Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 15: 1978 - 1979

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register
 

Zu dieser Edition
Dieser 15. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1978 und 1979. In diesem Jahr war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig, die 1978 als "Fachbereich Erziehungswissenschaften" in die Universität integriert wurde. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte, keine selbständigen Monographien

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.

Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

 
 

Inhalt von Band 15


111. Skizzen zu einer politisch begründeten historischen Didaktik (1978)

112. Konflikt (1978)

113. Didaktische Entwicklungen im Politikunterricht (1978)

114. Überlegungen zur Konsensfähigkeit von Schulbüchern für den politischen Unterricht (1979)

115. Lob des Zwischenhandels (1979)

116. Schulbuchschelte (1979)


 

111. Skizzen zu einer politisch begründeten historischen Didaktik (1978)

(In: Neue Sammlung, H. 1/1978, S. 55-73)
 
 

I.  Zur politischen Begründung des Geschichtsunterrichts in einem demokratischen Gemeinwesen
1. Im Vergleich zum politischen Unterricht ist die didaktische Diskussion und Theoriebildung für den Geschichtsunterricht sehr viel weniger weit entwickelt. Es gibt z. B. noch keine zusammenfassenden Darstellungen sowie historisch-kritische Aufarbeitungen bisheriger Entwürfe (1). Das kann auch ein Vorteil sein, insofern vielleicht die nun notwendigen Überlegungen unbefangener geführt werden können; denn es ist keineswegs sicher, daß der z. T. gewaltige fachdidaktische Aufwand dem politischen Unterricht auch immer genützt hat, teilweise scheint er sich auch ihm gegenüber verselbständigt zu haben. Längst nämlich hat sich die didaktische Diskussion des politischen Unterrichts gelöst von der Aufgabe, Erkenntnisfortschritte zu leisten, indem der jeweils vorliegende Problemstand Zug um Zug verbessert wird. Stattdessen stehen sich "Richtungen" und "ideologische Parteiungen" gegenüber, die einander nicht mehr zum Zwecke des Erkenntnisfortschritts befragen, sondern eher an Abgrenzung interessiert sind (2). Das hängt keineswegs nur mit der inzwischen eingetretenen politischen Polarisierung zusammen, sondern auch mit der fachdidaktischen Professionalisierung und Spezialisierung, die offenbar notwendigerweise ein gewisses Maß der Energie in die eigene Profilierung und Abgrenzung investieren muß. Vielleicht erklärt sich daraus auch die Tendenz, für die didaktische Grundlegung relativ beliebige "erkenntnisleitende Interessen" anzusetzen, wobei die Beliebigkeit gerade im Verzicht auf historische Reflexion begründet ist; die bisher vorliegende Diskussion wird nicht aufgegriffen, sondern man versucht, sie durch schlichte Neusetzungen einfach außer Kraft zu setzen.

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2. Es erscheint mir also schon aus methodischen Gründen sinnvoll, die Überlegungen zu einer historischen Didaktik noch einmal dort beginnen zu lassen, wo sie zum erstenmal systematisch entwickelt wurden: bei Erich Weniger (3). Seine Überlegungen zum Geschichtsunterricht stehen im größeren Zusammenhang seiner Bemühungen, eine Theorie für den Lehrplan der Schule überhaupt zu entwickeln. Warum gibt es in den Schulen eigentlich bestimmte Fächer und andere nicht? Und aus welchen Gründen werden irgendwann neue Fächer eingeführt? Weniger suchte die Antwort auf diese Fragen, indem er die Entstehung der Fächer historisch zurückverfolgte. Und dabei zeigte sich ihm, daß neue Schulfächer immer dann eingeführt werden, wenn eine sogenannte "Bildungsmacht" im politisch-gesellschaftlichen Leben so mächtig geworden ist, daß sie vor den Heranwachsenden in der Schule repräsentiert sein wollte. Zu diesen Bildungsmächten gehörten unter anderem der Staat, die Kirchen und die Wirtschaft. Im Geschichtsunterricht nun wendet sich der Staat mit seinen Ansprüchen an die junge Generation, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß die nachwachsende Generation ja künftig die Verantwortung für diesen Staat wird übernehmen müssen. "Der Gegenstand des Geschichtsunterrichts war immer auf den Bereich der künftigen Verantwortung bezogen und eingegrenzt. Der Geschichtsunterricht sollte die geschichtlichen Voraussetzungen erarbeiten, unter denen die jeweilige Verantwortung stand, und damit der heranwachsenden Generation das Rüstzeug mitgeben, das sie zur Bewältigung der vor ihr liegenden Aufgaben braucht" (4). Im Geschichtsunterricht kommt also der Selbsterhaltungswille des Staates gegenüber der heranwachsenden Generation zum Ausdruck, er ist für Weniger die eigentliche Einführung der jungen Generation in die Politik; seine Aufgabe ist, die "Lebensgeschichte" des Staates produktiv, aber eben nicht historisch beliebig fortzuschreiben.

3. Wenn man bei diesem Gedanken heute noch einmal ansetzt, darf man sich nicht beirren lassen von zeitbedingten bzw. personbedingten Irrtümern und Einseitigkeiten, sondern muß zwischen dem Prinzipiellen und dem historisch zu Modifizierenden unterscheiden. Ich halte Wenigers prinzipielle These nicht nur nach wie vor für richtig, sondern auch für die einzige Möglichkeit, die Notwendigkeit des Geschichtsunterrichts in den Schulen überzeugend zu begründen; dieser Argumentation kann man jedoch nur dann folgen, wenn man Wenigers Konzept konsequent, und d.h. auch: in der historischen Verlängerung, zu Ende führt.

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4. Weniger hatte bereits einige andere Begründungsversuche für den Geschichtsunterricht überzeugend zurückgewiesen, die gleichwohl später immer wieder zur Diskussion standen. Das betraf zunächst die Rolle der Geschichtswissenschaft. Sie kann als solche den historischen Unterricht nicht begründen, sie ist nicht selbst das, was sich im Geschichtsunterricht repräsentiert, weil sie ausschließlich der historischen Wahrheitsfindung verpflichtet ist und nicht dem Selbsterhaltungswillen des Staates; sie ist für den Geschichtsunterricht nur Mittel zum Zweck, also sein materiales Repertoire. Auch psychologisch-anthropologische Begründungen, wie: daß man in der Begegnung mit der Geschichte notwendige Aspekte der Bildung (heute würde man eher sagen: der Identität) lerne, könnten nicht überzeugen. Es ließe sich nämlich zeigen, daß alle solche Bildungsmomente bzw. Tugenden oder menschlichen Grunderfahrungen auch in anderen Fächern bzw. in der Begegnung mit anderen kulturellen Objektivationen entstehen können (z. B. Literatur, Theater, Kino) und jedenfalls nicht spezifisch aus dem Geschichtsunterricht erwachsen. Darauf hatte Theodor Litt schon in seinem Buch "Geschichte und Leben" (Leipzig 1918) hingewiesen. Diese Kritik trifft - so scheint mir - auch manche gegenwärtigen Versuche, historischen Unterricht als notwendig für die Identitätsbildung des Schülers zu verstehen - jedenfalls dann und insofern, als solche Begründungen lediglich von der Anthropologie des Schülers ausgehen und nicht auch von seinen politischen Pflichten und Aufgaben. Dieser Einwand gilt übrigens über den Geschichtsunterricht hinaus für alle gegenwärtigen didaktischen Konzepte, die die kulturellen, beruflichen und politischen Lernziele einseitig aus den subjektiven Dimensionen der Bedürfnisse, Motivationen und Interessen herleiten wollen - was oft nur eine naive Fortsetzung der alten "Pädagogik vom Kinde aus" ist - und dabei übersehen, daß solche Lernziele auch von den objektiven Ansprüchen her formuliert werden müssen. Kommunikationstheoretische, identitätstheoretische und auch psychoanalytisch orientierte didaktisch-methodische Konzepte drohen die Einsicht zum Verschwinden zu bringen, daß realitätsbezogene und deshalb lohnende Lernprozesse die grundsätzliche Spannung zwischen subjektiven Bedürfnissen und den Ansprüchen der diesen gegenüber zunächst einmal gleichgültigen objektiven Realitäten aushalten und produktiv bearbeiten müssen (5).

5. Die prinzipielle Zustimmung zum Ansatz von Weniger macht zugleich seine Weiterentwicklung nötig. Die Grenzen seiner Argumentation müssen überschritten werden. Da ist zunächst zu klären, warum der Geschichtsunterricht die ihm von Weniger gesetzte Aufgabe von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr hat wahrnehmen können, sondern durch einen zusätzlichen politischen Unterricht ergänzt bzw. seit Ende der 50er Jahre teilweise fast ersetzt worden ist. Weniger hat sich schwer damit getan, nach 1945 den politischen Unterricht in seinen Begründungszusammenhang des Geschichtsunterrichts einzubeziehen.

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Grund dafür war seine Überlegung, daß die Jugend noch nicht im Ernst der politischen Kämpfe und Entscheidungen stehe, weshalb es auch keinen Sinn habe, sie in der Schule mit aktuellen politischen Kontroversen zu befassen. Deshalb könne der historisch-politische Unterricht nur propädeutische Funktion haben, auf künftige Verantwortung vorbereiten, indem er gerade in Distanz zur Aktualität das Repertoire für die politische Besinnung aus der Geschichte nehme; dabei ging es Weniger keineswegs um einseitige historische Informationen im Sinne etwa der "staatstragenden Mächte", sondern durchaus um die Darlegung der staatlichen und gesellschaftlichen Widersprüche - aber eben nicht mit dem Ziel jeweils aktueller politischer Stellungnahmen der Schüler. Angesichts mancher Entwicklungen an Schulen und Hochschulen in den letzten Jahren, angesichts leichtfüßiger politischer Stellungnahmen mit wenig Distanz und noch weniger Nachdenken mag Wenigers Auffassung nachträglich gerechtfertigt erscheinen. Dennoch beruhte sie auf Voraussetzungen, die nicht mehr gültig sind.

6. Politische Verantwortung war für Weniger unmittelbar staatsbezogen (aktives und passives Wahlrecht; Wehrdienst), nicht auch gesellschaftsbezogen, wobei die traditionelle Trennung von Staat und Gesellschaft vorausgesetzt wurde. Unabhängig nun von der Frage, wie das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu definieren sei - worüber es auch heute noch keineswegs Konsens gibt - dürfte Einigkeit darüber herrschen, daß im politisch-historischen Unterricht auch die nicht-staatlichen politisch relevanten Mächte angemessen präsentiert sein müssen; das ergibt sich allein schon aus ihrer objektiven Bedeutung für das Gemeinwesen. Gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten sind aber auch Jugendliche schon ausgesetzt - z. B. im Beruf und in Schulen und Hochschulen. Das heißt: In dem Augenblick, wo man den Blick vom Staatswesen auf das demokratische Gemeinwesen im ganzen richtet, entfällt Wenigers Voraussetzung, daß der historische Unterricht als ein politischer nur propädeutische Bedeutung haben könne. Aber noch eine weitere Konsequenz wird sichtbar. Für die Ausdehnung des Begriffs Verantwortung auf die gesellschaftlichen Bezüge der Jugendlichen reicht der Geschichtsunterricht nicht mehr aus. Selbst wenn er stärker sozialgeschichtlich (statt einseitig staatsgeschichtlich) orientiert wäre, könnte er den komplexen Zusammenhang der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen nicht hinreichend erschließen. Wäre dies möglich, so wären Wissenschaften wie Politikwissenschaft und Soziologie überflüssig und ihre Aufgaben könnten von der Historie mit erledigt werden. Die von Weniger formulierte Funktion des historischen Unterrichts muß also ergänzt werden durch kognitive Modelle der auf Aktualität bezogenen Politikwissenschaft und Soziologie, die die Gleichzeitigkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen zum Ausdruck bringen.

7. Wenigers Vorstellung von der politischen Exterritorialität des Jugendalters wurde ferner in dem Maße hinfällig, wie die soziale Funktion der Familie und ihre Sozialisationsfunktion sich änderten. Je mehr die soziale und ökonomische

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Autonomie der bürgerlichen Familie durch vielfältige bürokratisierte Verflechtungen mit der Gesamtgesellschaft beschnitten wurde, und je weniger der Vater noch als Garant bzw. Vertreter der politischen und gesellschaftlichen Interessen der Familie gelten konnte, um so mehr wurden die jugendlichen Mitglieder der Familie selbst auch politisch-gesellschaftliche Subjekte. (Ein vielleicht extremes, aber anschauliches Beispiel: durch die Stipendienvorschriften mehr oder weniger aufgezwungene Unterhaltsprozesse von - wenn auch erwachsenen - Kindern gegen ihre Eltern). Weniger sah im Jugendlichen nicht das politisch isolierte Individuum, den isolierten einzelnen Pflichten- und Rechteträger, wie es sich etwa im Bild des "Rollen-Ensembles" ausdrückt, er sah ihn vielmehr als Teil eines Sozialverbandes, nämlich der Familie. Die ökonomische und soziale Emanzipation der Jugendlichen von ihren Familien machte sie nun notwendig auch relativ unabhängig von ihrem Alter zu Menschen, die selbst für ihre gesellschaftlichen Interessen eintreten müssen und nicht mehr damit rechnen können, daß dies irgendjemand sozusagen "naturwüchsig" für sie tut.

Die veränderte Rolle des Jugendlichen in der Familie und in der Öffentlichkeit erklärt im übrigen auch die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit konflikt-orientierter Ansätze in der Politischen Bildung. Unter anderen Bedingungen - z. B. anfangs der 50er Jahre - hätten solche Konzepte bei den Jugendlichen kaum eine Chance gehabt. Voraussetzung dafür ist nämlich, daß das Konflikthafte auch subjektiv erlebt und nicht nur von außen "eingeredet" wird; erlebbar wird es jedoch erst im Prozeß der Desorganisation von überlieferten Lebenswelten. Für die Arbeiterjugend scheint diese Entwicklung nun ebenfalls einzusetzen.

8. Die Bedeutung, die Weniger allein dem Geschichtsunterricht beimaß, hatte ferner zur Voraussetzung, daß es so etwas wie Geschichtsbewußtsein überhaupt in nennenswertem Ausmaß in der Bevölkerung gab, daß das alltägliche private und öffentliche Leben auch in einem historischen Kontinuum gelebt, erlebt und interpretiert wurde; daß Zukunft als verantwortliche Fortschreibung von Vergangenheit und Gegenwart angesehen wurde. Eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit für ein derartiges Geschichtsbewußtsein ist offenbar wiederum eine bestimmte Familienkonstellation. Es hängt nämlich davon ab, inwieweit die Menschen sich selbst biographisch, oder besser: in der Sequenz von Generationen in ihrer Familie erleben. Die zunehmende Vergesellschaftung der Familie, die zunehmende Aushöhlung ihrer "naturwüchsigen" Funktionen, die Aufsaugung vieler ihrer Aufgaben durch gesamtgesellschaftliche Rechts- und Fürsorgemaßnahmen, zerstören auch notwendigerweise die unmittelbare Erfahrungsbasis für historische Prozesse. Wo es keine biographische Verbindlichkeit gibt, kann es auch kein historisches Bewußtsein geben - es sei denn als professionell und artifiziell konstruiertes.

9. Diese Tendenz wird noch dadurch unterstützt, daß die grundlegenden Prinzipien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die ihrer Natur nach a-historisch sind, sich inzwischen radikal durchgesetzt haben gegen anderswertige -

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z. B. religiöse - Prinzipien. Die Prinzipien der technologischen Effizienz, des wirtschaftlichen Wachstums und des maximalen Profits sind a-historisch in dem Sinne, daß ihr jeweils fortgeschrittener Stand den zurückliegenden, aus dem er hervorgegangen ist, nicht nur überflüssig macht und zum Wegwerfen verurteilt, er bedarf des voraufgegangenen nicht einmal zu seiner Rechtfertigung oder auch nur Erklärung. Eine neue Produktionsmethode macht die alte überflüssig; die Umkehrung kommt nicht in Frage: daß etwa frühere Methoden besser sein könnten als neuere. Die Annahme, das Frühere könne auch das Bessere sein, kann nur dann erwogen werden, wenn andere Prinzipien für "Fortschritt" eingeführt werden, z. B. solche der Lebensqualität oder der Humanisierung der Arbeit, die den ebengenannten Prinzipien entgegengesetzt werden müssen und von daher nicht zu legitimieren sind, sondern ihrer eigenen Legitimation bedürfen.

Ähnlich verhält es sich mit den für die herrschenden gesellschaftlichen Prinzipien benötigten humanen Dispositionen: Die Kategorien der individuellen Leistung, des individuellen Wettbewerbs, der sozialen Mobilität, des Rollenhandelns, ja sogar der "balancierenden Identität" (Krappmann) sind gegenüber biographisch-familiären wie auch historischen Prozessen prinzipiell gleichgültig.

Als Beispiel für diesen Zusammenhang mag die Doppeldeutigkeit des Postulats nach "lebenslangem Lernen" dienen. Einerseits soll es der Souveränität der Menschen nützen, insofern diese sich gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen können. Andererseits aber ist der leitende Maßstab für diese Anpassung der Wandel der Verhältnisse und z. B. nicht die biographische Integrationsfähigkeit der geforderten Anpassung, im Gegenteil: Wenn die subjektiven Möglichkeiten den objektiven Erwartungen nicht entsprechen, wirkt dies diskriminierend - wenn z. B. Arbeitnehmer mit Rücksicht auf ihre familiäre und persönliche Kontinuität sich weigern, ihren Wohnsitz immer dorthin zu verlegen, wo sich zufällig gerade ein Arbeitsplatz anbietet. Insofern das Postulat des "lebenslangen Lernens" der biographischen Kontinuität gleichgültig gegenübersteht, macht es das bisher Gelernte und Gelebte zu etwas, das der Person bloß äußerlich bleibt und jederzeit zum "Wegwerfen" verurteilt sein kann. In diesem Sinne sind die herrschenden technologisch-ökonomischen Prinzipien der gesellschaftlichen Entwicklung inzwischen weitgehend durchgeschlagen auf Sozialisations-Karrieren, die sie nach ihrem Bilde präformieren.

Weder die anthropologischen noch die technologisch-ökonomischen Prinzipien unseres gesellschaftlichen Lebens benötigen historisches Bewußtsein, vermögen dieses allenfalls als eine Art von Luxus zu dulden oder lieber noch als funktionalen "Reibungsverlust" zu verhindern. Wenn man also die Herausarbeitung von historischem Bewußtsein in den Schulen fordert, muß man dafür andere Kategorien und Kriterien ins Feld führen als die eben genannten. Einen derartigen Versuch hat z. B. die "Kritische Theorie" unternommen, indem sie die realen Lebensverhältnisse - und damit auch jene obengenannten Prinzipien - kritisch konfrontiert mit den Prinzipien und Versprechungen, die am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft formuliert wurden (z. B. höchstmögliche Individuation und Entfaltung des Individuums; Mündigkeit).

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10. Wenn es nach Weniger darum geht, im Geschichtsunterricht die "Lebensgeschichte" des Staates zu präsentieren mit dem Ziel, sein weiteres Schicksal der nachkommenden Generation zu überantworten, dann muß der Begriff des Staates als eines demokratischen präzisiert werden. Weniger hatte seine Thesen nur formal begründet, das heißt ohne nähere Ausführung zu den Besonderheiten des demokratischen Staates. Ob dieser nämlich historisch verstanden werden muß, hängt davon ab, wie man seine Aufgabe definiert. Wenn der Staat z. B. lediglich als "Krisenmanager" fungieren soll, als oberste Ordnungsmacht für die Regelung widersprüchlichler gesellschaftlicher Interessen, benötigt man zu seinem Verständnis und zur verantwortlichen Partizipation an ihm kein historisches Bewußtsein, sondern eher "zeitlose" funktionale Verständnismodelle wie das Modell der "demokratischen Spielregeln" oder das "Rollen-Modell". In diesem Falle genügt es, wenn der Staat denselben a-historischen Prinzipien unterliegt wie die technologisch-ökonomische Sphäre.

Nur wenn man unterstellt, daß der demokratische Staat sich gerade dadurch auszeichnet, daß er für sein Handeln anderen normativen Bedingungen unterliegt, die einerseits ganz bestimmte Qualitäten im Umgang mit und in der Fürsorge für die Bürger zur Folge haben, andererseits aber auch ganz bestimmte qualitative Anforderungen an das Bewußtsein der Bürger voraussetzen (z. B. Mündigkeit), wird historisches Bewußtsein nötig, allerdings dann eben ein solches, das die a-historischen technologisch-ökonomischen Prinzipien transzendiert, sich von ihnen kritisch distanziert. Im Grunde müßte über dieses letztere Verständnis des Staates als eines demokratischen in unserem Lande Konsens sein. Allerdings hätte dies unter anderem zur Folge, daß eine Theorie des Geschichtsunterrichts ohne Aufarbeitung der Kritischen Theorie nicht möglich wäre, weil und insofern diese eine ausformulierte Theorie zur Kritik der bloß technologisch-ökonomischen Effizienz-Rationalität angeboten hat. Das bedeutet nicht, daß man die "Kritische Theorie" im ganzen, sozusagen als "ideologischen Überbau" übernehmen, aber wohl, daß man sie in ihren grundsätzlichen Frageansätzen ernst nehmen muß. Insofern sind alle wissenschaftstheoretischen Polarisierungen, die die Kritische Theorie als Nicht-Wissenschaft, als Ideologie, als parteiliche Einseitigkeit denunzieren - wenngleich derlei Vorwürfe auch immer wieder im Detail überprüft werden müssen - nicht nur unsinnig, sie zerstören auch eine überzeugende Möglichkeit der Neubegründung eines historischen Unterrichts; denn um es noch einmal zu betonen:

Weder aus den herrschenden aktuellen gesellschaftlichen Prinzipien, noch aus herrschenden funktionalen Verhaltensmodellen für die Bürger (z. B. Rollen-Theorie), noch aus den vorherrschenden wissenschaftstheoretischen Richtungen wie Positivismus, kritischer Rationalismus und Systemtheorie läßt sich auch nur die Vernünftigkeit eines historischen Bewußtseins, geschweige denn seine Notwendigkeit ableiten. Dies geht vielmehr nur, wenn man die grundlegenden normativen Prinzipien des demokratischen Staates und der demokratischen Gesellschaft (Grundrechte; Menschenrechte; soziale Solidarität; Mitbestimmung, Mündigkeit; Freiheit; Gleichberechtigung; Sozialpflichtigkeit des Eigentums usw.),

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die er für sich in Anspruch nimmt, nicht als solche versteht, die ein für allemal realisiert seien, sondern als solche, deren Sinn angesichts sich wandelnder Realitäten und Handlungszwänge immer neu gefunden werden muß. Und diese Reflexion auf den praktischen Sinn jener Prinzipien ist nur möglich durch Durchbrechung des "Schleiers" der Aktualität, durch historische Transzendierung und Vergewisserung.

Historischer Unterricht kann nicht mehr wie früher die Reproduktion des "Zeitgeistes" sein, er könnte nur gegen ihn betrieben werden, als dessen Kritik und Aufklärung. Notwendig ist er als Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft, ihrer Leitbilder, Normen und Programme - als ständiger Hinweis auf Alternativen; auf die Gemachtheit der gesellschaftlichen Realität und damit auf ihre Veränderbarkeit; auf die Kontinuität und zugleich Wandelbarkeit herrschender Ideologien; auf die gleichbleibenden und sich verändernden Formen menschlicher Unterdrückung und Ausbeutung; auf die Nicht-Selbstverständlichkeit des scheinbar Selbstverständlichen, usw.

11. Für Weniger kam es im Geschichtsunterricht darauf an, die Geschichte des Volkes den Heranwachsenden im Zusammenhang zu erzählen, im Sinne einer Präsentation der Tradition, in die die neue Generation verantwortlich "einsteigen" soll. Nicht einmal für die Oberstufe des Gymnasiums wollte Weniger ein kritisches Quellenstudium. Diese Vorstellung hatte jedoch zur Voraussetzung, daß es möglich und konsensfähig sei, durch den Geschichtsunterricht eine Art von "Geschichtsbild" zu präsentieren, das trotz aller Widersprüche - die Weniger durchaus sah - als Einheitliches der jungen Generation angeboten werden könne. Das ist jedoch nur in einer Gesellschaft möglich, die sich ihrer Traditionen noch ziemlich sicher ist bzw. die in der Lage ist, "abweichende" Traditionen (z. B. der Arbeiterbewegung) auszuklammern oder zu "kanalisieren" - z. B. dadurch, daß diese "störende" Tradition lediglich in Form der staatlichen "Sozialpolitik" aufgenommen wird. Eine demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung darf jedoch unter Berücksichtigung der Pluralität von Traditionen, die in sie eingegangen sind, eben kein offizielles Geschichtsbild mehr vermitteln, muß vielmehr ihre "Lebensgeschichte" von Tabus freihalten und zur Disposition stellen, um auf diese Weise von jeder neuen Generation wieder eine demokratische Tradition erarbeiten zu lassen; denn es ist nicht einmal sicher, daß so, wie die Geschichte des demokratischen Gemeinwesens bisher verlaufen ist, sie im ganzen demokratisch "fortschrittlich" verlaufen ist. Weniger nahm dies offensichtlich an, wenn er meinte, die Tradition als Einheit durch den Lehrer präsentieren zu können. Aber die Kritische Theorie hat demgegenüber den begründeten Verdacht geweckt, daß es möglicherweise auch um die Wiederbelebung verschütteter Traditionen gehen müsse, nicht nur um die Fortschreibung dessen, was sich durchgesetzt hat.

12. Auch die Rolle der Geschichtswissenschaft im historischen Unterricht muß man heute anders sehen als Erich Weniger. Richtig bleibt zwar, daß sie den Geschichtsunterricht nicht konstituieren kann, aber die Frage ist, wie denn mit den

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historischen Stoffen im Unterricht verfahren werden soll, wenn ein einverständliches "Geschichtsbild" durch den Lehrer nicht mehr präsentiert werden kann. Die Antwort kann nur lauten, daß nun die Schüler selbst bzw. die Unterrichtsgemeinschaft von Lehrern und Schülern die Erarbeitung eines Geschichtsbildes vornehmen müssen; sie müssen selbst die historische Rekonstruktion leisten mit der unausweichlichen Folge, daß dabei mehrdeutige "Geschichtsbilder" zustande kommen bzw. daß der Konsens über die "demokratische Lebensgeschichte" des Gemeinwesens nicht Ausgangspunkt, sondern allenfalls Ergebnis des Unterrichts sein kann. Die Interpretationen müssen gleichsam "freigegeben" werden für die unterrichtliche Bearbeitung.

Damit ist aber das Problem einer weitgehenden Beliebigkeit des Geschichtsunterrichts, seiner Interpretationen und Ergebnisse gestellt. Kann man dem einzelnen Lehrer die Entscheidung darüber in vollem Umfang überlassen, ohne ihn dabei zumindest an gewisse Bedingungen der öffentlichen Legitimation zu binden?

Zumindest drei solcher Bedingungen liegen auf der Hand:

a) In dieser Situation erhält die Geschichtswissenschaft eine neue Funktion. Ihre Methoden der Erkenntnisgewinnung werden nun in wenn auch elementarisierter Form für den Geschichtsunterricht benötigt; denn alle Methoden sorgfältigen Nachdenkens über historische Entwicklungen sind auch historisch-wissenschaftliche Methoden, wobei allerdings die Umkehrung nicht gilt: Nicht alle historisch-wissenschaftlichen Methoden können auch in der Schule Verwendung finden, das ergibt sich aus dem spezifischen didaktischen Auftrag des schulischen Unterrichts, Komplexität zu reduzieren. Die Verpflichtung auf wissenschaftsorientierte Methoden des Nachdenkens und Arbeitens ist nach der Unmöglichkeit, noch weiter komplette Geschichtsbilder zu lehren, die einzige konsensfähige Basis für den Geschichtsunterricht, also auch dafür, die in der Geschichtswissenschaft selbst vorliegenden unterschiedlichen Interpretationen der historischen Sachverhalte und Entwicklungen im Schulunterricht "auszuhalten". Anders als in Wenigers Konzept ist eine öffentliche Legitimierung des Geschichtsunterrichts ohne Bezugnahme auf den wissenschaftlichen Standard nicht mehr möglich, und das gilt sowohl für die objektive Seite (Lebensgeschichte des demokratischen Gemeinwesens) wie auch für die subjektive Seite (historische Selbstaufklärung zum Zwecke der Mündigkeit). Sowohl für den politischen Unterricht wie auch für den Geschichtsunterricht ist der Weg zum Subjektivismus und zur Indoktrination sehr kurz geworden; er kann nur vermieden werden von der formalen Seite her, also von der Art und Weise, wie man zu einem Ergebnis gekommen ist. Das Lernergebnis selbst gibt keine Möglichkeit zur öffentlichen Rechtfertigung mehr ab. Angesichts der auch im Geschichtsunterricht zunehmenden Tendenz, Lernziele zu setzen und zu realisieren, kann dieser Punkt nicht genügend ins Bewußtsein genommen werden: Daß nämlich gerade dadurch die Legitimationsprobleme nicht gelöst, sondern nur verstärkt bzw. sogar hergestellt werden. Wahrscheinlich wird man sich in Zukunft daran gewöhnen müssen, daß es zwischen Wissenschafts-

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didaktik und Schuldidaktik nur noch graduelle, keine prinzipiellen Unterschiede mehr geben kann (6).

b) Der zweite Gesichtspunkt ist, daß die fachwissenschaftlicheQualifikation des Lehrers unter diesen neuen Bedingungen konstitutiv für den Legitimationszusammenhang wird. Und dies nicht nur in dem Sinne, daß die fachwissenschaftliche Qualifikation eine Funktion der fachdidaktischen ist und von dieser her zu begrenzen wäre. Vielmehr muß der Lehrer zumindest auch in der Lage sein, die Gegenstände, die er unterrichtet, hinsichtlich der damit verbundenen wertenden Urteile für sich selbst und gegenüber Fachkollegen argumentativ diskutieren zu können. Er muß also - prinzipiell unabhängig von seiner beruflichen Aufgabe - historisch-wissenschaftlich "gebildet" sein.

c) Eine dritte wichtige Bedingung sind bestimmte Möglichkeiten für die Kommunikationsstruktur des Unterrichts. Die Frage ist ja, ob und in welchem Maße die kommunikativen Bedingungen überhaupt zulassen, daß auch die Schüler von der Freigabe der Interpretation profitieren können und nicht nur ihre Lehrer. Es ist wohl kein Zufall, daß kommunikations- und interaktionstheoretische Überlegungen und Konzepte in den letzten Jahren in der Erziehungswissenschaft ein so großes Interesse gefunden haben; das hängt zweifellos auch mit dieser Legitimationsproblematik zusammen (7). Allerdings droht auch hier bereits die Gefahr der Verabsolutierung eines wichtigen Gesichtspunkts. In dem Maße nämlich, wie sich solche Überlegungen von den anderen beiden hier genannten Bedingungen isolieren, führen sie auch nur wieder zu einem pädagogisch-provinziellen Rückzug auf die menschliche Unmittelbarkeit.
 
 

II. Aspekte einer historisch-didaktischen Theorie

1. Nach der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Wenigers Konzept sollen nun einige zwar immer noch allgemeine, aber doch wenigstens strategische Gesichtspunkte für eine historische Didaktik erörtert werden. Die zentrale Aufgabe des Geschichtsunterrichts, so hat sich gezeigt, ist die Rekonstruktion der Biographie des gegenwärtigen demokratischen Gemeinwesens. Es geht also um die Frage, wie dieser Staat und diese Gesellschaft, ihre verfassungsmäßigen Prinzipien, ihre charakteristischen Institutionen und Regelungen entstanden sind; welche Ursachen ihrer Entstehung und Entwicklung zugrunde liegen, welche Probleme sie gelöst haben und welche nicht, und welche sie neu geschaffen haben; wer aus welchen Gründen die Gegner des Demokratisierungsprozesses

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waren und welche entscheidenden Krisen das demokratische Gemeinwesen wie überstanden hat. Ein solcher historischer Unterricht, der an der "Biographie" der gegenwärtigen demokratischen Gesellschaft orientiert ist und der damit seinen Gegenwartsbezug gleich mitsetzt und ihn nicht durch alle möglichen Spekulationen zusätzlich einführen muß, erklärt nicht nur positiv, "wie es gekommen ist" - was bereits wieder in die Nähe eines "Geschichtsbildes" gelangen würde - , sondern auch kritisch, "warum es nicht anders gekommen ist" bzw. warum und wodurch eine bestimmte Intention oder Bewegung nicht zum Erfolg gekommen ist. Die letztere, kritische Erklärungsabsicht ergibt sich u. a. aus der Tatsache, daß der Demokratisierungsprozeß, wie er etwa zur Formulierung des Grundgesetzes geführt hat, nicht linear-fortschrittlich verlaufen ist, sondern auch in Krisen und teilweise barbarischen Rückschritten, sowie aus der weiteren Tatsache, daß er teilweise erheblich verzögert worden ist und auch heute noch nicht zu seinem Ende gekommen ist. Dabei steht die Leitvorstellung "Demokratisierung" durchaus selbst zur Diskussion. Wie aktuelle politische Auseinandersetzungen zeigen, wie etwa die Diskussion um den Begriff "Emanzipation" zeigt, gibt es darüber nicht ohne weiteres einen Konsens. Unterschiedliche klassen- und schichtspezifische Erfahrungen und Interpretationen müssen ernst genommen werden, eine bewußte Konvention kann nicht vorausgesetzt werden, sondern wäre gerade u. a. durch Geschichtsunterricht herzustellen und zu ermöglichen. Würde man die historischen Prozesse, die zu unserer gegenwärtigen staatlich-gesellschaftlichen Verfassung geführt haben, unaufgeklärt auf sich beruhen lassen, so würden die spezifisch demokratischen Kriterien der Verfassung zusammenschrumpfen auf formale Regeln für die Bildung und Kontrolle von Macht und für die Austragung von Konflikten. Ohne historisches Bewußtsein müssen über kurz oder lang demokratische Normen und Prinzipien zum Verschwinden kommen.

