Hermann Giesecke
Gesammelte Schriften
Band 17 : 1982 - 1983
© Hermann GieseckeInhaltsverzeichnis aller Bände
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Zu dieser Edition
Dieser 17. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1982 und 1983. In diesem Jahr war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.
Inhalt von Band 17
131. Brauchen wir noch Erziehungsziele? (1982)
132. Zur Unzeit laut gedacht (1982)
133. Hat Hitler die Jugend verführt? (1982)
134. Veränderungen im Verhältnis der Generationen (1983)
135. Die Suche nach der sinnvollen Zeit (1983)
136. Jugend in Verbänden und Organisationen (1983)
137. Bildung, politische (1983)
131. Brauchen wir noch Erziehungsziele? (1982)
(In: Neue Sammlung, H. 4/1982, 357-365)
(Dieser Text wurde am 12.5.82 im NDR III als Funkvortrag gesendet. Er wurde lediglich um einige Anmerkungen ergänzt)
Wenn öffentliche Unsicherheit über die Ziele herrscht, zu denen die nachwachsende Generation erzogen werden soll, dann ist das immer auch ein Zeichen dafür, daß ganz allgemein politische, kulturelle und sittliche Normen in der Gesellschaft fragwürdig geworden, nicht mehr selbstverständlich sind. Erziehungsziele werden dann unklar und umstritten, wenn grundlegende Lebensorientierungen unklar oder mehrdeutig sind. In einer solchen Phase befinden wir uns seit etwa Mitte der sechziger Jahre. Wir haben seither zum Teil erbitterte schulpolitische Auseinandersetzungen erlebt über neue Richtlinien für die Schulfächer; in den Massenmedien nehmen Beiträge über Erziehung und Ratschläge für eine richtige Pädagogik viel Raum ein; vor einigen Jahren haben namhafte konservative Wissenschaftler und Politiker viel beachtete - und viel kritisierte - Thesen verkündet, in denen sie zu einem neuen "Mut zur Erziehung" aufforderten. Die Erziehung, so meinten sie, müsse wieder jene alten Tugenden lehren, ohne die das Zusammenleben in der Gesellschaft nicht möglich sei: zum Beispiel Toleranz, Pflichttreue, Sorgfalt, Arbeitsamkeit und Bescheidenheit. Diesen Tugenden müßten das persönliche Glücksstreben und individuelle Interessen untergeordnet bleiben. Manche Bürger - sie nennen sich Anti-Pädagogen - halten Erziehung überhaupt für überflüssig, für einen bloßen Herrschaftsanspruch zur Unterdrückung der Kinder; die Kinder - so meinen sie - könnten sich sehr wohl selbst erziehen, wenn man sie gewähren ließe und ihnen dabei lediglich Hilfen anböte. Den Schulen werfen viele vor, sie seien zu reinen Unterrichtsfabriken geworden, Erziehung, die die Persönlichkeit formen könnte, finde kaum noch statt.
Verunsichert sind dabei vor allem diejenigen, die Erziehung praktisch betreiben müssen: In erster Linie die Eltern, aber auch Lehrer und andere Berufspädagogen. Nach welchen Maßstäben sollen sie sich bei ihrer Erziehungsaufgabe richten, an welche Erziehungsziele sollen sie sich halten? (1)
Nun könnte man einwenden, derartige Unsicherheiten über grundlegende gesellschaftliche Werte wie Erziehungsziele seien für eine demokratische Gesellschaft nichts außergewöhnliches, denn schließlich sei eine solche Gesellschaft ihrem
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Wesen nach pluralistisch, das heißt sie lebe geradezu davon, daß die Menschen nicht nur unterschiedliche politische Meinungen haben, sondern auch unterschiedliche Auffassungen in den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens, wozu auch die Erziehungsziele gehören. Vereinfacht ausgedrückt: man darf bei uns Atheist, Sozialist oder gläubiger Christ sein. Dient vielleicht - so könnte man argwöhnen - diese Diskussion über Erziehungsziele nur dazu, diesen pluralistischen Spielraum zu verengen, also wieder autoritäre, für alle gültige Erziehungsziele einzuführen und durchzusetzen?
