzise gegeneinander abzugrenzen. Da nämlich solche Interessen nicht nur eine Funktion der biologischen Reifung, sondern sehr viel mehr eine Funktion sozio-kultureller Einflüsse sind, muß sich mit diesen auch die Interessen-Entwicklung ändern. Politische Interessen sind nicht nur altersspezifisch, sondern auch beim selben Alter höchst unterschiedlich im Vergleich von Mittelschicht und Unterschicht oder von Stadt und Land. Seitdem fast alle Kinder Zugang zu den politischen Informationen des Fernsehens haben, hat sich auch der Interessen-Zugang für Politik notwendigerweise verändert. Aufgrund solcher allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen erscheint es immer weniger möglich, altersspezifische Interessenlagen aus einem mehr oder weniger endogenen biologisch-psychischen Prozeß der individuellen Lebensgeschichte zu deduzieren. Aus diesem Grunde fehlt in unserem didaktischen Modell auch eine Variation nach Altersstufen.

Andererseits jedoch ist damit die Frage nicht beantwortet, wie sich unser didaktisches Modell altersspezifisch modifizieren ließe. Dafür ist vielleicht folgende Strategie plausibel, die Ernst August Roloff (1972) vertreten hat und die sich auf folgende Formel bringen läßt: Der politische Unterricht wird dadurch den verschiedenen Altersklassen gerecht, daß er die Etappen des Heranwachsens selbst politisch thematisiert, also gleichsam den Prozeß der Sozialisation durch politische Auftlärung begleitet. Roloff hat dieses Prinzip am Beispiel der Schule und der Berufswahl erläutert und auf die These gebracht, daß der wichtigste politische Gegenstand eines Schülers die Schule selbst sei. In der Tat markiert der Schulbeginn für das Kind einen ersten wichtigen Eintritt in das gesellschaftliche Leben, was Adorno zu der Bemerkung veranlaßte, mit dem Schuleintritt begegne dem Kind zum ersten Mal gesellschaftliche

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Entfremdung. Das Recht der freien Berufswahl sowie die Rechtsstellung des Jugendlichen im Betrieb wären zu gegebener Zeit weitere Themen im Rahmen des Sozialisationsprozesses. In jüngeren Jahren wären die Verwendung des Taschengeldes im Konsumbereich, die Begegnung mit den Massenmedien, die "Kinderfeindlichkeit" der Gesellschaft (fehlende Spielplätze, Verhalten von Erwachsenen gegenüber Kindern usw.) weitere Anknüpfungspunkte. Geht man also davon aus, daß der Prozeß der Sozialisation schon sehr bald nach der Geburt sich im Rahmen politisch-gesellschaftlicher Realitäten, Spannungen und Konflikte vollzieht, und geht man weiter davon aus, daß dies von den Kindern jeweils neue Formen auch der individuellen Konfliktbewältigung verlangt, so liegt es auch nahe, den politischen Unterricht diese Konflikte begleitend aufklären zu lassen. Ein solches am Leitfaden der jeweiligen Sozialisation entwickeltes Konzept des politischen Unterrichts wäre sehr viel plausibler als die Annahme altersspezifischer Lerninteressen im Rahmen der überlieferten Entwicklungspsychologie. Allerdings wird ihre Verwirklichung nicht einfach sein. Denn einmal wissen wir über den Prozeß und die Inhaltlichkeit solcher Sozialisations-Konflikte noch viel zu wenig. Zum anderen hätte ein solcher Ansatz eine Neuformulierung des "pädagogischen Bezugs" insbesondere in der Schule zur Voraussetzung; denn vom Schuleintritt an müßten sich die Lehrer etwa auch zur Relativierung des schulischen Anspruchs verstehen, unter den die Kinder nicht einfach subsumiert werden sollen. Schule wäre dann nicht nur die Fortsetzung der bisherigen politischen Sozialisation mit anderen Mitteln, sondern wesentlich auch deren Bewußtmachung und Korrektur. Für einen solchen an der Kontinuität der Sozialisationskonflikte orientierten politischen Unterricht, der heute erst in Andeutungen erkennbar wird, müßten jedoch folgende Grundsätze von vornherein beachtet werden:

1. Von Anfang an müßten auch hier die politisch-didaktischen Kategorien - wenn auch in altersgemäßer For-

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mulierung - die didaktische Grundlage bilden. Mit anderen Worten: Für die politische Aufklärung der Sozialisationskonflikte müssen politische Fragen gestellt werden. Nur so kann eine biographische Kontinuität hinsichtlich der politischen Fragehaltung entstehen. Daß z. B. immer wieder die Frage danach gestellt wird, wem ein Zustand nützt oder schadet, und daß diese Frage (unter anderen) so zu einem Leitmotiv der politischen Reflexion überhaupt wird, ist wichtiger als die jeweils altersspezifische Begrenzung der möglichen Antworten, die vermutlich auch sehr bald "vergessen" werden. Werden solche objektiven Kategorien nicht frühzeitig ins Spiel gebracht, so droht erneut eine "kindertümelnde" Eingrenzung des kindlichen politischen Horizonts, der an sich unter Umständen durchaus bereits überschreitbar wäre.

2. Auch hier gilt, daß die persönliche Fixierung auf bestimmte Konflikte zum Zwecke der Bearbeitung im Bewußtsein "verfremdet" werden muß. Das muß für jüngere Jahrgänge nicht unbedingt der "objektive" politische Konflikt sein, weil der in der Regel noch nicht mit den eigenen Problemen in Zusammenhang gebracht werden kann. An die Stelle eines "objektiven" kann auch ein (literarisch oder filmisch) "verobjektivierter" Konflikt treten, der die nötige persönliche Distanz ermöglicht. Wichtig ist nur, daß von Anfang an die Dimension objektiv - subjektiv - wie fragmentarisch auch immer - erfahrbar wird, und zwar so, daß das Objektive nicht als etwas den eigenen Bedürfnissen Fremdes oder gar Feindseliges erscheint, sondern als ihr dialektischer Zwilling.