2. Es geht aber - wie wir gesehen haben - auch um die historische Selbstaufklärung der Individuen zum Zwecke ihrer Mündigkeit, also um die Aufklärung ihrer aktuellen Wünsche, Bedürfnisse und Intentionen, Probleme und Konflikte. Über eine ganze Reihe von für die Gegenwart bedeutsamen historischen Zusammenhängen gibt es immer schon eine Vor-Einstellung, ein mehr oder weniger diffuses Konglomerat von Vorstellungen. Ganz falsch wäre die Annahme, historisches Bewußtsein müsse vom Nullpunkt an erst aufgebaut und hergestellt werden. Historische Voreinstellungen sind vielmehr - sei es in verbalisierbarer Form, sei es in Form kollektiv-bewußter oder kollektiv-unbewußter Vorstellungen und Einstellungen - immer schon vorhanden und werden im Verlauf der Sozialisation mitgelernt. Aufgabe der historisch-didaktischen Grundlagenforschung wäre u. a., solche vorhandenen Einstellungen und Vorstellungen genauer zu untersuchen, denn sie müssen ein wichtiger didaktischer Ausgangspunkt sein: Geschichtsunterricht besteht in der Konfrontation dieser Vor-Einstellungen mit wissenschaftlich-historischen Erkenntnissen und Methoden. Dazu jedoch reichen solche Untersuchungen nicht mehr aus, die sich

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mit abfragbaren historischen Kenntnissen und Vorstellungen befassen. Während es nämlich etwa in den 50er Jahren noch darum ging, durch den Nationalsozialismus geprägte, aber in hohem Maße formulierbare und deshalb auch argumentierbare falsche historische Vorstellungen zu korrigieren, hat es heute mehr und mehr den Anschein, als ob überhaupt keine historischen Vorstellungen, Interessen und Kenntnisse bei einem immer größeren Teil der Bevölkerung und vor allem der heranwachsenden Generation mehr vorhanden seien. Bis in die mittelständische Studentenschaft hinein ist dieser historische Bewußtseinsschwund festzustellen - nicht zuletzt in der weit verbreiteten Unfähigkeit unter sogenannten "linken" Theoretikern, im Rahmen der historisch-materialistischen Prämissen historisch konkret zu argumentieren.

Jedoch wäre es ein Irrtum anzunehmen, historisches Bewußtsein und historische Vorstellungen könnten einfach ersatzlos ausfallen. Vielmehr sind an deren Stelle nun der rationalen Argumentation nicht mehr ohne weiteres zugängliche "Selbstverständlichkeiten" getreten. Zu diesen gehört z. B. die Vorstellung vom eindimensionalen "Fortschritt", wonach das Frühere eben auch das Schlechtere ist - eine Vorstellung, die durch einen unhistorisch-technologischen Wissenschaftsbetrieb ja auch fleißig genährt und geradezu offiziös gemacht wird. Ferner gehören dazu eine Reihe kollektiver Ressentiments und Anteile der herrschenden Ideologien, die überhaupt nur als eine Art von abgesunkenem historischen Bewußtsein erklärt werden können: z. B. gerade für Deutschland typische anti-kommunistische, anti-gewerkschaftliche Komplexe, tiefsitzendes Mißtrauen gegen die Arbeiterbewegung und deren Funktionäre sowie gegen die Fähigkeit und Ziele organisierter Arbeitnehmerinteressen; gegen Räte-ähnliche politische Organisationsmuster und die "Politik der Straße". Jede politische Kontroverse in der Gegenwart enthält solche und andere Anteile von "abgesunkenen historischen Erfahrungen", die das Verhalten bestimmen und als unaufgeklärte der privaten und gesellschaftlichen Vernunft im Wege stehen. Sie haben eher die Qualität von kollektiven Ängsten angenommen, als daß sie sich wie früher in verbalisierbaren "Geschichtsbildern" artikulieren könnten. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch die Analyse von solchen Produkten der Unterhaltungsindustrie, die auf historischen Stoffen beruhen, und deren Beliebtheit sich ja nicht zuletzt der Tatsache verdankt, daß sie beim Publikum eine bestimmte Vorstellungswelt ansprechen.

3. Didaktische Ansatzpunkte für den historischen Unterricht sind also einerseits die wie auch immer konfusen unaufgeklärten historischen Vorstellungen der im Unterricht agierenden Lehrer und Schüler, andererseits die Biographie der staatlich-gesellschaftlichen Verfassung selbst, soweit sie jedenfalls die gegenwärtigen politisch-ideologischen Auseinandersetzungen unausgesprochen oder ausgesprochen mitbestimmen. Solche Vorstellungen werden durch Konfrontation mit historisch-wissenschaftlichen Forschungen und Ergebnissen in wenn auch reduzierter und exemplarischer Form bearbeitet; die Lernchancen sind also in der Differenz zwischen den subjektiven Vorannahmen und Voreinstel-

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lungen einerseits und den einschlägigen objektivierten wissenschaftlichen Verfahren und Produktionen andererseits angelegt. So früh wie möglich, d. h. wie es der Bildungsgang erlaubt, sollte dies sich auch durch die "Begegnung mit den Originalen" ausdrücken. In den unteren Bildungsstufen muß der Lehrer wie eh und je den objektiven Aspekt in geeigneter Weise repräsentieren und vermitteln. Systematische Lehre bleibt weiterhin nötig, aber die Notwendigkeit zur Reduktion der Komplexität muß sich rechtfertigen gegenüber der Forderung nach einer angemessenen Vermittlung von Subjektivität und Objektivität. Nun reichen alle diese Vorüberlegungen nicht aus, eine unstreitige Stoffauswahl und einen eindeutigen Katalog von Lernzielen zu deduzieren. Derartige Hoffnungen haben sich auch für den politischen Unterricht in den letzten Jahren zerschlagen. Die umfangreichen curricular orientierten Legitimationsversuche etwa in den neuen hessischen und nordrhein-westfälischen Richtlinien konnten sich zwar teilweise konkretisieren, aber zu deren Lernziel- und Stoffvorschlägen ließen sich auch unter Berücksichtigung der dafür gesetzten allgemeinen Prinzipien eine Reihe logisch gleichwertiger Alternativen finden. Mit anderen Worten: Das Problem der unterrichtlichen Konkretion ist nur dadurch zu lösen, daß man den offensichtlich nicht weiter einzugrenzenden Unbestimmbarkeitsspielraum zwischen den leitenden Prinzipien und der Konkretisierung durch pragmatische Konventionen ausfüllt. Überhaupt ist ja die Erwartung, in unseren Schulen müsse überall in denselben Jahrgängen das Gleiche gelernt werden, eine fixe Idee der Schulverwaltungen, jedenfalls nichts, was in einem erkennbaren Interesse der Selbstaufklärung der Schüler bzw. der Aufklärung des Gemeinwesens läge. Auch im Sinne einer notwendigen didaktischen Reihenfolge, daß man erst dieses lernen müsse, um dann jenes verstehen zu können, führen derartige Konkretisierungen nicht weiter. Selbst die Altersstufen-Psychologie gibt dafür weniger her, als man lange angenommen hat, und auch die moderne Lernpsychologie kann dafür allenfalls allgemeine Hinweise geben. Sogar die Spekulation auf die Motivationen der Schüler und auf ihre jeweiligen Lerninteressen bringt nicht viel ein, weil erstens "Motivationen" und "Interessen" sehr plastische und daher anpassungsfähige Persönlichkeits-Variablen sind, und weil zweitens die Aufgabe des Schulunterrichts nicht nur sein kann, vorhandene Motivationen und Interessen zu befriedigen, sondern auch, durch Konfrontation mit diesen neue, bzw. präzisierte entstehen zu lassen. Ein Schulunterricht, der allzu naiv auf die vorhandenen Motivationen setzt, macht diese nur parasitär und verhindert ihre Herausarbeitung und Entfaltung. Nur in dem Maße, wie sie mit objektiven Ansprüchen konfrontiert werden, werden sie auch ernst genommen. Die für historische Bearbeitungen nötigen intellektuellen Fähigkeiten sind zumindest nicht größer, als sie für viele andere Fächer ganz selbstverständlich gefordert werden. Würde man sich für den historischen Unterricht von der Vorstellung lösen, es komme dabei wesentlich auf "Gesinnungsbildung" oder "Gemütsbildung" oder auf ein bestimmtes "Verhalten" an, dann fiele es auch leichter, die kognitiven Chancen deutlicher zu machen und ungenierter zu nutzen.

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Nur im Sinne einer zweckmäßigen pragmatischen Vereinbarung, und nicht als Deduktion aus einer unbestreitbaren Theorie, läßt sich die an und für sich unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten und Variationen für den historischen Unterricht auf vier miteinander zusammenhängende didaktische Leitgesichtspunkte eingrenzen, die man vielleicht als ein allgemeines didaktisches Strukturmuster ansehen könnte:

den wissenschaftlich-formalen;
den ereignisgeschichtlich-analytischen;
den strukturgeschichttlich-synthetischen und schließlich
den aktuell-genetischen Aspekt.

4. Von der Bedeutung der formalen Aspekte für die öffentliche Legitimierbarkeit des Geschichtsunterrichts war schon die Rede. Diese Aspekte lassen sich vielleicht folgendermaßen operationalisieren:

a) zwischen der Erkenntnis von Tatsachen und dem Spielraum der Interpretation dieser Tatsachen unterscheiden lernen;

b) lernen, daß die Interpretation von historischen Tatsachen und Ereignissen zwar standort- und interessengebunden ist, sich aber gleichwohl dem Anspruch der Wahrheit aussetzen muß;

c) die Bedeutung und unterschiedliche Aussagefähigkeit von Quellen erkennen lernen.

Dies wäre ein Minimalkatalog, der durchaus realisierbar ist, wenn man bedenkt, daß diese formalen Kriterien aus der unmittelbaren Lebenserfahrung der Schüler erklärt werden können. Nicht fremd ist ihnen die Erfahrung, daß es einen Unterschied zwischen Tatsachen und ihren Interpretationen gibt; daß man geneigt ist, Interpretationen so vorzunehmen, daß sie einem "in den Kram passen"; daß z. B. eine offizielle Erklärung des Schulleiters eine andere "Quellenqualität" hat als die Ansichten der Freunde über die Schule, usw. Wahrscheinlich ist es sehr viel leichter, solche formalen Aspekte zu begreifen, als komplexe historische Ereignisse zu erfassen.

5. Im Hinblick auf die "Biographie" der staatlich-gesellschaftlichen Verfassung lassen sich eine Reihe von historischen "Schlüsselereignissen" als besonders relevant für die Bearbeitung im Unterricht vereinbaren, und zwar solche, die einerseits für die gegenwärtige historische Lage wichtig gewesen sind, und die andererseits deutlich die allgemeine Konfliktlage zwischen demokratischen und anti-demokratischen Tendenzen und Interessen bzw. - falls diese Entgegensetzung zu problematisch erscheint - zwischen unterschiedlichen Interessenlagen und Konzeptionen überhaupt widerspiegeln. Zu einem solchen "Ereignis-Kanon" können etwa gehören: die französische Revolution; die Stein-Hardenbergschen Reformen; das Jahr 1848; das Sozialisten-Gesetz; die Bismarcksche Sozialpolitik; der erste Weltkrieg; die russische Revolution; die deutsche Revolution 1918/19 und die Entstehung der Weimarer Republik; die Weltwirtschaftskrise; die nationalsozialistische Machtergreifung; die Nürnberger Ge-

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setze; der zweite Weltkrieg; das Potsdamer Abkommen. Manches spräche dafür, auch noch Ereignisse vor der französischen Revolution mit einzubeziehen, z. B. die Reformation, die Bauernkriege, den Dreißigjährigen Krieg usw. Auch solche Ereignisse könnten mit guten Gründen als wichtig für die "Biographie" der demokratischen Verfassung angesehen werden. Jedoch ist noch einmal zu betonen, daß es für die Auswahl einer solchen Ereignis-Kette kein hinreichend konkretisierbares Prinzip gibt. Nicht nur die Zahl solcher Schlüsselereignisse ließe sich vermehren, sofern die begrenzte Zahl der dafür zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden dies zuläßt; vielmehr wären auch andere "Klassen" von Ereignissen nicht weniger plausibel, z. B. schulpolitische wie die preußischen Regulative und das preußische Volksschulunterhaltungsgesetz von 1906, sowie weitere Daten aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Je nachdem, welche Position jemand im historischen Kontext des Demokratisierungsprozesses und in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen einnimmt, wird er auch eine bestimmte Ereignis-Reihe favorisieren. Solche unterschiedlichen Konzeptionen lassen sich zwar rational diskutieren, spiegeln sie doch nur aktuelle ideologische Kontroversen wider, aber es hätte wenig Sinn, für den Schulunterricht auf Durchsetzung dieser oder jener Position zu plädieren. Vielmehr muß der Schulunterricht der Pluralität einander widerstreitender, im Rahmen des Grundgesetzes zulässiger demokratischer Konzeptionen und Interessenlagen Rechnung tragen. Daraus folgt, daß durch Richtlinien nur ein Teil der Ereignisse zur Behandlung im Unterricht vorgeschrieben werden kann, daß weitere zur Disposition der "pädagogischen Basis" gestellt werden müssen. Mit anderen Worten: staatliche Richtlinien können nur Kompromisse anbieten, und sie sollten sich davor hüten, sich darüber hinaus eine prinzipielle inhaltliche Legitimation zu geben.

6. Nun sind "Ereignisse" in der eben beschriebenen Form in zweierlei Hinsicht noch unscharf definiert. Erstens hinsichtlich ihres Umfanges, denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß es sich immer schon um einen Komplex bzw. um eine Sequenz von Ereignissen handelt. Diese Schwierigkeit gilt jedoch für die Bearbeitung politischer Konflikte im Unterricht genauso und kann nur im konkreten Unterricht selbst definitorisch gelöst werden, im Sinne einer genaueren Bestimmung der gemeinsamen Aufgabe. Zweitens ist noch unklar, was "Bearbeitung" dieser Ereignisse eigentlich heißen soll. Es geht darum, begründete Fragen an einen Sachverhalt bzw. an seine Interpretation zu stellen. Sind solche Fragen prinzipieller Art, d. h. können sie sinnvoll immer wieder an Gegenstände mit gemeinsamen Merkmalen, z. B. an historische Ereignisse, gerichtet werden, so handelt es sich um Kategorien. Welche Fragen man stellen will, hängt von dem Interesse ab, das man einem bestimmten Gegenstand gegenüber hat. Insofern kann die Auswahl von Kategorien mit einer gewissen Beliebigkeit erfolgen. Sehr viel weniger beliebig - weil auf den Spielraum der formalen methodischen Regeln festgelegt - ist die Beziehung von Frage (Kategorie) und Antwort. Die Beliebigkeit der Kategorien Wahl wird jedoch weiter einge-

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schränkt und zugleich genauer determiniert durch die für den historischen Unterricht angenommenen Leitvorstellungen (Bearbeitung der individuellen historischen Vorstellungen einerseits und Bearbeitung der historischen Biographie der demokratischen Verfassung mit dem Ziel ihrer weiteren Realisierung andererseits). Unter diesem Aspekt nämlich müssen im Prinzip die gleichen Kategorien auch für historische Ereignisse relevant sein, die für die Analyse gegenwärtiger politischer Konflikte Geltung beanspruchen können. Die Verwendung gleicher Kategorien gäbe zudem die Möglichkeit, den politischen Unterricht mit dem historischen strukturell zu verbinden.

Ich schlage also vor zu prüfen, ob die von mir für den politischen Unterricht entwickelten Kategorien (Macht; Recht; Solidarität; Ideologie; Konkretheit; Konflikt; Mitbestimmung; Funktionszusammenhang; Geschichtlichkeit; Menschenwürde (8) nicht auch die grundlegenden analytischen Kategorien für die Bearbeitung der historischen »Schlüsselereignisse" sein könnten. Lediglich die Kategorie des subjektiven "Interesses" ließe sich nicht unmittelbar, sondern nur hypothetisch verwenden, etwa in dem Sinne: Welche Stellung hätte ich (der Schüler) damals eingenommen, und was wäre mein Interesse gewesen? Diese Kategorien - ihre mögliche Modifizierung schließe ich jetzt mit ein - scheinen mir auch den historisch-wissenschaftlichen Analysen zugrunde zu liegen, sind also insofern "eigenständige", keine unzulässig pädagogisierten Kategorien. Die Chance ihrer didaktischen Verwendung bestünde nicht nur darin, daß zwischen historischem und politischem Unterricht vermittelt werden könnte, sondern auch darin, daß einerseits zwischen der objektiven und subjektiven Aufgabe des Geschichtsunterrichts und andererseits zwischen Gegenwart und Geschichte vermittelt werden könnte. Diese Kategorien sind nämlich Leitfragen von heutigen Individuen, gerichtet an den objektiven Prozeß der staatlich-gesellschaftlichen Demokratisierung, und zwar so, daß sie nur vom Standpunkt des jeweiligen historischen "Schlüsselereignisses" her bearbeitet und beantwortet werden können. Wäre also eine solche Verwendung von Kategorien möglich und akzeptierbar, dann ergäbe sich die Aussicht, den Komplex des historischen und politischen Unterrichts einerseits für die Erkenntnisfähigkeit der Schüler reduziert genug, andererseits aber auch differenziert und "materialtreu" genug zu organisieren.

7. Für den historischen Unterricht stellt sich dasselbe Problem wie für den politischen Unterricht, nämlich: wie man von einer Analyse politischer Konflikte bzw. von historischen Ereignissen zu einem Vorstellungszusammenhang über die Gesamtgesellschaft gelangen kann. Dies ist nicht einfach induktiv möglich, etwa so, daß man die Konfliktanalysen nur genügend weit verlängerte. Vielmehr muß die gesamtgesellschaftliche Struktur unmittelbar in den Blick genommen werden. Dafür bietet sich im Geschichtsunterricht die strukturgeschichtliche Betrachtungsweise an. Deren Modelle sind nicht nur nützlich für

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den Komplex "Gesamtgesellschaft" (z. B. Feudalismus; Frühkapitalismus; Spätkapitalismus), sondern auch für die Entwicklung gesellschaftlicher Teilbereiche (z. B. "Familie" vom "ganzen Haus" bis zur gegenwärtigen Kleinfamilie). Allerdings sind sie auch nicht unproblematisch, weil sie die Faszination des definit und knapp und bündig Erkannten auszustrahlen vermögen, während sie tatsächlich jedoch nur idealtypische Konstrukte und Abstraktionen sein und sich erst durch die Analyse von Ereignissen mit Leben füllen können. Gerade die letzten Jahre haben gezeigt, wie verführerisch bis hin zum Verlust jeder Art von historischer Sensibilität solche Modelle wirken können, und schon aus diesem Grunde kann es nur um die Kombination und wechselseitige Ergänzung von ereignisgeschichtlichen und strukturgeschichtlichen Betrachtungen gehen.

8. Einen weiteren wichtigen Zugang zu historischen Prozessen bietet die politisch-didaktische Kategorie der "Geschichtlichkeit" bei der Analyse aktueller politischer Konflikte, die dadurch in ihrer historischen Genese rekonstruiert werden. Lange Zeit schien dieser aktuell-genetische Aspekt der einzig notwendige zu sein, weil er auf lange Sicht zu erweisen schien, welche historischen Fakten und Traditionen für die Einsicht in gegenwärtige und zukünftige Probleme benötigt würden. Jedoch hat sich nicht zuletzt in der Diskussion neuer Richtlinien gezeigt, daß allein von diesem Zugang her die historischen Rekonstruktionen keine Tiefe gewinnen, keinen eigenständigen Argumentationszusammenhang abgeben können. Historische Informationen würden einseitig in Dienst genommen für aktuelle Erkenntniszwecke, ohne daß sie auch zu deren kritischer Gegen-Instanz werden könnten. Bewiesen würde sozusagen immer nur noch einmal, was vorher schon klar ist.

9. Die hier vorgeschlagene Mehrdimensionalität des Geschichtsunterrichts macht auch den Weg frei für neue unterrichtsmethodische Varianten. Die von Erich Weniger vertretene Konzeption bot wenig Variationsmöglichkeiten, kaum mehr als den Frontalunterricht des Lehrers. Nun geht es aber nicht mehr nur um die optimale Vermittlung historischer Stoffe, sondern auch um die Bearbeitung individueller und kollektiver, d. h. ideologisch gewordener gegenwärtiger Vorstellungen über historische Ereignisse und Zusammenhänge sowie um den Umgang mit Originalmaterial. Nicht nur steht z. B. zur Debatte, wie die nationalsozialistische Machtergreifung wirklich gewesen ist, sondern auch, wie sie in der nichtprofessionellen öffentlichen Diskussion, in pragmatischen politischen Erklärungen etwa oder in aktuellen politischen Begründungszusammenhängen erscheint. Unter diesen Umständen bieten sich auch neue unterrichtsmethodische Variationen an, ohne daß sie krampfhaft inszeniert werden müßte, z. B. für recherchierende Kleingruppen, so daß sich der historische Unterricht auch methodisch dem politischen Unterricht weitgehend annähern könnte (9).

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10. Die hier vorgeschlagene Mehrdimensionalität von ereignisgeschichtlich-analytischen, strukturgeschichtlich-syntheeischen und aktuell-genetischen Aspekten einerseits und von individuellen bzw. kollektiven gegenwärtigen Vorstellungen andererseits mag zunächst deshalb unbefriedigend erscheinen, weil sie nicht zu einer überzeugenden "Theorie des Geschichtsunterrichts" integriert ist. Ähnliche Vorwürfe sind auch immer schon gegen meine didaktische Konzeption des politischen Unterrichts erhoben worden, ohne daß es bisher gelungen wäre, das Bemühen nach einheitlicher und systematischer didaktischer Theorie entscheidend weiterzutreiben. Meine Ansicht ist, daß didaktische Theoriebildung unter den gegenwärtigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen von einem bestimmten Punkt der Perfektion an ins Gegenteil umschlägt, nämlich entweder zu blutleeren technologischen Unterrichtsprojekten führt, oder aber das, was da vermittelt werden soll, verbaut. Didaktische Theorien müssen sich deshalb wohl bescheiden, mehr oder weniger pragmatische Konstrukte mit "mittlerer Reichweite" zu bleiben. Für den Geschichtsunterricht heißt das, daß ein in sich zusammenhängendes Geschichtsbild im staatlich monopolisierten Schulwesen nicht mehr verbindlich gemacht werden kann; lediglich gesellschaftliche Partikularitäten wie Kirchen oder Gewerkschaften können ihren Anhängern noch eine solche Gesamtinterpretation in ihren eigenen außerschulischen Bildungsveranstaltungen anbieten. Die Schule jedoch hat es mit parteilich-konkurrierenden Interpretationen zu tun, nicht nur mit politischen, sondern auch mit wissenschaftlichen. Daraus folgt, daß sich die didaktischen Überlegungen auf die Modalitäten der intellektuellen Bearbeitungen, also auf die subjektive Seite der Lern- und Studierprozesse verlagern müssen. Die Organisation der intellektuellen Arbeitsprozesse hat Vorrang vor der Planung der Endergebnisse; das Geschichtsbild als Inbegriff der in sich plausibel strukturierten historischen Vorstellungen kann nur das Ergebnis des je subjektiven Lern- und Studierprozesses selbst sein und kann und darf nicht curricular antizipiert werden. Ein moderner Geschichtsunterricht kann nicht "einheitlicher" sein, als es die moderne internationale Geschichtswissenschaft selbst ist, und man sollte sich endlich - und nicht nur im Fach Geschichte - von der Vorstellung befreien, in die Schule dürfe nur das Unumstrittene Einzug halten. Das Umstrittene als eben dieses im Unterricht zu behandeln, und zwar auf eine konsensfähige Weise, ist eines demokratischen Staates und einer staatlich monopolisierten Schule durchaus nicht unwürdig.

11. Die bisherigen Überlegungen bezogen sich auf einen politisch begründeten Geschichtsunterricht, der kaum hinter die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zeitlich zurückgehen kann. Darin liegt eine Einseitigkeit, die zum Schluß wenigstens noch angedeutet werden soll. Historischer Unterricht ließe sich nämlich nicht nur begründen aus der politischen Partizipation - wovon in diesem Artikel die Rede war - , sondern auch von der kulturellen Partizipation. Historische Tradition begegnet uns ja auf mannigfaltige Weise: Der Tourismus z. B. schafft Begegnungen mit den Zeugnissen verschiedener Kulturen und ge-

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sellschaftlicher Formationen und mit Lebensauffassungen, die sich von den unseren unterscheiden. Das Fernsehen berichtet über Minderheiten, die früheren und uns auf Anhieb völlig unverständlichen Kulturen angehören. Und das Verständnis für Gastarbeiter in unserem Lande wäre sicher größer, wenn wir wenigstens eine Ahnung von deren spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen hätten. Aber vielleicht wäre dies eher eine Aufgabe für die historischen Dimensionen anderer kultureller Fächer in der Schule.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. Th. Berger: Geschichtsdidaktik. In: b: e, H. 8/1977, S. 53 ff. - H. Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft? 2 Bände. Stuttgart: Klett 1972. - K. Herbst: Didaktik des Geschichtsunterrichts zwischen Traditionalismus und Reformismus. Hannover: Schroedel 1977.

(2) Dieses Verfahren wurde "modisch" Ende der sechziger Jahre durch solche "anti-kapitalistischen" Positionen, die die Kritik an ihren sogenannten "bürgerlichen" Gegenpositionen antithetisch-alternativ und undialektisch im Sinne einer Abgrenzung und nicht einer ständig notwendig bleibenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung formulierten, wobei das Ausgegrenzte dann auch für die eigene Argumentation überflüssig gemacht wurde. Inzwischen haben auch konservative Positionen diese Mode übernommen, wie z. B. an der pauschalen Diffamierung der "kritischen Theorie" zu erkennen ist. Allerdings gab es auch Versuche, unterschiedliche Positionen wissenschaftlich-argumentativ auszutragen, um auf diese Weise zum wenigstens praktischen Konsens zu kommen. Vgl. etwa die Arbeit der nordrhein-westfälischen Richtlinienkommission: R Schörken (Hrsg.): Curiculum "Politik". Opladen: Leske 1974.

(3) Ich stütze mich hier vor allem auf: E. Weniger, Neue Wege im Geschichtsunterricht (1949), 3. Aufl. 1965. Frankfurt: Schulte-Bulmke 1965, sowie auf die gründliche Darstellung und Interpretation bei: H. Blankertz/D. Hoffmann: Geschichtsunterricht und politische Bildung. In: I. Dahmer/W. Klafki: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche - Erich Weniger. Weinheim Beltz o. J., S. 175 ff.

(4) E. Weniger: Neue Wege ... S. 28.

(5) Diese Kritik ist ausführlicher begründet in: H. Giesecke: Aufklärung und Subjektivität. Zur Kritik der gegenwärtigen Reformpädagogik. In: ders: (Hrsg.): Ist die bürgerliche Erziehung am Ende? München: List 1977.

(6) Auch dieses Problem gilt keineswegs nur für den Geschichtsunterricht, sondern zumindest für alle diejenigen Schulfächer, für die normative Inhalte konstitutiv sind, die innerhalb eines gesellschaftlich zugelassenen Rahmen entschieden werden dürfen. Ausführlicher dazu: H. Giesecke: Die Schule als pluralistische Dienstleistung und das Konsensproblem in der politischen Bildung. In: S. Schiele/H. Schneider (Hrsg.):Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart: Klett 1977, S. 56 ff.

(7) Vgl. u. a.: K. Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß. München: Juventa 1972. -D. Ulich: Pädagogische Interaktion. Weinheim: Beltz 1976.

(8) Vgl. H. Giesecke: Didaktik der politischen Bildung. München: Juventa 10. Aufl. 1976.

(9)Vgl. H. Giesecke: Methodik des politischen Unterrichts. München: Juventa 3. Aufl. 1975. - Auch methodische Variationen wie Rollenspiel, Planspiel, Tribunal, Produktion lassen sich - vom Standpunkt des jeweiligen historischen Ereignisses aus - verwenden.


 

112. Konflikt (1978)

(In: H. Hierdeis (Hrsg): Taschenbuch der Pädagogik. Baltmannsweiler 1978, S. 497-503)
 
 

I Definition

Konflikt im soziologischen Sinne ist jede durch Gegensätzlichkeit bestimmte Beziehung zwischen sozialen Elementen, z.B. Personen, Gruppen, Schichten, Klassen. Dabei geht es nach Coser vor allem um die Durchsetzung von Werten sowie um den Anteil an Status, Macht und (ökonomischen) Mitteln. Die Psychoanalyse spricht von Konflikt, wenn in einem Subjekt widersprüchliche innere Forderungen bestehen. Nicht gelöste, ins Unbewußte verdrängte Konflikte können zu Neurosen führen, die sich in (somatischen) Symptomen äußern können. Die Vermutung, daß es zwischen inner-psychischen und gesellschaftlich-sozialen Konflikten einen Zusammenhang gebe, ist zwar naheliegend, aber noch nicht generell nachgewiesen worden. Wahrscheinlich gibt es keinen kausalen, sondern nur einen Bedingungszusammenhang. Beispiele zeigen etwa die Untersuchungen von Richter und Goffman. Eine gewisse Vermittlung zwischen objektiven und subjektiven Aspekten von Konflikten stellt das Rollenmodell dar, allerdings ohne Berücksichtigung psychischer Konflikt-Strukturen.

Im politisch-gesellschaftlichen Bereich spielen Konflikte eine bedeutende Rolle für Veränderungen, die je nach Interessenlage als "fortschrittlich" oder "rückschrittlich" gedeutet werden. Wichtig ist die Einsicht, daß das jeweilige "erkenntnisleitende Interesse" sowohl bei der Definition wie auch bei der Bewertung von Konflikten eine entscheidende Bedeutung hat. Drei grundsätzliche Positionen sind denkbar:

a) Konflikte gelten als Ausnahme und als möglichst schnell zu beseitigende Störung; positiver Wert wird ihnen nicht zugestanden. Diese Position wird notwendigerweise Konflikte nur im Rahmen übergeordneter Kategorien wie "Ordnung" "Autorität" oder "Staatsräson" analysieren und regeln.

b) Konflikte gelten als Motor gesellschaftlichen Fortschritts und sind insofern positiv zu werten, müssen jedoch, um die gesamtgesellschaftliche Integration nicht zu sprengen, unter (politische; rechtliche) Regeln gestellt werden, unter denen sie ausgetragen werden dürfen (Dahrendorf). Danach kann man das ganze politische System westlicher Demokratien als

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ein Regelsystem für die Austragung sozialer und politischer Konflikte verstehen. Diese Position muß zumindest prinzipiell jeden Konflikt für regelbar halten.

c) Konflikte gelten zumindest teilweise als Symptom bzw. Signal für unversöhnliche (antagonistische) gesellschaftliche Widersprüche, die nicht im vorhandenen, sondern erst in einem neu zu schaffenden gesellschaftlichen System geregelt werden können. Konflikte werden deshalb nicht gelöst, sondern sind Ausgangspunkt für solche Systemveränderungen und müssen deshalb weiter verschärft werden. Beispiele für diese Position sind einerseits die orthodox-marxistische Klassenkampftheorie, die den antagonistischen Widerspruch von Kapital und Arbeit für einzig wesentlich hält, aber auch mehr oder weniger ausformulierte anarchistische Theorien.

Abgesehen von dieser Definitionsproblematik, die nicht wissenschaftlich, sondern nur historisch-praktisch entscheidbar ist und die zudem auf unterschiedlichen Vorstellungen über Staat und Gesellschaft beruht, sind die bisher vorliegenden Konflikttheorien noch zu wenig ausdifferenziert; so fehlen immer noch brauchbare Klassifizierungen der Konflikte sowohl hinsichtlich ihrer subjektiven wie objektiven Bedeutung, so daß vielfach im politischen und pädagogischen Sprachgebrauch der Begriff eine Leerformel bleibt.
 
 

2 "Konflikte" in pädagogischer Sicht

Die eben genannte Definitionsproblematik gilt auch für die Pädagogik als Wissenschaft und als Praxis. Schließlich hat es die Pädagogik in jedem Falle mit grundlegenden Konflikten zu tun (Generationskonflikt; Konflikte zwischen Erzieher und Zögling; Konflikte in der Person des Zöglings, zwischen Anspruch und tatsächlichem Verhalten, zwischen Gewissen und Handeln, u.a.m.). So gesehen ist "Konfliktpädagogik" keine Erfindung der letzten Jahre, sondern ein notwendiger Bestandteil aller Pädagogik überhaupt. Sprangers "Psychologie des Jugendalters" enthält ebenso eine Konflikttheorie wie Wenigers Lehrplantheorie oder die Arbeiten Pestalozzis. Überhaupt lassen sich zumindest die bedeutenden pädagogischen Schriften als Widerspiegelung gesellschaftlicher Widersprüche verstehen, die konflikthaft erlebt werden und für die Lösungen gefunden werden sollen. Die Frage ist nur, wie die wahrnehmbaren Konflikte definiert werden, wie sie gelöst bzw. geregelt werden und welche Konflikte in pädagogischen Zusammenhängen überhaupt zugelassen werden. Das hängt jeweils von einer Reihe von Faktoren ab, z.B. von der Wirksamkeit von

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Traditionen, von der politisch-gesellschaftlichen Gesamtsituation und von Stand und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien.

Solange traditionelle Normen nicht in Frage stehen, können Konflikte nur als moralisch-sittliche Anpassungsprobleme an diese Normen verstanden werden. Erst mit der bürgerlichen Gesellschaft und der ihr entsprechenden Anthropologie (z.B. Rousseaus These vom defizienten Charakter des vergesellschafteten Menschen) entsteht die Möglichkeit, persönliche Konflikte auch als gesellschaftliche zu verstehen. Im weiteren Prozeß der Pluralisierung von Interessen und Normen werden mehr und mehr auch pädagogische Institutionen und Beziehungen strukturell, d.h. unabhängig vom Willen der beteiligten Personen, widersprüchlich und damit konflikthaft: Die Schule gerät in die Widersprüche gesellschaftlicher Interessen; die berufliche Identität des Lehrers ist durch "Rollenkonflikte" gekennzeichnet; der Sozialisationsprozeß wird durch eine Reihe von Institutionen geprägt, die widersprüchliche Ziele signalisieren (Familie; Schule; Massenmedien; Gleichaltrigengruppen; Beruf); Identität ist nur noch als die Fähigkeit zu definieren, zwischen widersprüchlichen Anforderungen eine "Balance" durchzuhalten (Krappmann; Giesecke). Bildungsgänge können nicht mehr idealtypisch geplant und z.B. in schulischen Lehrplänen realisiert werden, Aufgabe pädagogischer Institutionen ist vielmehr zunehmend die Korrektur und Kritik dessen, was "sowieso" geschieht. Eine Folge davon ist die Zunahme und Ausdifferenzierung von Beratungsinstitutionen, die an den besonders neuralgischen Stellen des Sozialisationsprozesses tätig werden.

Die erziehungswissenschaftliche Theorie hat sich bisher nur zögernd auf die durch diese strukturellen Widersprüche bedingte radikale Verunsicherung eingelassen. Sie hat vielmehr bis in die unmittelbare Gegenwart hinein versucht, die für Kinder und Jugendliche bestimmten Sozialisationsinstitutionen in Distanz zu gesellschaftlichen Widersprüchen und Konflikten zu halten, vor allem in der Annahme, daß diesen Altersstufen die produktive Verarbeitung von Konflikten noch nicht zugemutet werden könne; es ist jedoch zu fragen, ob z.B. die Schule für Schüler nicht in dem Maße innerlich bedeutungslos wird, wie in ihr das bereits real Erfahrene bzw. durch Massenkommunikation Vermittelte nicht wenigstens teilweise auch unterrichtlich bearbeitet wird. Fest scheint jedenfalls zu stehen, daß kein Bereich der Erziehungswirklichkeit heute mehr erklärt und mit realistischen Handlungsperspektiven versehen werden kann, ohne daß er als widersprüchlich konflikthaft definiert wird.