Es ist richtig, daß diese Pluralität konstitutiv für jede demokratische Gesellschaft ist, aber es ist fraglich, ob sie auch ein gutes Prinzip für die Erziehung des einzelnen Kindes ist. Es ist zum Beispiel ein gewichtiger Unterschied, ob ein Kind im kulturellen Rahmen einer Gemeinschaft - zum Beispiel der Arbeiterbewegung oder einer Kirche - aufwächst, von daher - vermittelt über die Eltern - seine grundlegenden menschlichen und sozialen Orientierungen erhält, und von dieser Basis aus sich produktiv mit anderen Positionen und Lebensstilen auseinandersetzt, oder ob die Pluralität, und das heißt ja auch: Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit von Normen, Urteilen und Erwartungen ihm in ungeordneter Beliebigkeit gegenübertritt wie eine Art von Warenlager, so daß es kaum eine Chance hat, sich damit wirklich auseinanderzusetzen und eine eigene, kontinuierliche Position zu gewinnen.
Pluralität als politisches Prinzip ist also per se keineswegs auch ein produktives pädagogisches Prinzip, jedenfalls so lange es nicht aufgefüllt ist durch für den Einzelnen bedeutsame soziale Zugehörigkeiten, die ein wichtiges Stück der Orientierung und damit auch der Identität ausmachen können.
Nach 1945 zum Beispiel hatten vor allem die beiden Kirchen, aber auch die Traditionen der Arbeiterbewegung einen nachhaltigen Einfluß auf die öffentliche Anerkennung von Erziehungszielen. Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre nahm die öffentliche wie private Bedeutung dieser Erziehungsmächte schnell ab, ihre Erziehungsziele verloren an Zustimmung. Die Veränderung zeigt sich besonders deutlich im Bereich des sexuellen Verhaltens. Die hier traditionell gültigen Normen betrafen ja nicht nur die sexuellen Beziehungen der Menschen, sondern darüber hinaus fundamentale Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Liberalisierung des Sexualverhaltens hat zum Beispiel eine Veränderung der für das Familienleben geltenden Normen zur Folge und damit eben auch eine Veränderung wichtiger Erziehungsziele.
Wo jedoch Erziehungseinflüsse wie eben beschrieben zurücktreten, entsteht keine Leerstelle. Vielmehr wird das Verhalten von anderen Instanzen geprägt. Von Erziehung sprechen wir, wenn Ansprüche an das Verhalten von Kindern und Jugendlichen planmäßig von Personen in einem unmittelbaren "erzieherischen Verhältnis" ausgehen. Das ist insbesondere in der Familie und in der Schule der Fall. Im Idealfalle erfolgen diese Erwartungen unter dem Gesichtspunkt, was im Augenblick und für die Zukunft gut und richtig für das Kind ist. Darüber hinaus gibt es aber auch eine ganze Reihe von Einflüssen auf Kinder, die weder pädagogisch planmäßig gesteuert sind noch primär das Wohl des Kindes im Auge haben, die vielmehr
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einfach von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehen, zum Beispiel von den Massenmedien, von der Konsumwerbung oder von den Gleichaltrigengruppen. Derartige Einflüsse nennen wir nicht Erziehung, sondern Sozialisation. In dem Maße nun, wie erzieherische Normen und Ansprüche zurückgedrängt werden, treten Sozialisationseinflüsse an deren Stelle, die - wie gesagt - weder pädagogisch planmäßig sind, noch persönlich verantwortet werden noch zu dem Zwecke da sind, dem Wohle des Kindes zu dienen. Die beiden wichtigsten Sozialisationswirkungen unseres gesellschaftlichen Systems sind: individuelles, konkurrierendes Leistungsstreben mit dem Ziel der beruflichen Karriere einerseits und maximaler Konsum von Gütern und Dienstleistungen andererseits.