3. Im Unterschied zu älteren Jahrgängen ist für jüngere die Erhaltung und Stärkung des sozialen Kontextes von besonderer Wichtigkeit. Politische Aufklärung - oder gar daraus resultierende Aktionen - dürfen diesen sozialen Kontext nicht in Frage stellen und verunsichern. Klärt man etwa proletarische Kinder über die ökonomischen Determinanten ihrer Lage so auf, daß sie in einen Gegensatz zu ihren Eltern geraten, so macht sie das nicht bewußter, sondern nur dissozial. Je jünger Kinder sind, um so weni-

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ger kann ernsthaft gegen die Determinanten des Herkunftsmilieus aufgeklärt werden, sondern nur im Rahmen des in ihm zugelassenen Spielraums. Zu erdrückend sind einfach die Beweise der Kinderpsychologie und Kindertherapie dafür, daß die Übereinstimmung mit dem Herkunftsmilieu von geradezu existentieller Bedeutung für das Kind ist. Erst im Jugendalter ist eine größere Distanz zum Herkunftsmilieu grundsätzlich möglich.

4. Der politische Unterricht in der Kindheit wird sich daher nicht nur an den Sozialisationskonflikten orientieren können, sondern sich vor allem auch der Erschließung der jeweils neu erreichten Erkenntnis- und Handlungsspielräume zuwenden müssen - durchaus im Sinne einer "positivistischen" Erklärung von gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen, auf die das kindliche Interesse stößt. Das "Wissenwollen, wie und warum es so ist", sollte nicht durch verfrühte Problematisierungen frustriert werden.

5. Wichtiger als die stoffliche Seite ist in den frühen Altersklassen das Training wünschenswerter Verhaltensweisen. Selbständiges Arbeiten; Solidarisierungen zum Geltendmachen von Interessen; Eintreten und Hilfe für die Schwächeren; Begründungen für Anordnungen fordern; Strategien für Konfliktlösungen lernen: solche Verhaltensmodi schaffen wichtige Dispositionen auch für die späteren Transzendierungen der in ihnen enthaltenen politisch-pädagogischen Zielsetzungen.
 

Kategorien und Parteilichkeit
 

Inzwischen ist eine Überlegung aus dem Blick geraten, die zu Anfang des Zweiten Teils eine wichtige Rolle spielte: die notwendige Parteilichkeit des politischen Unterrichts. Wir hatten gesagt, daß die Grundlage für alle Zielbestimmungen der politischen Bildung zwar das - historisch-dynamisch interpretierte - Grundgesetz ist, daß aber die verschiedenen Klassen und Gruppen einen höchst unter-

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schiedlichen Zugang zu den im Grundgesetz versprochenen Chancen haben. Unsere Folgerung daraus war, daß deshalb der politische Unterricht auch nicht unparteilich sein kann, sondern die interessengeleiteten Perspektiven der sozio-ökonomisch Benachteiligten eigentlich unterstützen, zumindest aber ermöglichen muß. Ferner war klargeworden, daß "Parteilichkeit" mehr meint als nur die immer schon geforderte "Meinungsfreiheit" des Schülers. "Meinungsfreiheit" - so wichtig sie war und ist - impliziert die Vorstellung, es gebe zu politischen Tatbeständen und Konflikten verschiedene Meinungen, die alle - sofern sie verfassungskonform sind - gleichberechtigt sind und von denen der Schüler eine, je nach politischem Thema nicht unbedingt dieselbe, sich zu seinem Urteil machen solle. In dieser Vorstellung erscheinen, wie Habermas, Teschner und Becker mit Recht kritisierten, politische und gesellschaftliche Interessenunterschiede als bloße Unterschiede des Bewußtseins über sie, und die "Meinungen" werden losgelöst von der realen, insbesondere der ökonomischen gesellschaftlichen Basis.

Der ungehinderte Austausch von Meinungen über politische Sachverhalte ist eine notwendige Voraussetzung für Parteilichkeit, aber nicht dasselbe. Unter dem Aspekt der aus der sozio-ökonomischen Ausgangssituation entstehenden Parteilichkeit des Interessenzugangs zur Gesellschaft und damit auch zu den einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes sind Meinungen über politische Sachverhalte ja nicht beliebig auswechselbar, vielmehr sind bestimmte Meinungen für bestimmte politische Interessen weitgehend determiniert. Aus diesem Grunde kann der politische Unterricht gar nicht erwarten, daß die Schüler allen denkbaren politischen Meinungen sich in grundsätzlich gleichem Maße öffnen.

Unser Kategorien-Modell verlangt das auch gar nicht, obwohl es in seiner formalen Allgemeinheit grundsätzlich für alle partikularen Interessen gilt. Es ist sogar ausdrücklich zu dem Zwecke entworfen, ein didaktisches Modell für alle in der Schule vertretenen sozialen Klassen und Gruppen

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zu sein. Das ist deshalb notwendig, weil ja in unserem staatlich monopolisierten Schul- und Hochschulsystem - unbeschadet sozialer Differenzierungen in den einzelnen Schularten - sich grundsätzlich alle sozialen Klassen und Schichten in ein und derselben Schule befinden. Im Unterschied zur außerschulischen Jugendarbeit und zur Erwachsenenbildung (vgl. O. Negt), wo sich spezifische didaktische Konzepte für spezifische gesellschaftliche Interessen anwenden lassen, muß deshalb die Schule auf einem einheitlichen didaktischen Konzept bestehen, das sich dann aber auch für die spezifischen gesellschaftlichen Interessen differenzieren lassen muß. Darin kommt die Tatsache zum Ausdruck, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes eben für alle Bürger dieses Staates gelten. Unser Kategorien-Modell ermöglicht also nicht nur eine einheitliche Grundlage für den politischen Unterricht, sondern zugleich auch die Bearbeitung der in ein und derselben Schulklasse vorhandenen Klassen- und Schichtunterschiede.