Wie ergiebig ein solcher Ansatz sein kann, zeigt sich nicht zuletzt auch in neueren sozialpädagogischen Konzepten. Der Versuch etwa, abweichendes und kriminelles Verhalten als "falsche", d.h. gesellschaftlich nicht an-

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erkannte und insofern auch persönlich unbefriedigende und erfolglose Lösungen von Konflikten zu beschreiben (z.B. Quensel), eröffnet gegenüber der früheren Praxis neue Möglichkeiten sowohl für die behördliche wie pädagogische Intervention. Gleiches gilt für alle Formen der pädagogischen Beratung, insofern sie sich als Hilfe für Konfliktlösungen definiert. Theoretisch vertiefen lassen sich konfliktorientierte pädagogische Ansätze möglicherweise durch eine noch ausstehende Auswertung neuer Arbeiten zum Problem der Findung und Behauptung von Identität (Krappmann, Gofman).
 
 

3 "Konflikte" in didaktischen Strategien

Angesichts der Bedeutung, die Konflikte im politischen und privaten Leben bekommen haben, lag es nahe, didaktische Konzepte an den vorhandenen Konflikt-Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ansetzen zu lassen, "Konflikt" also zum leitenden didaktischen Prinzip zu erheben. Die Hypothese ist, daß die dadurch angesprochene "Betroffenheit" besonders motivierend für Lernprozesse sein müßte. Zunächst für den Bereich der politischen Bildung (Giesecke; Lingelbach; Schmiederer), dann aber auch für die außerschulische Jugendarbeit (Giesecke;Lüers;Lessing/Liebel; Damm) wurden derartige Konzepte entwickelt. Allerdings wurden in diesen Konzepten die Konflikte zum Teil sehr unterschiedlich definiert und mit ebenso unterschiedlichen politischen Zielperspektiven versehen. Diese Verbindung von "Konflikt-Didaktik" mit bestimmten, z.B. "antikapitalistischen", politischen Zielen führte zu einer umfangreichen und heftigen öffentlichen Auseinandersetzung, für die die neuen Hessischen Rahmenrichtlinien zur "Gesellschaftslehre" mehr Auslöser als Thema waren.

Im Prinzip jedoch sind konfliktorientierte didaktische Ansätze weder notwendigerweise mit bestimmten politischen Zielen noch mit bestimmten allgemeinen pädagogischen Leitvorstellungen (z.B. "Emanzipation") verbunden. Sie lassen sich vielmehr allein schon durch ihren hohen Motivationsgehalt rechtfertigen, dazu als ein Prinzip, das ähnlich wie das "exemplarische Prinzip" die Stoffülle plausibel zu reduzieren sucht. Allerdings sind die mit einem solchen Ansatz verbundenen theoretischen und empirischen Aufgaben noch weitgehend ungelöst. Das gilt vor allem für folgende Probleme:

a) Wie kann man politisch-gesellschaftliche Konflikte so klassifizieren, daß zumindest wichtige von weniger wichtigen unterschieden werden können? Gelingt dies nicht, so droht die Gefahr, daß anstelle der alten Stoffülle nur die Fülle von Konflikten tritt, die lediglich additiv behandelt

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werden können und keine systematische Strukturierung zulassen; im Extremfalle ergäbe das nur Sequenzen von Gelegenheitsunterricht.

b) Sind alle als objektiv wichtig ermittelten Konflikte auch gleichermaßen didaktisch ergiebig? Oder gilt dies nur für solche, die der Lebenswelt der Schüler verhältnismäßig nahe stehen? Hier wiederholt sich das alte didaktische Problem, ob das "Nahe" oder das "Ferne" didaktisch ergiebiger ist.

c) Wenn die didaktische Strategie von solchen Konflikten ausgeht, die die Schüler unmittelbar erleben, dann ergibt sich das Problem, wie man die Unmittelbarkeit dieses subjektiven Erlebens auf objektive, z.B. soziostrukturelle Konflikte hin ausdehnen kann. Gelingt dies nicht, so können dauerhafte politisch-gesellschaftliche Einsichten nicht zustande kommen. Da zudem der Zusammenhang von subjektiven und objektiven Konflikten noch weitgehend unklar ist, besteht in diesem Punkte besonders die Gefahr ideologischer Verkürzungen.

d) Wie groß ist die Reichweite konfliktorientierter Ansätze, d.h. wieviel Informationen und systematische Orientierungen lassen sich damit transportieren? Der Vorteil dieses Ansatzes besteht ja darin, daß er die Wirklichkeit komplex, also auch fächerübergreifend konstruiert; dies ist jedoch auch sein Nachteil, insofern er einerseits zu immer differenzierteren Aspekten führt, die gleichzeitig im Blick behalten werden müssen, während andererseits systematische Orientierungen sich daraus nicht ohne weiteres ergeben; diese aber wären nötig, wenn das an einer Konflikt-Analyse Gelernte auf andere Konfliktfälle übertragen werden soll. Schon aus diesem Grunde kann der konfliktorientierte didaktische Ansatz niemals einziges didaktisches Prinzip sein, er bedarf der Ergänzung durch andere, z.B. durch lehrgangsorientierte Ansätze.

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Nyssen, F.: Schule im Kapitalismus. Der Einfluß wirtschaftlicher Interessenverbände im Felde der Schule. Köln: Pahl-Rugenstein 1969. = Sammlung junge Wissenschaft.
Offe, C.: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Frankfurt: Suhrkamp 1972. = edition suhrkamp 549.
Richter, H. E.: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie. Reinbek: Rowohlt 1970 = rororo Tb 6772.
Ders.: Lernziel Solidarität. Reinbek: Rowohlt 1974.
Schmiederer, R.: Zur Kritik der politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des politischen Unterricht. Frankfurt: EVA 1971. = Theorie und Geschichte der politischen Bildung.
Stubenrauch, H.: Die Gesamtschule im Widerspruch des Systems. München: Juventa 1971.
Sutor, B: Didaktik des politischen Unterrichts. Paderborn: Schöningh 2. Aufl. 1973
Watzlawick, P.; J. H. Beavin und D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bonn und Stuttgart: Huber 1969.
Wellendorf, F.: Schulische Sozialisation und Identität. Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 2. Aufl. 1974
Wilhelm, Th. Traktat über den Kompromiß: Zur Weiterbildung des politischen Bewußtseins. Stuttgart: Metzler 1973.

 
113. Didaktische Entwicklungen im Politikunterricht (1978)

Hermann Giesecke im Gespräch mit Gerd Koch

(In: Wolfgang Born/ Gunter Otto (Hrsg.): Didaktische Trends. München/Wien/Baltimore 1978, S. 358-387)
 

(Die Anmerkungen - insgesamt 50 - hat G. Koch nachträglich eingefügt. Um sie zu konzentrieren, habe ich sie neu geordnet; was davon als Beleg im Text unterbringen war, wurde dorthin verschoben, die übrigen wurden neu gezählt. Weggelassen habe ich auch den redaktionellen Vorspann zur Person sowie die von der Redaktion eingefügte Liste der Veröffentlichungen, H. G.)
 
 

G. KOCH: Eine Frage oder ein Fragenkomplex vorweg: Ihre Didaktik der politischen Bildung(1) ist nun mehr als 12 Jahre alt: Erschienen 1965, einen brisanten Fall von 1962 Spiegel-Affäre(2) aufnehmend - in welchem Kontext stand die Veröffentlichung damals?

H. GIESECKE: Ich kann nur sagen, daß der Erfolg des Buches mich selber überrascht hat, und vielleicht ist es ganz nützlich, noch einmal in die Ausgangssituation zurückzugehen. Das Buch entstand in der Tagungssituation Jugendhof Steinkimmen. Ich machte damals zusammen mit anderen Studenten aus allen möglichen Fachrichtungen (Psychiater, Juristen, Soziologen, Philosophen, Theologen - eine sehr gemischte und sehr engagierte Gruppe) politisch-bildende Lehrgänge. Und niemand von uns war eigentlich Erziehungswissenschaftler. Das Wort Didaktik kannten wir nur aus der Umgangssprache: Es hat etwas mit Lehre zu tun. Wir machten uns unsere didaktischen Überlegungen erst einmal selber. Im Mittelpunkt standen die fachlichen Probleme. Die Mitarbeiter waren Leute, die sehr viel von ihrem Fach verstanden und die politisch engagiert waren - man könnte vielleicht sagen: links-liberal.

Dann bekam ich die Möglichkeit, dadurch, daß ich Theodor Wilhelm kennenlernte, über diese Arbeit eine Dissertation zu schreiben. Da habe ich mich eigentlich zum ersten Mal mit der didaktischen Literatur befaßt, die es damals gab, und stieß u. a. auf Klafkis Dissertation (3). Ich habe dieses Buch fasziniert gelesen, habe auch eine Menge davon gelernt zur Interpretation der Arbeit, die wir da machten. Aber es enthielt dann doch nicht das, was wir uns überlegt hatten, es war nicht konkret genug. Und dann war der nächste Schritt einfach der, - und das ist vielleicht überhaupt kennzeichnend für die Art und Weise, wie ich auch in anderen Fällen an solche Fragen herangehe -, ich habe mir einfach selber überlegt, was ich mache, wenn ich z. B. einen solchen Konflikt wie damals die Spiegel-Affäre für mich bearbeite. Und auf diesem Wege bin ich eigentlich auf dieses Kategorienmodell gekommen. Das ist nicht etwa aus literarischen Produktionen entnommen, sondern aus der unmittelbaren Selbsterfahrung. Und erst nachträglich, nachdem mir klar war, daß man eigentlich immer Fragen stellt an solche Sachverhalte, und daß

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man dann versucht, auf diese Fragen Antworten zu bekommen, habe ich mir überlegt, ob sich die Kategorien auch theoretisch rechtfertigen und verallgemeinern ließen. Und erst danach habe ich systematischer Politikwissenschaft, Soziologie, Kritische Theorie usw. studiert, und in der ersten Fassung der Didaktik ist dies im ersten Teil auch noch deutlich. Das war der Hintergrund, und was nun die allgemeine politisch-pädagogische Situation anging, so konnte ich überhaupt nicht abschätzen, daß dieses Buch nun so etwas wie eine Wende bedeutet hat. Davon war ich sehr überrascht.

G. KOCH: Wenn man Sie innerhalb der entsprechenden historischen, erziehungswissenschaftlichen oder didaktischen Arbeiten sieht, dann wird gesagt, Sie seien Konfliktdidaktiker. Man trifft Sie in der Tat, aber ich glaube, man trifft Sie auch nicht ganz. Ich könnte mir denken, daß Sie mit diesem Etikett auch nicht ganz zufrieden sind, gerade wenn Sie berichten, wie der Konstitutionsprozeß Ihrer Didaktik gewesen ist. Dann ist vermutlich die Kategorie des Konflikts eine später erst zur Systematisierung von Anlässen eingefügte Kategorie in dem Sinn der Konflikt-Soziologie während sie vorher eher einen pragmatisch-pädagogischen Anstrich hatte.

H. GIESECKE: Das ist richtig. Zunächst hatte es einen pragmatischpädagogischen Hintergrund, weil wir damals die Erfahrung machten, daß die politischen Konflikte - und da ging es nicht nur um die Spiegel-Affäre - didaktisch ergiebig sind. Ergiebiger, als wenn wir systematisch damals den Schülern und Lehrlingen erklärt hätten, was objektiv wichtig ist, aber worin sozusagen keine motivierende Kraft steckte. Nun muß man andererseits hinzufügen, daß damals die Sozialisationssituation sowohl der Lehrlinge wie der Oberschüler eine völlig andere war als heute. Beide Gruppen waren relativ stabil politisch sozialisiert und integriert, hatten also ein hohes Maß an politischer Identität. Die Konfliktorientiertheit konnte damals diese politische Brisanz gar nicht haben, die sie heute hat, sondern es herrschte eher so etwas wie eine distanzierte intellektuelle Betrachtung der politischen Welt, nicht unverbindlich, aber auch nicht existentiell in einem solchen Maße von Bedeutung wie heute. Das hatte auch zur Folge, und das ist damals schon kritisch gegen meine Didaktik eingewandt worden, zum Beispiel von Hans Tietgens (4), daß die systematischen Partien, die bei mir als Orientierungswissen erscheinen, gar nicht recht entwickelt worden sind. Das war damals nicht nötig, da die systematischen Bezüge durch die politische Sozialisation eigentlich da waren, es kam eher darauf an, ein bißchen aufzuweichen, zu relativieren und in Frage zu stellen. Heute würde

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ich, und bei einer Neubearbeitung des Buches würde das auch noch einmal deutlich werden, den Konfliktansatz zwar beibehalten, aber ich würde sehr viel mehr Wert auf die Vermittlung von Realität legen, weil heute das Konfliktverhalten, etwa wie man es an Hochschulen beobachten kann und zum Teil auch an den Schulen, gewissermaßen verkümmert ist in Emotionalität, in Aggressivität, ohne Chance, von daher Wirklichkeit wahrzunehmen. Heute müßte der Akzent sehr viel stärker auf der Vermittlung objektiver Möglichkeiten und Bedingungen liegen, was Politik überhaupt ist, worum es da geht, nach welchen Regeln es geht, wozu das gut ist, was eine Institution ist usw. Ich war jedoch nie der Ansicht, die Lehrer sollten die Schüler zu konflikthaftem Verhalten animieren oder provozieren - wie dies in den letzten Jahren oft gemacht wurde. Ich halte ein solches Vorgehen für eine schulmeisterliche Arroganz, weil da Leute ihre eigenen politischen Identitätsprobleme auf Kosten der Schüler gelöst haben, und solche Fälle haben mit dazu beigetragen, den didaktischen Wert des Konfliktansatzes politisch in Mißkredit zu bringen.

G. KOCH: Und das wäre dann auch die Aufgabe einer Didaktik: Gegenstände des Politischen, Gesellschaftlichen lehrhaft zu gestalten? Ich glaube, das ist auch eine Formulierung, die in Ihrer Didaktik jetzt in der letzten Ausgabe immer noch enthalten ist (etwa S. 216f.).

H. GIESECKE: Es ist die Aufgabe, Politik lehr- und lernbar zu machen.

G. KOCH: Wie sehen Sie Ihre Rolle im Kreise der Kollegen, im Kontext der Didaktiker des Politikunterrichts und innerhalb fachdidaktischer Kontroversen?

H. GIESECKE: Das ist ziemlich schwierig, das müßte man von Fall zu Fall, von Person zu Person erörtern, und es wäre wahrscheinlich auch ein sehr ungenaues Verfahren, weil man dann immer hören müßte, wie die anderen sich denn nun verstehen. Man kann - wie es ja geschehen ist - die Didaktiker auf politisch-ideologische Rubriken verteilen. Davon halte ich nichts, das führt nur von den Problemen, die da zu lösen sind, weg. Wichtiger erscheint mir, aus welchem Erfahrungszusammenhang jemand kommt. Ich komme z. B. aus der außerschulischen Bildungsarbeit, bin nie Lehrer gewesen, und ich bringe von daher eine skeptische Distanz zu jeder Art von Ver-Schulung mit. Wolfgang Hilligen andererseits ist Lehrer gewesen. Die Kontroverse (5), die wir vor einiger Zeit miteinander geführt haben, hat viel mit diesem Unterschied zu tun. Hilligen versucht, eine Fachdidaktik Politik zu formulieren. Ich habe dabei die Sorge - und das ist der Punkt meiner Kritik -, daß damit notwendig ein System von Sätzen, ein System von Theoremen formuliert werden muß, das

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sich insgesamt als zweite politische Wirklichkeit konstituiert, die sich zwischen die politische Realität und den Schüler schiebt und eine eigentümliche Schul-Realität zum Ausdruck bringt, die es außerhalb der Schule dann gar nicht gibt. Vielleicht muß das nicht so sein, aber jedenfalls ist es meine Sorge.

G. KOCH: Kann man etwa sagen, daß ein reduktionistischer Begriff von Politik eintreten könnte oder eine eher schulische Domestizierung des Politik-Begriffs und der politischen Realität?

H. GIESECKE: Die Didaktik hat auszugehen von den praktischen Problemen, die beim Lehren und Lernen entstehen. Die sind objektiv vorgegeben, die kann man sich nicht aussuchen. Nehmen wir ein Beispiel: Das Problem der Auswahl. Seit Erfindung der Schule - Schule ist ja eine kulturelle Erfindung und kein Naturgewächs - gibt es die didaktische Problematik als eine praktische, unausweichlich für jeden, der sich anschickt, im schulischen Sinne planmäßig zu lehren. Das gilt, ganz gleichgültig, was jemand lehren will. Die Probleme sind da, und eines ist eben das Auswahlproblem: was lehren und was nicht, und warum dieses und jenes nicht. Zweitens das Moment der zeitlichen Planmäßigkeit, also die Reihenfolge, und dann das Problem der optimalen Organisation (Didaktik und Methodik). Dies gilt für jeden Lernbereich. Die Fragen sind objektiv vorgegeben und die didaktischen Lösungen, die es da gibt, müssen sich auf diese praktischen Fragen beziehen. Damit will ich sagen: Für mich ist Didaktik nichts anderes als Zwischenhandel. Das würde ich sogar für die gesamte Erziehungswissenschaft sagen. Sie ist in dem Sinne nichts Originäres, nichts Eigenständiges, und deshalb kann man sie auch nicht studieren, ohne auch etwas anderes, davon ganz unabhängiges zu studieren (z. B. Geschichte). Didaktik ist für mich eine Art praktischer Philosophie. Und das bedeutet, daß Didaktik die Bedingungen der Möglichkeit dafür zu erforschen und also auch praktisch zu arrangieren hat, daß Menschen - z. B. Schüler - planmäßig sich diesem objektiven Bereich Politik zuwenden; er ist objektiv in dem Sinne, daß er existiert, ob die Schüler wollen oder nicht, ob sie da sind oder nicht; in der schönen Formulierung von Wolfgang Klafki: in der wechselseitigen Erschließung (6). Und von daher kommen meine Einwände gegen jeden Versuch, mit Hilfe einer Fachdidaktik diesen Prozeß durch eine Mauer abzustoppen.

G. KOCH: So wird dann auch Ihr Buchtitel Didaktik der politischen Bildung erst recht verständlich. Nicht reduzierte Fach-Didaktik, sondern das allgemeine Geschäft des Didaktischen aufrecht zu erhalten, es aber je nach vorgegebenen Fragestellungen oder Fächern zu präzisieren, genauer zu fassen, einzuschränken, zu erweitern. Und es

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kommt noch bei Ihnen hinzu, daß Sie sehr stark lernortspezifisch formulieren wollen. Das fällt in der Reihe Ihrer Publikationen auf, und es fällt auch auf, wenn man noch einmal zurückgreift auf das, was wir eingangs angesprochen haben: Arbeit in Jugendbildungsstätten. Dieser Zusammenhang zeigt mir doch an, daß Sie sehr stark an den Spezifika von Lernorten interessiert sind und daraus die Zuschreibung einer Didaktik erst vornehmen.

H. GIESECKE: Ja. Das hängt damit zusammen, daß ich didaktische Literatur für eine Zweckliteratur halte, die vom Standpunkt bestimmter Handlungssituationen aus geschrieben wird. In der Regel aus der Handlungssituation von Lehrern, und deshalb - ich komme noch einmal auf das Problem der Fachdidaktik zurück - ist es ein Unterschied, ob man eine Fachdidaktik formuliert aus dem Standpunkt eines Hochschullehrers, aus seinem sozialen Kontext, oder aus der Perspektive von Lehrern - und das würde immer heißen: Auch aus der Perspektive von Schülern. Da gibt es dann die Variationen: Wenn ich sage, es handelt sich um praktische Probleme, dann heißt das auch, daß einerseits zwar die grundlegenden prinzipiellen Probleme, die etwa in einer Allgemeinen Didaktik behandelt werden könnten, vorgegeben sind. Aber: Konkret, vor allen Dingen historisch-konkret, werden auch Teile dieser Probleme von unterschiedlichen Lagen her definiert. Es ist ein Unterschied, ob die Schüler z. B. das Problem definieren, das sie mit dem Lernort Schule haben, oder ob es die Lehrer definieren, oder ob es Oberseminaristen in unseren Hochschulen definieren oder ob es Forschungsspezialisten, Unterrichtsforscher im Rahmen ihrer eigenen Forschungslogik definieren. Und worauf es mir ankommt, und das meinte ich mit dem Wort Didaktik bzw. Pädagogik als Zwischenhandel, ist: Forschungen, die nötig sind, und die bestimmte Aspekte weiter aufklären, sind nicht eo ipso didaktische Literatur, jedenfalls so lange nicht, wie sie nicht umgesetzt worden sind auf die Handlungsperspektive einer dieser genannten Gruppen. Ich kann das an mir selbst verdeutlichen: Die neue Auflage der Didaktik, die jetzt im ersten Teil den Versuch enthält, eine Reihe von anderen Autoren in historischer Abfolge darzustellen und zu kritisieren ( S. 16 ff.) ist schon die Konsequenz meiner Hochschullehrerpraxis. Die neue Fassung ist für Studenten geschrieben, also für die Leute, mit denen ich beruflichen Kontakt habe. Die erste Fassung war eher für die Kollegen in den Bildungsstätten geschrieben. Ich mache keine Tagungen mehr mit Schülern und Lehrlingen.

G. KOCH: Eine Zwischenfrage: Bedauern Sie, daß Sie als Hochschullehrer solche Tagungen nicht mehr durchführen (können) und

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von bestimmten Erfahrungsbereichen, die ja für Sie wichtig sind, abgeschnitten sind?

H. GIESECKE: Ich würde vielleicht ab und an noch einmal gerne eine solche Tagung machen. Ich bin aber nicht sicher, ob das eine vernünftige Überlegung wäre, weil es auch wichtig ist, daß neue Generationen, Jüngere, heute so etwas machen, die auch einen ganz anderen Zugang, eine andere politische Identität und andere Perspektiven haben, weil sonst die Gefahr bestünde, daß sich so ein Modell abläuft.

Außerdem bin ich der Meinung, daß solche Erfahrungen, wenn man sie einmal gemacht hat, auch dann konstitutiv sind für die eigene wissenschaftliche Biographie, wenn sie nicht dauernd wiederholbar sind. Dafür habe ich heute auch andere, nicht minder wichtige Erfahrungen. Ich habe heute immer noch Kontakt zu diesen Bildungsstätten, aber mehr über die erwachsenen Pädagogen, die dort die Arbeit machen, nicht so sehr über die Jugendlichen selber.

G. KOCH: Kommen wir wieder auf die theoretische Diskussion innerhalb der Didaktik: Sie meinen, Didaktik sei eine Bezugswissenschaft. Es heißt in Ihrer "Didaktik" sinngemäß, Didaktik werde deshalb nötig, weil ein Konflikt bestehe zwischen Lernzielen, Bildungszielen und auch zwischen den Rollen (S. 219). Dieser letzte Akzent ist verhältnismäßig neu in der Didaktik, nämlich: daß man auch die Rolle des Lehrers oder die Rolle des Schülers so ernst nimmt wie Sie.

H. GIESECKE: Das hat natürlich historische Hintergründe. Man muß sehen, daß es kein Zufall war, daß Ende der 50er Jahre Klafkis Buch entstand und ein großer Erfolg geworden ist. Das hing einfach damit zusammen, daß bestimmte Selbstverständlichkeiten, daß ein bestimmter Konsens nicht mehr ohne weiteres haltbar war.

Überhaupt ist historisch die Tatsache, daß man Bildungsinhalte so exakt begründen muß, relativ neu. Vor 1918 brauchte man es nicht, weil in der früheren Staatsverfassung ganz klar war, wer die Ziele setzte und wer sie ausführte. Das Problem entstand im Grunde erst mit der politischen Pluralität, also damit, daß nach 1918 zum ersten Mal überlegt werden mußte, wie man Kinder und Jugendliche in einer staatlich monopolisierten Schule erziehen und unterrichten kann angesichts einer Gesellschaft, die legitimerweise ganz unterschiedliche politisch-ideologische Positionen hatte. Im Grunde hat Klafki das Problem noch einmal aufgegriffen, als Ende der 50er Jahre klar wurde, daß gewisse Selbstverständlichkeiten, etwa über Bildungsziele, über das, was Bildung sei, nicht mehr gesellschaftlichen Konsens fanden, und das hat sich dann weiterentwickelt bis in

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die Legitimationsdiskussion der neuen Curricula. Es ist interessant zu fragen, worauf diese Debatte hinauslaufen wird (Didaktik, S. 229 ff.).

Sie haben eben erwähnt, daß ich die Schüler eingeführt habe als Subjekte der Lernprozesse. Auch das ist historisch relativ neu und meine Prognose ist, daß in einer Gesellschaft wie der unseren Schule auf die Dauer überhaupt nicht zu legitimieren ist, wenn man sie nicht als Sozialisationsdienstleistung für Schüler begreift. Die Zeiten, wo man sich um Lehrpläne rangeln konnte, in der Hoffnung, von der eigenen Position etwas mehr in die Köpfe der Kinder hineinzubekommen, als der politische Gegner, sind vorbei... ich glaube, diese Möglichkeit ist auch politisch, schulpolitisch am Ende. Wenn die Einsicht nicht um sich greift, werden wir ganz erbitterte Schulkämpfe bekommen. Und in diesen Zusammenhang gehört eben auch die Überlegung, die ich in meiner Methodik entfaltet habe, daß Methodik am besten zu verstehen ist als das Insgesamt der Probleme, die in der Lehr- und Lernkommunikation auftauchen in ihrer Alltäglichkeit und ihren Variationsmöglichkeiten (7). Diese Variationsmöglichkeiten würde ich für etwas außerordentlich Wichtiges halten. Die Frage nach der richtigen Methode ist immer schon eine unsinnige Frage gewesen. Richtig ist die Frage nach den optimalen Kombinationen. Diese bilden das, was ich als neue pädagogische Kultur bezeichnen würde. Kultur hat immer etwas zu tun mit der Fähigkeit, ganz unterschiedliche Arten von Kommunikationen miteinander einzugehen - nicht nur eindeutig festgelegte.

G. KOCH: Sie sprechen sowohl in Ihrer Didaktik wie in der Methodik davon, daß Ihre pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Bemühungen dahin gehen sollen, Rollenerweiterungen (Didaktik, S. 228) bei den jeweiligen Adressaten, seien es nun die Lehrer oder die Schüler, vorzubereiten. Diese Dimension scheint mir als Ergänzung eines didaktischen Konzeptes wichtig, das im übrigen recht stark politologisch und zeitgeschichtlich ausgerichtet ist ...

H. GIESECKE: ... wobei der Begriff der Rolle eben auch nur ein Hilfsbegriff ist. Es geht im Grunde darum, Handlungskompetenz zu erweitern. Es geht nicht darum, Handlungskompetenz inhaltlich zu antizipieren. Und das muß ich noch einmal zur Grundsatzproblematik der Didaktik sagen: Eine emanzipatorische Didaktik ist nicht eine solche, die wie auch immer definierte emanzipatorische Erziehungsziele deduziert und operationalisiert und dann am Ende sozusagen im kontrollierten Lernziel den Erfolg nachweist. Emanzipatorisch kann überhaupt nur die Kommunikationsstruktur des Unterrichts selbst sein. D. h. also das, was ich die pädagogische Kultur genannt habe. Sie hat nicht die Absicht, das Ergebnis des Denkens, das Ergebnis

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der Bearbeitung von Realität, sei es politischer, kultureller oder beruflicher Art, vorwegzunehmen. Darüber kann man heute nicht mehr verfügen, und alle Planungen in dieser Richtung würde ich auch für schlicht politisch reaktionär halten, auch wenn sie sich selbst fortschrittlich dünken.

Ich halte den Begriff Emanzipation nicht für eine normative Setzung, sondern für eine Beschreibung eines historischen Prozesses, etwa auch im Sinne von Karl Mannheims Fundamentaldemokratisierung (8). Ich habe den Begriff Emanzipation bei Werner Conze (9) gelernt, der nicht im Verdacht steht, ein Linker zu sein, der in seinen sozialgeschichtlichen Vorlesungen damals in den 50er Jahren gesagt hat, wie Zug um Zug erst die Arbeiter, dann die Frauen, dann die Jugendlichen in der Jugendbewegung in Emanzipationsprozesse verwickelt werden, die offenbar auf objektive historische Veränderungen - heute würde man sagen: auf sozialen Wandel -zurückgehen. Wenn das so ist, kann man nicht für oder gegen Emanzipation sein in dem Sinne, wie man für oder gegen die freie Liebe ist, sondern dann kann es nur darum gehen, die Frage der Bildung, die Frage der Lernziele in diesem Prozeß sich zu vergewissern. Ich bin sehr betrübt darüber, daß in den letzten 10 Jahren diese Diskussion um die Emanzipation zu einer Polarisierung geführt hat, die uns überhaupt nicht weitergebracht hat. Und was die normativen Ziele allgemein betrifft: Die Schule kann keine Werte eintrichtern, die in der Gesellschaft bzw. in der Lebenswelt der Schüler keine praktische Relevanz haben, so wenig wie sie die Werte zerstören kann, die außerhalb ihrer Mauern von praktischer Bedeutung sind.

G. KOCH: ... und eine technologische Verkümmerung des Begriffs der prozessualen Emanzipation tritt dann ein, wenn man die Emanzipation operationalisiert ...

H. GIESECKE: ... ja, genau ... Es geht im Grunde um die zunehmende Zulassung von Bedürfnissen und die zunehmende Zulassung der Selbstorganisation von Bedürfnissen. Dies ist der Maßstab, an dem zu messen wäre, und man muß in jedem konkreten Fall sehr genau nachprüfen, ob etwas, was sich dafür hält, wirklich ein Fortschritt an Emanzipation ist. Bei der Frauenemanzipation beispielsweise wird das inzwischen sehr vielschichtig und sehr ambivalent diskutiert. Genauso kann man bei manchen gegenwärtigen reformpädagogischen Konzepten sich das fragen und vor allen Dingen auch bei manchen Prozessen, die in der Hochschule stattgefunden haben. Ist das ein Fortschritt an Emanzipation, wenn wir heute eine Selbstverwaltung haben, an der alle mitwirken können, an der aber alle auch neurotisch werden? Oder hat die Abhängigkeit aller von allen

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nicht neue Unterdrückungen von Bedürfnissen geschaffen? Oder ist es schon ein Fortschritt an Emanzipation, wenn Kinder oder Jugendliche aufmüpfig gegen ihre Eltern werden oder ist es nicht möglicherweise in manchen historischen Situationen auch ein Fortschritt an Emanzipation, wenn z. B. die Bedeutung familialer oder auch partnerschaftlicher Verbindlichkeit, das freiwillige Eingehen von Bindungen auch für schlechte Zeiten als ganz wichtig für die eigene Bedürfnisbefriedigung erkannt wird? Das ist eine sehr komplizierte Frage: Was ist konkret nun eigentlich ein Fortschritt an Emanzipation? Nichts ist schlimmer, als irgendwelche vordergründigen Prozesse oder Maßnahmen eindimensional und undialektisch als Fortschritt an Emanzipation zu bezeichnen.

G. KOCH: Sie weisen in Ihren Arbeiten darauf hin, wie notwendig gerade solche historischen Besinnungen sind. Könnten Sie, um Ihr historisches Verständnis von Emanzipation für die Leser noch präziser zu machen, einige Autoren oder Denkströmungen nennen, die Sie beeinflußt haben? Sie nannten schon Werner Conze ...

H. GIESECKE: Das ist sehr schwierig. Ich könnte jetzt auf Habermas hinweisen; aber eher Adorno als Habermas, und da müßte man zugleich dann wieder Einschränkungen machen, die aus meinem pädagogischen Selbstverständnis kommen. Sie waren ja keine Pädagogen und hatten im Grunde auch keine pädagogischen Ambitionen; es war auch nicht ihr Metier und Adorno hat das auch immer bei jeder Gelegenheit klargestellt (Didaktik, S. 38). Aber bei Adorno z. B. ist mir zum ersten Mal aufgegangen, daß die Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielen, als er verlangt hat, man müsse auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen rekurrieren, um ihre Verführbarkeit durch den Faschismus zu mindern (10). Karl Mannheim hat mit seinen Überlegungen zur sozialen Bedingtheit des Denkens ebenso eine Rolle gespielt wie - in ganz anderer Weise - Theodor Wilhelm (11); obwohl er den Begriff der Emanzipation für untauglich hält, hat er mir nahegebracht, daß pädagogische Theorien nicht über die Köpfe der Menschen hinweggehen dürfen, sondern ihnen nützen sollen. Wem aber würde z. B. eine Theorie der Emanzipation nützen, die allenfalls in Oberseminaren verständlich wäre? Zu nennen wären ferner einige Arbeiten der Frankfurter Schule und natürlich der klassische Marxismus.

G. KOCH: Sozial-historische Analysen, wie sie das Frankfurter Institut für Sozialforschung geleistet hat, auch die Untersuchung zum autoritären Charakter (12) dürften wohl gemeint sein - ebenso die Öffentlichkeits-Arbeit (13) und die Studien zu Theorie und Praxis (14)

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von Jürgen Habermas. Und was interessiert Sie an Marx, am von Ihnen sogenannten klassischen Marxismus? Vornehmlich die Frühschriften(15), Die deutsche Ideologie(16)oder spätere Arbeiten ... ?

Und was interessiert Sie an Marx, am von Ihnen sogenannten klassischen Marxismus? Vornehmlich die Frühschriften(15), Die deutsche Ideologie(16)oder spätere Arbeiten ... ?