Nun sind diese beiden Sozialisationsprinzipien nicht neu, sie sind Kinder des "Wirtschaftswunders" nach dem Zweiten Weltkrieg. Neu ist aber, daß sie kaum noch auf eine kulturelle Alternative treffen, wie sie die Normen- und Wertbezüge der sogenannten "Erziehungsmächte" - zum Beispiel der Kirchen - darstellten, so daß sie sich gleichsam radikal durchgesetzt haben. Auch viele Eltern haben sie in ihr eigenes Erziehungskonzept übernommen. Diese beiden Prinzipien - individuelles berufliches Leistungsstreben in Konkurrenz Aller gegen Alle und maximaler Konsum als Belohnung dafür - zeigen sich augenfällig in unmittelbaren Vergesellschaftungstendenzen. Transportiert werden sie nämlich nicht nur unmittelbar - zum Beispiel durch die Konsumwerbung - sondern auch mittelbar durch Gruppen. Mit einer gewissen Übertreibung kann man sagen, daß an die Stelle der persönlichen Verantwortung, die für jedes erzieherische Verhältnis grundlegend ist, die verantwortungslosen "Anderen" getreten sind. Dafür einige Beispiele: In der Oberstufe des Gymnasiums wie in den modernen Gesamtschulen muß der einzelne Schüler eine erhebliche soziale Energie aufwenden, um sich in ständig wechselnden sozialen Gruppierungen zu behaupten. An den Schulen und Hochschulen werden alle Beteiligten durch die Administration immer mehr dazu gezwungen, ihre Arbeit kollektiv in Gremien und Ausschüssen zu planen und zu kontrollieren. Eltern finden ihre Erziehungsziele immer weniger aus eigener Einsicht und Erfahrung, als vielmehr durch Anlehnung an kollektive Leitbilder der Massenmedien, die besonders stark einem modischen Verschleiß unterworfen sind, oder in Selbsthilfegruppen, in denen Erziehungsprobleme diskutiert werden. Nicht zu vergessen die Einflüsse, die von den Gleichaltrigen-Gruppen ausgehen und denen sich ein Kind oder Jugendlicher kaum entziehen kann, wenn man dazugehören will. Derartige Vergesellschaftungen haben also in einem hohen Maße das übernommen, was früher die Erziehung leistete. Warum ist das problematisch für die Erziehung Heranwachsender? Erstens sind jene Sozialisationsprinzipien nur Wirkungen, für die niemand persönlich verantwortlich ist, ja, die von den meisten Menschen vermutlich gar nicht wahrgenommen werden. Die Personen, denen der junge Mensch gegenübertritt, zum Beispiel die Lehrer, erscheinen allzu leicht lediglich als Agenten und Funktionäre der Sozialisation. Zum Begriff der Erziehung gehört aber unbedingt die Kategorie der persönlichen Verantwortung, nur wenn sich ein Erzieher in seiner persönlichen Version präsentiert - wobei er durchaus allgemeine normative Prinzipien zur Geltung bringen soll - kann das Kind sich auf dessen Ansprüche einlassen und sich damit
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auseinandersetzen. Zweitens wird diese Tendenz zur persönlichen Verantwortungslosigkeit unterstützt durch die beschriebene Vergesellschaftung der Erziehenden. Lehrer zum Beispiel sichern sich bei den Elternvertretungen ab, Mütter holen sich ihre Rechtfertigungen aus den Massenmedien oder aus den Gruppen. Das Kind aber läuft dabei gleichsam ins Leere, bekommt keinen festen Boden unter die Füße. Die Erziehung wird auf diese Weise unbeständig. Erziehungsziele und Erziehungsstrategien ändern sich in diesen Vergesellschaftungsprozessen, je nach den wechselnden Moden. Für ein Kind aber ist Beständigkeit wichtig, das, was heute gilt und woran es sich heute orientiert, muß auch morgen gelten, sonst ist eben Orientierung nicht mehr möglich. Drittens schließlich enthalten diese Prinzipien keine die Persönlichkeit stabilisierenden Leitmotive. Sie legen eine Wegwerfhaltung gegenüber Sachen und Menschen nahe. Bedürfnisse erscheinen unbegrenzbar, was man hat - an Dingen wie an menschlichen Beziehungen - ist immer weniger als das, was man haben könnte, solange es keine Instanz gibt, die eine Auswahl trifft und diese Auswahl persönlich bedeutsam und verbindlich macht. Diese Instanz kann die jeweilige Innerlichkeit sein, also das Vertrauen auf die eigenen Gedanken und Gefühle, oder eine allgemein akzeptierte kulturelle Norm, aber die genannten Sozialisationsprinzipien