Die parteiliche Differenzierung des Kategorien-Ensembles erfolgt nun in erster Linie im Rahmen seiner konkreten inhaltlichen Anwendung. Wenn der Lehrer die Gegensätze nicht überspielt, werden z. B. Beamtenkinder die Kategorien "Interesse" und "Solidarität" anders inhaltlich bestimmen als Arbeiterkinder. Ähnliche Unterschiede wird es bei der Benutzung der Kategorien "Ideologie" und "Funktionszusammenhang" geben, und erst recht bei der Frage, wie denn nun ein Konflikt entschieden werden soll. Die Gründe für solche unterschiedlichen Interpretationen müssen selbstverständlich bewußt gemacht werden.

Nun kann es allerdings sein, daß diese Chance, durch die Anwendung der gleichen Kategorien die unterschiedlichen Interessenzugänge deutlich zu machen, gar nicht genutzt wird, daß im Gegenteil mit Hilfe der Kategorien weiterhin bzw. erneut ein "über" den gesellschaftlichen Realinteressen stehender "allgemeiner" politischer Unterricht betrieben wird, wie ihn Teschner und Becker in ihren Lehreruntersuchungen kritisiert haben. Wenn etwa ein Lehrer die theoretischen Hintergründe dieser Kategorien nicht ver-

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steht, wenn er vielmehr die aus ihnen abgeleiteten Leitfragen vordergründig-naiv als solche des "gesunden Menschenverstandes" benutzt, unfähig z. B., sie im Unterrichtsgespräch differenziert, aber doch unter Wahrung ihrer Substanz durchzuhalten, dann ist nicht nur dieses didaktische Modell, sondern jedes denkbare andere auch zum Scheitern verurteilt. Kein didaktisches Modell ist Ersatz für das systematische theoretische Studieren derjenigen Sachverhalte, die unterrichtet werden sollen. So setzt unser Modell voraus, daß der Lehrer die wichtigsten Klassen- und Schichttheorien und die Grundsätze der Ideologiekritik kennt und bei der Anwendung der Kategorien im politischen Unterricht auch zweckmäßig ins Spiel zu bringen weiß. Fehlt diese theoretische Basis, so kann sein Unterricht z. B. auch kaum Anreiz dazu geben, die unmittelbare Vordergründigkeit von sogenannten "Interessen" zu transzendieren.
 

Exkurs über "Klassenbewußtsein"
 

O. Negt hat - wie andere neo-marxistische Theoretiker - für die Bildungsarbeit mit erwachsenen Arbeitern das Bildungsziel des "Klassenbewußtseins" gefordert, d. h. das Bewußtsein von der "Arbeiterexistenz als sozialem Gesamtphänomen" und der Möglichkeit ihrer Aufhebung; "Emanzipation" sei demnach die Aufhebung der Arbeiterexistenz, die nur gelingen könne durch die Aufhebung des kapitalistischen Kapitalverwertungsmechanismus. Was für die erwachsenen Arbeiter gilt, muß zumindest sinngemäß auch für deren Kinder in den Schulen gelten, obwohl - wie schon mehrfach betont wurde - die institutionellen Determinanten für die außerschulische Erwachsenenbildung andere sind als für das allgemeine Schulwesen. Aber wenn die auf Klassenbewußtsein zielende Bildungskonzeption grundsätzlich richtig ist, dann muß zumindest auch geklärt werden, in welchem Umfang und mit welchen Modalitäten sie für den Schulunterricht Geltung haben kann.

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Da ist zunächst die Forderung, die gesellschaftliche Gesamtexistenz des Arbeiterkindes als eines künftigen Arbeiters aufzuklären, unmittelbar plausibel. Man könnte höchstens fragen, ob nicht die Kindheit des Arbeiterkindes eigentümliche Modifikationen der Arbeiterexistenz enthält, die dabei zu berücksichtigen wären (wenn man etwa an die Forschungen zur Arbeiter-Sozialisation denkt). Aber das, was Makarenko die "Perspektive" genannt hat - das Hereinholen künftiger Lebensbedingungen und Lebenschancen in die aktuelle pädagogische Situation - , sollte ohnehin zu den didaktischen Dimensionen des Schulunterrichts gehören. Die "Perspektive" des Arbeiterkindes in der Schule ist im allgemeinen die der künftigen Arbeiterexistenz - im Unterschied zu anderen Schulkindern, deren Perspektive im Vergleich dazu "rosiger" aussieht. Gerade der Vergleich solch unterschiedlicher Perspektiven in ein und derselben Schulklasse vermag die notwendige Parteilichkeit des politischen Unterrichts für die Schüler anschaulich zu illustrieren. Zur Erschließung dieser unterschiedlichen Perspektiven vermögen unsere didaktischen Kategorien bis zu einem gewissen Grade beizutragen: Wer im biographischen Kontext von Kindheit an immer wieder die Frage nach der realen Macht, nach dem Recht, nach den eigenen Interessen und der ihnen angemessenen Solidarität stellt, wird - ohne daß da indoktriniert werden müßte - immer wieder in eine gleiche Richtung weisende Antworten finden: daß es immer wieder dieselben anderen sind, die mehr Macht und bessere Rechtschancen haben, und daß das eigene Interesse immer wieder auf die gleiche Solidarität, etwa mit den Arbeiterorganisationen, verwiesen ist. Auf diese Weise vermag über Jahre des Sozialisationsprozesses vielleicht ein Bewußtsein entstehen, das die "Arbeiterexistenz als Gesamtphänomen" in sich enthält und das durch eine kontinuierliche Fragehaltung an die Umwelt entstanden ist.