H. GIESECKE: Da bin ich philologisch nicht interessiert. Es gibt Kollegen, die solche Unterschiede sehr viel besser diskutieren können als ich. Bei Marx ist für mich wichtig gewesen das Moment der Kritik, also durch Kritik der Gesellschaft ihre Möglichkeiten weiterzubringen (17). Nicht so sehr interessiert haben mich die politischen Kategorien wie etwa die Klassenkampftheorie oder überhaupt die ganze Revolutionstheorie. Da bin ich nicht sicher, inwiefern das heute noch in unseren Breiten von Bedeutung ist, aber Marx' wissenschaftliches Verfahren, durch Kritik der Realität ihre besseren Möglichkeiten zum Vorschein zu bringen und dem Handeln zur Verfügung zu stellen - so ähnlich war auch die Position etwa von Adorno und der Kritischen Theorie. Problematisch wurde es immer, wenn man versucht hat, aus dem kritischen Instrumentarium dieser Theorie konstruktive Verhaltensweisen und Pläne zu machen. Und deshalb steht in der Didaktik auch, daß die Kritische Theorie einen Hang zum pädagogischen Defaitismus (18) habe, wenn man sie nicht umsetzt in die pädagogisch praktischen Fragestellungen, sondern wenn man, wie viele es in den letzten Jahren versucht haben, deduktiv aus diesen Theorien zu Handlungsanweisungen kommen will, dann führt das notwendigerweise dazu, daß die objektiv vorgegebenen praktischen Probleme der Didaktik überhaupt nicht mehr gesehen werden und in der Diskussion über die richtige Gesinnung verschwinden. Andererseits hat Marx eine interessante didaktische Überlegung hinterlassen. Das bei ihm nur knapp skizzierte Konzept der polytechnischen Bildung (19) ist ja bei uns nur in verkürzter Weise bekanntgeworden, nämlich im Hinblick auf das Wechselspiel von Lernen und Arbeiten, das ich aber gerade nicht für so wichtig halte, weil es in entwickelten Industriestaaten offenbar kaum durchgängig zu realisieren ist. Doch Marx hat auch darauf hingewiesen - und das war die andere Seite des polytechnischen Konzeptes, die das Ganze überhaupt erst plausibel machte - , daß die moderne Gesellschaft - im Unterschied zur alten - auf verhältnismäßig wenigen Prinzipien beruht, die, wenn man sie verstehen lernt, im Grunde jedem ermöglichen, die gesellschaftlichen Prozesse im Ganzen zu verstehen: Die moderne Gesellschaft sei nur scheinbar so differenziert und unüberschaubar, das seien alles nur Variationen jener Prinzipien. Wenn das stimmt, steckt hier eine didaktische Aufgabe gerade für den politischen Unterricht, die wir noch gar nicht recht in Angriff genommen haben. Man müßte einmal untersuchen, warum dieser - in anderer

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Weise auch von Hegel - formulierte didaktische Ansatz bisher nicht ernsthaft entwickelt und ausprobiert wurde.

G. KOCH: Vielleicht ist es ganz nützlich, wenn man Oskar Negt (20) als didaktischen Autor anspricht, da er einerseits aus dem Theorie- und Kommunikationsbereich des Frankfurter Instituts stammt und gleichzeitig Versuche gemacht hat, eine didaktische Orientierung für die außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung parteilich zu konzipieren. Im ersten Teil der letzten Auflage Ihrer Didaktik, in dem Sie die verschiedenen Schulen und Ansätze kritisch vorstellen, wird Negt als einer der wenigen Autoren skizziert, die versucht haben, einen neuen didaktischen Ansatz zu finden (Didaktik, S. 97 ff.). Im Verlaufe der Argumentation im letzteren Teil des Didaktik-Bandes wird dann zwar einiges wieder zurückgenommen (S. 193 ff.).

H. GIESECKE: Negt kommt aus einem Arbeitsbereich, aus dem auch ich komme: Aus der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Ich möchte aber betonen, daß es ein gewaltiger Unterschied ist, ob man didaktische Konzeptionen macht für eine partikulare Gruppe - und da finde ich das, was Negt für die Gewerkschaft vorschlägt, ganz hervorragend. Eine andere Frage ist es, ob man für eine Schuldidaktik eine solche von vornherein parteiliche Position, die an sich völlig legitim ist, einbringen kann. Das würde nach meiner Meinung dazu führen, daß die didaktische Aufgabe herhalten muß, um ganz andere Dinge auszutragen: etwa schulpolitische Kontroversen. So etwas geschieht, wenn man das qua Didaktik macht, immer auf dem Rücken der Schüler. Eine gesellschaftlich partikulare Gruppe wie die Gewerkschaft, die Kirchen oder auch eine politische Partei kann natürlich ein parteilich-didaktisches Angebot machen, wobei sich die Qualität der Didaktik danach richtet, ob sie die objektiv vorgehenden praktischen Probleme mitlöst und sich nicht nur in ihren Zielvorstellungen verrennt. In solchen Organisationen hat jeder die Möglichkeit, sich an ihren Veranstaltungen zu beteiligen oder nicht. In der Schule und auch in der Hochschule geht das so nicht. Die Schule muß das Parteilichkeitsproblem - was es da gibt, was aber sehr viel schwieriger ist -, didaktisch angehen. Da kann es nicht darum gehen, daß man sagt, wir wollen jetzt gute Sozialisten erziehen, sondern man muß ein didaktisches Konzept finden, in dem auch Sozialisten oder die, die es später sein würden, werden oder wollen, eine Chance haben, das zu lernen, was sie für ihre sozialistische Perspektive brauchen, und das ist die eigentliche Schwierigkeit. Ich habe ja in meiner Didaktik versucht, dieses Problem didaktisch zu diskutieren im Rahmen der unterschiedlichen Anwendung der Kategorien, weil die Fragen, die damit verbunden werden, nicht nur

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Fragen nach der Objektivität von Politik sind, sondern zugleich auch Fragen aus der Perspektive von Erfahrungen, Hoffnungen, Wünschen, Perspektiven der Subjekte, also der einzelnen Schüler. Das Parteilichkeitsproblem als ein pluralistisches kann man in der Schule nur negativ lösen. Die Schule kann nicht alle partikularen Gruppen in ihren realen gesellschaftlichen Perspektiven gleichmäßig fördern, das wäre gar nicht organisierbar. Die Frage kann nur lauten: Verhindert sie die Entfaltung und Herausarbeitung einer gesellschaftlich zugelassenen partikularen Perspektive? Für die Vergangenheit läßt sich zeigen, daß z. B. die Ideen und Perspektiven der Arbeiterbewegung weitgehend ausgeblendet blieben.

Jedenfalls wird dieses Problem in der Didaktik noch kaum ernsthaft diskutiert, - es ist auch verhältnismäßig neu - , weil man bis vor wenigen Jahren noch davon ausging, daß Kinder und Jugendliche - also Schüler - per se als politisch exterritorial definiert werden könnten. Das aber trifft heute weder die Realität des Jugendalters noch die der Schule. Hier läßt die Didaktik den Lehrer im Stich. Ein Lehrer muß aber die Möglichkeit haben, und dafür muß ihm die didaktische Theorie auch ein Denkangebot machen, das Problem der Parteilichkeit seines Unterrichts für sich selber kritisch zu reflektieren, ohne daß er wie in den Jahren nach 1945 in Angst gerät, er könne jetzt schon wieder politisch etwas Falsches machen.

G. KOCH: Dieses Stichwort Parteilichkeit kann man vermutlich auch aufgreifen im Kontext der eben geführten Emanzipationsthematik. Aber in Ihren Arbeiten tritt auch noch das Grundgesetz normativ in Funktion. Das Grundgesetz stellt gewissermaßen, um es mit Ernst Fraenkel zu sagen, innerhalb der pluralistischen Gesellschaft einen sogenannten nichtkontroversen Bereich dar (21). Auch für Sie ist das Grundgesetz eine Zielmarkierung, und gerade im Zusammenhang der institutionalisierten Erziehung, der staatlichen Erziehung, der gesellschaftlichen Erziehung ist es eine wichtige Zielmarkierung.

H. GIESECKE: Ja, in zweierlei Hinsicht: Einmal in der politischen, aber davon ist ja jetzt nicht so sehr die Rede, davon ist mehr die Rede beim Radikalenerlaß und in ähnlichen Fragen. Aber das Grundgesetz hat nach meiner Ansicht auch große Bedeutung für die Art und Weise, wie Schule ablaufen muß im Sinne eines konsensfähigen Verständnisses von Schule. Dann muß man z. B. fragen, welche Normen aus dem Grundgesetz etwa erwachsen für die Art und Weise der Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern. Da ist zweitens das Problem der Meinungsfreiheit. Selbstverständlich hat der Schüler in der Schule Meinungsfreiheit zu haben. Das Problem ist nur, ob die

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Meinungsfreiheit soweit geht, daß er die durch den Lehrer vorgetragenen objektiven Ansprüche, die ja, wenn sie vernünftig sind, Ansprüche der Realität sind und nicht etwa nur des Lehrers oder des Schulrats, negieren kann; hier würde ich sagen: Nein. Und auch dies ist ein Problem, was noch gar nicht richtig didaktisch ausdiskutiert ist: Wo liegt eigentlich die Grenze? Der Anspruch des Schülers auf Schutz der Meinungsfreiheit erwächst aus seinen Erfahrungen, aus seinen Motivationen, auch aus seinem Ärger, aus seinen Bedürfnissen und aus allem, was er legitimerweise einbringt in den Unterricht und in den Sachanspruch, den die Schule zu stellen hat.

G. KOCH: Und gibt es da immer einen Streit, was ein Sachanspruch ist oder was Objektivität ist. Wenn man es paradox formulieren will, hat der Schüler seine eigene Objektivität und der Lehrer seine eigene Objektivität und die Schuladministration ebenso, um nur diese drei Personen oder Bezugsgruppen, die in die Schule hineinwirken, zu zitieren. Mein kritischer Einwand wäre, Objektivität ist eigentlich immer etwas, was durch Subjektivität und Konsens geschaffen wird. Es bedarf immer einer Interpretation der Situation, um sie zu einer objektiven auch zu machen.

H. GIESECKE: Nur muß man sich hüten, das subjektivistisch zu fassen. Der Anspruch des Schulrates ist ein Stück Realität. Wenn man den Schülern erklärt, was die objektive Realität ist, dann ist es z. B. der Anspruch, daß Zensuren gegeben werden müssen. Zur Meinungsfreiheit der Schüler würde gehören, daß sie erbittert darüber diskutieren können - und das muß der Lehrer zulassen! - ob das System der Notengebung überhaupt und in dieser Rigidität vernünftig ist. Da hat der Lehrer keinen Vorsprung, da kann er sich nicht auf seine Sachautorität berufen und kann sagen, diese Diskussion sei unsinnig. Aber er kann sich auf die Sachautorität berufen, wenn er sich anschickt z. B. zu erklären, welche gesellschaftliche Realität oder welche gesellschaftliche Problemlösung dahintersteht. Und da können die Schüler nicht mit ihrer Meinungsfreiheit kommen und sagen, das interessiert uns nicht. Aber das ist natürlich schon sehr schwierig, und möglicherweise müßte man so etwas in der Lehrerausbildung auch sehr viel mehr trainieren. Wo hört die Meinungsfreiheit auf und wo beginnt der notwendige Zwang, sich mit Regeln und Sachverhalten auseinanderzusetzen?

G. KOCH: Das ist dann auch ein zusätzlicher Beleg für das vorhin Angesprochene, daß die Didaktik die Aufgabe habe, Gegenstände, Objektivationen gewissermaßen wieder beweglich, kommunikativ, transportabel zu machen, die lehrhafte, lernhafte Kommunikation in

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Gang zu halten. Das scheint mir ein ganz guter Beleg dafür zu sein, wie Ihr didaktisches Konzept verstanden werden muß.

H. GIESECKE: Es gibt auf der einen Seite das, was man Realität nennen kann, objektiv in dem Sinne, daß diese Realität gegenüber der Befindlichkeit der Schüler zunächst einmal gleichgültig ist, ihr vorgegeben ist. Da gibt es Parteien, Institutionen, Gesetze, Vorschriften, Parlamente, außenpolitische Konflikte usw.; alles das ist Realität und das muß im Grunde durch eine Didaktik zugänglich gemacht werden, und zwar in der Weise im Prinzip, wie die Realität ist, und nicht auf eine irgendwo verstellte Weise. Dazu sind natürlich didaktische Kompromisse notwendig ganz praktischer Art: Ich muß auswählen, ich muß reduzieren. Aber es ist ein Unterschied, ob das Leitmotiv dabei ist, daß ich deshalb reduziere, damit später die Öffnung in die komplexe Realität wieder möglich ist, oder ob ich deshalb reduziere, weil ich so etwas wie ein pädagogisches Weltbild von Politik herstellen will. In dem einen Fall wäre der Zwang zur Reduktion eine Not, die mit dem Geschäft selber zu tun hat, im anderen Fall würde er zu einer Tugend erhoben. Dagegen würde ich mich wehren. Und auf der anderen Seite gibt es eben die Subjekte mit ihren Erfahrungen, mit ihren Motiven, mit ihren Interessen und Desinteressen, Bedürfnissen und Aggressionen und was alles sonst noch dazu gehört. Sie werden nun konfrontiert mit dieser Realität und gezwungen, sich daran abzuarbeiten. Meine Vorstellung ist, daß Didaktik dieses Abarbeiten ermöglicht, wobei das Ergebnis offen und im Grunde ernsthaft auch nicht verfügbar ist. Es ist eine Illusion, zu glauben, daß man hinterher weiß, was die Schüler wirklich gelernt haben, was sie wirklich lernen wollten; vielleicht kommt etwas ganz anderes heraus, vielleicht ist ein anderes Unterrichtsergebnis viel wichtiger als das, was man sich vorher vorgestellt hat.

G. KOCH: Aber wann geschieht die Bearbeitung der Subjektivität der Schüler bzw. ist die Schule ein Ort zur Bearbeitung dieser Subjektivität? Wie reagieren sie auf den Einwand, das didaktische Konzept von Giesecke sei sehr kognitiv ausgerichtet und es bedürfe eigentlich der Ergänzung durch Soziales Lernen (22)?

H. GIESECKE: Es ist richtig, daß für mich die kognitive Seite im Vordergrund steht, sie ist für mich die eigentliche Aufgabe der Schule - nach wie vor. Subjektivität, die sich nicht an objektiven Ansprüchen abarbeitet und herausarbeitet, ist eine Illusion. Aber auch Soziales Lernen erfolgt doch letzten Endes immer kognitiv. Wenn man z. B. Konflikte in der Klasse erlebt und bearbeitet, dann geht es doch sofort um Nachdenken. Man erklärt z. B. gruppendynamische Zwänge - dies ist dann ein Stoff.

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Etwas ganz anderes ist die Etablierung kommunikativer Bedingungen, die z. B. möglichst angstfreies Lernen, angstfreies Argumentieren ermöglichen. Es ist die Frage, wie macht es ein Lehrer, daß er etwa die Meinungsfreiheit zuläßt, ohne daß sie mit Angst besetzt ist - sei es vor den Zensuren, sei es vor ihm, sei es vor den Nachbarn in der Klasse. Diese Ebene würde ich rechnen unter die didaktischen Vorentscheidungen, unter die didaktischen Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß überhaupt das, was ich mir vorstelle, möglich ist. Das ist in einer autoritären, angsterfüllten Kommunikation überhaupt nicht denkbar. Insofern hat es für mich den Charakter einer Bedingung, einer Vorausbedingung. Was sozial zu lernen ist, geht im Grunde auch nur durch die Einsicht, sonst wird da nichts gelernt, sonst wird gewöhnt, sonst macht man Kommunikationsspiele und alle sind nett zueinander, aber von Lernen kann hier wirklich nicht die Rede sein, allenfalls von Training, und ich würde das dann eher Gewöhnung nennen.

G. KOCH: Wenn Sie Ihre Kollegen aus den verschiedenen didaktischen Schulen Revue passieren lassen: Wo sind Sie nahe, wo sind Sie fern mit Ihrem Konzept der Didaktik der politischen Bildung? Wo sind die Kontrahenten; wo die, die Ihrem Konzept nahestehen?

H. GIESECKE: Ich kann die Frage so, glaube ich, nicht beantworten, weil ich ganz anders denke und mich auch anders mit Kollegen befasse. Womit ich nichts anfangen kann, um das zu sagen, ist jene in den letzten 5 bis 6 Jahren etablierte linke Ideologiekritik(23), die immer nach der reinen Wahrheit strebt. Ich kann es nur ein bißchen ironisch sagen. Aber ich will es nicht abwerten. Das sind auch alles kritische Gesichtspunkte, die man ernstnehmen muß, aber sie verfehlen einfach die didaktische Problematik und sind insofern für mich nicht sehr interessant. Was die anderen Kollegen angeht, also von Oetinger angefangen bis zum letzten Buch von Schmiederer (24), so lese ich solche Arbeiten einschließlich der konservativen, wie die von Sutor (25) immer unter dem Gesichtspunkt: Was ist jetzt für die Problemlösung daran fortschrittlich, was bringen diese Arbeiten zusätzlich an Erkenntnis? Ich lese sie eigentlich nicht unter der Perspektive irgendwelcher politischer Polarisierungen, weil ich meine, daß die Didaktik das nun wirklich ganz ungeeignete Feld ist, um ansonsten notwendige, innenpolitische und auch ideologische Kontroversen, die ich natürlich für mich als politischer Bürger auch habe, auszutragen. Didaktik hat eben die Aufgabe, zu solchen Kontroversen hinzuführen, bis hin zum Problem des Terrorismus. Das darf die Didaktik nicht verbauen. Sie muß Schüler damit konfrontieren; aber die Didaktik kann nicht irgendwelche Polarisierungen

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vorwegnehmen, hie liberal, da konservativ, da Antikapitalismus. Dies halte ich für eine Diskussion, die in der Didaktik gar keinen Ort hat. Anders ist die Sache schon, wenn z. B. eine politische Position nachweisen könnte, daß in meinem didaktischen Konzept ihre Variation ausgeschlossen ist, mit einem Lernverbot belegt ist; das wäre ein ernstzunehmender Einwand.

G. KOCH: Aber die Kritik geht ja dann meist soweit, daß gesagt wird, Giesecke sei ein Pluralist ...

H. GIESECKE: Da kann ich nur noch einmal sagen: Das ist richtig; so läuft die Kritik. Seit es diese politischen Polarisierungen in der Didaktik gibt, ist im Grunde genommen der problemorientierte Kommunikationszusammenhang abgebrochen. Das ist sehr schade und hat die politische Bildung auf weiten Strecken zurückgeworfen. Es ist in dieser politischen Polarisierung schwer klarzumachen, daß es doch nur darum gehen kann, ob Probleme, die in der Didaktik vorgegeben sind, oder Probleme, die einzelne Partizipanten (Schüler, Lehrer, Schulräte, Kultusminister oder Richtlinienmacher) haben, ernsthaft diskutiert und möglichst gut gelöst werden. Ich habe z. B. kein Problem damit, bestimmte konservative Einwände gegen die Konfliktdidaktik, die etwa von Grosser(26)oder von Sutor gemacht werden, teilweise auch zu akzeptieren. Dies liegt daran, weil ich selber, wie ich eingangs bereits sagte, der Meinung bin, daß heute die sogenannte Konfliktdidaktik eine andere Problemlage hat als noch Mitte der 60er Jahre, so daß es keinen Sinn hat, sich ideologisch an einer Position festzuhalten, die historisch etwa auf die Sozialisationslage der neuen Generation hin relativiert werden muß. Das gehört mit zur praktischen Philosophie, und wer sozusagen Einsteinsche wissenschaftliche Leistungen, die für Jahrzehnte Gültigkeit haben, erbringen will, der darf nicht in die Pädagogik gehen, er ist da im falschen Fach.

G. KOCH: Man sieht es auch an Ihren Büchern, daß immer der Bezugspunkt oder der Bezugsort die Praxis ist. Von daher verbietet es sich für Sie und andere ähnlich Verfahrende, ich glaube, für Schmiederer würde das zutreffen, in didaktischen oder fachwissenschaftlichen Schulen zu denken, so daß die Kontroversen für Sie eigentlich immer quer zu diesen Schulen liegen müssen und sehr viel stärker die Fragen stellen: Wie gelingt denn eine Rollenerweiterung? Wie gelingt denn der emanzipatorische Anspruch oder wie gelingt die Ausschöpfung der pädagogischen Kommunikation im Sinne von Grundgesetzvorgaben? Ich kann mir auch denken, daß manche pädagogische Kontroverse deshalb erst auftaucht, weil manche Kollegen eben nur akademische Theoriebildung betreiben, wo dann die

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theoretische Kohärenz oder die Widerspruchsfreiheit von Aussagen, die praktische Seite eines didaktischen Konzepts dominieren.

H. GIESECKE: Sicher, und das ist eben die Schwierigkeit, wenn man didaktische Theorien an wissenschaftlichen Hochschulen und in Universitäten entwickelt, weil deren eigene Logik, deren Forschungslogik, notwendigerweise und auch berechtigterweise eine völlig andere ist. Ich bin andererseits aber auch gegen - und das führt dann wieder zu Mißverständnissen und Unverständnis - diesen kleinkarierten Theorie-Praxis-Bezug, wie er in den letzten Jahren an unseren Hochschulen betrieben worden ist. Ich bin dafür, daß jemand, der z. B. Literatur in der Schule lehrt, gefälligst auch Literatur studiert hat ohne vorgängige fachdidaktische Manipulationen; daß er auf diesem Gebiet sachverständig ist, nicht nur gegenüber den Schülern. Dadurch gewinnt er nämlich das Repertoire, aus dem er auch didaktisch schöpfen kann.

G. KOCH: Also die notwendige Phantasie, die zu einem Fach gehört ...

H. GIESECKE: Genau, sicher.

G. KOCH: Man kann an der neuen Ausgabe Ihrer Didaktik immer noch recht gut sehen, wie Sie sich den neuen Fragen gewidmet haben. Daran knüpft aber gerade häufig auch eine Kritik etwa dieser Art an: Didaktik sei ein wenig eigenständiges Arbeitsgebiet, sie passe sich eigentlich immer den jeweils herrschenden Trends und den jeweiligen relevanten Forschungsergebnissen an: Jetzt Sozialisationsforschung, in den 60er Jahren die Konflikttheorie ... Ihre letzten Bemerkungen könnten auch in dieser Weise (miß-)verstanden werden, gerade immer dann, wenn Sie die Didaktik stark an die praktischen Notwendigkeiten des Lehrens und Lernens binden.

H. GIESECKE: Jede praktische Theorie ist eine eklektische, sie sucht sich die Aufklärung, wo sie sie finden kann. Die reinen, widerspruchsfreien Theorien können nicht praktisch sein, sie haben eine andere Funktion: Sie sind z. B. das kritische Potential, an dem sich praktische Theorien messen und abarbeiten müssen. Um es an einem Beispiel zu zeigen: Ich habe die Kritische Theorie nicht erfunden, aber wenn sie da ist und auch eine gewisse Wirkung hat, - als ich sie aufgriff, hatte sie ja noch gar keine, oder kaum eine öffentliche Wirkung - dann ist man verpflichtet nachzuprüfen, welche Lösungen oder welche Teillösungen, welche Gesichtspunkte diese Theorie zu meinem didaktischen Problem beiträgt. Das gehört z. B. zum wissenschaftlichen Handwerk. Nicht gehört dazu, um bei dem Beispiel zu bleiben, daß ich als Didaktiker sozusagen in eine Diskussion darüber eintrete, ob die Kritische Theorie nun die legiti-

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me Nachfolge des Marxschen Denkens ist oder nicht oder ob sie überhaupt philosophisch haltbar ist. Ich sage dies nicht, weil ich diese Frage nicht für wichtig hielte, sondern erstens, weil ich dafür so kompetent gar nicht wäre, und, was wichtiger ist, weil ich meine, daß die Umsetzung der Kritischen Theorie in die didaktische Problematik mein Metier ist. Es hat nichts damit zu tun, das ist mir ja oft vorgeworfen worden, daß ich sozusagen vom Standpunkt der Kritischen Theorie als Anhänger der Kritischen Theorie die Neufassung der Didaktik geschrieben habe. Das ist Unfug! Das kann man auch aus dem Text beweisen. Es gibt zwei Stellen, an denen ich über die Kritische Theorie gesprochen habe. Das eine war im Zusammenhang mit der Entwicklung der Didaktik nach 1945, also im Zusammenhang der inhaltlichen Diskussion des historischen Prozesses; denn die Kritische Theorie hat einen Beitrag geleistet zur Verinhaltung (Didaktik, S. 38, 42 ff.) dessen, was Demokratie ist. Das muß man aufnehmen; es kann falsch sein, das unterliegt der öffentlichen Diskussion. Das andere ist der Hinweis auf den pädagogischen Defaitismus. Ein weiteres Beispiel ist die Konflikttheorie. Was man sich klarmachen muß, ist doch, daß es 1945 überhaupt keine Möglichkeit gab, so etwas wie Politische Bildung oder Sozialkunde - wie man damals gesagt hat - überhaupt zu fundieren. Was vorlag, war jene Innerlichkeitsphilosophie, also die moralische Abwehr gegen den Nationalsozialismus. Man kann heute nicht rückwirkend ideologiekritisch sagen, solche Konflikttheorie sei eine Theorie der herrschenden Klasse gewesen. Es geht um das Repertoire, es war ja nichts anderes da.

Dann kam im Laufe der 50er Jahre die Politikwissenschaft: Zuerst die sogenannte klassische, dann die mehr institutionenkritische, dann kam die Kritische Theorie, danach die Wiederaufnahme Freudscher Analysen, und dann die politische Ökonomie. Zusammengefaßt: Eine didaktische Theorie, die sich in diesem historischen Prozeß selber entwickelt, und sie hat sich ja auch bei mir entwickelt, kann diese Entwicklungen nicht übersehen, sondern man muß z. B. sagen: Die Sozialisationsforschung erklärt uns jetzt eine Reihe von Zusammenhängen zwischen außerschulischer, familialer und schulischer Sozialisation Es sind also ganz bestimmte Gesichtspunkte, die didaktisch wichtig sind und die muß man einarbeiten, ohne diese Wissenschaften selber als solche zu diskutieren. Sie sind Hilfswissenschaften für die didaktischen Probleme.

G. KOCH: Und das wäre dann auch das Kriterium, was einen so Arbeitenden von dem Vorwurf, opportunistisch zu sein, feit.

H. GIESECKE: Den Vorwurf des Opportunismus kann ich nur in einem ganz persönlichen Sinne vernünftig finden, etwa, wenn sich

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zeigen ließe, daß ich aus Angst vor Risiko mich so oder so verhielte. Ich kann in einem intellektuellen Sinn diesen Vorwurf nicht akzeptieren, weil es doch immer nur darum gehen kann, ob dieses oder jenes wissenschaftliche Modell dazu beiträgt, Schüler für die Realität zu öffnen und umgekehrt den Schülern die Möglichkeit gibt, ihre Interessen und Bedürfnisse herauszuarbeiten. Das ist die einzige Frage, um die es für mich geht.

G. KOCH: Frank Achtenhagen unterstellt Ihnen "bewußte(n) Verzicht auf strenge Systematisierung" (27).

H. GIESECKE: Da hat er recht. Aber was heißt hier systematisch? Gemeint ist nach meiner Erinnerung die logische Systematik von über- und untergeordneten Sätzen und Theoremen. Das ist aber nur eine Möglichkeit wissenschaftlichen Denkens. Überall dort nämlich, wo es sich um zeitliche Prozesse handelt - historische und biographische und also auch Lernprozesse - da sind diese logischen Prinzipien nur begrenzt anwendbar, da gelten auch andere, weil nämlich solche Prozesse nicht in erster Linie logische, sondern z. B. - aber keineswegs nur - psychologische sind. Ähnlich ist es beim Alltagsdenken z. B. eines Lehrers, das ja auch in einem zeitlichen Prozeß ablaufen muß. Nehmen wir einmal an, meine Kategorien wären in der Form einer logischen Hierarchie formuliert: Dann wären einige Fragen von vornherein wichtiger als andere, dann müßte der Lehrer die Fragen der Schüler entsprechend reglementieren, dann müßten die Schüler ihre Fragen entsprechend vorzensieren usw. In meiner Didaktik sind diese Fragen grundsätzlich gleichrangig, und es bleibt dem Unterrichtsergebnis überlassen, ob angesichts eines bestimmten Gegenstandes einige Fragen wichtiger sind als andere (und für wen und warum). Ich kenne keine einzige Didaktik, die nach jenem systematischen Anspruch formuliert worden ist, und die irgendeine praktische Relevanz hätte.

G. KOCH: Achtenhagen charakterisiert Ihre Didaktik der politischen Bildung so (er hat aber nicht die letzte Ausgabe benutzen können und zitiert nach der 1. Aufl. 1965): "Hermann Gieseckes ,Didaktik der politischen Bildung' arbeitet weder mit Bezug auf ein allgemeindidaktisches Modell - um ,die Gefahr eines zwar systematisierten, aber fernab aller politischen Auseinandersetzung gewonnenen Wissens' zu umgehen -, noch lehnt sie sich an irgendeine Fachwissenschaft an -, weil das die ,Offenheit des politischen Gegenstandes' verbiete. Giesecke plant pragmatisch die Ableitung eines Erkenntniszusammenhangs aus der politischen Wirklichkeit, unter der vagen Zielformel der ,politischen Aktivität'. Die wenig systematischen Ausführungen - wie auch Giesecke dem Leser konzidiert - münden in die Feststellung, daß ,politische Betei-

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ligung auf mindestens vier verschiedenen Ebenen gelernt werden muß'. Für den politischen Unterricht gewinnt Giesecke elf Kategorien, die alle in jedem politischen Konflikt enthalten sein' müssen, mit ihren ,Werteinstellungen als solche eines Konsensus der ganzen Gesellschaft angesehen werden können' und ,sich angesichts des konkreten Unterrichtsgegenstandes in sinnvolle Leitfragen umwandeln lassen'. Dem ganzen liegt die Idee zugrunde, ,die allgemein verbindlichen moralischen Maßstäbe des Politischen, die, auf eine politische Lage angewandt, nur zu Mehrdeutigkeiten führen können, eindeutig zu machen', d. h. ein Rückbezug auf einen common sense ,als Inbegriff dessen, was in unserer Gesellschaft unumstritten ist und dessen, was legitimerweise umstritten ist oder werden kann'. Mit diesen Bausteinen normiert Giesecke dann den didaktischen Aufbau des politischen Unterrichts ,in idealtypischer Weise"', indem er ein Stufenschema vorgibt (Achtenhagen, S. 16 f.).

Achtenhagen nennt nur acht Ihrer Kategorien und nimmt nicht die ganze Liste auf; er sagt, das sei sowieso nicht nötig, man könne vier oder drei nehmen oder fünfzehn. Also: Beliebigkeit als Vorwurf, ... Sie kennen diese Einwände ... .

H. GIESECKE: Wenn Sie zwanzig Stunden politischen Unterricht pro Woche haben, können Sie vielleicht auch dreißig Kategorien verwenden. Finden und begründen ließen die sich sicher. Die Zahl ist eine pragmatische Größe: Wenn Sie dreißig Kategorien anwenden, kann die Analyse sehr differenziert werden - oder auch nicht - weil dann wahrscheinlich der vitale und motivierende Zugang verloren geht: Wenn Sie nur zwei Kategorien anwenden, machen Sie einen sehr einseitigen politischen Unterricht. Irgendwo dazwischen liegt das, was machbar und vernünftig ist. Wer in einer didaktischen Theorie das Fragen mehr als für eine geordnete Unterrichtskommunikation unbedingt nötig normieren will, der normiert auch das Denken der Schüler. Noch einmal: Die Kategorien sind nicht die Wirklichkeit, sie sind der Zugang zur Wirklichkeit.

Und zum common sense: Mit welchem Recht soll die Schule denn einen Unterricht jenseits des common sense machen? Wenn man eine staatlich monopolisierte Schule hat, muß man eine konsensfähige Schule haben und das Problem der Parteilichkeit entsprechend didaktisch lösen; sonst muß man Weltanschauungsschulen fordern. Eine andere Frage ist, wieweit der Konsens wirklich bestimmbar ist. Der gesellschaftliche Konsens war bei der ersten Auflage (1965) der "Didaktik" größer als heute. Damals z. B. konnte man annehmen - und ich habe es auch lange angenommen - , daß ein Begriff wie Emanzipation eigentlich ein konsensfähiger Begriff ist. Ich würde

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auch heute noch meinen, daß er dies ist, wenn man auf das zurückgeht, was er historisch meint und das abstreicht, was unter seinem Namen teilweise an grobem Unfug in den letzten Jahren gemacht worden ist. Die Kategorien sind insbesondere deshalb nach meiner Meinung konsensfähig, weil sie nichts anderes als legitime Fragen ausdrücken. Es geht also darum: Ist es legitim, daß Schüler solche Fragen stellen bzw. umgekehrt, daß sie angeleitet werden dazu, solche Fragen zu stellen? Abgesehen davon ist Achtenhagens Buch ein gutes Beispiel für das, was mir als Sorge einer Fachdidaktik erschienen ist zu Anfang unseres Gespräches. Denn wenn man sich einmal ansieht, mit welch ungeheuerem und imponierendem theoretischen Aufwand er ansetzt, und was am Schluß dann für die Praxis dabei herauskommt, dann würde ich mich fragen, ob da beides noch in einem vernünftigen Zusammenhang steht, ob man auf das, was am Schluß herauskommt, nicht auch auf viel einfachere Weise hätte kommen können, nämlich auf pragmatische Weise. Ähnliches kann man ja sagen für die Curriculumentwicklung in Nordrhein-Westfalen, wenn man sich ansieht, mit welchem intellektuellen Aufwand die ganze Legitimationsdiskussion geführt worden ist, von der Lernzielproblematik ganz zu schweigen (Strukturgitter usw. ... ). Vergleicht man damit ihre unterrichtspraktischen Hefte, dann frage ich mich, wem solche Theorien nützen sollen (28). Soll dies heißen, daß der Lehrer, bloß weil er einen Text aus der Tageszeitung mit den Schülern interpretieren soll, neunzig Prozent seiner Zeit in solche didaktischen Voranalysen zu stecken hat? Meine Meinung ist, daß er eher neunzig Prozent seiner Zeit nutzen soll, um sich selber das Problem klarzumachen. Die Konsequenz ist nämlich, daß die Aktivität des Lehrers sich bei einem solchen Anspruch auf die manipulative Seite verlegt und nicht auf die Aufklärung dessen, was ich gesellschaftliche Objektivität nannte. Und je mehr der Lehrer mit solchen Ansprüchen konfrontiert wird, die einseitig auf seine manipulativen Fähigkeiten sich richten, um so weniger Chancen hat er, sich selbst die Sachverhalte klarzumachen, die er unterrichten soll. Man muß sich doch fragen, wessen Probleme durch eine immer unverständlicher werdende und immer mehr um sich selbst kreisende Erziehungswissenschaft gelöst werden sollen: die der Schüler, der Lehrer, der Administration, der Doktoranden, der miteinander konkurrierenden Hochschullehrer? Kein Mensch, der unterrichten muß, auch nicht ein Hochschullehrer für seine eigene Lehre, käme doch auf die Idee, Curriculum-Konstruktionen zu erfinden - die erfindet man in ganz anderen Handlungszusammenhängen.

G. KOCH: Trifft Sie der Einwand stark, Ihr Buch oder Ihre Arbei-

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ten seien Kompendienliteratur (Achtenhagen, S. 22, 124 f., Anm. 49), oder sehen Sie darin gerade den Ausweis ihres Gebrauchswertes?