Anders verhält es sich jedoch mit jener bestimmten Inhaltlichkeit des Klassenbewußtseins, der marxistisch-sozialistischen, auf die Negt letzten Endes abhebt. Diese könnte

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auf die beschriebene Art möglicherweise, aber nicht unbedingt entstehen. Vielmehr wäre denkbar - und aus vielen Gründen auch wahrscheinlich - , daß die "Arbeiterexistenz als Ganzes" in davon abweichender Weise zum Bewußtsein wird. Das liegt an der schon früher erwähnten Schwierigkeit, daß Gesamtinterpretationen der Arbeiterexistenz wie die marxistische nicht induktiv angesteuert werden, auch nicht - wie Negt meint - "exemplarisch" erschlossen werden können, sondern unmittelbar intendiert werden müssen. Nur dann etwa, wenn die - wenn auch elementarisierten - Aussagen der Marxschen politischen Ökonomie im Zusammenhang den bisherigen Erfahrungen des Individuums als Gesamtinterpretation angeboten werden, sind sie auch "richtig" lernbar. Das heißt mit anderen Worten: Es gibt zur marxistischen Interpretation der Klassenlage der Arbeiter keinen anderen Zugang als den, die einschlägigen Texte zu lesen und zu verstehen. Auch der Hinweis einiger Kritiker von Negt (vgl. seine Einleitung) darauf, daß das Klassenbewußtsein letzten Endes sowieso nicht intentional "lehrbar" sei, sondern nur im Klassenkampf selbst entstehen könne, verschiebt das Problem nur; denn auch von den Erfahrungen des Klassenkampfes aus läßt sich marxistisches Bewußtsein nicht induzieren - selbst dann nicht, wenn dafür ähnlich wie bei unserem Modell Kategorien vorstrukturiert würden. Vielmehr können Kampferfahrungen nur dann im Rahmen einer solchen Theorie interpretiert werden, wenn diese dialektisch-unabhängig davon dem Bewußtsein immer schon vorher zur Verfügung steht.

Die Schlußfolgerung muß deshalb lauten: Entweder ist Klassenbewußtsein etwas inhaltlich klar Definiertes (also etwas Orthodoxes), dessen inhaltliche Bestimmung nicht den subjektiven Aneignungsprozessen überlassen werden darf; dann ist didaktische Reflexion überhaupt überflüssig, dann kommt es nur darauf an, die "reine Lehre" vorzutragen, in der Hoffnung, daß sie auch so akzeptiert wird. Oder aber das Klassenbewußtsein gilt inhaltlich als für die Zukunft offen, als Produkt realer Auseinandersetzun-

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gen und deren Reflexion, also als Arbeitsergebnis des Bewußtseins (und zwar des je individuellen Bewußtseins; denn in Parteien und Gewerkschaften organisiertes Bewußtsein "lernt" nicht, sondern verändert sich nur aufgrund von Machtänderungen, kann also auch insofern nicht Gegenstand didaktischer Reflexion sein); dann geht es darum, für den Prozeß der politischen Reflexion solche Kategorien zu entwickeln, die ein Bewußtsein von der "Arbeiterexistenz als Ganzes" aufzubauen - und entsprechende Gesamtinterpretationen wie die marxistische auch zu hinterfragen! - vermögen.

Wäre die Differenz zwischen dem am weitesten fortgeschrittenen Bewußtsein von der Gesellschaft und dem tatsächlichen der großen Mehrheit durch irgendwelche Akte der persönlichen Entscheidung einfach überwindbar und aufzuheben, so stellte die politische Bildung überhaupt kein Problem mehr dar. Klassenbewußtsein in dem von Negt gemeinten Sinne kann also gar nicht unmittelbar Ziel der politischen Bildung sein; die politischen Lernziele, und zwar die Globalziele sowohl wie die daraus abgeleiteten Feinziele, können höchstens so formuliert sein, daß sie auf lange Sicht die Bildung von Klassenbewußtsein nicht zusätzlich zum ohnehin wirksamen Vergesellschaftungsprozeß noch verhindern oder erschweren.
 

Folgerungen für die Methodik des politischen Unterrichts
 

Wie überall im Verhältnis von Didaktik und Methodik, so ist auch hier das didaktische Modell nicht einfach in die Unterrichtspraxis übersetzbar: Es ist kein Konzept für die je konkrete Unterrichtsgestaltung, sondern nur ein theoretischer Gesamthorizont, der erst gute methodische Einfälle hervorrufen kann. Den methodischen Problemen des politischen Unterrichts ist ein eigener Band gewidmet. Gleichwohl lassen sich hier schon einige prinzipielle Konse-

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quenzen ziehen, da unser didaktisches Modell die Bevorzugung bestimmter Methoden und Unterrichtsformen nahelegt.

1. Unser didaktisches Modell legt eine gewisse Präferenz für Unterrichtsprojekte nahe, die sich an wichtige, auch den Jugendlichen interessierende politische Kontroversen anschließen. Im Rahmen eines solchen Projektes könnten alle Lernziele zu ihrem Recht kommen, ohne daß sie aus systematischen Gründen allzusehr voneinander isoliert würden. Da man in der Schule nur einige wenige Projekte innerhalb eines Jahres durchführen könnte, behielte man die Chance, dafür auch die wichtigsten politischen Kontroversen zugrunde zu legen.

Da - vor allem im Zusammenhang der Hochschulreform - eine gewisse modische Vorliebe für Projekte entstanden ist, muß jedoch gleich hinzugefügt werden, daß es sich hier um die vermutlich komplizierteste Unterrichtsform überhaupt handelt. Genaugenommen sind Projekte nämlich eine gut zu organisierende Kombination verschiedener Methoden und Unterrichtsformen. Je nach dem Stand des jeweiligen Lernprozesses müssen Gruppenarbeit und Frontalunterricht, problemorientierte Analysen und systematische Lehrgänge, arbeitsteilige und integrierende Formen der Kommunikation einander abwechseln. Nur dann kann die konkrete Konfliktanalyse so betrieben werden, daß alle Lernziele zu ihrem Recht kommen; und nur so kann verhindert werden, daß hinter dem Anspruch von Projekten nur der Wunsch nach unmittelbarer, "totaler" Kommunikation und die Abwehr gegen intellektuelle Arbeitsteilung sich verbergen.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß zwar in einem theoretischen Sinne - da alles mit allem irgendwie zusammenhängt - eine Konfliktanalyse für nahezu unbegrenzte Lernprozesse verwendet werden kann, daß dem aber andererseits psychologische Grenzen gezogen sind. Werden z. B., wie schon betont wurde, Konfliktanalysen allzusehr und allzulange mit systematischen Unterrichts-

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partien belastet, die sich gar über Wochen erstrecken, so erlahmt irgendwann das Interesse für den Konflikt selbst; er gerät aus dem Blick. Man wird also so verfahren müssen, daß man die zu analysierenden Konflikte auch danach aussucht, daß auf die Dauer die verschiedenen Lernziele angemessen berücksichtigt werden, nicht unbedingt bei ein und demselben Projekt. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die herkömmliche Schulorganisation mit ihrem Schulstunden-Rhythmus dem Projekt-Verfahren nicht unerhebliche Schwierigkeiten macht. Das methodische Leitprinzip der Schulorganisation ist nach wie vor der Lehrgang, nicht das Projekt.

2. Innerhalb eines an Konflikten orientierten Projektes und im Rahmen der systematischen Lernziele hätten Lehrgänge zwar immer noch einen Sinn, aber im ganzen kann man die politischen Stoffe nicht mehr von Jahrgang zu Jahrgang schichten. Würde Politik lediglich in der schulischen Weise des Lehrgangs gelehrt, so müßte das in den Schülern die Vorstellung erwecken, als ob sich ihnen im Laufe der Jahre die politische Welt systematisch erschließe und ihnen damit fertig "zuhanden" werde. Damit aber würde die politische Welt vorfabriziert, es würde ein Zusammenhang gestiftet, der nur deshalb existiert, weil er so und nicht anders hergestellt wurde. Auf diese Weise würde der Unterricht eine Art zweiter Wirklichkeit schaffen; es kann aber nicht gleichgültig bleiben, inwieweit diese ihrem Original wirklich entspricht.

3. In unserem didaktischen Modell kommt dem Einstieg, also dem Beginn eines Lernprozesses, eine besondere Bedeutung zu. Man kann nämlich eine politische Kontroverse nur so zum Gegenstand des Unterrichts machen, daß sie vorher dafür präpariert wird. Man kann zwar von den Meinungen einer Schulklasse, von einem Referat, von einem Fernsehfilm, von einem Leitartikel oder von einer Dokumentation ausgehen - also von Bearbeitungen eines politischen Ereignisses - , aber niemals von diesem Ereignis als solchem. "Einstieg" ist also eine Bearbeitung eines politischen Konfliktes zum Zwecke der Organisation von Lern-

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prozessen. Mit dieser Definition grenzen wir den Einstieg vom "Aufhänger" einerseits und von der "Illustration" andererseits ab.

Der "Aufhänger« täuscht die Lernenden: Man will etwas Bestimmtes lehren, weiß aber, daß die Jugendlichen daran nicht interessiert sind. Also greift man zu einem Stoff, der mit dem, was man unterrichten will, zwar nicht viel zu tun hat, aber das Interesse der Jugendlichen trifft (etwa nach dem Motto: "Film zieht immer ... ."). Wenn der Aufhänger dann das Interesse gebührend mobilisiert hat, geht man zum "2Eigentlichen" über, in der Hoffnung, daß das mobilisierte Interesse diesen Übergang mitvollziehe. Auf diese Weise nimmt der Pädagoge weder das Interesse der Jugendlichen ernst noch die Sache, der das Interesse gilt. Die Aufdeckung einer solchen Täuschung kann die pädagogische Kommunikation erheblich gefährden.

Die "Illustration" hingegen dient innerhalb eines Unterrichtsganges der Veranschaulichung komplizierter Sachverhalte und Gedankengänge. Ein aktueller politischer Konflikt kann zur Illustration einer systematischen Überlegung dienen, ohne daß er selbst dabei das eigentliche Thema ist. Im Unterschied zum täuschenden "Aufhänger" ist eine solche Illustrierung grundsätzlich legitim.

Wenn es zutrifft, daß ein politischer Konflikt niemals als solcher, sondern erst in einer bestimmten Bearbeitung einen Unterrichtsprozeß initiieren kann, dann folgt daraus, daß es niemals nur einen einzigen Einstieg für einen bestimmten politischen Konflikt gibt. Schon die Herstellung eines optimalen Einstiegs gehört zu den wichtigsten didaktisch-methodischen Aufgaben des Lehrers. Entschließt er sich für eine kulturelle Objektivation, z. B. für einen Spielfilm, so muß er außer den politischen auch die immanenten filmischen Kategorien berücksichtigen. Versäumt er das, so degradiert er seinen Film von vornherein zum "Aufhänger". Bei einem guten Einstieg treffen möglichst viele der folgenden Kriterien zusammen:

a) Er muß vom Gehalt und von der sprachlichen und ästhetischen Form her so gut sein, daß es sich von der Sache her

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lohnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Banale Texte, formal schlechte Filme sind immer auch schlechte Einstiege. Sie üben nur einen vordergründigen Reiz aus, bald aber sinkt das Interesse in sich zusammen, und man muß in neue Einstiege flüchten. Lohnende Einstiege sind also entweder Konflikte, von deren Lösung etwas abhängt, oder aber ästhetisch anspruchsvolle Produkte. Banalität ist nur dann zulässig, wenn das, was sie wiedergibt, auch der Wirklichkeit entspricht. (Die Banalität rechtsradikaler Aussagen z. B. ist eben nicht "besser" darstellbar.)

b) Der Einstieg muß spontan interessieren, sonst wird auch meistens für seine Ausdeutung kein Interesse zu gewinnen sein.

c) Er muß überschaubar sein; er darf nicht so umfangreich sein, daß er nicht mehr als Ganzes im Blick bzw. in der Vorstellung behalten werden kann. Wenn der Unterrichtsgang komplizierter wird, muß der Rückgang auf den Einstieg immer wieder den Zusammenhang herstellen, dem Komplizierten seinen Ort zuweisen können.

d) Er muß unvollständig, "imperfekt" sein, nur dann bietet er genug Anreiz, ihn so vollständig wie möglich zu machen. Eine gute graphische Darstellung ist meist ein schlechter Einstieg, weil die Suche nach dem Zusammenhang mit einer gewissen Perfektion vorweggenommen wird. Sie wäre als Illustration erst im Verlaufe des Unterrichtsganges nützlich. Die Unvollständigkeit des Einstiegs ist kein pädagogischer Trick, sondern der Sache angemessen: Politische Informationen erreichen uns immer diffus und unvollständig. Wenn wir im politischen Unterricht vernünftige Bewußtseinsbildung üben wollen, dann muß man diese Normalsituation auch zum Ausgangspunkt machen.

e) Der Einstieg muß verfremden; wenn er im Vergleich zu dem, was man sowieso schon denkt, meint und fühlt, nichts Ungewöhnliches und Neues enthält, kann er nur schwerlich auch zu neuen Erfahrungen führen und kaum zum Lernen motivieren.

f) Ein Einstieg, der verfremdet, ruft immer auch vorgefaßte Meinungen und Urteile, vielleicht sogar regelrechte

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Vorurteile hervor. Einstieg ist also niemals nur die Sache, sondern auch das Bündel an Vorurteilen und Affekten, das er hervorlockt. Wenn es also der methodische Weg des politischen Unterrichts ist, den Einstieg zu entfalten, auszufüllen und zu erklären, so gilt das auch für seine subjektiven Momente: auch sie sind Stoff des weiteren Unterrichts.
 