H. GIESECKE: Ich sagte schon: Jede praktische Theorie ist notwendigerweise eine eklektische. Und wenn man über mich urteilen würde, ich sei ein ganz brauchbarer Zwischenhändler, wäre ich zufrieden. Ich schreibe zu didaktischen Zwecken. Das ist das, was mich interessiert. Man muß sich überlegen, ob man schreibt, um anderen etwas zu erklären, oder bloß, um sich in unserem Wissenschaftsbetrieb selbst darzustellen. Ich sehe die Entwicklung der Erziehungswissenschaft mit einiger Sorge, weil sie mit einem gewaltigen sprachlichen, systematischen und empirischen Aufwand immer mehr für die Praxis Nutzloses produziert, während ihre eigentliche Aufgabe doch wäre, den Faden zwischen denen, die forschen, und denen, die die Ergebnisse brauchen, nicht abreißen zu lassen. Gemessen an jenem Anspruch sind meine Intentionen bescheiden: Meine Einführung in die Pädagogik (München 1976, 5. erw. Aufl.) erhebt z. B. überhaupt nicht den Anspruch, so etwas wie eine systematische Pädagagik zu sein. Vielmehr soll sie in einem ersten Aufriß ein Problembewußtsein stiften und gewisse Alternativen anbieten, damit der Student anfangen kann zu arbeiten. Mit Hilfe seiner sonstigen Studien muß dann die Vertiefung erfolgen. Dasselbe würde ich auch von dem Buch zur Jugendarbeit (München 1971) sagen, und auch die Methodik (München 1973) ist ja nichts anderes als eine erste Skizze: aus dem Grunde geschrieben, weil es keine Methodik gab und weil ich sie lehren wollte und mußte und so erstmal einen eigenen Lehrtext geschrieben habe - im Sinne etwa eines Vorlesungskonzeptes -, das den Zweck hat, einzuführen in die methodischen Probleme und Methodik zu verstehen als einen kommunikativen Komplex. Das ist vielleicht das Originäre an dem Buch, jedenfalls sagen das manche Kritiker. Aber insgesamt hat auch dieses Buch eine sehr bescheidene Zielsetzung.

G. KOCH: Eine Frage aus der Hochschuldidaktik bzw. Seminarpraxis: Studenten, die ja Politologie oder Soziologie studieren, stehen häufig vor Fragen wie z. B. dem Positivismusstreit in der deutschen Soziologie oder Debatten um den Staatsbegriff. Diese Debatten tragen ja auch eine didaktische Qualität in sich. Dazu schweigt sich jedoch die politikdidaktische Literatur häufig aus.

H. GIESECKE: So etwas ist schwierig, weil die Erwartung genau die ist, die ich in einer Didaktik nicht erfüllen kann. Ich setze voraus, daß jemand, der Politik unterrichtet, auch Politik studiert hat und im Rahmen dieses Studiums auch wissenschaftstheoretische Fragen bearbeitet hat. Dorthin gehören sie. In der Didaktik geht es im Grunde nur darum, wie ich dies ja auch schon mehrmals bemerkte, diesen

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Zwischenhandel, diese Vermittlung zu ermöglichen. Andererseits bin ich vielleicht selbst ein bißchen Schuld daran, daß ich vor allem in der Neubearbeitung der Didaktik falsche Erwartungen geweckt habe, weil ich vielleicht zu viel allgemeine Zusammenhänge erklärt habe. Abgesehen davon ist diese wissenschaftstheoretische Diskussion ja auch eine versteckte ideologische Diskussion geworden. Und im übrigen bin ich der Meinung, daß hier sehr komplizierte philosophische Fragen angesprochen sind. Diese sollte man als solche und an einem anderen Ort diskutieren.

G. KOCH: Wenn man als Didaktiker eine Handlungswissenschaft betreibt, dann muß man fragen, wie ist denn eigentlich Handeln möglich? Es geht um die Frage nach einer Handlungstheorie, der man sich nähern müßte - gerade im Hinblick auf das Alltagshandeln. Vielleicht können wir diesen Problembereich im Zusammenhang mit Forschungsaufgaben, die Sie jetzt für die Didaktikdiskussion sehen, ansprechen. Ich akzentuiere die Frage nach Forschungsaufgaben der Politik-Didaktik auch deshalb, weil z. B. in der Geschichtsdidaktik versucht wird, eine Geschichte des Geschichtsunterrichts zu schreiben. An einem solchen Unternehmen mangelt es meines Wissens immer noch in der Politik-Didaktik.

H. GIESECKE: So würde ich gerade nicht fragen: Wie ist denn eigentlich Alltagshandeln möglich? Die Menschen handeln doch täglich! Es geht um die Probleme, die sie dabei haben, also um die Gefahr des Scheiterns. Manchen Kollegen habe ich dadurch irritiert, daß ich in der "Methodik" keine Beschreibung einer optimalen Unterrichtskommunikation, nach deren Maßstab zu handeln wäre, geliefert habe, sondern nur Hinweise darauf, wie man - vielleicht - das Scheitern in Grenzen halten könne. Dies erschien ihnen zu pessimistisch; ich halte das für einen realistischen, lebensnahen Ansatz. Eine Theorie des Alltagshandelns sollte man zunächst einmal auf der Grundlage der jedermann zugänglichen Alltagserfahrung skizzieren, in dem man diese ordnet und orientiert an den Problemen, die die Menschen selbst erleben. Dann wird sich zeigen, welche wissenschaftlich-systematischen Forschungen man braucht, um diese Probleme zu erklären und vielleicht auch besser zu lösen. Sonst besteht die Gefahr, daß wir die Erfahrungen der Menschen erneut totschlagen mit der Übermacht unserer Forschungsergebnisse, anstatt sie zum Ordnen und Anwenden ihrer Erfahrungen zu ermuntern. Zunächst käme es darauf an, das, was bereits erforscht ist bzw. an Theorien vorliegt, wieder zu sortieren und auf den didaktischen Problemzusammenhang zu übersetzen.

Es wäre dann auch wichtig, die historische Kontinuität wieder

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herzustellen bzw. überhaupt erst einmal zu rekonstruieren, und zwar problemorientiert: Wann entsteht warum welches Problem? Ist es historisch gelöst oder nur variiert worden? Ist es ein aktuelles oder epochales Problem? Das Beispiel des politischen Unterrichts in einer pluralistischen Gesellschaft mit staatsmonopolistischer Schule, hatte ich schon erwähnt. Da gab es ganz unterschiedliche Lösungen. Die so oft beschimpfte blutleere Institutionenkunde der Weimarer Zeit ist z. B. nur auf diesem Hintergrund verständlich. Eine solche Forschung gibt es erst in Anfängen, hier liegt der größte Nachholbedarf der Erziehungswissenschaft überhaupt. Dadurch, daß der historische Problemzusammenhang fehlt, werden dann neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Moden, auf die man der Reihe nach hereinfällt, weil man sie nicht historisch miteinander verbinden kann.

G. KOCH: Mir scheint auch gerade in der historischen Forschung wichtig zu sein, einerseits die relative Jugend der politischen Bildung zu akzeptieren und gleichzeitig Vorläufer und politische Dimensionen, die von anderen Fächern vorher wahrgenommen worden sind, zu entziffern. Das würde einmal den Vorteil des schlichten Erkenntnisgewinnes haben, zum anderen hätte man auch die Möglichkeit, die Politisierung anderer Fächer oder die Kooperation zwischen den Fächern noch einmal historisch herzuleiten.

H. GIESECKE: Das Problem, wie man Schülern Politik nahebringt, stellt sich ja seit der Entstehung des modernen Schulwesens. Es war ja eine der wichtigsten Ursachen dafür, daß der absolutistische Staat auf die allgemeine Schulpflicht drang, weil er gezwungen war, gegenüber den früheren Loyalitäten - etwa gegenüber den Zünften - seine neue Loyalität zu stiften. Insofern ist Politik eigentlich das älteste Fach der Schule überhaupt, auch wenn man es so nicht genannt hat. Um diese Kontinuität würde es wesentlich gehen, und man würde dann auch sehen, daß das Fach Politik eine späte Ausgliederung aus diesem Zusammenhang ist, und daß mit Sicherheit auch andere Fächer politisiert gewesen sind. Wenn man dann solche Forschungen und solche historischen Theorien macht, dann würde man auch dahinterkommen, daß unsere heutige Lösung eigentlich nur eine Variation von Problemen ist, die mehr oder weniger die gleichen geblieben sind.

G. KOCH: Die Frage Politik als Fach oder als Prinzip der Schule würde dann auch anders beantwortet werden oder präzise beantwortet werden können.

Aber ich frage weiter: Neuere Diskussionen der Organisationssoziologie oder Institutionenkunde haben darauf hingewiesen, daß die Schule in ihrer Verfaßtheit bzw. daß die Schule als institutionalisier- 

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tes Lernen ja selbst eine politisierende oder politische Wirkung hat: das Gefüge von Ordnung und Unterordnung, das Einteilen, auch die Architektur... Das wäre vielleicht auch ein Aufgabenfeld, hier wären einige Bedingungsfaktoren, unter denen politisch intentionale politische Bildung dann stattfindet.

H. GIESECKE: Der geheime Lehrplan, den Sie da ansprechen, ist nichts Neues. Schon W. Liebknecht (29) hat ihn Ende des vorigen Jahrhunderts politisch angegriffen, ohne ihn so zu nennen. Neu ist nicht die Sache, sondern nur der Begriff. Aber auch hier wäre wichtig zu fragen: Wann wird so etwas warum zum Problem? Wer macht es zum Problem? Auch hier kommen wir nicht aus der Weltanschauungsdiskussion heraus, wenn wir nicht historische Entwicklungen zeichnen.

G. KOCH: Eine weitere Frage zur Forschung: Internationaler Vergleich als Forschungsaufgabe der Didaktiker - würde dies der hiesigen Didaktik helfen oder liegt dieses Fragefeld zu weit von unseren Problemen entfernt?

H. GIESECKE: Das würde sicher helfen, wenn einmal zusammengetragen würde, wie es in anderen Ländern aussieht. Von einigen, wie etwa den USA, weiß man es ein bißchen. Es wäre sogar sehr interessant, einmal festzustellen, ob sich eigentlich die anderen Länder mit der politischen Bildung auch soviel Probleme geschaffen haben wie wir. Ich habe den Eindruck, daß das wohl doch unsere spezifische Problematik ist. Sie hängt zusammen mit der Entstehungsgeschichte nach 1945 und auch mit dem damaligen Legitimierungsdruck: Man mußte den Alliierten gegenüber und auch im Inneren zeigen und dokumentieren, daß man es sehr ernst nimmt mit der neuen politischen Bildung, mit der neuen politischen Gesinnung, und das ist für andere Länder längst nicht solch ein Problem.

G. KOCH: Wir haben mehrfach die Pragmatik Ihres didaktischen Unternehmens angesprochen, z. B. im Gefolge der Kritik von Achtenhagen. Müßte man nicht eigentlich, wenn man so sehr auf das Bezugssystem des Alltags und seiner Pragmatik rekurriert, auch Theorien darüber entwickeln, zumindest Präzisierungen in diesem Feld anzustellen, an der politischen Kultur, in der Schüler schon leben und für die sie vorbereitet werden sollen?

H. GIESECKE: Aus dem Lebenszusammenhang, aus ihrer Lebenswelt bringen die Schüler ihre Erfahrungen und Bedürfnisse in den Unterricht ein. Welche das sind, kann der Lehrer selbst ermitteln, wenn er ihre Artikulierung zuläßt und sie ermuntert. Man kann das auch aus den Fragen schließen, die die Schüler stellen. Die Forschung müßte versuchen, den Typus der politischen Sozialisation zu be

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schreiben, d. h. welche Faktoren welche Wirkungen haben. Wir tun ja oft noch so, als sei die Schule die einzige oder jedenfalls die wichtigste Sozialisationsinstanz. Wir müßten aber wissen, was sowieso geschieht, dann könnten wir auch die didaktische Aufgabe der Schule präzisieren.

G. KOCH: Ich möchte Sie gerne noch mit der These zum Verhältnis von politischer Theorie und der Didaktik der politischen Bildung ansprechen. Muß eine Didaktik der Politik nicht auch eine ausgearbeitete politische Theorie besitzen?

H. GIESECKE: Nein. Aber das ist ein Punkt, der in der Kritik an meiner Didaktik schon stereotyp geworden ist. Die Argumentation läuft etwa so: "Wer vermitteln will, muß wissen, was da vermittelt werden soll, also muß er selbst eine Theorie davon haben und erst einmal begründen." Konsequent zu Ende gedacht, würde dies heißen: 1. Der Didaktiker macht diejenigen Wissenschaften, in deren Kompetenz seine Gegenstände fallen, überflüssig. 2. Der Didaktiker kennt zumindest im Prinzip das Endergebnis seiner Vermittlung im voraus. Würde man diese letzte Erwartung an die Hochschullehre richten, wäre diese von vornherein unwissenschaftlich. Ich könnte dann z. B. alle Dissertationen, die bei mir geschrieben worden sind, auch selbst schreiben. In der wissenschaftlichen Kommunikation der Hochschule ist ganz selbstverständlich, daß es sich um eine offene handelt, definiert durch die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens und Argumentierens. Warum soll das eigentlich in der Schule anders sein?

Richtig daran ist natürlich, daß ein Didaktiker das Fach, das er vermitteln will, auch studiert hat, so daß er die prinzipiellen Zusammenhänge verstehen und elementarisieren kann. Ich könnte z. B. keine Musikdidaktik oder Literaturdidaktik schreiben.

Wenn man sich im Rahmen eines Schulbuches oder auch einer Unterrichtsstunde, was ja vergleichbar ist, überlegt: Was ist an der Realität Außenpolitik/internationale Politik wichtig zu lehren innerhalb weniger Stunden, die zur Verfügung stehen, dann ist diese Frage nur dann pragmatisch entscheidbar, wenn man genügend von dem, worum es in der internationalen Politik geht, versteht. So kann man z. B. sagen, es kommt im wesentlichen auf drei, vier Grundeinsichten an, die einem helfen können, Informationen über Außenpolitik zu verstehen und einzuordnen. Eine politische Theorie der Außenpolitik wäre jedoch etwas ganz anderes.

G. KOCH: Wie kommt man wirklich zu einer didaktisch gelingenden Kommunikation mit Schülern, die den Horizont der internatio-

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nalen Politik erreicht, auch wenn für Schüler die jeweiligen Nahbereiche attraktiver sind?

H. GIESECKE: Was heißt fern und nah? Der Schüler sieht das sogenannte Ferne jeden Tag - ganz nah - in der Tagesschau. Sein Problem ist wahrscheinlich, daß er ohne Hilfe der Schule diese Fülle von Informationen nicht verarbeiten kann. Er braucht dafür Kategorien der Außenpolitik, um sich überhaupt beteiligen zu können. Im übrigen ist Politik im Unterschied zu anderen Fächern sehr einfach zu verstehen, weil man hier die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen nutzen kann. Worum es in der internationalen Politik im Prinzip geht, läßt sich schon an den Selbsterfahrungen einer Schulklasse beschreiben. Die Gruppendynamik verwendet sogar Begriffe aus der Diplomatie. Die Bedürfnisse, Interessen, Hoffnungen, Machtansprüche, Enttäuschungen, Täuschungsmanöver, Konflikte, Kompromisse ... sind in der großen Politik im Prinzip dieselben wie in der Schulklasse auch. Das ist eine sehr wichtige Basis für das Verständnis von Politik, und ein Fach wie Erdkunde hat es hier sehr viel schwerer. Schwierig wird es, wenn erklärt werden muß, was nicht der unmittelbaren Erfahrung ohne weiteres zugänglich ist: Arbeitsteilung von Institutionen, Großorganisationen, überhaupt das politische System und seine Teilsysteme. Dazu braucht man eine hinreichend entwickelte Vorstellungskraft. Hier könnte man teilweise von den Problemen ausgehen: Welche Probleme und Bedürfnisse werden durch Institutionen gelöst? Wie wäre es, wenn es diese Institutionen nicht gäbe? Die Probleme sind wieder leicht mit der Erfahrung in Zusammenhang zu bringen.

Man sollte didaktische Konzepte einmal daraufhin prüfen, inwieweit sie politisches Lernen eher erschweren als fördern; Schulbücher, inwieweit sie die konkretistische, kategorienlose Verwirrung nur vermehren, und man sollte auch einmal überlegen, ob es nicht oft unzureichend ausgebildete Lehrer sind, die sich fachlich unsicher fühlen und dann sagen, Politik sei zu schwierig für die Schüler.

G. KOCH: Ich bedanke mich.

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Anmerkungen:
 
 

(1) Die erste Auflage von H. Gieseckes Didaktik der politischen Bildung erschien 1965 in München. Mittlerweile liegt die 10. erw. Auflage vor (München 1976). Kurz-Zitierweise: Didaktik

(2) Ausführliches Material in: Die Spiegel-Affäre, 2 Bde., Olten und Freiburg/i. Br. 1966.

(3) Klafki, W., Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim 1959.

(4) Tietgens, H., Zur Didaktik politischer Bildung. In: Volkshochschule im Westen, 1966, S. 77 ff.

(5) Vgl. Hilligen, W., Zur Didaktik des politischen Unterrichts II, Opladen 1976, S. 143 ff.

(6) Vgl. Klafki, W., Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung. In: Ders. u. a., Didaktische Analyse, Hannover 1969, 10. Aufl.

(7) "Methodik als Theorie der Kommunikation" (S. 15 ff.) und "Gefährdungen der Unterrichtskommunikation" (S.24 ff.) - so lauten die Uberschriften der ersten beiden grundlegenden Kapitel in: Giesecke, H., Methodik des politischen Unterrichts, München 1973, 19753, vgl. auch ders., Didaktik, a.a.O., S. 217 f.

(8) Vgl. Mannheim, K., Ideologie und Utopie, Frankfurt 1952.

(9) Vgl. etwa Conze, W., Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln/Opladen 1957.

(10) Giesecke, Didaktik, S. 38; so auch: Bloch, E., Kritik der Propaganda. In: Ders., Vom Hasard zur Katastrophe, Frankfurt 1972, S. 195 ff.

(11) Theodor Wilhelm ist H. Gieseckes Doktorvater gewesen (vgl. Giesecke, H., Didaktik der politischen Bildung, München 1965, S. 9 f.). Unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger veröffentlichte Theodor Wilhelm 1951 Wendepunkt der politischen Erziehung. Partnerschaft als pädagagische Aufgabe. Später: Oetinger, F., Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung, Stuttgart 19562; vgl. Giesecke, H., Didaktik, a.a.O., S. 32.

(12) Vgl. Adorno, Th. W., Studien zum autoritären Charakter, Ffm 1973.

(13) Habermas, J., Strukturwandel der Öffentlichkeit, Nenwied/Berlin 19715.

(14) Habermas, J., Theorie und Praxis, Frankfurt 19714.

(15) Unter diesem Titel editierte S. Landshut 1932 Marxsche Schrihen aus den Jahren 1837-1848 (Karl Marx. Die Frühschrihen, Stuttgart 1964). Eine textkritische Ausgabe der frühen Schriften von Marx gab G. Hillrnann unter dem Titel: K. Marx, Texte zu Methode und Praxis, 3 Bde., Reinbek 1966 f., heraus.

(16) Marx, K., Engels, F., Die deutsche Ideologie, Berlin 1958 (Marx/Engels: Werke Bd. 3).

(17) Die "Idee der Kritik" bei Marx ist dialektischen und positivistischen Denkern gleichermaßen wichtig. Vgl. Korsch, K., Karl Marx, Frankfurt 1967, S. 32 ff., 77 ff., 246 ff., 254 und: Albert, H., Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1969, S. 29 ff.

(18) Vgl. Giesecke, H., Didaktische Probleme des Lernens im Rahmen von politischen Aktionen. In: Ders. u. a., Politische Aktion und politisches Lernen, München 1970, S. 34.

(19) Vgl. etwa den Sammelband: Marx/Engels, Uber Erziehung und Bildung, zusammengestellt von P. N. Grusdew, Berlin (Ost) 1966, S. 163 f.

(20) Zu erinnern ist hier an Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, Ffm 19715 (völlig überarb.), ders., Schule als Erfahrungsraum, in: Ästhetik und Kommunikation, 1975/76, S. 37 ff., ders., Arbeiterbildung als schrittweise Vermittlung von Klassenbewußtsein, in: Ders., Keine Demokratie ohne Sozialismus, Frankfurt 1976, S. 367 ff.

(21) Hier ist die Pluralismustheorie E. Fraenkels angesprochen, vgl. E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 142ff.

(22) Diese Kritik bezieht sich auf H. Gieseckes Konzept von Sozialpädagogik und schulischem Lernen, vgl. H. Prior (Hrsg.), Soziales Lernen, Düsseldorf 1976, S. 144.

(23) Zu denken wäre etwa an: Beck, J. u. a., Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1970; Christian, W., Probleme des Erkenntnisprozesses im politischen Unterricht, Köln 1974; Wallraven, K. P. / Dietrich, E., Politische Pädagogik, München 1970.

(24) Schmiederer, R., Politische Bildung im Interesse der Schüler, Köln/ Frankfurt 1977.

(25) Sutor, B., Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 1971.

(26) Grosser, D. (Hrsg.), Politischer Unterricht, Freiburg 1976.

(27) Achtenhagen, F., Didaktik des fremdsprachlichen Unterrichts, Weinheim/Berlin/Basel 1969, S. 16.

(28) Vgl. Schörken, R. (Hrsg.), Curriculum "Politik", Opladen 1974; vgl. H. Giesecke, Didaktik, S. 236 f.

(29) Liebknecht, W., am 5. 2.1872 in einer Festrede zum Stiftungsfest des Arbeiter-Bildungsvereins, Dresden, Unter dem Titel: Wissen ist Macht -Macht ist Wissen. Vgl. z. Kontext: Titze, H., Die Politisierung der Erziehung. Frankfurt 1973. S. 219 ff.

 

 
 

114. Überlegungen zur Konsensfähigkeit von Schulbüchern für den politischen Unterricht (1979)

(In: Neue Sammlung, H. 3/1979, S. 310-329)
 
 

Schulbücher sind im ganzen oder im Hinblick auf einzelne Passagen in den letzten Jahren des öfteren Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden; das gilt vor allem auch für Schulbücher zum politischen Unterricht. Der Verdacht, wenn schon nicht per Richtlinien, so doch zumindest über das Schulbuch wolle die eine politische Gruppe oder Partei ihre Überzeugungen auf Kosten anderer in der Schule durchsetzen, also andere indoktrinieren, wurde oft und schnell geäußert, zumal im Zusammenhang mit Wahlkämpfen. Dabei war man nicht immer zimperlich mit der Dokumentation und Beweisführung, kam es doch in erster Linie darauf an, den politischen Gegner ideologisch zu treffen (1).

Obwohl eigentlich jeder aus seiner Lebenserfahrung wissen müßte, wie wenig Chancen gerade Schule und Lehrer zur Indoktrination hätten, selbst wenn sie sie anstrebten (sogar die HJ mußte seinerzeit gegen oder zumindest weitgehend außerhalb der Schule indoktrinieren und weltanschaulich "verführen"), weil die entscheidenden Prägungen der politischen Einstellungen und Verhaltensweisen an ganz anderen Stellen der Sozialisation erfolgen (z. B. in der Familie, in der Peer-Group oder auch durch die Massenmedien), scheinen derartige Vorwürfe vom Topos "Verführung" auf tiefsitzende Ängste zu treffen, die einmal genauer untersucht zu werden verdienen. Ist es die Angst der Eltern - vor allem der Mütter - , ihr Kind mit anderen (Erziehern) "teilen" zu müssen? Oder ist es die Furcht vor sexuellem Mißbrauch des Kindes, die auch auf andere, z. B. intellektuelle "Verführungen" ausgedehnt wird? Oder ist es einfach die fehlende Informiertheit vieler Eltern, die sie den tatsächlichen Einfluß der Schule überschätzen läßt? Jedenfalls: Wenn wie in diesem Falle ein derartiger Widerspruch zwischen der tatsächlichen Gefährdung und dem Maß an politisch mobilisierbarer Angst davor besteht, dann sind genauere Nachforschungen angebracht.

Andererseits gibt es hier tatsächlich ein Problem, das keineswegs nur eingebildet ist, nämlich das Konsensproblem: Einerseits haben wir ein staatlich monopolisiertes Schulwesen, das jedes Kind bis zu einem gewissen Alter zur Teilnahme zwingt; andererseits gibt es - auf der gemeinsamen Basis der Normen des Grundgesetzes - eine legitime Pluralität von Interessen und Überzeugungen: Die Schule ist für Christen und Atheisten, für Konservative und Sozialisten, für

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Unternehmerkinder wie für Arbeiterkinder da. Wie also kann man die Schule und insbesondere natürlich den Unterricht so gestalten, daß jeder zu seinem Recht kommt, niemand intolerant wegen seiner Interessen und Überzeugungen behandelt wird?

Dieses Problem, dem ich an anderer Stelle nachgegangen bin (2), stellt sich natürlich auch für das Schulbuch, das im politischen Unterricht benutzt wird, zumal in der Klasse ja in der Regel nur ein Schulbuch zur Verfügung steht. Was wäre ein konsensfähiges Schulbuch, und an welchen Maßstäben ließe sich das messen?

Die folgenden Überlegungen entstanden im Zusammenhang mit dem Versuch, selbst ein Schulbuch zu verfassen (3) Allerdings muß gerade aufgrund der dabei entstandenen Erfahrungen (4)betont werden, daß das Konsensproblem nicht nur die Verfasser von Schulbüchern angeht, sondern auch diejenigen, die es für den Schulgebrauch zu genehmigen haben: die Kultusminister bzw. deren Gutachter; es gibt viele Möglichkeiten, gerade unter Inanspruchnahme der Norm "Konsens" ein Schulbuch abzulehnen:

a) Durch Hinweis auf die "einseitige" politische Position des Autors; die muß nicht unbedingt im Schulbuch nachgewiesen werden, sofern sie "überhaupt" als bekannt gilt.

b) Durch Hinweis auf die nicht völlige Übereinstimmung mit dem Lehrplan; ein solcher Einwand ist immer irgendwo zutreffend, weil Lehrpläne und Richtlinien additiv zusammengestellt sind, ein bloß additives Buch aber, das keinen inneren Zusammenhang zwischen den Kapiteln herzustellen versucht, ein miserables Buch wäre.

c) Durch Hinweis auf "falsche" oder "einseitige" Bewertungen ("Indoktrination!"); auch solche Einwände sind immer irgendwo "richtig", weil das Urteil "falsch"nur im Sinne von "sachlich unrichtig" oder "wissenschaftlich widerlegt" unbestreitbar wäre, aber bei Licht besehen hier oft nur die andere Beurteilung des Kritikers zum Ausdruck kommt.

d) Durch Hinweis auf pädagogische bzw. didaktische Mängel ("zu schwer für die Schüler"; "nicht anschaulich genug"). Auch ein solcher Einwand ist praktisch unwiderlegbar, weil er an nicht objektivierbaren bzw. ohnehin umstrittenen didaktischen Maximen orientiert ist und deshalb in der Regel auch nur wieder die andere Meinung des Beurteilers zum Ausdruck bringt.

Im Grunde sind das keine spezifischen Schwierigkeiten des Schulbuchs, sie gelten für jeden Versuch, ein Buch zu rezensieren; nur droht eben aus den üblichen Rezensionen kein Benutzungsverbot. In einem Falle hat ein Ministerium ein Schulbuch wegen "Verfassungswidrigkeit" abgelehnt; auf Rückfrage nach den Gründen dafür erklärte es, diese Rubrik sei irrtümlich (Tippfehler) angekreuzt worden.

Obwohl also das Konsensproblem nicht nur für die Verfasser von Schulbüchern

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gilt, könnte das allgemeine Unbehagen am Verfahren der Schulbuchzulassung vielleicht durch die folgenden Überlegungen versachlicht werden (5).
 
 

I Die Funktionen des Schulbuches im Unterricht

Es ist heute nicht mehr unumstritten, ob Schulbücher überhaupt noch eine Funktion im politischen Unterricht haben können. Das Schulbuch, so heißt es etwa, bringe zu viele Vorgaben; es enge den Spielraum für Lehrer und Schüler unzulässig ein, zumal in Sachen Politik kaum der nötige Konsens für einen Schulbuchtext zu erlangen sei; vielleicht sei es ratsamer, Lose-Blatt-Sammlungen von Unterrichtsentwürfen zu publizieren usw..

Diese Hinweise zeigen schon, daß die Funktion des Schulbuches offensichtlich abhängig ist von der Art des Unterrichts und von dessen Konzeption. Es gibt Vorstellungen von Unterricht, für die ein Buch entbehrlich oder gar hinderlich ist, und andere, wo es eine unentbehrliche Funktion hat.

Drei prinzipielle Modelle lassen sich in diesem Zusammenhang durchspielen:

a) Das Schulbuch enthält die vom Schulträger abgesegneten Wahrheiten und Erkenntnisse; dann ist es Aufgabe des Lehrers, diese auf die geeignete methodische (handwerkliche) Weise den Schülern beizubringen. Diese Funktion hat das Schulbuch etwa in der DDR, aber auch bei uns gibt es Tendenzen, die in diese Richtung weisen. (Normenbücher (6), die Tendenz, immer ausführlichere Lehrpläne zu machen; bei Schulbuchzulassungen eine vollständige Übereinstimmung mit dem Lehrplan zu fordern).

Die Erfahrungen zeigen, daß diese Erwartung nicht nur in den Kultusbürokratien verbreitet ist, sondern auch bei vielen Eltern. Dabei liegt auf der Hand, daß Schulbücher, nach diesen Vorstellungen konsequent realisiert, zumal im Fach Politik nur auf die eine oder andere Weise parteilich sein können, also immer schon den Keim von schulpolitischen Auseinandersetzungen in sich tragen. Problematisch ist auch die weitere in dieser Vorstellung enthaltene Implikation, daß nämlich der Inhalt des Schulbuches mit dem Inhalt des Unterrichts mehr oder weniger identisch sei. Tatsächlich ist es aber so, daß die Unterrichtskommunikation die inhaltliche Struktur des Schulbuches verändern muß. Sonst müßte der Unterricht ja so ablaufen, daß das Schulbuch gemeinsam gelesen wird und der Lehrer jeweils fragt, ob auch alles verstanden sei. Außerdem gibt es neben dem Buch eine Fülle anderer Unterrichtsmittel, die auch notwendigerweise zu einer anderen Struktur des Unterrichts führen (7).

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b) Das andere Extrem wäre die Vorstellung, daß es in der Schule gar nicht oder nicht in erster Linie um "objektive" Erkenntnisse gehe, sondern um die Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern, um ihren "Erfahrungsaustausch" und "Kenntnisaustausch". Wahrheit und Erkenntnis wären dann eine Funktion der Kommunikation und an nichts sonst zu messen. Ein Schulbuch wäre hier überflüssig, Schüler und Lehrer würden das Material, das sie benötigen, jeweils selbst suchen bzw. herstellen. Es hat den Anschein, als seien derartige Vorstellungen - wenn auch nicht so extrem - unter nicht wenigen Lehrern heute verbreitet.

c) Zwischen diesen beiden Extremen läge die Vorstellung, daß ein Schulbuch ein spezifisches Unterrichtsmittel ist, das im Vergleich zu anderen Unterrichtsmitteln besondere Chancen, aber auch Grenzen hat, also die anderen auch nicht ohne weiteres ersetzen kann. ln dieser Vorstellung enthält das Buch nicht die zu lehrenden Wahrheiten, sondern ist einerseits Mittel, andererseits aber auch selbst Gegenstand der kritischen Bearbeitung.

Um zu erläutern, was damit gemeint ist, ist vielleicht ein Blick auf die Funktion des Buches im wissenschaftlichen Lehrbetrieb nützlich, wie ja überhaupt pädagogische oder schulpädagogische Probleme ein Sonderfall allgemeiner Probleme sind.

1. Ohne Bücher (bzw. ohne Texte) ist keine wissenschaftliche Argumentation und keine Objektivierung wissenschaftlichen Denkens und Forschens möglich. Ohne Bücher gäbe es nur Subjektivität, Austausch von Meinungen, auf kurze oder lange Sicht die subkulturelle Ideologisierung der Wissenschaften. Die "Paper-Kultur" der letzten Jahre an den Hochschulen, wo kaum noch etwas gelesen wurde - allenfalls eine Summe von Zitaten - , was als von außen kommender Input die Kommunikationen hätte aus ihrer Beschränktheit auf die Unmittelbarkeit befreien können, hat dies hinlänglich bewiesen.

2. Nur in Form von Büchern (jedenfalls von schriftlichen Texten) können Sachzusammenhänge und Argumentationen hinreichend differenziert gedanklich geordnet werden. Die mündliche Rede in der Kommunikation ist da sehr viel begrenzter. Dies wiederum ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß Erkenntnisse lehrbar gemacht werden können. Dies gilt trotz der nicht immer unberechtigten Kritik am "Buchwissen" und am "Bücherstudium"; diese Kritik ist dann berechtigt, wenn das Buch die einzige oder überwiegende Wissensgrundlage ist und andere Erfahrungen - vor allem praktische - unterbewertet werden. Aber bei jeder Art von systematischer gedanklicher Arbeit sind Bücher bzw. Texte unersetzlich.

3. Bücher in der Wissenschaft sind keine Kompendien, die auswendig zu lernen wären, oder die selbst der Sinn und Zweck des Studiums wären. Die in ihnen enthaltenen Argumentationen und Erkenntnisse müssen zwar verstanden werden, aber die Bücher sind deshalb noch keine "heiligen Schriften", sondern Gegenstand der gemeinsamen Bearbeitung und unterliegen selbst also wieder den Regeln wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens.

4. Das wissenschaftliche Buch bestimmt auf eigentümliche Weise die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, es ermöglicht nämlich, daß alle an ihm und mit ihm lernen können und müssen - auch die Lehrenden. Ohne Buch gäbe es nur die Willkür des Stärkeren in der Lehr- und Lernkommunikation, die Kom-

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munikation selbst würde über kurz oder lang chaotisch - wofür es an den Hochschulen ebenfalls eine Fülle von Erfahrungen gibt. In gewisser Weise emanzipiert das Buch die Schüler von ihrem Lehrer, macht nachprüfbar und beurteilbar, was der Lehrer sagt und denkt. Das gilt nicht zuletzt auch für Prüfungen; Prüfungsgespräche, die nicht immer wieder an wissenschaftlicher Literatur festgemacht werden, werden willkürlich.

5. Das Buch ermöglicht die Akkumulation von Erkenntnissen, also Erkenntnisfortschritt. Dies gilt im historischen Sinne - als Geschichte der Wissenschaften und ihrer Erkenntnisse - und im biographischen Sinne - als Rückblick darauf, was man alles schon gelernt hat. Ohne Buch gäbe es nur die Addition von zeitlosen Unmittelbarkeiten, kein Früher und Später, kein Leichter und Schwerer, keine geistige Entwicklung, die sich ihrer selbst vergewissern könnte.

Es wäre schwer einzusehen, wenn diese Funktionen des wissenschaftlichen Buches nicht auch sinngemäß für das Schulbuch gelten sollten.

1. Ohne Schulbuch gibt es auch im politischen Unterricht keine Objektivierung, sondern nur punktuelle Vorhaben mit punktuellen Materialien; der Schulunterricht würde zu einer eigentümlichen geistigen Subkultur, die in sich selbst ruht und keine herausfordernden Ansprüche von außen mehr erhält.

2. Ohne Schulbuch kann das, was gelernt wird, kaum über die aktuelle Lernsituation hinausweisen. Der Unterricht von gestern kann mit dem von morgen nicht verbunden werden. Irgendwann muß sich die mündliche Kommunikation des Unterrichts festmachen lassen an den Erklärungen des Buches; man muß nachlesen und vorauslesen können, etwas wiederholen und in der Verdichtung des Textes noch einmal auf andere Weise verstehen können. Auch im politischen Unterricht gibt es ohne Buch keine langfristige systematische Arbeit.

3. Auch für das Schulbuch gilt, daß man seinen Inhalt verstehen muß, um weiter zu kommen, daß es aber auch andererseits Gegenstand der gemeinsamen kritischen Arbeit bleibt. Es wäre für das Lernen der Schüler sehr wichtig, daß der Lehrer dort, wo er es mit Gründen tun kann, das Schulbuch auch kritisiert, es durch andere Materialien ergänzt, Fehlendes bemerkt und bemängelt, kurz: vorführt, wie man kritisch mit einem Buch umgeht, ohne seinen Nutzen zurückzuweisen. Sicherlich könnten die Schüler gerade diese Erfahrung für den kritischen Umgang mit politisch-publizistischen Produkten verwenden. Auch ein Schulbuch ist keine "heilige Schrift", sondern auch nur der mehr oder weniger gelungene Versuch, Sachverhalte lehrbar zu machen und Möglichkeiten zur geistigen Arbeit anzubieten.

Warum eigentlich werden nicht auch politische Kontroversen um ein Schulbuch bzw. um eine Textstelle derart didaktisch-produktiv verwendet? Wenn man ein Buch deshalb verbietet oder nicht verwendet, so werden die Schüler im Grunde um eine wichtige Lernmöglichkeit betrogen. (Denkbar wäre doch: Eltern z. B. erheben Einwände gegen eine Textstelle; diese Einwände werden im Unterricht aufgenommen und bearbeitet, vielleicht mit dem Ergebnis, daß man versucht, die betreffende Stelle "besser" zu formulieren).

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4. Auch für die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern ist das Schulbuch wichtig, und möglicherweise liegen hier einige Vorbehalte von Lehrern gegen Schulbücher überhaupt. Ohne Schulbuch nämlich kann der Lehrer allein den Unterricht bestimmen, er sucht das Material aus, er bestimmt die Lernziele usw.

Liegt jedoch ein Schulbuch vor, so muß sich der Lehrer dazu gegenüber den Schülern in irgendeiner Weise verhalten: Er muß z. B. die Auswahl der Themen begründen, die Art und Weise der methodischen Organisation des Unterrichts und nicht zuletzt auch seine kritischen Einwände gegen das Schulbuch bzw. gegen die Darstellung der Sachverhalte im Schulbuch. Das Schulbuch versachlicht die Unterrichtsbeziehung zwischen Lehrern und Schülern, legt die Vorstellung nahe, daß Lehrer und Schüler an der gleichen Sache arbeiten.

5. Auch für den Schüler gibt es ohne Buch keinen Erkenntnisfortschritt, keine einsehbare Akkumulation von Wissen und Einsichten. Das Buch ermöglicht ihm, früher Gelerntes noch einmal nachzuschlagen, Neues mit bereits Gelerntem zu verbinden, früher Gelerntes noch einmal mit neuem Verständnis zu sehen usw. Mit einem Wort: Das Schulbuch ist nötig zur Sicherung der Kontinuität der geistigen Arbeit.

Allerdings gibt es auch Grenzen der Brauchbarkeit des Schulbuches im Unterricht. Dabei meine ich nicht die Fehler, die Lehrer im Umgang mit dem Buch begehen können, z. B. daß sie es Seite für Seite durcharbeiten und nicht flexibel genug sind, mit anderen Unterrichtsmitteln abzuwechseln, eine eigene thematische Reihenfolge zu finden usw. Ich meine hier vielmehr prinzipielle Grenzen. Es ist immer nützlich dort, wo es um systematische Zusammenhänge und Problementwicklungen geht, um die Kontinuität des Lernens sowie um die Präsentation von Anschauungsmaterialien oder Arbeitsmaterialien wie Dokumente, Graphiken, Bilder usw. Aber dafür kann es andere, nicht minder wichtige Funktionen nicht oder nur marginal wahrnehmen:

1. Ein Buch kann die unmittelbare Kommunikation nicht ersetzen, es kann sie ernsthaft nicht einmal präformieren; diese aber ist gerade im Unterricht von besonderer Wichtigkeit, denn nur in ihr kann etwas erklärt werden, bis es auch verstanden ist; können Lernprozesse in der Zeitfolge miteinander verknüpft werden; können individuelle Lernbarrieren erkannt und beseitigt werden; kann die Erfahrung der Schüler mobilisiert, zur Sprache gebracht und erweitert werden; kann die Motivation der Schüler - oft nur durch kleine, banale Hinweise - in Bewegung gesetzt werden. All dies kann ein Buch allein nicht.

2. Ein Buch kann man lesen, diskutieren und mit bestimmten Fragestellungen bearbeiten. Wollen die Schüler selbst etwas herstellen (Graphiken, Collagen, eigene Texte, eigene Recherchen usw.), so kann das Buch höchstens Anregungen dazu geben.

3. Ein Buch kann die Faszination und Betroffenheit, die von Filmen und Tonaufzeichnungen (z. B. Schulfunk) ausgehen kann, nicht annähernd erreichen.

4. Ein Buch kann nicht nach einer Sequenz vorgegebener Lernziele geschrieben werden. Texte, die Sachverhalte darstellen und erschließen wollen (also "Sachbücher" im weitesten Sinne des Wortes) haben ihre eigene Lernziel-Logik. Wenn

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also der Unterricht nach vorgegebenen Lernzielen organisiert sein soll, muß man das Buch daraufhin "um-komponieren" bzw. fragmentarisieren.

5. Jedes Buch, wie umfangreich es immer sein mag, begrenzt notwendigerweise die dargestellten Sachverhalte, d. h. es wird oft etwas fehlen, was man sich gerade wünscht bzw. was man gut brauchen würde. Schon aus diesem Grunde müssen Lehrer und Schüler immer wieder das Buch mit anderem Material ergänzen oder auch korrigieren. Wegen dieser notwendigen Begrenzung kann - wie schon gesagt - eine Übereinstimmung mit Lehrplänen bzw. Richtlinien immer nur annähernd erreicht werden.

6. Ein Buch kann nicht aktuell sein. Schon der zeitliche Prozeß seiner Herstellung macht dies unmöglich. Aktualität ist eine Aufgabe der schnell verbreitbaren Massenmedien wie Presse und Funk. Wer also auf die unter Umständen stark motivierenden aktuellen Konflikte und die sie repräsentierenden Materialien im Unterricht nicht verzichten will, muß sie immer wieder aus der Presse sammeln bzw. von den Schülern sammeln lassen. Das Schulbuch bietet aber dann die Möglichkeit, diese aktuellen Materialien mit den ihnen zugrunde liegenden Problemen kontinuierlich zu verknüpfen.
 
 

II Mögliche Lösungen des Konsensproblems

Angesichts der schon erwähnten falschen Erwartungen an ein Schulbuch - daß es nämlich möglich sei, das Konsensfähige in hinreichendem Umfang positiv zu formulieren - muß man davon ausgehen, daß Konsensfähigkeit nur negativ bestimmt werden kann: Erwartet werden kann nicht ein Buch, gegen das niemand einen Einwand zu erheben vermag, sondern nur ein solches, das den Konsens nicht verhindert, in dem sich vielmehr jede nach dem Grundgesetz zugelassene gesellschaftliche Teilgruppe wiederzuerkennen und mit dem sie ihre Interessen und Perspektiven zu entfalten vermag. Dies wiederum setzt voraus, daß sowohl das Schulbuch wie auch der Unterricht nicht auf solche Bewertungen der politischen Realität zielen (Lernziele), die nach den Maximen des Grundgesetzes offen bleiben dürfen. Ziel eines konsensfähigen politischen Unterrichts kann nur sein, die geeigneten Bedingungen der Möglichkeit dafür zu arrangieren, daß die Schüler ihre Fähigkeiten zum Verständnis der politischen Realität und ihre Urteilsfähigkeit entwickeln können.

So selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, sind solche Überlegungen keineswegs mehr. Sie reiben sich vielmehr mit der schon mehrmals angesprochenen Erwartung, daß der Schulunterricht dazu führen müsse, daß der Schüler hinterher etwas ganz Bestimmtes denkt und meint. Ein Beispiel dafür scheint mir der Beschluß der Kultusminister darüber zu sein, wie die deutsche Frage im Unterricht der Schulen zu behandeln sei (8).

Nun kann sicher kein Zweifel daran bestehen, daß ein solcher gemeinsamer Text

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einen bedeutsamen Quellenwert hat - einen ganz anderen als z. B. der Text eines einzelnen Politikers; er bringt wichtige Momente eines überparteilichen Konsenses zum Ausdruck, und diese Qualität des Textes hätte der Unterricht auch zu würdigen. Trotzdem muß auch für diesen Text gelten, daß er ein politischer ist, und daß er deshalb nicht die zum Thema gehörenden Lernziele zum Ausdruck bringen kann, sondern Gegenstand der unterrichtlichen Bearbeitung bleiben muß. Sollte dagegen mit diesem Text die Hoffnung verbunden sein, man könne bei diesem Thema - und damit ja prinzipiell auch bei allen anderen Themen - konsensfähige Unterrichtsergebnisse positiv vorformulieren, dann ist diese Hoffnung politisch trügerisch und didaktisch nicht haltbar. Angenommen nämlich, ein Schüler hätte sich die Meinungen, Normen und Urteile dieses Textes zu eigen gemacht: Wie soll er dann anderslautende Urteile aus der tagtäglichen Publizistik behandeln? Soll er sie am einmal gewonnenen Maßstab messen und verwerfen? Und mit welchen Gründen soll er das tun, oder braucht er dann nicht einmal mehr Gründe?

An einem solchen Beispiel wird noch einmal deutlich, daß das Problem des Konsenses in der Schule nicht positiv politisch lösbar ist, sondern nur didaktisch, d. h. nicht von den erwarteten Lerninhalten her, sondern nur von der Art und Weise des geistigen Umgangs mit politischen Realitäten und Positionen und vom "Stil" der Unterrichtskommunikation.

Diese Überlegung hat durchaus Tradition - und zwar eine eher konservative. Die geisteswissenschaftliche Bildungstheorie etwa wußte, daß politisch konsensfähig im Unterricht nur sein kann, was nicht unmittelbar in die Schule eindringt, sondern erst nach einer Umformung zum Zwecke der Bildung der Schüler; auf die Bedeutung des Kommunikationsstils - ganz unabhängig von den Inhalten - hat nach 1945 die Partnerschaftskonzeption und die sog. "Gruppenpädagogik" hingewiesen.

Prüft man nun nach, wie das Konsensproblem bisher im Schulbuch gelöst wurde, so kann man zwei Lösungstypen unterscheiden:
 
 

A

In der Weimarer Republik und auch nach 1945 beschränkte sich das Schulbuch im wesentlichen auf Information, z. B. auf Institutionenkunde, und auf die Vertretung politisch-sozialer "Tugenden" (9).

Diese Lösung hat jedoch bekanntlich erhebliche pädagogische Nachteile, sie macht das Buch wenig motivierend, präsentiert den Schülern zwar ein wichtiges Stück politischer Realität, aber so, daß diese als etwas Äußerliches und von den politischen Auseinandersetzungen Getrenntes empfunden werden muß; auch scheint sie, in dieser Form präsentiert, zu den Erfahrungen der Schüler, zu ihren Motiven und Bedürfnissen keine Beziehung zu haben. Zudem wird durch eine solche Gestaltung des Schulbuches das Konsensproblem nur auf den Lehrer ver-

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lagert; denn er muß das einbringen, was dem Schulbuch fehlt: motivierendes Material, Fragestellungen usw., was aber das Konsensproblem erneut aufwirft.
 
 

B

Eine andere Möglichkeit ist, auf systematische Texte überhaupt zu verzichten, dafür zu politischen Sachverhalten unterschiedliche Meinungspositionen vorzuführen, z.B. unterschiedliche parteipolitische Stellungnahmen, die der Schüler bearbeiten soll und zu denen er sich selbst ein Urteil bilden soll. Aber auch dieser Versuch hat seine Probleme.

Zunächst zeigt schon die Lebenserfahrung, daß Urteile sich nicht dadurch bilden, daß man jeweils aus offerierten Angeboten von Meinungen die eine oder andere auswählt. Vielmehr entstehen sie biographisch, im Kontext einer bestimmten Sozialisation, einer familiären Kommunikation und im Zusammenhang mit zahlreichen Erfahrungen.

Außerdem kann man schon aus didaktischen Gründen immer nur einige wenige Positionen präsentieren, keineswegs alle, aber die anderen hätten nicht minder ein Recht auf Präsentation. Insofern ist das Konsensproblem nur scheinbar gelöst. Es fällt auch letzten Endes wieder auf den Lehrer zurück, insofern er die systematische Erschließung des Materials selbst leisten muß, das dafür unvermeidliche Orientierungswissen nicht im Schulbuch findet, sondern selbst beisteuern muß - es sei denn, er verzichtet auf eine systematische Lehre und gibt sich zufrieden mit einem auf den jeweiligen Fall bezogenen Meinungsaustausch. Aber auch ein sachlicher Einwand liegt nahe: Welchen Quellenwert bzw. Aussagewert haben eigentlich heute derartige parteipolitische oder verbandspolitische Stellungnahmen? Sie enthalten ja nicht einfach Meinungen zu Sachverhalten oder Problemen, sondern sind auf komplexe öffentliche Reaktion hin kalkulierte Aussagen; sie führen insofern eher weg von der Wirklichkeit bzw. von den wirklichen Meinungen über sie, als daß sie sie erschließen. Didaktisch gesehen bedeutet dies eine zusätzliche Erschwerung für den Schüler, weil er, wenn er solche Äußerungen richtig verstehen will, erst einmal die Kalkuliertheit durchschauen muß, also das, was für den unersättlich gewordenen Informations-Markt pausenlos produziert wird und offenbar auch produziert werden muß, und was sich von wirklichen Meinungen und Intentionen längst gelöst hat. Nimmt die Schule solche Äußerungen für bare Münze, so verbaut sie nur den Zugang zur Wirklichkeit. Die wirklichen Kontroversen und Probleme kommen zum Beispiel nicht im Vergleich von Parteiprogrammen zum Ausdruck, und selbst bei Fernsehdiskussionen zwischen Politikern verschiedener Parteien fällt es schwer, die wirklich gemeinten politischen Unterschiede herauszufinden.

Nimmt man "griffigere" Texte, z. B. aus dem Boulevard-Journalismus, so stellt sich das Problem des Quellenwertes erneut: Wen oder was repräsentiert ein solcher Text eigentlich? Und warum und zu welchem Ziele sollte es sich überhaupt lohnen, sich mit ihm auseinanderzusetzen? (Die Frage nach dem Quellenwert sogenannter "motivierender" oder "erfahrungsbezogener" Materialien, d. h. nach der Qualität ihres Realitätsgehaltes, scheint kaum noch gestellt zu werden - auch

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nicht von den Zulassungsbehörden bzw. ihren Gutachtern. Was nutzt aber alle Motivation, wenn es sich hinterher nicht gelohnt hat?)

Gleichwohl stecken in beiden Konzeptionen wichtige Momente, die in einkonsensfähiges und pädagogisch brauchbares Schulbuch eingehen können:

Zu A: Konsensfähig könnte grundlegendes orientierendes Wissen sein, das sich im wesentlichen auf Information beschränkt.

Zu B: An der zweiten Konzeption scheint mir wichtig, daß sie den Akzent auf den Schüler legt, auf die Entwicklung seiner Fähigkeiten zum Denken, Urteilen und Handeln, die in Auseinandersetzung mit authentischen, mehrdeutigen bzw. kontroversen "Stücken" aus der politischen Realität erworben werden sollten. Konsensfähig könnte also sein, den Schüler zum Denken, Urteilen und Handeln zu qualifizieren, sofern dabei bestimmte Grundsätze wie Ausgewogenheit und Toleranz beachtet werden.

Mit diesen Überlegungen ist bereits gesagt, daß die Lösung unseres Problems, nämlich einerseits ein konsensfähiges, andererseits aber auch ein pädagogisch brauchbares Schulbuch zu erhalten, nur durch die Kombination mehrerer Aspekte erreichbar ist.

1. Zu jeder ernsthaften Beschäftigung mit komplexen politischen Problemen gehört ein gewisses Maß an Orientierungswissen. Dieses kann nur pragmatisch begrenzt und festgelegt werden. Der Begriff "Orientierungswissen" zeigt schon, daß es sich hier um ein Wissen handelt, das nicht das Endergebnis des Unterrichts sein kann; es ist eine Zwischenstufe, eine nötige Information, ein nötiger Vorstellungszusammenhang, der nicht ausreicht, der aber weiter hilft. Seine wichtigsten Funktionen sind:

a) Es baut einen Vorstellungszusammenhang auf, der nicht definit, sondern offen ist, und der die Bearbeitung des journalistischen Materials erleichtern soll.

b) Es erklärt wichtige Grundbegriffe, die man für die Arbeit mit solchen Materialien sowie darüber hinaus für das Verständnis der Publizistik braucht.

c) Es entlastet den Lehrer bei der Aufgabe zu informieren und spart damit Zeit für die Arbeit mit dem Material.

Allerdings: Es gibt kein völlig "wertfreies" Orientierungswissen, also auch keine "bloße" Information - es sei denn, man beschränkte sich auf die Mitteilung reiner zweifelsfreier Tatsachen. Gerade weil das Orientierungswisssen ja einen "sinnvollen" Vorstellungszusammenhang in Verbindung mit der bisherigen Erfahrung des Schülers aufbauen will, wertet es schon deshalb, weil es immer auch andere vernünftige Möglichkeiten dafür gäbe als die, die ein Autor wählt. Es kann also nur darum gehen, die Wertung in den Formulierungen so gering wie möglich zu halten, ohne daß der didaktische Zweck zerstört wird, daß man nämlich bei zumutbarer Mühe etwas auch verstehen kann. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil viele Zulassungsgutachter sich auf den didaktischen Sinn von Orientierungswissen erst gar nicht einlassen: sie nehmen es für das endgültige Lernergebnis und prüfen es politisch und im Hinblick auf sachliche Vollständig-

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keit. Zum Sinn und Zweck des Orientierungswissens gehört aber gerade, daß man nicht alles auf einmal zu erklären versucht, sondern eben nur soviel, wie zunächst nötig ist, damit die Beschäftigung mit einem Thema beginnen kann.

2. Das eben erwähnte Orientierungswissen ist kein Selbstzweck, es erhält seine Legitimation vielmehr durch seine Brauchbarkeit für die Bearbeitung grundlegender politischer Probleme. Damit versuche ich Überlegungen weiterzuführen, die im Rahmen des zweiten Schulbuchkonzeptes entwickelt wurden. Es gibt zweifellos eine Reihe von weltpolitischen und innenpolitischen Problemen, über deren Existenz man sich pragmatisch verständigen kann, die als Probleme konsensfähig sind ganz unabhängig von der unterschiedlichen Art ihrer Beurteilung oder Lösung, und die auch in Zukunft Bedeutung haben werden, soweit sich dies heute absehen läßt. Bei dem Katalog solcher Probleme kommt es nicht auf Vollständigkeit an, sondern auf den exemplarischen Umgang mit ihnen. ",Quelle" für derartige Probleme ist die politisch-publizistische Auseinandersetzung unserer Tage. Die damit verbundene erkenntnistheoretische Frage, inwieweit die publizistische Berichterstattung solche Probleme "objektiv" herausfiltert, muß hierbei grundsätzlich außer acht gelassen werden. Will man eine junge Generation überhaupt in eine problematische Realität einführen, so muß man unterstellen, daß jedenfalls die nicht gelenkte, demokratische Publizistik darüber hinreichend aufzuklären vermag. Das schließt eine Kritik dieser Publizistik natürlich nicht aus, sondern ein.

Mit solchen Problemen wird den Heranwachsenden die Dimension der politischen Zukunft eröffnet, sie enthalten gleichsam einen Aufgabenkatalog, den die jüngere Generation vorfindet, den sie sich nicht aussuchen kann, den sie in ihre künftige Verantwortung übernehmen muß mit dem Ziel, sie entweder zu lösen oder ihre Spannung in erträglichen Grenzen zu halten. Daß politische Verantwortung nur in der Dimension "Zukunft" überhaupt erfahrbar und realisierbar ist, war schon das Konzept Erich Wenigers, als er den Geschichtsunterricht zur Grundlage politischer Erziehung machen wollte (10). Die Heranwachsenden müßten wissen, woher ihr Volk kommt, um die Verantwortung für die Gestaltung ihrer und seiner Zukunft übernehmen zu können. Durch die Konzentration des politischen Unterrichts auf derartige Probleme könnte dieser sich von der Befangenheit in aktuelle Auseinandersetzungen befreien, ohne auf deren motivierende Impulse verzichten zu müssen.

Nun gibt es ein Problem nicht an und für sich, es muß als solches von jemandem definiert werden. Beispiel: Wenn die Frauenbewegung die überlieferte Rollenverteilung von Mann und Frau zum Problem definiert und wenn dies außerdem

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in der Öffentlichkeit auf eine gewisse Resonanz stößt, dann gibt es dieses Problem als ein öffentliches, und es ist dabei ganz gleichgültig, ob die anderen diese Problematisierung auch akzeptieren oder gar für Unsinn halten; denn ganz gleich, was sie selbst davon halten, sie werden gezwungen sein, sich mit den Problemdefinierern öffentlich bei geeigneter Gelegenheit auseinanderzusetzen.

Allerdings tragen diese Probleme und die in ihnen beschlossenen Lösungsmöglichkeiten ihre normative Grundlage nicht in sich selbst. Konsensfähig wäre die Konzentration des Unterrichts darauf nur dann, wenn die normativen Implikationen des Grundgesetzes dabei einbezogen würden.

Zu den sicherlich unstreitigen Aufgaben des politischen Unterrichts gehört das Verständnis und die Akzeptierung der normativen Grundlagen von Staat und Gesellschaft, wie sie etwa die Grundrechte und die anderen einschlägigen Teile des Grundgesetzes zum Ausdruck bringen. Dabei ist das Verständnis leichter lehr- und lernbar als die Akzeptierung. Vermutlich hat die Schule auf die Akzeptierung bzw. Internalisierung solcher Normen weniger Einfluß als außerschulische Sozialisations-Instanzen. Aber zumindest kann sie in ihrer Lehre den Sinn dieser Prinzipien für die Ordnung des gemeinsamen Lebens wie auch für die Entfaltung der individuellen Bedürfnisse deutlich machen. Didaktisch ergiebiger ist jedoch sicher, wenn solche Normen nicht "an und für sich" gelehrt werden, sondern im Kontext dessen, was strittig ist, also auch im Kontext der genannten Probleme.

Es stellt sich also die Frage, unter welchen Gesichtspunkten das diese Probleme darstellende Material eigentlich behandelt werden soll. Es geht um das Problem der politisch-didaktischen Kategorien.

Die seinerzeit von mir vorgeschlagenen Kategorien (11) (Macht, Recht, Interesse, Mitbestimmung, Ideologie, Geschichtlichkeit, Menschenwürde, Solidarität usw.) enthalten einerseits diese normativen Dimensionen, andererseits "eigenständige" Fragen an die politische Realität. Sie erscheinen mir deshalb konsensfähig, weil sie als Fragen bzw. als normative Leitgesichtspunkte für jedermann zugelassen sind. Zum Dissens muß dieses Konzept jedoch dann führen, wenn

a) entweder eine Fragestellung fehlt, die eine politische "Grundrichtung" für besonders wichtig hält; in diesem Falle ist das Problem aber rational diskutierbar und pragmatisch lösbar, da das didaktische Ziel ja nicht ist oder sein kann, irgendwelche Frageverbote zu erteilen.

b) Oder wenn im Unterricht immer nur einige Fragen gestellt werden, oder gar nur eine einzige, z. B. die nach der Macht bzw. Herrschaft. In diesem Falle handelt es sich um einen Unterricht, der seinerseits mit Frageverboten operiert.

Die Zahl solcher Kategorien ist wissenschaftlich unentscheidbar und nur pragmatisch zu vereinbaren.

Damit sind drei Elemente eines konsensfähigen Schulbuches, das zugleich ein pädagogisch brauchbares ist, genannt worden:

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1. Es müßte Übereinstimmung darüber zu erzielen sein, daß es im politischen Unterricht wesentlich darum geht, die heranwachsende Generation in grundlegende Probleme einzuführen, die sie in Zukunft voraussichtlich noch beschäftigen werden.

2. Es müßte ferner darüber Übereinstimmung zu erzielen sein, daß in die politische Realität, die jene Probleme hervorbringt, durch systematisches Orientierungswissen eingeführt werden muß.

3. Auch über die Kategorien, mit denen die Realität und ihre Probleme im Unterricht befragt werden sollen, müßte Übereinstimmung zu erzielen sein.

Allerdings: Für die Auswahl der Probleme, die Auswahl und systematische Gestaltung des Orientierungswissens, Art und Anzahl der Kategorien usw. kann es nur pragmatische Verständigung geben. Jeder Versuch, das hat die Erfahrung gezeigt, sei es mit wissenschaftlicher, sei es mit politischer Akribie perfekte Lösungen anzustreben, produziert gerade die Probleme, die dadurch eigentlich gelöst werden sollen.
 
 

III Die didaktische Prämisse: Vermittlung von subjektiver und objektiver Realität
Die bisherigen Überlegungen haben stillschweigend einige Voraussetzungen didaktischer Art enthalten, die nun noch aufgedeckt werden müssen. Schließlich gibt es viele Unterrichtskonzepte, die konsensfähig sein können, aber von welcher didaktischen Grundkonstellation muß man ausgehen, wenn der Unterricht wirklich den Heranwachsenden "offene" politische Realität vermitteln soll?

1. Offensichtlich muß der Unterricht ein Spannungsverhältnis aufbauen, aufrecht erhalten und produktiv machen: Die Spannung zwischen der subjektiven Unmittelbarkeit der Schüler, ihrer jeweiligen biographisch und umweltbedingten Interessen- und Bedürfnislage einerseits, und den Ansprüchen der - daran gemessen - "objektiven" politischen Realität andererseits. Von "objektiv" ist hier lediglich im Gegensatz zu "subjektiv" die Rede, objektiv ist die politische Realität insofern, als sie unabhängig von den subjektiven Bestrebungen existiert und ihre Ansprüche anmeldet, ja, jenen Bestrebungen gegenüber zunächst einmal gleichgültig ist. Die Institution Bundeswehr z. B. existiert nicht deshalb, weil sie aus den subjektiv-unmittelbaren Bestrebungen so und so vieler einzelner immer wieder neu entsteht, sondern sie ist umgekehrt gleichgültig gegenüber den Bestrebungen der einzelnen, diese Gleichgültigkeit gehört geradezu mit zur Definition einer Institution. Gelingt es nun dem politischen Unterricht nicht, diese Realität - als eine zwar prinzipiell änderbare, aber zunächst einmal zu verstehende - zur Geltung zu bringen, dann kann es ihm auch nicht gelingen, den Schülern zu ermöglichen, ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse und schließlich ihre Identität herauszuarbeiten. Ein Unterricht also, der - wie eine Reihe von reformpädagogischen Konzepten der letzten Zeit nahelegen - im wesentlichen

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in der unmittelbaren Kommunikation verbleibt oder in isolierten, punktuellen Vorhaben, und der die dabei ausgetauschten Meinungen und Überlegungen nicht auf die außerschulische Realität hin zu transzendieren vermag, verhindert in eben diesem Maße die Herausbildung von politischem Selbstbewußtsein und schließlich von Identität.

Die Geschichte der Didaktik kennt immer wieder "Modeströmungen", die den Akzent der didaktisch-methodischen Anstrengungen entweder mehr auf die objektive oder mehr auf die subjektive Seite legen. In der letzten Zeit scheint wieder die subjektive Seite favorisiert zu werden. Aber ein "erfahrungsorientierter" oder "schülerzentrierter" Unterricht nützt wenig, wenn er nicht auch das präsentiert, was dieser bereits vorhandenen Erfahrung fremd ist, ihr Widerstand leistet, ihr neue Gesichtspunkte nahelegt. Sonst bekommt die Erfahrung kein "Futter", kann sich nicht selbst begreifen und weiter entfalten, und im Extremfall erscheint die außer-subjektive (politische) Realität dann als die bloße Verlängerung der jeweiligen individuellen Lust- oder Unlustgefühle.

2. Andererseits müssen jedoch die Erfahrungen, Interessen und Bedürfnisse der Schüler ernst genommen werden, weil nur dann Lernen als Aneignung von Einsichten und Erkenntnissen im biographischen Prozeß, als Veränderung bisheriger Meinungen und Einstellungen, Urteile und so weiter möglich ist und entsprechende Motive haben kann. Ein wichtiges Kriterium dafür ist die Schülerfrage - sowohl die, die tatsächlich gestellt wird, wie auch die, die eigentlich gestellt werden könnte, aber aus irgendwelchen Gründen nicht gestellt wird. Solche Fragen erwachsen immer aus bisherigen Urteilen, Erfahrungen, Meinungen usw., selbst die aus scheinbarer Neugier an der Sache gestellte Frage hat einen solchen biographischen Hintergrund, geht auf Vorausgegangenes zurück.

Deshalb ist von großer Bedeutung, alle Fragen zuzulassen, weil es wegen ihres biographischen Hintergrundes keine "dummen" Fragen geben kann, sondern höchstens solche, die man nicht bündig beantworten kann. Wenn man also die Motivation der Schüler nicht behindern will, muß sich ihre bisherige Erfahrung uneingeschränkt in Fragen äußern dürfen bzw. in Meinungen, die in Fragen zurückverwandelt werden können. Das gilt auch im Hinblick auf faktische "Frageverbote", die aus der Planung des Unterrichts selbst erwachsen; denn je nach der Rigidität der Planung - die ja in der Ausbildung oft geradezu als Qualitätsmerkmal für den Unterricht gilt - sind natürlich solche Fragen, die nicht ins Konzept passen, "störend". Die Art und Weise, wie der Unterricht mit den Fragen der Schüler umgeht, ist ein wichtiges Kriterium für seine Konsensfähigkeit. Es wäre auch für die öffentliche, politische Diskussion viel gewonnen, wenn man aufhören würde, das Konsensproblem an der politischen Gesinnung des Lehrers festzumachen, als vielmehr an der Art und Weise, wie er tatsächlich im Unterricht mit den Fragen der Schüler, und das heißt immer: mit ihrer Herkunft und mit ihrer Zukunft, umgeht. Wenn z. B. von einem Schulbuch erwartet wird, es dürfe keine Fragen aufwerfen, die es nicht an irgendeiner Stelle selbst beantwortet, dann kommt darin ein falsches Verständnis von politischer Realität zum Ausdruck; denn die Politik hat es mit vielen solcher Fragen zu tun, die man

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nicht recht beantworten kann, die man auch nicht befriedigend lösen kann, deren Unklärbarkeit man aber gleichwohl in einer vernünftigen politischen Ordnung aushalten muß.

Die Schülerfragen - bzw. deren Rückseite: ihre Meinungen - zielen jedoch keineswegs nur auf die Zukunft, sondern auch auf die Gegenwart. Je nach dem Gegenstand, dem die Frage sich zuwendet, überwiegt die eine oder andere Zeitdimension. In den Problemen, die ein Schulbuch in erster Linie darstellen soll, sind beide Dimensionen miteinander verbunden: Die Probleme bestehen schon heute und sind aller Voraussicht nach auch in Zukunft bedeutsam. Allerdings haben sie aller Wahrscheinlichkeit nach - obwohl man dies im Einzelfall nie genau wissen kann - einen unterschiedlichen Identifikationswert für die Schüler; in der Regel dürften Probleme der Außenpolitik oder Staatsstruktur zumindest auf Anhieb weniger Identifikationswert haben als etwa solche der Berufsbildung oder der Freizeit. Das kann sich aber auch ändern, wenn man z. B. in außenpolitischen Konflikten fundamentale Erfahrungen des eigenen Lebens wiedererkennt.

Jedenfalls scheint mir dieser Zusammenhang von Erfahrung, Frage, Realität, Gegenwart und Zukunft didaktisch wichtig zu sein: Die Frage (bzw. Meinung) erwächst aus der bisherigen Erfahrung des Schülers, er kann diese überhaupt nur so artikulieren; sie würde jedoch ins Leere laufen, wenn sie nicht auf Realität träfe; die Probleme sind ein Stück der Realität, das einerseits Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet, andererseits aber auch zur Distanz von der subjektiven Unmittelbarkeit zwingt. Die Frage- und Meinungsfreiheit des Schülers begründet sich also gerade im politischen Unterricht nicht nur vom Grundgesetz her - insofern dessen Maximen natürlich auch für Schüler gelten - , sondern auch vom didaktischen Konzept her, dann jedenfalls, wenn der Unterricht die Erfahrung des Schülers ernstnimmt und auf diese zurückwirken will. Diese Frage- und Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Kernstück eines konsensfähigen politischen Unterrichts, und sie wird weniger durch die politische Gesinnung oder Parteinahme des Lehrers gefährdet als vielmehr durch eine besinnungslose, rigide, "wissenschaftliche" Planung und Konstruktion des Unterrichts, in der der Schüler nur Lern- Objekt sein kann (12).

Zwischen derartigen Vorstellungen über Unterricht und den Erwartungen beispielsweise der Zulassungsinstanzen an ein politisch wie pädagogisch "perfektes" Schulbuch besteht ein innerer Zusammenhang.

Im Grunde hat es der politische Unterricht viel leichter als andere Fächer, weil er an fundamentale Erfahrungen der Schüler anknüpfen, diese ordnen und ins Bewußtsein heben und für das Verständnis komplexer politischer Zusammenhänge nutzbar machen kann. Ein außenpolitischer Konflikt z. B. ist verständlich für jeden Menschen, der überhaupt Feindschaft, Rivalität, Angst usw. persönlich

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erfahren hat, aber er hat als politischer natürlich auch eine andere Qualität (andere Ursachen, Folgen usw.) als ein persönlicher Konflikt.