Politische Bildung und unmittelbare politische Praxis
 

In den letzten Kapiteln hat uns die Frage nach den Einzelheiten der politischen Bewußtseinsbildung beschäftigt, und zwar losgelöst von der weiteren Frage nach der politisch-praktischen Relevanz dieser Überlegungen. Ihr müssen wir uns nun noch einmal zuwenden.

Bei der Entwicklung der einzelnen Teilziele der politischen Bildung hatten wir zwei politische Handlungstypen unterschieden: den mittelbaren und den unmittelbaren. Als mittelbare wurden solche Aktionen bezeichnet, die wie die Beteiligung an politischen Wahlen im Rahmen der Institutionen unseres repräsentativen politischen Systems erfolgen; als unmittelbare wurden solche definiert, die sich auf die Mitwirkung an der gesellschaftlichen Basis, also z. B. in Betrieben, Schulen und Hochschulen erstrecken. Die Frage ist nun, ob sich für diese unmittelbaren politischen Handlungsspielräume an der Basis nicht noch genauere strategische Hinweise geben lassen, die so plausibel sind, daß sie in die politischen Lernprozesse mit einbezogen werden können. Gelingt dies nämlich nicht, so droht, wie die letzten Jahre mannigfach gezeigt haben, die Gefahr eines blinden Aktionismus, der sich zu allem Überfluss auch noch mit "fortschrittlichen" oder gar "revolutionären" Redensarten drapieren kann. Wenn wir in diesem Buch mehrfach betont haben, daß politischer Fortschritt im Sinne zunehmender Emanzipation und Mitbestimmung aller vom jeweiligen historischen Standort aus erfolgen muß, so muß

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sich dies auch aus der Perspektive der an der gesellschaftlichen Basis Handelnden und Lebenden konkretisieren lassen.

Wir versuchen, hier mit Hilfe des soziologischen Rollen-Modells ein Stück weiterzukommen. Das Rollen-Modell hat zumindest für eine erste Betrachtung zwei deutliche Vorteile. Einmal vermag es die Chancen und Grenzen der realen Handlungsmöglichkeiten - und damit auch die Reichweite des dafür nötigen Lernens - anschaulich zu beschreiben. Zum anderen aber ist eine politische Bildung, die reale Möglichkeiten der Emanzipation entdecken und realisieren will, gezwungen, an die realen Rollen-Spielräume anzuknüpfen unter Verzicht auf damit nicht mehr vermittelbare sogenannte "revolutionäre" Utopien. Nicht anti-kapitalistische Affekte nutzen z. B. den Arbeitern, sondern eher die Optimalisierung und Erweiterung des gewerkschaftlichen Rollenhandelns.

Unsere These lautet: Will man gutgemeinte, aber illusorische "idealistische" Postulate vermeiden, deren eilfertige Aufrufe von der unerschütterten Innerlichkeit bis zur putschistischen Revoluzzerei reichen können, so können durch politisches Lernen motivierte politische Strategien nur in der Form historisch-dynamisierter Rollenerweiterungen ausgedrückt werden. Der jeweils vorliegende politische Handlungsspielraum der Individuen und Kollektive läßt sich demnach als das Ensemble ihres gesellschaftlich zugelassenen Rollenhandelns bestimmen. Deren Inhaltlichkeit ist aber auch dann historisch determiniert und insofern veränderbar, wenn man mit der funktionalen Theorie davon ausgeht, daß gesellschaftliches "Gleichgewicht" das bewußte oder unbewußte Ziel solcher Rollenmechanismen ist; denn "Gleichgewicht" läßt sich auf ganz verschiedene Weise und deshalb auch mit ganz verschiedenen Rollenvorschriften herstellen. Die "sozialistische Gesellschaft" z. B. ist auch eine modifizierte Form solcher Gleichgewichts-Vorstellungen. Demnach wäre die im Namen der Emanzipation anzustrebende Erweiterung der Mitbestimmung durch eine Transzendierung der jeweils vorliegenden Rol-

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len-Vorschrifren anzustreben - aber nur in einem solchen Maße, daß das Individuum nicht "rollen-los" wird, und nur in einer solchen inhaltlichen Richtung, die einen Zuwachs an Mitbestimmung auch wirklich erbringen kann. Diese prinzipielle Überlegung läßt sich in folgender Weise weiter differenzieren:

1. Welche Rollenerwartungen stellen die einzelnen gesellschaftlichen Institutionen (Familie, Schule, Arbeitsplatz, Freizeit, Massenkommunikation, Bezugsgruppen) tatsächlich an die Individuen? Diese Frage, die an jede einzelne der voneinander unterscheidbaren Rollen zu stellen wäre, ist schon deshalb wichtig, weil geprüft werden muß, ob und in welchem Maße das in unseren Lernzielen entwickelte politische Verhalten überhaupt realisiert werden kann. Schließlich war gerade die Erfahrung, daß das in der Schule gepriesene demokratische Verhalten, sobald es in ihr selbst oder in anderen gesellschaftlichen Institutionen realisiert werden sollte, weniger honoriert als vielmehr bestraft wurde, ein wichtiges Motiv für die Protestbewegung der letzten Jahre. Wenn sich dieser Widerspruch durch genauere Analysen bestätigen sollte, so kann es nicht darum gehen, die Lernziele einfach der Realität anzupassen, sondern nur darum, die Möglichkeiten ihrer politischen Realisierung genauer zu bestimmen. Nicht nur aus grundsätzlichen, sondern auch aus praktischen Erwägungen wäre eine kurzschlüssige "realitätsgerechte" Anpassung der Lernziele gar nicht wünschenswert; denn die vorfindbaren Rollenerwartungen sind ja nichts Naturwüchsiges und damit Unveränderliches, sondern historische Determinanten und unterliegen gerade in der Gegenwart starken Veränderungen. Seitdem z. B. die Familie sehr viel weniger eine Produktionsgemeinschaft als eine Konsumgemeinschaft ist; seitdem die Tradierung von Privateigentum (an Produktionsmitteln) immer weniger ihre Hauptfunktion ist; seitdem auch jene feudalistisch-patriarchalische Binnenstruktur immer mehr zerbricht, die Horkheimer in "Autorität und Familie" (1936) noch für den Beginn unseres Jahrhunderts

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als typisch erkannte, und die doch schon damals - ein Fossil aus vorkapitalistischen Zeiten - ihren historischen Höhepunkt überschritten hatte: seitdem erhält die Familie auch objektiv neue Chancen, nicht mehr nur als "gesellschaftliche Agentur" die übrigen Rollendeterminanten blind zu reproduzieren, sondern - etwa auf der Grundlage steigender Freizeit- und Konsuminteressen - in eine kritische Distanz zu ihnen zu treten. Wenn diese Tendenzanalyse - die allerdings noch schichtenspezifisch zu differenzieren wäre - zutrifft, dann könnte möglicherweise künftig von den Familien her kritisches politisches Verhalten, das gegenwärtig noch allzu leicht zur familiären Entfremdung führt, in ganz anderer Weise unterstützt werden. Die Familie könnte also möglicherweise in Zukunft der für Rollen-Innovationen notwendige soziale Stützpunkt, die "Bezugs-Gruppe", sein, der heute noch weitgehend außerfamiliären Sub-Kulturen vorbehalten ist. 2. Stimmen diese vorfindbaren Rollenerwartungen in wesentlichen Punkten überein oder unterscheiden sie sich, so, daß eine Zunahme an Emanzipation gleichbedeutend wäre mit einer unterschiedlichen Identifizierung mit unterschiedlichen Rollen? Das bekannteste Beispiel für diese Frage ist die Trennung von Arbeits- und Freizeitrolle. Inwieweit ist die Möglichkeit, wichtige Interessen und Bedürfnisse - auch politische - in die Freizeit zu verlagern und der Arbeitsrolle zu entziehen, ein Fortschritt an Emanzipation und inwieweit ein Rückschritt? Ob - wie z. B. O. Negt meint - die Emanzipation des Arbeiters von seiner Arbeiterexistenz nur durch die totale Mitbestimmung über Arbeitsplatz und Betrieb zu erreichen ist oder nicht umgekehrt auch dadurch, daß von den in der Freizeit sich aufbauenden, immer bewußter werdenden Bedürfnissen nach einem "guten Leben" entsprechende Impulse auch auf mittelbar-politischem Wege auf die Berufsrolle zurückwirken und so die Forderung nach "Aufhebung der Arbeiterexistenz" lancieren können, muß genau geprüft werden (z. B. Sicherung des Arbeitsplatzes ohne Rücksicht auf die marktwirtschaftliche Unternehmenslage; optimale Lohn-

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forderungen; Verbesserung der sozialpolitischen Leistungen bei Krankheit, Unfall usw.; Herabsetzung des Arbeitstempos, usw.). Mit anderen Worten: Wird auf die Dauer kritisches Potential von einer Rolle auf die andere transferierbar, etwa so, daß der Druck der in einer bestimmten Rolle (z. B. der Konsumrolle) akkumulierten Bedürfnisse von einem bestimmten Punkt an auf eine andere (z. B. die Berufsrolle) überspringt - die bereits erreichte Erwartung jener an diese übertragend?

Gerade in dieser Frage trägt ein großer Teil des neo-marxistischen un-dialektischen Materialismus eher reaktionäre Züge. Die blindwütige, totale und undialektische Denunziation des Freizeit- und Konsumbereiches hat den Blick dafür verstellt, daß auf die Dauer die "revolutionären" Impulse für die große Mehrheit aus dem Freizeit- und Konsumsektor kommen könnten, nämlich aus den dort erlebten neuen "Qualitäten des Lebens", aus deren Erhaltung und Steigerung eine ganz andere Wucht des politischen Engagements erwachsen könnte als aus der abstrakten Forderung nach kollektiver Übernahme der kapitalistischen Produktionsmittel - die ja möglicherweise auf die Dauer in diesem Prozeß zur massenhaften Forderung werden könnte. Politische Pädagogik hätte also in der gegenwärtigen Situation die dialektisch-fortschrittlichen Momente des Freizeit- und Konsumsystems zu ermitteln und zu unterstützen. Dazu gehört für die große Mehrheit heute immer noch eine verbesserte Teilnahme an den materiellen Ressourcen sowie eine Verbesserung der für sie relevanten öffentlichen Dienstleistungen.

3. In welcher Weise und in welchem Maße ermöglichen und begrenzen die einzelnen vorfindbaren Rollenerwartungen die verschiedenen politischen Lernziele? Die Arbeitsrolle z. B. verlangt auch heute im allgemeinen kein historisches und systematisches Bewußtsein, keine Techniken der Informationsermittlung und des politischen Verhaltens, von "Konflikt-Wissen" ganz zu schweigen. Aber seit Jahrzehnten steht neben dieser an der puren Produktions-Effizienz orientierten Rolle die andere der gewerkschaftlichen

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Interessenvertretung. Bisher sind im allgemeinen beide Rollen sorgfältig getrennt geblieben, die eine konnte der anderen wenig anhaben. Der Kampf um "innerbetriebliche Mitbestimmung" zielt tendenziell darauf, die Gettoisierung der gewerkschaftlichen Rolle zu überwinden, sie mit der Arbeitsrolle zu verschmelzen. Erst in dieser Verschmelzung wäre "Arbeit" etwas, was eines politischen Bewußtseins im Sinne unserer Lernziele bedürfte. Einstweilen käme es also darauf an, die Arbeitsrolle im Zusammenhang mit der gewerkschaftlichen Rolle zu sehen, für deren Optimalisierung alle politischen Lernziele jedoch von großer Bedeutung sind.