3. Wenn dieser Ansatz - Vermittlung von objektiver und subiektiver Realität - als vernünftig erscheint, dann muß im politischen Unterricht auch etwas gelehrt werden. Dies scheint in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten zu sein (13). Aber das, was ich bisher objektive (im Unterschied zur subjektiven) Realität genannt habe, nämlich die normativen Prinzipien, die institutionelle Differenzierung, die zukunftsorientierten politischen Probleme sowie die vorhandenen Möglichkeiten und Ausdrucksformen der politisch-publizistischen Informationen, erschließt sich nicht induktiv aus der Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern, darauf kann der Schüler nicht oder allenfalls nur teilweise von selbst kommen.

Es gibt auch keinen befriedigenden Weg vom Einzelfall (Konfliktfall) zum Prinzipiellen, weil der Einzelfall immer mehrere prinzipielle Dimensionen hat; insofern können Einzelfälle immer nur zur selektiven Veranschaulichung prinzipieller Zusammenhänge benutzt werden, sie sind aber nicht deren logische Elementarfigur. Beispiel: Man kann - wie es in der Nationalökonomie geschieht - den Haushalt als das Grundmodell aller wirtschaftlichen Tätigkeit ansehen, die konkreten Haushalte (der Familie, des Betriebes, des Staates) sind dann nur mehr oder weniger komplexe Variationen des Grundmodells. Aber auf die Entdeckung dieses Verständnismodells kann der Schüler nicht selbst kommen, man entdeckt es nämlich nur, wenn man soviel von Nationalökonomie versteht, daß man diese Kenntnisse auf die Grundprinzipien hin transzendieren kann. Dann wird der komplexe Gegenstand im prinzipiellen Modell lehrbar. Aber ein solches Modell muß der Lehrer (oder das Schulbuch) einführen. Nimmt man aber nun einen konkreten Fall (z. B. irgendeinen Haushaltskonflikt in der Familie), dann geht es ja sofort nicht nur um das prinzipielle Modell des Haushaltes, sondern z. B. auch um das Abwägen und Entscheiden unterschiedlicher Bedürfnisse, also um prinzipielle Dimensionen ganz anderer Art und Wertung. Wird dies übersehen, dann kann der politische Unterricht zwar eine Sequenz von an und für sich interessanten und vielleicht sogar sehr motivierenden Fall-Projekten anbieten, die aber dann auch in ihrer Summe keinen wirklichen Fortschritt an Verständnis und Einsicht bieten; denn nur das, was prinzipiell verstanden wurde, ist auch produktiv übertragbar auf neue Situationen und Probleme.

4. Diese Einsicht ist jedoch nur dann didaktisch zu realisieren, wenn man einen gewissen Abstraktionsgrad hinnimmt, unterhalb dessen grundlegende Modelle nicht formulierbar wären. Damit ist aber sofort die Frage verbunden, ob ein

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solcher Abstraktionsgrad nicht zumindest jüngere Schüler, etwa der Sekundarstufe I, überfordern muß. Muß man diese Frage bejahen, dann bedeutet das, daß es dem politischen Unterricht grundsätzlich nicht möglich sein kann, grundlegende Kenntnisse der politischen Welt zu vermitteln, denn unterhalb eines wenigstens minimalen Abstraktionsgrades kann es keine allgemeinen Einsichten und Vorstellungen geben, sondern immer nur mehr oder weniger kurzatmige, additive, besondere Teilgesichtspunkte.

Der Vorwurf, zu abstrakt und unanschaulich zu sein, wird Schulbüchern gegenüber leicht erhoben. Er kann selbstverständlich von Fall zu Fall auch richtig sein, aber er spiegelt doch auch eine allgemein verbreitete Modeansicht wider, die den Zugang zu differenzierenden Überlegungen leicht verbauen kann.

Man könnte darauf verweisen, daß selbst Eduard Spranger - ein Vertreter der "volkstümlichen Bildung" - in seinen didaktischen Überlegungen für die Volks- bzw. Berufsschule durchaus auf abstrakte, d. h. prinzipielle Einsichten zielte (14). Jeder Versuch der Elementarisierung von Sachverhalten ist schließlich ein Verfahren des Abstrahierens, der Versuch, in der Fülle der Details und Erscheinungen das Wesentliche, das Prinzipielle zu entdecken. Wenn ich recht sehe, sind solche Bemühungen, nämlich die didaktische Reflexion als eine der Sache selbst innewohnende Möglichkeit des Denkens zu verstehen, als eine spezifische Form des "Philosophierens", heute ziemlich in Vergessenheit geraten; durchgesetzt haben sich technische Denkmodelle von der Art der Zweck-Mittel-Relation.

Wenn aber z. B. Spranger immer wieder großes Gewicht auf die Prinzipien der Veranschaulichung, der Berücksichtigung der Erfahrung der Schüler und ihrer Lebenswelt legte, so war ihm dies kein Selbstzweck, etwa bloße Unterrichtstechnik, sondern grundlegend verbunden mit den auf die Sache zielenden Reflexionen selbst. Aber das Ernstnehmen der Erfahrung durch Veranschaulichung hatte nur Sinn, wenn es zugleich auf Allgemeines, auf Prinzipielles gerichtet war. Nimmt man diese Überlegungen noch einmal wieder auf, so muß man sich fragen, ob es nicht gerade die Funktion des Schulbuches ist, solche prinzipiellen Zusammenhänge darzustellen.

Zudem zeigt schon die Lebenserfahrung, daß die weitverbreitete Ansicht, der Wissenschaftler denke abstrakt, während das Schulkind konkret denke, zumindest sehr fragwürdig ist. Schon Hegel wußte, daß es gerade der "einfache Mann", also der philosophisch ungeschulte, ist, der abstrakt denkt. "Stammtisch-Gespräche" über Politik z. B. bewegen sich in der Regel - so konkret ihr Gegenstand auf den ersten Blick erscheinen mag - auf einem hohen Abstraktionsniveau mit hohem Verallgemeinerungsgrad. Es ist etwa die Rede von "der" Politik, von "den" Politikern, von "den" Russen, "den" Funktionären usw. Wären dies wissenschaftlich abgesicherte Verallgemeinerungen, so hätten Stammtischgespräche einen sehr hohen Erkenntniswert; aber gerade das wissenschaftlich geschulte Be-

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wußtsein würde diese allgemein abstrakten Verallgemeinerungen nicht akzeptieren, würde differenzieren und konkretisieren.

Auch Schüler haben von sich aus durchweg abstrakte, d. h. sehr allgemeine Urteile. Vermutlich äußert sich in den alltagssprachlichen Abstraktionen das Bedürfnis, die ganze Welt sich zu erklären, keinen unerklärten Rest dabei zurückzulassen.

Das Problem kann also offensichtlich nicht die relative Abstraktheit prinzipieller politischer Verständnismodelle sein, sondern die Vermittlung der neuen Abstraktionen mit den alten, die der Schüler immer schon denkt; diese Vermittlung ist nur möglich durch Veranschaulichung, durch Beispiele, überhaupt durch Ansprechen der Lebenserfahrung und durch ihre Neuordnung. Dies aber kann in einem Schulbuch nur bis zu einem gewissen Grade geleistet werden, denn das Buch verfügt nicht über die vielfältigen Möglichkeiten der unmittelbaren Kommunikation in der Schulklasse. Dort nämlich kann etwas veranschaulicht werden, unter Umständen durch kleine Hinweise auf gemeinsame Erlebnisse, auf etwas, was vorher "dran" war, auf einen Film, der gerade in den Kinos läuft, auf ein Ereignis, das die Gemüter bewegt, auf einen Konflikt in der Klasse usw. Daran gemessen sind die Möglichkeiten des Schulbuches, etwas zu veranschaulichen, durch den Charakter seines Mediums begrenzt. Manche Schulbücher für den politischen Unterricht überschreiten in ihrem Bemühen, zu veranschaulichen, die Grenzen dieses Mediums. Das Ergebnis ist eine Fülle von Einzelheiten, von an und für sich interessanten Aspekten und Materialien, aber ohne erkennbaren systematischen Zusammenhang, ohne prinzipielle Einsichten, die der Mühe des Lernens wert wären. Das Anschauliche ist nicht selbst das, was veranschaulicht werden soll.

Diese Überlegungen sollten noch einmal deutlich machen, daß die Frage nach den Kriterien für ein konsensfähiges Schulbuch für den politischen Unterricht nicht nur seine politischen Inhalte betreffen kann, sondern auch auf seine pädagogisch-didaktische Qualität zielen muß. Zwischen diesen beiden Dimensionen aber besteht notwendigerweise eine Spannung, die ausbalanciert werden muß und die das Konsensproblem überhaupt erst so prekär werden läßt. Ein Schulbuch und ein politischer Unterricht könnten nämlich allein deshalb politisch konsensfäbig sein, weil sie pädagogisch langweilig und unergiebig sind und damit das Kind um wichtige Lernchancen betrügen. An den öffentlichen Auseinandersetzungen um das Konsensproblem - etwa angesichts neuer Richtlinien - läßt sich zeigen, daß sie die pädagogisch-didaktische Problematik kaum zum Thema gemacht haben. Sogenannte "pädagogische" Begründungen wurden - und zwar auf beiden Seiten - in der Regel den politischen nur nachgeschoben, dienten diesen zur ideologischen Verstärkung. Es wäre sicher nützlich, in diesem Punkte wieder stärker von der Position des Kindes her zu denken: von seinen Bedürfnissen und Problemen, aber auch von seiner Vergangenheit und Zukunft her, wo es ja nicht zuletzt auch um die Meisterung von Ansprüchen der außersubjektiven Realität ging und geht. Sonst droht die pädagogische Vernunft sich auf die Dauer politisch zu halbieren.

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IV Zulassungskriterien für ein konsensfähiges Schulbuch

Unsere Überlegungen sollen schließen mit dem Versuch, einige Kriterien vorzuschlagen, die unter dem Anspruch der Konsensfähigkeit bei der Zulassung von Schulbüchern angewendet werden sollten. Dabei bin ich mir klar darüber, daß Argumentationen dieser Art die Machtverhältnisse nicht außer Kraft setzen können, die die gegenwärtige Praxis bestimmen. Zu verführerisch ist die Chance für die Administration, mit dem Mittel der Schulbuchzulassung ihre Lehrer zu disziplinieren; denn dies ist der eigentliche Sinn der Sache, nicht etwa, den Schüler zu schützen. Der Schüler ist nur eine der Legitimationsgrundlagen. Wäre dies anders, so wäre ja nicht einzusehen, warum nicht zumindest in einem großzügig gewährten Spielraum die Lehrer selbst (bzw. das Kollegium) die Entscheidung treffen sollten, die ihnen irgendwelche Gutachter abnehmen. Und was den Schüler angeht, so steht ihm außerhalb der Schule jedes "unerwünschte" Urteil und Vorurteil in den Massenmedien zur beliebigen Verfügung.

Allerdings muß man die Administration auch in Schutz nehmen: Solange sie nicht politisch unter Druck gesetzt wurde, konnte sie Zulassungen großzügiger und liberaler handhaben. Die Politisierung des Schulehaltens - und dies ist etwas anderes, als die traditionelle Schul- und Bildungspolitik! - zwingt die Kulturpolitiker zu öffentlichen Rechtfertigungen und läßt sie den Druck an die Administration weitergeben, die ihrerseits zu rigidem Verhalten gezwungen wird. Eine liberale Verwaltung kann es nur geben, wenn sie vor unmittelbaren politischen Einflußnahmen geschützt wird.

Andererseits droht die Gefahr für eine liberale Schulbuchzulassung auch von Bemühungen, "wissenschaftliche" Kriterien für die Beurteilung und Analyse von Schulbüchern zu entwickeln, die mit ihrem notwendigen Drang zu Vollständigkeit und Perfektionismus auch neue technokratische Repressionsmöglichkeiten eröffnen. Hier muß deutlich unterschieden werden zwischen Kriterien der Schulbuchforschung und denen der Zulassung.

Geht man nun davon aus, daß unter dem Anspruch der Konsensfähigkeit der Spielraum für die selbständige Entscheidung der "Basis" so groß wie möglich sein muß, dann müßte bei der Zulassung folgendes geprüft werden:

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1. Bewegt sich der Text des Autors im Rahmen des nach der Verfassung Zulässigen?

2. Behandelt und vertritt das Schulbuch die grundlegenden Normen des Grundgesetzes und ermöglicht es das Nachdenken über deren bestmögliche Realisierung?

3. Erfüllt das Schulbuch den Grundsatz der Toleranz, d. h. des ernstnehmenden Respekts vor anderen, im Rahmen des Grundgesetzes zulässigen Positionen, Meinungen, Urteilen und Weltanschauungen? Wird dieser Grundsatz auch im Hinblick auf andere Staaten und Völker vertreten?

4. Enthalten die abgedruckten authentischen Materialien einzeln oder in ihrer zu einem Thema gehörenden Kombination Problemstellungen, die das Denken in mehreren Positionen bzw. Perspektiven nicht nur zulassen, sondern auch nahelegen, so daß sich keine politische Gruppe von vornherein ausgeschlossen oder gar "ausgebürgert" erleben muß?

Unter dem Gesichtspunkt der Konsensfähigkeit scheinen mir diese Kriterien ausreichend zu sein. Natürlich müssen auch solche hinzukommen, die mit dem Zweck des Schulbuches zu tun haben. Jedoch müssen diese Maßstäbe sehr vorsichtig, eher defensiv gehandhabt werden, und vor allem dürfen sie nicht mit den eben genannten vermischt werden oder gar an deren Stelle treten.

5. Selbstverständlich müssen die im Lehrplan vorgesehenen Stoffe "hinreichend" auch im Schulbuch dargestellt sein. Unter "hinreichend" wäre zu verstehen: Ist es dem Lehrer ohne unzumutbare Belastung möglich, das Fehlende aus anderen Unterrichtsmitteln bzw Unterlagen zu ergänzen? Wird "Lehrplangemäßheit" zu rigide ausgelegt, so droht eine Verarmung der methodischen und medialen Möglichkeiten des Unterrichts, die methodische Fantasie des Lehrers wird dann gleichsam administrativ verboten

6. Besonders problematisch sind sogenannte "pädagogische" bzw. "didaktische" Kriterien bei der Zulassung Es gibt heute eine ganze Reihe teils sich ergänzender, teils sich ausschließender didaktischer Konzeptionen und Annahmen, aber es gibt kaum noch eine argumentativ begründbare Möglichkeit, diese nach "gesichert" oder "fortschritlich" zu sortieren. Was einer Altersstufe gemäß ist; was motivieren kann; was anschaulich ist; was zu selbständigem Denken anregt, usw.: über diese Fragen gibt es wenig gesicherte Erkenntnisse, dafür jedoch einen zunehmenden didaktischen Dogmatismus. Man muß darauf achten, daß dieser Dogmatismus sich nicht zum Maßstab für die Zulassung macht, hier muß vielmehr ein Wettbewerbsangebot zugelassen werden, in dem letzten Endes nur die Lehrer eine Entscheidung treffen können. Zu fordern wäre lediglich, daß die Schulbuchkomposition eine Reihe von Unterrichtskommunikationen (Methoden) zuläßt und nahelegt (z. B. Frontalunterricht; Gruppenarbeit; Einzelarbeit usw.).

7. Enthält das Schulbuch unrichtige Behauptungen? Dies kann nur für Tatsachen-Behauptungen gelten. Von Interpretationen des Schulbuchautors darf nur erwartet werden, daß sie mit der gebotenen Zurückhaltung erfolgen und in der Art und Weise der Formulierung auch die Wahl anderer Interpretationen zulassen.

Diese Vorschläge, die gewiß nicht das "letzte Wort" in dieser Sache sein können enthalten die Hoffnung, daß in Zukunft wieder deutlicher zwischen der politischen Kompetenz, die einen "Spielraum" zu definieren hat, und der pädagagisch-professionellen Kompetenz unterschieden wird, die diesen Spielraum nach professionellen Maßstäben auszufüllen hat. Voraussetzung dafür aber wäre unter anderem, daß die pädagogische Profession auch wieder deutlicher zwischen politischer und professioneller Kompetenz unterscheidet.

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Anmerkungen:

(1) Rekonstruktionen solcher Schulbuchkampagnen und einschlägige Erfahrungen von Schulbuch-Autoren enthält: G. Stein (Hrsg.): Schulbuchschelte als Politikum und Herausforderung wissenschaftlicher Schulbucharbeit. Stuttgart 1979.

(2) Vgl. H. Giesecke: Die Schule als pluralistische Dienstleistung und das Konsensproblem in der politischen Bildung. In: S. Schiele/H. Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S. 56 ff.

(3) Vgl. H. Giesecke: Einführung in die Politik. Stuttgart 1976.

(4) Daß diese Erfahrungen durchaus verallgemeinert werden können, zeigen die Berichte der Autoren in: Stein, a. a. O.

(5) Zum Problem der Schulbuchzulassung und der Funktion des Schulbuches im Unterricht: B. Claussen: Das Schulbuch als Arbeitsmittel im Politikunterricht. In: Lehrmittel aktuell, H. 4/1977, S. 20ff.; W. Müller: Schulbuchzulassung. Kastellaun 1977; H. E. Schallenberger (Hrsg.): Das Schulbuch - Produkt und Faktor gesellschaftlicher Prozesse. Ratingen 1973; J. Hambrink: Zur Legitimation des ministeriellen Genehmigungsverfahrens für Schulbücher. In: S. Jenkner/G. Stein (Hrsg.): Zur Legitimationsproblematik bildungspolitischer Entscheidungen. Saarbrücken 1972, S. 135 ff.; G. Stein, a. a. O.

(6) Vgl. A. Flitner/D. Lenzen (Hrsg.): Abitur-Normen gefährden die Schule. München 1977, darin: H. Giesecke: Zur Kritik am Normenbuch Gemeinschaftskunde, S. 115 ff.

(7) Insofern ist die übliche Forderung der Kultusbürokratie, das Schulbuch müsse mit dem Lehrplan übereinstimmen, nur teilweise berechtigt. Aus der Lehrplankompetenz kann die Erwartung abgeleitet werden, daß der Unterricht im ganzen, nicht jedoch ein einzelnes Unterrichtsmittel mit dem Lehrplan übereinstimmen müsse.

(8) Abgedruckt in der Frankfurter Rundschau v. 1.12. 78.

(9) Dieser Schulbuchtyp war vor allem Gegenstand der ersten systematischen Schulbuchkritik von V. Nitschke: Zur Wirksamkeit politischer Bildung, Teil II: Schulbuchanalyse. Frankfurt 1966.

(10) Vgl. E. Weniger: Neue Wege im Geschichtsunterricht. 3. Aufl. Frankfurt 1965; dazu: H. Blankertz/D. Hoffmann: Geschichtsunterricht und politische Bildung. In: I. Dahmer/W. Klafki (Hrsg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche - Erich Weniger. Weinheim o. J., S. 175 ff.; H. Giesecke: Skizzen zu einer politisch begründeten historischen Didaktik. In: R. Schörken (Hrsg.): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht.Stuttgart 1978, S. 148 ff.

(11) Vgl. H. Giesecke: Didaktik der politischen Bildung, Neue Ausgabe. 10. Aufl., München 1976.

(12) Eine zu rigide Unterrichtsplanung kann sich auf die stofflich-inhaltliche Seite - wie wohl eher im Gymnasium - wie auch auf die kommunikativ-manipulative Seite erstrecken - wie wohl eher in der Hauptschule.

(13) Die Scheu, den politischen Unterricht in diesem Punkte wie ein "normales" Schulfach zu behandeln, läßt sich leicht durch Schulbuchvergleiche etwa zwischen den Fächern Politik und Erdkunde bzw. Geschichte nachweisen - von naturwissenschaftlichen Schulbüchern ganz zu schweigen. Ursache dafür sind sicher einerseits das hier behandelte Konsensproblem, andererseits aber wohl auch gewisse ideologische bzw. reformpädagogische Erwartungen gerade an dieses Fach.

(14) Vgl. E. Spranger: Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung. Bonn 1957.


 
 

115. Lob des Zwischenhandels (1979)

Überlegungen zum Verhältnis von Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis

(In: Neue Sammlung, H. 5/1979, S. 489-501)
 
 

Vorbemerkungen:

1. Ich verzichte darauf, meine Überlegungen gegenüber denen anderer Kollegen abzugrenzen. Wissenschaftliche Positionen sind dialogische, die sich in der wissenschaftlichen Kommunikation ständig modifizieren. Es kann hier nicht um Abgrenzungen gehen, sondern um die Diskussion von Grenze und Reichweite (wissenschafts-)theoretischer Ansätze

2. Mir liegt daran, mein Unbehagen an der Entwicklung der Erziehungswissenschaft in den letzten zehn Jahren zu artikulieren und aus dieser Kritik heraus meine eigenen Überlegungen zu einigen Fragen zu formulieren. Dieses Unbehagen richtet sich nicht gegen einzelne Autoren und ihre wissenschaftlichen Arbeiten, sondern gegen Entwicklungen im erziehungswissenschaftlichen Betrieb sowie gegen Folgen, die für die pädagogische Ausbildung, die pädagogische Praxis, die Administration und nicht zuletzt für das Kind entstanden sind (1). Die Realität des erziehungswissenschaftlichen Betriebes wird immer weniger bestimmt durch die geistigen Leistungen einzelner Erziehungswissenschaftler, die dort nur noch sporadisch aufgearbeitet werden, immer mehr hingegen durch problematische pädagogische "Subkulturen", deren Existenz im erziehungswissenschaftlichen Betrieb mir nicht zufällig erscheint. Diese Zusammenhänge würden übersehen, wenn man sich lediglich auf die Diskussion tatsächlich oder auch nur vermeintlich vorhandener wissenschaftstheoretischer Kontroversen beschränkte.
 
 

I. Kritik der Entwicklung der Erziehungswissenschaft

1. Die wissenschaftstheoretische Diskussion, in deren Rahmen sich die gegenwärtige Erziehungswissenschaft entfaltete, hat ihre historische Kontinuität weitgehend verloren. Diese Behauptung gilt für die Erziehungswissenschaft im Ganzen, als Institution, nicht für einzelne Erziehungswissenschaftler, die sich im Gegenteil um die Wiederherstellung der Kontinuität besonders verdient gemacht haben (2). Das Problem ist nicht, daß solche Arbeiten nicht vorliegen, sondern welche Rolle sie im erziehungswissenschaftlichen Betrieb spielen.

Ging es Ende der 60er Jahre noch darum, die Grenzen, die der Erforschung pädagogischer Sachverhalte durch die bis dahin bestimmende geisteswissenschaftliche Pädagogik gesetzt waren, zu überwinden, diese im übrigen aber mit den

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neuen, empirisch-sozialwissenschaftlich orientierten Ansätzen theoretisch zu vermitteln, so verselbständigte sich die wissenschaftstheoretische Diskussion in den 70er Jahren zunehmend sowohl gegenüber den Forschungsgegenständen selbst wie vor allem auch gegenüber der Vermittlung der Ergebnisse auf die Handlungssituationen in der pädagogischen Praxis - einschließlich der in den Hochschulen selbst. Dieser Prozeß hatte eine Reihe von Ursachen, die nicht allein aus der wissenschaftlichen Entwicklung erwachsen, sondern ihrem gesellschaftlichen Umfeld zuzuschreiben sind.

2. Von Anfang an war ein wichtiges Motiv für die bald zur Mode gewordene wissenschaftstheoretische Diskussion das Bedürfnis nach politischer Polarisierung. In den Hochschulen wurden vielfach mit einem minimalen Kenntnisstand Auseinandersetzungen über "Positivismus" oder "kritische Theorie" geführt, ohne daß einschlägige Arbeiten gelesen bzw. verstanden wurden. Wissenschaftstheoretische "Bekenntnisse" von kaum diskutablem Niveau wurden stellenweise zum Ersatz für wissenschaftliches Denken und Arbeiten überhaupt. Das Interesse auch vieler Lehrender war in erster Linie gerichtet auf die Abgrenzung der eigenen "Position" von allen anderen, kaum etwa auf die Frage nach der "Reichweite" der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Ansätze und damit auf deren vergleichende Diskussion.

Eine auf derartige Abgrenzungen oder gar Polarisierung drängende Motivation kann nicht an historischer Kontinuität interessiert sein, also an problemgenetischen Erörterungen; denn dies würde voraussetzen, mit denjenigen Positionen in eine ernsthafte wissenschaftliche Kommunikation einzutreten, von deren Ausgrenzung die eigene wissenschaftliche wie politische Identität ja gerade lebt.

3. Dies verweist auf einen berufspolitischen Hintergrund in den Hochschulen. Die sprunghafte Erweiterung der erziehungswissenschaftlichen Ausbildung, die Statusverunsicherungen durch Hochschulreformen, die personelle Erweiterung des Mittelbaues sowie der Verlust des überlieferten wissenschaftlichen Berufsideals haben vor allem für die jüngere Generation der Erziehungswissenschaftler eine berufliche Identitäts-Problematik aufgeworfen, die für manche teils durch politisches Engagement, teils durch das Beziehen einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Position, oft auch durch beides gelöst zu werden schien. Bestimmte hochschuldidaktische Konzepte (Projektstudium, fächerintegrierendes Studium usw.) haben in dieser "sozialen Lage" ihren Entstehungszusammenhang. Auf dieser Ebene wiederholt sich der Prozeß der Identitätsfindung durch Ausgrenzung anderer Positionen, und es ist sogar zu fragen, ob dieser berufspolitische Hintergrund nicht auch in erheblichem Maße die politisch-wissenschaftstheoretische Polarisierung erst hervorgebracht hat.

4. Hinzu kamen Unsicherheiten im wissenschaftlichen Selbstverständnis der Pädagogik. Solange - etwa im Rahmen der Lehrerausbildung - das pädagogische Studium nur Begleitstudium neben dem Studium anderer Fächer war, stellte sich dieses Problem nicht so offensichtlich. Mit der Einrichtung selbständiger erziehungswissenschaftlicher Studiengänge wie Diplomstudium mußte sich jedoch die Frage stellen, ob Pädagogik ohne das gründliche Studium eines an-

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deren Faches überhaupt ein wissenschaftliches Studium tragen könne. Ist es nicht so, daß die Pädagogik zwar "einheimische", aus der Notwendigkeit des Handelns erwachsene Probleme bzw. Fragestellungen hat, aber kein eigenständiges methodisches Repertoire? Kann man wissenschaftstheoretische Probleme studieren, empirische Untersuchungen anstellen bzw. verstehen, die Geschichte pädagogischer Probleme oder Institutionen erforschen, ohne zumindest bis zu einem gewissen Grade überhaupt Philosoph, Soziologe, Psychologe oder Historiker zu sein?

5. Die Ausdehnung des wissenschaftlichen Lehrbetriebes führte im Zusammenhang mit den Impulsen der Bildungsreform tatsächlich oder auch nur vermeintlich zu einem Legitimationsdruck. Die gestiegenen Ausgaben mußten sich öffentlich rechtfertigen lassen. Die "besseren" Ziele der Reform konnten nur durch "bessere" Ausbildung der Erzieher und diese nur durch "bessere" Verwissenschaftlichung des pädagogischen Geschäftes erreicht werden. Die Erziehungswissenschaft schien etwas Neues und nie Dagewesenes "leisten" zu müssen, und die öffentliche Wissenschaftsgläubigkeit führte - neben den erwähnten wissenschaftstheoretischen Polarisierungen - zu einer kaum noch überschaubaren Produktion an empirischen Forschungen und Curriculum-Konstruktionen. Der Legitimationsdruck verselbständigte sich gegenüber der praktischen Brauchbarkeit und Bedürftigkeit, führte z. B. zu einer Fachterminologie, die z. T. nur noch von wenigen Spezialisten verstanden wurde.

Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf die umfangreichen "Gutachten und Studien der Bildungskommission", deren Ergebnisse jedoch kaum von wenigen Experten, geschweige denn von der bildungspolitischen Öffentlichkeit oder gar von denen, die die Ergebnisse praktisch benötigt hätten, durchschaubar und anzueignen waren. Die Folge davon war, daß immer nur wenige, zufällige Bruchstücke in die Lehrerausbildung Eingang fanden - Versatzstücke, die sich dann meist mit den wissenschaftstheoretischen Positionen bzw. den - wissenschaftlich unaufgeklärten - bildungspolitischen Zielen verbanden, diesen zur Rechtfertigung dienten. Durch den Versuch, die wissenschaftstheoretische Diskussion der Sozialwissenschaften auch in der wissenschaftlichen Pädagogik zu führen mit dem Ziel, eine Erziehungswissenschaft als Sozialwissenschaft zu begründen, ließ sich scheinbar wissenschaftliche Reputation gewinnen. Anders gesagt: Ursache für die wissenschaftstheoretische Diskussion war nicht nur die Sache selbst - ein offensichtlicher wissenschaftstheoretischer Nachholbedarf der Pädagogik - , sondern vor allem auch der Zwang zur öffentlichen Selbstdarstellung der Erziehungswissenschaft.

Problematisch daran war einmal die Neigung, sich zum Zwecke der neuen wissenschaftlichen Profilierung über Gebühr von den überlieferten Positionen und Denkmodellen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik abzusetzen, also auch hier wieder die historische Kontinuität zu vernachlässigen. Ein weiteres Problem wurde eine neue Empfindlichkeit gegenüber Kritik von außen wie von innen. Vielleicht notwendige Korrekturen erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse konnten nun zu einem "Politikum" gegenüber der öffentlichen Meinung werden.

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Wie unabhängig kann man z. B. noch Reformkonzepte diskutieren, nachdem sie sich in der öffentlichen Meinung als erziehungswissenschaftlich begründet darstellen? Wieviel wissenschaftliche Kritik verträgt der erziehungswissenschaftliche Betrieb (etwa im Hinblick auf Studienordnungen oder hochschuldidaktische Konzepte), ohne um seine öffentliche Reputation fürchten zu müssen und sich gezwungen zu sehen, derartige Argumentationen zu sanktionieren? Wie frei ist der Wissenschaftsbetrieb noch, um sich selbst zu korrigieren, um z.B. wieder historisch-kritische Reflektionen anzustellen oder um gegen allzu spezialisierte (in der Bezeichnung der Lehrstühle sich bereits ausdrückende) Lehrgebiete wieder komplexere, wenn auch weniger differenzierte und deshalb möglicherweise als nicht wissenschaftlich diffamierte Handlungsvorstellungen zu lehren? Selbst eine so wichtige Frage wie die, was denn nun eigentlich ein berufsbezogenes und berufsqualifizierendes Studium sei, kann heute schon nicht mehr unbefangen innerbetrieblich diskutiert werden; es ist weniger eine wissenschaftliche, als vielmehr eine (standes)-politische Frage geworden.
 
 

II. Folgen für die pädagogische Ausbildung

Die Entwicklung von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft hat für die pädagogische Ausbildung erhebliche Folgen gehabt, die nachdenklich stimmen sollten.

1. Nach meiner Kenntnis hat die wissenschaftstheoretische Diskussion der pädagogischen Ausbildung an den Hochschulen wenig genutzt. Insofern sie sich dort ausbreitete, hat sie die Beschäftigung mit wichtigeren Problemen eher behindert. Was für die praktische Ausbildung wichtig wäre, nämlich Grenzen und Reichweite wissenschaftlicher Methoden für die Aufklärung pädagogisch-gesellschaftlicher Sachverhalte zu verstehen, falsche Erwartungen an wissenschaftliches Arbeiten und Denken zu vermeiden, ohne dabei in antiwissenschaftliche Affekte zu verfallen, wäre mit weniger Aufwand zu erreichen gewesen. Vielleicht ist die wissenschaftstheoretische Diskussion zu sehr abstrakt und allgemein und zu wenig an den konkreten pädagogischen Problemen geführt worden. Jedenfalls bewegen sich die entsprechenden Publikationen auf einer so hohen meta-theoretischen Abstraktionsebene, daß sie für eine zeitlich begrenzte pädagogische Ausbildung praktisch unlehrbar geworden sind und damit schon heute ein Eigendasein im wissenschaftlichen Lehrbetrieb führen (3).

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2. Ein entscheidendes Defizit der wissenschaftstheoretischen Debatte war, daß sie zeitliche Prozesse wie historische und biographische Entwicklungen ausklammern mußte. Im Vergleich zu Wenigers Lehrplantheorie z.B. sind die wissenschaftstheoretisch begründeten Curricula oder Strukturgitter-Konzepte zwar entschieden aufwendiger, aber politisch auch naiver und keineswegs von höherem Erkenntniswert (4). Weniger wußte immerhin noch, daß man über ein Problem wie den Lehrplan historisch argumentieren muß, sozusagen problemgeschichtlich, um jene Veränderungen aufzudecken, die zu neuen Lehrplanentscheidungen führen müssen oder können. Das Ärgernis zeitlicher Prozesse ist ja, daß sie sich strengen wissenschaftlichen Regeln und Gesetzmäßigkeiten nicht fügen, sich ihnen vielmehr entziehen und ihre eigene "Logik" entwickeln. Bei sogenannten "positivistischen" Positionen wie bei Brezinka ist die Unfähigkeit, mit zeitlichen Prozessen wissenschaftlich umzugehen, geradezu konstitutiv. Prozeß wird hier allenfalls zur Addition von "Zeit-chen" etwa in der Idee eines nach strenger Zweck-Mittel-Relation organisierten Unterrichtsvorhabens. Pädagogisches Handeln erfolgt jedoch immer in der Zeit-Dimension, und wenn das erziehungswissenschaftliche Denken diese Dimension nicht wenigstens auch zur konstitutiven macht, dann muß die Schere zwischen Theorie und Praxis sich weiter öffnen.

Auch die kritische Theorie vernachlässigte - trotz oder gerade wegen der ihr eigentümlichen historischen Argumentationsfiguren - die konkreten zeitlichen Prozesse. Die Methode der Ideologiekritik etwa interpretiert das vorfindbare Einzelbewußtsein als Teil bzw. als Ausdruck eines kollektiven, das seinerseits auf allgemeine gesellschaftliche Strukturbedingungen zurückzuführen ist. Das Zwischenstück zwischen diesen Bedingungen und dem einzelnen Bewußtsein bleibt leer, obwohl sich gerade in diesem Zwischenraum pädagogisches Handeln abspielt. Die wissenschaftstheoretische Diskussion ist also auch hier an dem, was das pädagogische Handeln "eigentlich" ausmacht, vorbeigegangen, und hat - soweit ich zu erkennen vermag - zur Verbesserung der Vorstellungen über pädagogische Handlungszusammenhänge kaum etwas beigetragen, eher wissenschaftliche Energien davon abgezogen.