4. In welcher Weise und in welchem Maße lassen sich die vorfindbaren Rollen erweitern? Anpassung an die vorgefundenen gesellschaftlichen Rollen gehört zu den Notwendigkeiten einer neuen politischen Sozialisation. Indem jedoch das Bewußtsein durch Lernen die vorgefundenen Rollen zu transzendieren vermag, vermag es auch neue Rollenaspekte und Rolleninhalte zu antizipieren und in bescheidenem Maße auch zu realisieren. In den Erfahrungen der Individuen vermag sich das, was abstrakt "gesellschaftlicher Fortschritt" genannt wird, vermutlich nur in den erfahrbaren Rollen-Erweiterungen zu konkretisieren. Umgekehrt muß Fortschritt an Emanzipation sich auch im Hinblick auf Rollen-Erweiterungen operationalisieren lassen: Was muß an der Arbeits-, Freizeit- usw. -Rolle im Namen der Emanzipation anders werden, und unter welchen Bedingungen kann das geschehen?

5. Welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen pädagogischen Institutionen, also diejenigen, die eigens zum Zwecke des geplanten Lehrens und Lernens eingerichtet wurden? Auch sie stellen ja bestimmte Rollen-Erwartungen, z. B. an Schüler, Lehrlinge, Studenten usw., aber die politische Sozialisation eines Menschen geschieht ja nur zum Teil in ihnen. Zu bestimmen und möglichst zu erweitern wäre das Maß an Autonomie der Rollen in pädagogischen Feldern, d.h. das Maß ihrer Innovationsmöglichkeiten im Verhältnis zu den anderen

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gesellschaftlichen Rollen. Während nämlich Rollenverhalten im allgemeinen blind und naturwüchsig, weil undurchschaut, sich einpegelt, könnten in pädagogischen Institutionen die Wirkungen aller übrigen Rollen bewußt werden und wenigstens experimentell innoviert werden.

Aber auch zwischen den einzelnen pädagogischen Rollen in den einzelnen pädagogischen Feldern muß noch einmal unterschieden werden, etwa zwischen Schule und außerschulischer Jugendarbeit bzw. Erwachsenenbildung, für die jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen gelten. In der auf freiwilliger Teilnahme basierenden Jugendarbeit sind andere Rollendifferenzierungen möglich als etwa in der Pflichtschule.
 

Politische Bildung als Korrektur der politischen Sozialisation
 

Die letzte Überlegung lenkt den Blick darauf, daß unser didaktisches Modell nicht nur für den Gebrauch in Schulen entworfen wurde. Vielmehr geht es von der Erkenntnis aus, daß die tatsächlichen politischen Lernprozesse eines Menschen, wann immer sie auf planmäßige politische Bildungsangebote treffen, sich bereits in einer bestimmten Inhaltlichkeit als Resultat einer politischen Sozialisation präsentieren. An ihnen sind bewußte pädagogische Maßnahmen immer nur zu einem ganz geringen Teil beteiligt. Die Chance pädagogischer Maßnahmen besteht also niemals darin, das optimale Endprodukt eines Sozialisationsprozesses perfekt zu entwerfen und selbst realisieren zu können; sie besteht vielmehr in der Chance des Umstrukturierens, des Korrigierens. Vieles von dem z. B., was in unseren Lernzielen ausgedrückt ist, wird "sowieso" gelernt, sozusagen durch das Leben selbst. Die pädagogischen Institutionen müssen sich daher fragen, wo ihre spezifischen Chancen im Kontext aller Sozialisationsinstanzen liegen. Isolierte Informationen z. B. sind heute in Fülle jedermann

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zugänglich, so daß er sich ihnen kaum entziehen kann. Insofern geht ein Unterricht, der in diesem Punkte "vom Nullpunkt an" verfährt, so als könne er allein in die politische Welt einführen, an dem bereits erreichten Informationsstand der Schüler vorbei. Methodische intellektuelle Bearbeitung von alten und neuen Informationen jedoch ist etwas, was auch heute noch nicht "von selbst" geschieht, sondern in eigens dafür eingerichteten, eben "pädagogischen" Institutionen erfolgen muß. Ein anderes Beispiel aus dem Bereich des politischen Verhaltens zeigt das noch deutlicher: In einem allgemeinen sozialisationstheoretischen Sinne ist es zweifellos richtig, daß das menschliche Verhalten sich von Geburt an den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen anpassen muß. Da das aber - abgesehen von den Fällen dissozialer oder krimineller Entwicklungen - im allgemeinen "von selbst" geschieht, müssen pädagogische Institutionen das nicht unbedingt noch verstärken; ihre Aufgabe läge vielmehr ganz überwiegend darin, solche Anpassungsvorgänge wieder zu relativieren und im Sinne von "Kritik" und "Widerstand" wieder aufzubrechen. Wenn die Schule also ihren Schwerpunkt so legt, dann handelt sie nicht "utopisch" oder "weltfremd" oder "einseitig kritisch", sondern sie bestimmt damit nur ihre relative Position im Kontext der übrigen Sozialisationswirkungen und im Hinblick auf das Globalziel zunehmender Emanzipation und Mitbestimmung.

Das Problem ist dabei nur, daß wir bisher weder hinreichende empirische Forschungen noch nennenswerte Theoriebildungen zum Phänomen der politischen Sozialisation im allgemeinen und zu den einzelnen Sozialisationsfaktoren im besonderen haben. Es käme hier nicht nur darauf an, neue Forschungen zu initiieren, sondern vor allem auch darauf, das unter anderen Aspekten produzierte und vorhandene sozialwissenschaftliche Forschungsmaterial unter den Gesichtspunkten einer "politischen Sozialisation" - d.h. unter den Aspekten der politisch-gesellschaftlichen Gesamtexistenz in biographischer Dimension - neu zu interpretieren.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/76pd2.htm

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