3. Die erziehungswissenschaftlichen Forschungen und die daraus abgeleiteten Handlungsanweisungen wurden immer weniger vom Standpunkt des Kindes und seiner Bedürfnisse her formuliert, sondern umgekehrt vom Standpunkt der manipulierenden Erzieher. Das Kind kam nur noch in ideologischen Versatzstücken vor, wie den immer blasser werdenden Postulaten nach "Chancengleichheit" oder "kompensatorischer Erziehung". Die manipulativen Tendenzen finden sich keineswegs nur auf der kognitiven Ebene, etwa in Lernziel-Konstruktionen oder "Normen-Büchern", die das Kind zu wenig mehr als zu einer Lernmaschine definieren. Auch auf der emotionalen und sozialen Ebene sollte durch Einführung gruppendynamisch-psychoanalytischer Erkenntnisse und Verfahren nichts mehr

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sich dem manipulativen Zugriff des Lehrenden entziehen. Angst, Aggression, Verweigerung, emotionale Distanz sind nicht mehr ein persönliches Vorbehaltsrecht des Schülers, sondern wurden Gegenstand von Unterricht, von "Selbstreflektion", von mehr oder weniger kundigen Intro-Spektionen, von "sozialem Lernen" usw.

Damit hat die moderne Erziehungswissenschaft - und nicht etwa nur ihre sogenannte "positivistische" Variante - eine Tendenz zur "totalen Pädagogik" geboren, weil die Maßstäbe zur Anwendung bzw. Umsetzung erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien aus dem Zentrum pädagogischer Überlegungen verschwunden sind.

4. Die Schere zwischen Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis ist noch größer geworden als früher; die Folge ist unter anderem, daß schon die universitäre pädagogische Praxis (etwa die Lehrerbildung) und erst recht die außeruniversitäre immer "unaufgeklärter" wurde, die für das Handeln benötigten Vorstellungen aus einem mehr oder weniger irrationalen Repertoire schöpfen mußte. Vieles spricht dafür, daß der erziehungswissenschaftliche Fortschritt die pädagogische Praxis und die Qualifikation der Studienabgänger keineswegs verbessert hat. Beispielsweise blieben die Konzeptionen an den Hochschulen zum "praxisbezogenen2 bzw. "berufsbezogenen" Studium bis heute durchweg unaufgeklärt - markieren gleichsam eine "Subkultur" unterhalb des immensen erziehungswissenschaftlichen Fortschritts. Mehr noch: Diese sogenannten "hochschuldidaktischen Konzepte", die wissenschaftsdidaktische Überlegungen längst verdrängt haben, sind nachgerade immun gegen wissenschaftliche Überprüfungen - nicht zuletzt vielleicht deshalb, weil sie sich auch ohnedies in den Studienordnungen per Mehrheiten durchsetzen. Vieles spricht dafür, daß gerade die berufliche Qualifikation der pädagogischen Studienabgänger schlechter geworden ist - in eben dem Maße, wie sie zum massenhaft organisierten, ausschließlichen Ziel des pädagogischen Studiums erklärt wurde (5).

5. Das Interesse an der weiteren Forschung wird immer mehr zu einem Selbstzweck der wissenschaftlichen Institute und ihrer Bürokratien. Das gilt sowohl für den Inhalt der Forschung wie auch für ihre Form. Die Inhalte werden immer stärker von den Mechanismen der Institution bestimmt, z. B. vom Zweck der Forschungsmittel oder von groß angelegten und langfristigen, innerbetrieblich determinierten Forschungsprojekten.

Die Form wird unter anderem durch das Konkurrenzverhalten der Wissenschaftler bestimmt; kaum jemand - erst recht nicht diejenigen, die sich noch qualifizieren müssen - kann sich noch leisten, nicht komplizierter zu schreiben, als die Sache es verlangt. Was die Sache nicht verlangt, verlangt der Fachbereich oder die Fakultät oder die öffentliche Reputation. Die Mitteilbarkeit von Theorien und Forschungen, ihre Lehrform wird immer weniger zu einem Qualitätskriterium der wissenschaftlichen Produktion. Die Behauptung, Inhalt

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und Form der erziehungswissenschaftlichen Produktion orientierten sich immer mehr am Betriebs- und Kommunikationsinteresse derer, die sie machen, läßt sich an vielen Beispielen erhärten, etwa an den zahlreichen "Moden" (hinter denen durchaus Bedürfnisse stehen), die in den letzten Jahren gekommen und gegangen sind: Vorschulerziehung, Friedenserziehung, schichtspezifische Sozialisation, soziales Lernen, Alternativ-Schulen usw. Sie konnten sich für mehr oder weniger lange Zeit in den Vordergrund spielen - wissenschaftlich initiiert von bestimmten "Fächern" oder wissenschaftlichen "Schulen" - , teilweise verbunden mit kommerziellen Interessen. Diese Moden kamen und gingen, ohne nennenswerte Spuren in der Erziehungswissenschaft zu hinterlassen, und sie waren teilweise aus betrieblichen Gründen nötig, um z. B. über die öffentliche Meinung an Forschungsmittel zu kommen.

Ein weiteres Beispiel: Niemand, der selbst an einer Schule oder Hochschule unterrichten muß, kommt auf die Idee, Curriculum-Konstruktionen und Lernziel-Operationalisierungen für seine Lehre zu erfinden; seine praktische Erfahrung sagt ihm, daß auf diese Weise seine Probleme nicht zu lösen sind. Solche Erfindungen werden von Wissenschaftlern für andere gemacht.

6. Auf diese Weise hat sich das - gewiß nicht neue - Problem der Definitions-Macht verstärkt: Die Macht zur Definition dessen, was erforscht wird und wie es mitgeteilt und dargestellt wird, liegt in erster Linie bei den erziehungswissenschaftlichen Betrieben an den Hochschulen. Und die Behauptung, es ginge nicht anders, als man es mache, ist zunächst einmal eine Berufsideologie derer, die so handeln. Nach unten hin nimmt die Definitions-Macht immer mehr ab: Diejenigen Lehrenden, die mit der "berufsbezogenen" wissenschaftlichen Ausbildung zu tun haben, haben die Macht, aus den wissenschaftlichen Produktionen auszuwählen, sie zu reduzieren, mit weltanschaulichen oder politischen Tendenzen zu mischen, oder auch, auf wissenschaftliche Objektivierungen überhaupt zu verzichten und z. B. auf die bloße Interaktion mit Studenten zu setzen, etwa um deren "Lernprobleme" zu "thematisieren". Auch auf dieser Ebene ist die Definitions-Macht mit deutlichen berufsideologischen Momenten verbunden: Was und wie man lehrt, muß irgendwie auch dem eigenen Status und natürlich auch den eigenen Fähigkeiten entsprechen.

Kommt der Studienabgänger in ein Berufsfeld, unterliegt er einer weiteren Definitions-Macht: Etwa der des Vorbereitungsdienstes. Hier rächt sich die "Praxis" auf ihre Weise dafür, daß die Erziehungswissenschaft ihre Interessen nicht berücksichtigt, z.B. durch schlichte Ignorierung derselben. Immerhin wird der Lehrer in diesem Prozeß mit soviel Definitions-Macht ausgestattet, daß er das Schulkind in der Regel hinreichend manipulieren kann. Lediglich das Kind hat keinerlei Definitions-Macht - es sei denn, sie wird ihm von einem manipulativ gut geschulten Lehrer scheinbar eingeräumt.

7. Entsprechend den technischen Denkmodellen der Sozialwissenschaften, wonach die Machbarkeit einer Sache mit ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis zusammenfällt, schien auch die Erziehungswissenschaft ihre wissenschaftliche Dignität aus neuen Möglichkeiten der Planung und Machbarkeit zu gewinnen.

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Die Bildungsreform z. B. schien wissenschaftlich begründet und eo ipso auch politisch legitimiert. Lernziel-Konstruktionen sollten mit dem alten Schlendrian des zufälligen, nicht rational legitimierbaren Unterrichts aufräumen. Der neue Unterricht sollte sich legitimieren müssen, also als die beste aller denkbaren Variationen sich ausweisen. Selbst Leitziele wie "Mündigkeit" und "Emanzipation" schienen planvoll intendierbar zu sein. Emotionale und soziale Defekte, Bildungsbenachteiligung der unteren Schichten - alles schien änderbar, also neu und besser machbar.

Beschränkte sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik noch darauf, über die Bedingungen der Möglichkeit dafür nachzudenken, daß das Kind sich selbst bilden könne, so entstand nun ein Schulmeistergeist, dem - nicht zuletzt auch in den Hochschulen - Lernen und Qualifizieren herstellbar erschienen wenn man nur die "richtige" —nämlich "berufsbezogene" - Ausbildung dafür bekam. Derartige von vornherein uneinlösbare Erwartungen sind inzwischen überall zusammengebrochen, und zurückgeblieben ist Leere und Ratlosigkeit.

Hier hat die moderne Erziehungswissenschaft als Sozialwissenschaft eine Prämisse eingeführt, die sie selbst offenbar nicht mehr überprüfen kann: daß nämlich planmäßige Realisierung von Lernzielen, pädagogischen Situationen, Unterrichtsprojekten, emotional-affektiven Reaktionen usw. das eigentliche Ziel des pädagogischen Handelns sei; stillschweigend hat dabei die Erziehungswissenschaft einfach ihre Sicht der Sache der Praxis aufgezwungen. Kann es aber wirklich darauf ankommen? Trifft nicht jedes Lernangebot beim Partner einen komplexen Erfahrungs- und Motivationshintergrund, der dem Planer grundsätzlich gar nicht zur Verfügung stehen kann und von dem er, indem er so plant, große Teile einfach ignorieren muß, die aber für den Bildungsgang des einzelnen gerade wichtig sein könnten? Ist nicht die entgegengesetzte Leitvorstellung in der Regel realistischer, daß nämlich die jeweiligen Erfahrungen das Lernergebnis entscheidend mitbestimmen und daß es also nicht auf die Planung dieser Ergebnisse, sondern auf die der entsprechenden Bedingungen ankommt? Der vor-curriculare Schlendrian hatte jedenfalls noch eine Ahnung davon.
 
 

III. Erziehungswissenschaft und pädagogische Theorie

Die eben skizzierten Probleme der Verwissenschaftlichung der Pädagogik sind auch in anderen Disziplinen zu beobachten, aber für die Pädagogik sind sie wegen ihrer praktischen Funktion besonders prekär. Wie kann man nun den "Zwischenhandel" zwischen der Erziehungswissenschaft und den anderen Sozialwissenschaften einerseits und den pädagogischen Handlungssituationen innerhalb und außerhalb der Hochschule andererseits verbessern, d. h. für die handlungsorientierten Reflexionen vernünftige, wissenschaftlichen Erkenntnissen offene Denk- und Vorstellungskategorien anbieten?

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1. Selbstverständlich muß die erziehungswissenschaftliche Forschung und Theoriebildung weitergehen, sowohl im Hinblick auf die wissenschaftstheoretischen Grundlagenprobleme wie auch hinsichtlich der empirischen und historischen Einzelforschungen. Aber man muß sich klar darüber sein, daß die hier sich zeigenden Interessen und Bedürfnisse keineswegs nur aus dem Fortschritt der Wissenschaft bzw. aus dem pädagogisch-praktischen Engagement resultieren. Es geht nicht darum, eine Entwicklung zurückzudrehen, sondern darum, ihre Mängel aufzufangen.

2. Es scheint mir nötig zu sein, dort noch einmal anzuknüpfen, wo die geisteswissenschaftliche Pädagogik aufgehört hat: Bei ihren "einheimischen Begriffen" und Fragestellungen und bei ihrem Theorie-Praxis-Verständnis, und diese Vorstellungen entsprechend dem Stand der erziehungswissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Debatte weiter zu entwickeln. Also: Was ist an Wenigers Lehrplantheorie falsch, unzulänglich, ergänzungsbedürftig usw.? Und wie kann man diese Theorie verbessern und modifizieren? Oder: Wie müssen die Bildungstheorie und der pädagogische Bezug kritisiert und modifiziert werden?

Dabei ist eine wichtige Unterscheidung nötig, die ich hier - sehr vorläufig - mit den Begriffen "Pädagogik" und "Erziehungswissenschaft" kennzeichnen möchte.

Unter Erziehungswissenschaft fasse ich alles zusammen, was pädagogisch relevante Forschung und Theoriebildung beinhaltet, keineswegs nur die von Erziehungswissenschaftlern, sondern von allen Disziplinen, die pädagogische Gegenstände irgendwie betreffen. Diese Forschung muß nach ihrer eigenen Logik ablaufen, auch nach ihren eigenen betrieblichen und professionellen Bedingungen. Jedenfalls sehe ich nicht, wie sich dies ändern ließe.

Aber diese Forschungen - einschließlich ihrer wissenschaftstheoretischen Aspekte - sind für sich genommen nur pädagogisch relevant, nicht selbst schon pädagogisch brauchbar bzw. von pädagogisch-theoretischer Qualität. Sie müssen vielmehr auf pädagogische Handlungssituationen wie Schule oder Erziehungsheim unter Berücksichtigung des Bildungsrechtes und der Lebensperspektive des Kindes "übersetzt" werden. Dies sind theoretische Anstrengungen eigener Art und Dignität. Die Pädagogik ist eben nicht nur "Sozialwissenschaft" wie andere auch, sondern darüber hinaus mehr und anderes. Aufgabe der "Pädagogik" wäre, so nah wie möglich an der pädagogischen Praxis die grundlegenden Handlungs- und Bedingungsstrukturen in einer der Komplexität des Handlungsfeldes gerecht werdenden, zunächst formalen Allgemeinheit zu beschreiben, damit diese dann sinnvoll durch Studium wie durch Lebenserfahrung präzisiert, vertieft und erweitert werden können. Der Grundgedanke der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, vom Standpunkt des erzieherisch Handelnden her zu denken, wäre - bei aller Kritik an den seinerzeit damit verbundenen Verengungen (6) wieder aufzugreifen. Die sich als Sozialwissenschaft etablierende Erziehungswissenschaft ist genau genommen keine Weiterentwicklung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, sondern

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etwas ganz anderes; eine neue Disziplin, die mit dem praktischen Geschäft der Pädagogik so viel zu tun hat wie die Soziologie oder die Psychologie immer schon zu tun hatte. Insofern ist Brezinkas Buchtitel "Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft" irreführend, er müßte lauten: "Erziehungswissenschaft statt Pädagogik" (7).

Diese Überlegungen hätten schon für das pädagogische Studium und seinen Aufbau Konsequenzen. Gliederungsprinzip des Studiums wäre nicht die Systematik der Erziehungswissenschaft, sondern die zentralen Gegenstände, die das pädagogische Handeln konstituieren, etwa: Schule, Schüler, Lehrer, Heranwachsen (und dessen Scheitern), pädagogischer Bezug, Unterricht, außerschulische Lebenswelt. Diese Gegenstände wären vor allem von den ihnen immanenten Problemen und Widersprüchen her aufzuklären (8).

So verstandene Theorien würden den wissenschaftlichen Forschungsstand gleichsam "filtern" unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen strukturellen und insoweit "eigenständigen" Fragestellungen; für sie wäre die Erziehungswissenschaft "Hilfswissenschaft" wie andere Humanwissenschaften auch. Gegen den naheliegenden Einwand, eine solche "Filterung" trage die Gefahr der Verwischung wissenschaftlicher Erkenntnisse, ja ihrer Ideologisierung in sich, läßt sich antworten: Genau dies geschieht längst und zum Teil auf unerträgliche Weise, weil eine solche "Übersetzung" wegen des wissenschaftlichen Fortschritts immer unvermeidlicher wird. Entweder wird dieser "Zwischenhandel" so betrieben, daß kritische Besinnung möglich und auch praktikabel wird, oder die im Abstand von Forschung und pädagogischer Praxis liegende Differenz wird durch unvernünftige, irrationale und ideologische Fragmente ausgefüllt. Dieser Prozeß ist sogar an unseren Hochschulen im vollen Gange.

3. Eine solche pädagogische Theorie und Lehre müßte einige praktische Bedingungen erfüllen. Einmal hinsichtlich des Umfanges, also der Stoffülle, zum anderen hinsichtlich der Sprache und Begrifflichkeit. Im Unterschied zur erziehungswissenschaftlichen Fachsprache müßte sich die pädagogische Theorie relativ nahe an der Umgangssprache orientieren; dies nicht nur aus Gründen der "Verständ-

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lichkeit", sondern auch, weil pädagogisches Handeln notwendigerweise in der Umgangssprache sowohl intentional wie interaktional sich vollzieht; weil die Alltagssprache und nicht die Wissenschaftssprache ferner die Komplexität und Mehrdeutigkeit des Handlungszusammenhangs zum Ausdruck bringt - was natürlich nicht ausschließt, daß auch eine Reihe von Fachtermini in diese berufsbezogene Umgangssprache eindringen, dann aber eben auch ihre Bedeutung entsprechend verändern.

4. In diesem Zusammenhang gewinnen historische Überlegungen und Forschungen eine neue Bedeutung. Für die pädagogisch-historische Forschung gilt die Unterscheidung von "Erziehungswissenschaft" und "Pädagogik" ebenfalls. Auch hier muß die Forschung ihrer eigenen Logik folgen, kann sie sich Gegenstände und deren Umfang nicht von den Bedürfnissen des praktischen Bewußtseins diktieren lassen.

Die letzten Jahre haben aber gezeigt, wie eindimensional und ideologieanfällig nicht nur die Erziehungswissenschaft, sondern auch die pädagogische Praxis ohne Bewußtsein von der historischen Kontinuität ihrer Probleme wird. Die teilweise erschreckende Naivität von Reformideen, der Wechsel wissenschaftlicher und didaktischer Moden, das Denken vom historischen Nullpunkt her (von den Curriculum-Konstruktionen hoffähig gemacht) sind die unausweichliche Folge. Ohne historisches Bewußtsein gibt es auch kein biographisches und kein zureichend pädagogisch-professionelles.

Wer pädagogisch handelt, hat es mit einer Reihe von Problemen zu tun, d. h. mit Situationen, in denen es immer mehrere vernünftige Entscheidungen auch angesichts eines und desselben Kriteriums gibt, aber auch solche, die - je nach dem gewählten oder vorgegebenen Maßstab - auch unvernünftig bzw. unzweckmäßig sind; diese letzteren so gut wie möglich ausscheiden zu können, ist Aufgabe der in Ausbildung und Erfahrung erworbenen Qualifikation. Insofern kann streng genommen die Legitimation für eine pädagogische Entscheidung sich nur auf diesen Spielraum vernünftiger Entscheidungen beziehen und nur in diesem Rahmen auf die einzelne Entscheidung selbst. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, damit pädagogische Situationen als offene begriffen werden und das praktische Denken nicht auf das Herausfinden "der" richtigen Entscheidung fixiert wird. Sieht man von solchen Problemen ab, die ihre Ursache lediglich im Fehlverhalten des Erziehers haben - und insofern nur "seine" Probleme sind - , so handelt es sich dabei um epochal-strukturelle Probleme: es gibt sie nicht nur für diesen einen Erzieher und nicht erst seit heute, sondern sie sind Grundprobleme des pädagogischen Geschäftes, die unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen bzw. im Rahmen einer bestimmten pädagogischen Institution notwendigerweise entstehen, allerdings jeweils unterschiedlich definiert und gelöst, oder besser: ausbalanciert wurden. Bei diesen Problemen und ihrer historischen Rekonstruktion anzusetzen wäre ein wichtiges Teilstück dessen, was ich "pädagogische Theorie" nennen möchte. Sie unterscheidet sich von den früheren geisteswissenschaftlichen Vorstellungen wohl vor allem dadurch, daß sie den Akzent mehr auf die konflikthafte Offenheit der historisch-pädagogischen Situation legt als auf die harmonisierende

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Integration, und daß sie konkreter auf historische Prozesse, vor allem auch auf deren materiellen und ideologischen Gehalt eingeht (9).

Das Konsensproblem für die Schule bzw. für ihren Lehrplan gibt es z. B. als objektives Problem von Beginn des modernen Schulwesens an, zunächst in den Konflikten zwischen Staat und Kirche; später und bis auf den heutigen Tag als Problem der Vermittlung zwischen legitimen pluralistischen gesellschaftlichen Partikularitäten. Welche "Lösungen" hat es dafür gegeben? Und wie sind gegenwärtige "Lösungen" (Richtlinien-Diskussionen) darin einzuordnen? Welche "ideologische" bzw. praktische Bedeutung haben in diesem Zusammenhang pädagogische Theoreme und Konzepte wie "pädagogischer Bezug" oder Wenigers Lehrplantheorie? Oder ein anderes Beispiel: Für das unausweichliche, weil praktisch vorgegebene Problem des pädagogischen Bezugs lassen sich historisch eine Reihe von realisierten Konzepten ermitteln: Das Kind als Sohn des irdischen (und himmlischen) Vaters; das Kind als Kamerad (Jugendbewegung), als Genosse (sozialistische Pädagogik), als Klient, als Rolle, als Partner im Diskurs. Läßt sich aus diesem - teilweise gleichzeitigen - historischen Material eine historisch-systematische Theorie des pädagogischen Bezugs formulieren, die nun nicht einfach systematisch am Schreibtisch ausgedacht wird, sondern die tatsächlichen historischen Varianten in sich aufnimmt und deshalb auch für das praktische pädagogische Bewußtsein nützlich sein kann? Ich vermute, daß jedes Problem, das etwa mit einer pädagogischen Institution oder auch mit der allgemeinen Tatsache der Sozialisation gegeben ist, sich in einer solchen historischen Tiefendimension rekonstruieren läßt und gerade dadurch zur reflektierten Distanz von der Unmittelbarkeit des Augenblicks zu führen vermag.

Dabei gehe ich von folgender wissenschafts-didaktischer Grundannahme aus:

Jeder herangewachsene Mensch bringt im Hinblick auf die grundlegenden Probleme des pädagogischen Handelns bereits Erfahrungen, Vorstellungen, Einstellungen, Kenntnisse, Urteile usw. mit; er ist selbst Kind und Schüler gewesen. Pädagogische Theorien treffen also niemals auf eine Leerstelle, sondern immer schon auf Vorerfahrungen, die z. B. viele Schüler befähigen, Mitschülern erfolgreich Nachhilfeunterricht zu geben - ohne daß sie dafür wissenschaftlich ausgebildet wären.

Indem nun diese Vorerfahrungen auf wissenschaftliche pädagogische Theorien treffen, die nicht oder allenfalls nur teilweise mit ihnen identisch sind, können sich gerade in dieser Differenz diese Erfahrungen strukturieren, artikulieren und damit auch bewußt werden. Durch das Sich-Einlassen auf die pädagogischen Theorien wird es möglich, diese im Rahmen des bisherigen Erfahrungszusammenhangs zu verarbeiten. Ziel dieses Lernprozesses ist also die Erweiterung, Konkre-

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tisierung, Vertiefung, Kritik usw. der bereits mitgebrachten Erfahrungen - nicht etwa das Auswendiglernen von pädagogischen Theorien.

Voraussetzung für den Sinn solcher Lernprozesse ist jedoch, daß man sich dabei auf gewisse formale Prinzipien wissenschaftlichen Denkens einläßt:

1. Auf den Argumentationszusammenhang der Theorie im ganzen, nicht nur auf einige ausgesuchte Stücke (Zitate); sonst wird nur das selegiert, was der bisherigen Erfahrung "in den Kram paßt".

2. Auf die methodische Problematik, auf Grenze und Reichweite des angewendeten Verfahrens, weil sonst die pädagogischen Theorien als willkürlich und beliebig bzw. als jeweils einzig möglich erscheinen müßten.

3. Auf die Kontroversität bzw. Unterschiedlichkeit pädagogisch-theoretischer Ansätze - aus den gleichen Gründen.

Bei einem derartigen Konzept, das vom Lernenden ausgeht und nicht von der erziehungswissenschaftlichen Fachsystematik, und das ihm nicht zumutet, seine bisherigen Erfahrungen wegen dieser Systematik zu liquidieren, sondern sie im Gegenteil "aufzuheben" gestattet, könnten auch wissenschaftstheoretische "Positionen" wieder verflüssigt werden, insofern sie diesem Kriterium der komplexen Erfahrung sich stellen müssen. Wenn die leitende Frage nämlich ist: Was kann ich eigentlich "besser" machen - privat wie profesionell—, wenn ich dies oder jenes weiß bzw. diese oder jene wissenschaftstheoretische Position kenne? - , dann wird aus einem firmen-internen Abgrenzungskriterium möglicherweise wieder eine Dienstleistung für wissenschaftlich-praktisches Denken.

Dies allerdings sind nur erste Andeutungen eines Konzeptes, das noch erhebliche Probleme enthält. Vielleicht hat das Defizit, von dem hier die Rede ist, etwas damit zu tun, daß wir keine Wissenschaftsdidaktik der Erziehungswissenschaft haben, sondern nur mehr oder weniger diffuse hochschuldidaktische Ansätze. Möglicherweise ist das, was ich mir vorstelle, nichts anderes als die noch ausstehende Wissenschaftsdidaktik der Erziehungswissenschaft.

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Anmerkungen:

(1) Anregung und Ermutigung zu den folgenden Überlegungen verdanke ich vor allem A. Flitner: Mißratener Fortschritt. München 1977.

(2) Ich nenne hier beispielhaft vor allem W. Klafki: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Weinheim 1976.

(3) Das gilt z. B. auch für die Diskussion um den Begriff der Didaktik zwischen W. Klafki und den Autoren der sogenannten "Berliner Schule": Vom Standpunkt dessen aus, der Unterricht zu planen und durchzuführen hat, wurde diese Debatte von einem bestimmten Punkte an, der sich allerdings schwer bestimmen läßt, im wörtlichen Sinne "gegenstands-los", weil ohne jede erkennbare praktische Konsequenz.
Allerdings ist denkbar, daß solche Überlegungen dann wieder praktisch relevant werden, wenn sie zu prinzipiellen Klärungen geführt haben, die dann wieder relativ einfach "lehrbar" werden. Aber auch in diesem Falle bleiben sie bis zu dieser Klärung "gegenstands-los" für die allgemeine berufsbezogene pädagagische Ausbildung.

(4)Vgl. dazu meine Kritik der NRW-Richtlinien für den politischen Unterricht: H. Giesecke u. a.: Pädagogische und politische Funktionen von Richtlinien. In: Neue Sammlung, Heft 2/1974, S. 84 ff.
 

(5) Vgl. dazu H. Giesecke: Was müssen Lehrer wirklich lernen und wie teuer muß das sein? In Die Deutsche Schule, Heft 2/1977, S. 107 ff.
 

(6) Vgl. dazu H. Gaßen: Geisteswissenschaftliche Pädagogik auf dem Wege zu kritischer Theorie. Studien zur Pädagogik Erich Wenigers. Weinheim 1978.
 

(7) )Allerdings hat Brezinka auch deutlich gemacht, daß die Erziehungswissenschaft als Technologie - wie er sie versteht - die Bedürfnisse der pädagogischen Praxis - der "praktischen Pädagogik" - nicht voll befriedigen kann. Die dabei entstehenden Vermittlungsprobleme zwischen den beiden verschiedenen Denkweisen hat er jedoch nicht weiter verfolgt. Vgl. W. Brezinka: Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim 1971, vor allem S. 163 ff.

(8) Die für den erziehungswissenschaftlichen Fachbereich der Universität Göttingen gültige Diplomstudienordnung schreibt für die Praktika empirische Untersuchungen im Praktikumsfeld vor. Die Praxisfelder werden also dem Forschungs- und Ausbildungsinteresse der Hochschule unterworfen, die dort vorhandenen Probleme und Fragestellungen spielen also nur insofern eine Rolle, als sie sich dem an sie herangetragenen Interesse beugen - ein gutes Beispiel nicht nur für das erwähnte Problem der Definitionsmacht, sondern auch für die Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der außeruniversitären pädagogischen Praxis. Ganz fern liegt den Studienplanern offenbar die Frage, wieso eigentlich die Praxisfelder an ganzen Scharen "herumexperimentierender" Studenten interessiert sein sollen.

(9) Am Beispiel der Konzeption Wenigers zum Geschichtsunterricht und ihrer notwendigen Korrektur und Ergänzung habe ich diese Vorstellung zu skizzieren versucht: H. Giesecke: Skizzen zu einer politisch begründeten historischen Didaktik. In: Neue Sammlung, Heft 1/1978 S. 55ff. Wieder abgedruckt in: R. Schörken (Hrsg.): Zur Zusammenarbeit von Geschichts- und Politikunterricht. Stuttgart 1978, S. 148 f.


 

116. Schulbuchschelte (1979)


(In. Neue Sammlung, H. 3/1979, S. 330-331)

Über: Gerd Stein (Hrsg.): Schulbuch-Schelte als Politikum und Herausforderung wissenschaftlicher Schulbucharbeit. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1979, 192 S.
 

Schulbücher als Wahlkampfthema - man fühlt sich in die Schulkämpfe der Weimarer Republik zurückversetzt. Aber seit 1972 ist es bei uns üblich geworden, vor Landtagswahlen Schulbücher, in denen man den Geist des politischen Gegners zu erkennen glaubt, öffentlich zu schelten, ja, regelrechte Kampagnen gemeinsam mit Elternorganisationen und Presseorganen zu inszenieren. Zielscheibe waren vor allem Sozialkundebücher und die sogenannten "Drucksachen", ein mehrbändiges Lesebuch für Gymnasien; die Schützen waren CDU-Politiker. In dem von Gerd Stein herausgegebenen Buch "Schulbuch-Schelte als Politikum und Herausforderung wissenschaftlicher Schulbucharbeit" werden diese Kampagnen im einzelnen rekonstruiert. Aber das Buch nimmt solche Schelte auch zum Anlaß, das Problem Schulbuch überhaupt der Öffentlichkeit zu präsentieren und nach den Konsequenzen für die Schulbuchforschung zu fragen.

Das ist auch wichtig, denn die Bubenstücke an Demagogie, als die sich diese Kampagnen erweisen, sind nur der deutlich sichtbare Teil einer allgemeinen Verwilderung der Sitten im Umgang mit der Schule. Der Erklärung bedürftig ist ja nicht, warum eine politische Partei an die Macht will, sondern, wieso sie es wagen kann, mit solch offensichtlichem Unsinn Wahlkämpfe zu bestreiten. Welche Bedürfnisse und Ängste werden da eigentlich mobilisiert? Leid tun können einem nur die Autoren, die einem publizistischen Rufmord ausgesetzt waren, gegen den sie sich nicht auf gleicher Ebene wehren konnten. Abgesehen jedoch von den so unverdient Gebeutelten vermag ich diese Ebene der Verwilderung nicht so ernst zu nehmen. Sie ist zu offensichtlich, und zerstört wird dabei nichts, was nicht schon zerstört wäre. Die Schulkinder selbst jedenfalls, die man wie immer nicht gefragt hat, dürften sich eher amüsieren über die Fürsorge von Politikern, ihnen z. B. einen rotzfrechen Kinderreim vorzuenthalten. Wenn die wüßten ... .

Ein zweiter Themenkomplex des Buches ist die Schulbuchzulassung. Die Verwilderung dieser Praxis ist der Öffentlichkeit fast unbekannt, sie zeigt sich in der Willkürlichkeit der Maßstäbe und ihrer Anwendung für die Zulassung; hier findet schlicht Zensur statt, und zwar von Amtswegen. Und dies in allen Bundesländern. Einige der betroffenen Autoren berichten aus ihrer Erfahrung. So Ludwig Helbig, der eine ausgezeichnete Materialsammlung für den politischen Unterricht herausgebracht hat, unter der Überschrift: "Identitätsprobleme eines Schulbuchmachers":

"Es gibt ... so viele Ausgewogenheiten, wie es Bundesländer gibt, und auch das variiert noch in den einzelnen Bundesländern. Je nachdem, ob Landtagswahlen bevorstehen oder gerade gelaufen sind ... . In Hessen erfuhr ich immerhin konkret etwas Neues über

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Ausgewogenheit. Im letzten Kapitel meines Buches (Band 1) unterfange ich mich, die Frage aufzuwerfen, ob die Bundesrepublik Deutschland eine Klassengesellschaft oder eine klassenlose Gesellschaft sei. Arglos stellte ich drei Texte gegenüber: Ludwig Erhard, Ralf Dahrendorf und Oskar Negt. Wenn das kein Pluralismus ist! Einer eigenen Stellungnahme enthalte ich mich. Was nun schreibt ein Hessischer Anonymus?—,Einseitig promarxistische Klassengesellschaftstheorie der Bundesrepublik Deutschland, interessant der Umfang: Erhard 42 Zeilen, Dahrendorf 14 Zeilen, Klassengesellschaftstheorie 72 Zeilen'—... In Zukunft müssen (also) kontroverse Texte genau gleich lang sein. Während die Hessen mich ablehnen, schreiben die Rheinland-Pfälzer: 'Solange in unserem Lande (noch?) nicht die Hessischen Rahmenrichtlinien gelten, ... sollte die Genehmigung als Schulbuch nicht erfolgen'".
 
 

Was Helbig berichtet, ist die einhellige Erfahrung der Schulbuchautoren und ihrer Verleger. Leider läßt sich diese Dunkelmännerei der Schulbuchzensur nicht zum Wahlkampfthema machen, denn da hackt keine Krähe der anderen ein Auge aus. Einzig erfolgversprechend wäre ein geschlossener Widerstand aller Schulbuchverleger, aber wie das im Kapitalismus so ist: Von der Zensur des einen erhofft sich der andere das Geschäft. Ärgerlich ist nur, daß man bei der Irrationalität der Zensur nie vorher weiß, wer der eine und wer der andere sein wird.

Die Verwilderung geht zurück auf die Anfang der siebziger Jahre einsetzende innere Politisierung der Schule; aus der klassischen Schulpolitik wurde Unterrichtspolitik. Und diejenigen, die sich heute über Schulbuchkampagnen der CDU mokieren, sollten auch daran denken, daß lernzielorientierte Curricula, die das Denkergebnis des Unterrichts möglichst vorweg nehmen wollen, ebensowenig von der CDU erfunden wurden wie die eine ganze Generation von Studenten prägende Vorstellung, daß Unterrichten eine Form von "politischer Arbeit" sei. Der Germanist Carl-Otto Conrady gehörte damals zu den Warnern vor dieser Entwicklung. Er steuerte dem vorliegenden Buch ein Plädoyer für kritisch distanziertes Lesen im Unterschied zum identifikatorischen Lesen bei. Aber war denn nicht "Kritik" gerade das Leitmotiv der inneren Politisierung der Schule? Gewiß, jedoch ist Kritik ohne die verhältnismäßig strengen Regeln der intellektuellen Distanz auch nur eine Form von Identifikation. - Das Dilemma des Schulbuches signalisiert das Dilemma einer Schule, die nicht mehr politisch geschützt wird, damit sie ihre pädagogische Arbeit realisieren kann, sondern die rücksichtslos politisch vermarktet wird - selbstverständlich zum Wohle des Kindes.

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 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke15.htm

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