liefern eine solche Instanz nicht mit, im Gegenteil wenden sie sich gegen jede Begrenzung, die nicht die des Marktes ist. Sie sind für sich genommen also erziehungsfeindlich, weil sie keine die Persönlichkeit stabilisierende Wirkung haben, sondern im Gegenteil die Menschen zu ständiger Veränderung und zur Unzufriedenheit mit ihrer jeweiligen Existenz bewegen, etwa nach dem Motto: Was Du hast, ist nicht genug; was Du bist, ist nicht genug; was Du kannst, ist nicht genug. Die kulturelle Krise, deren Folge die Erziehungskrise ist, besteht also darin, daß die pädagogisch relevanten Prinzipien unserer Gesellschaft nicht mehr pädagogisch "übersetzt" werden können in ein die ganze Person berücksichtigendes Erziehungskonzept; dafür fehlen die entsprechenden kulturellen Normen und Horizonte. Berufliches Leistungs- und Konkurrenzstreben zum Beispiel ist nur dann auch ein erzieherischer Wert, wenn es mit anderen Werten wie zum Beispiel Solidarität oder Brüderlichkeit ausbalanciert wird. Aber das ist nicht abstrakt möglich, sondern solche Werte müssen auch in konkreten sozialen Zusammenhängen lebbar und erlebbar sein. Ein anderes Beispiel: Der Konsum von Gütern und Dienstleistungen ist nur dann erzieherisch vertretbar, wenn er eingebettet ist in einen Wert- und Sinnzusammenhang, der eben nicht aus dem Konsum selbst erwachsen kann, sondern nur aus anderen kulturellen Horizonten. Die Einsicht etwa, daß man Menschen und menschliche Beziehungen nicht konsumieren darf und kann, daß die menschlichen Grundbedürfnisse wie Liebe, Anerkennung, Geborgenheit nicht durch Güter und Dienstleistungen, sondern nur durch davon unabhängige menschliche Tätigkeiten befriedigt werden können, muß von der Konsumwerbung ignoriert werden, wie man täglich beobachten kann. Nicht wenige Kinder haben gelernt, ihre Eltern zu behandeln, als seien sie ihre Dienstboten, und nicht wenige Eltern projizieren ihre eigenen Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen auf ihre Kinder, treiben sie zum Beispiel deswegen zu Schulleistungen an, denen sie nicht gewachsen sind. Das sind Alltagsbeispiele für den Konsum menschlicher Beziehun-
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gen, die sich durchaus vermehren ließen. Es stellt sich also die Frage, woher die Prinzipien für das Ausbalancieren der Werte kommen könnten.
Zudem haben wir seit 1945 einen rapiden politisch-kulturellen Wandel erlebt, der auch zur Veränderung wichtiger Erziehungsziele führte. Keine seither herangewachsene Generation konnte die Maßstäbe, nach denen sie selbst erzogen und sozialisiert worden war, ohne tiefe Brüche an die nachfolgende übergeben. Was für die in den fünfziger Jahren Aufgewachsenen verbindlich war, wischte die "Kulturrevolution" der Studentenbewegung zu einem guten Teil vom Tisch, was dieser Generation für die Erziehung der eigenen Kinder wichtig war, ist für diese wiederum weitgehend bedeutungslos geworden. Im allgemeinen wird diese Entwicklung als ein Fortschritt bezeichnet, die Erziehung sei liberaler geworden und weniger verklemmt, die Bedürfnisse und die Interessen der Kinder und Jugendlichen seien zunehmend berücksichtigt worden. Man muß sich aber auch klarmachen, was dieser Wandel für die Beziehung der heute miteinander lebenden Generationen bedeutet. Es ist doch wohl ein wichtiges Stück der menschlichen Identität, daß das, was man an der eigenen Erziehung für gut und richtig gehalten hat, auch danach im wesentlichen gültig bleibt. Das Gefühl, für die Erwartungen und Anforderungen, die dem Erwachsenen gegenübertreten, in seiner Jugend falsch erzogen worden zu sein, muß zu einer tiefgehenden Unsicherheit in Erziehungsfragen führen.
Aber selbst solche Erziehungsziele, die für die heute lebenden Generationen noch gemeinsam gegolten haben, werden nun durch technologischen und kulturellen Wandel allmählich hinfällig.
Alle heute lebenden Generationen sind zum Beispiel mehr oder weniger dazu erzogen worden, Arbeit und berufliche Karriere zum Zentrum ihres Lebens zu machen, von woher alle anderen Dimensionen des Lebens wie Familie und Freizeit ihren Sinn bekommen (2). Nach diesem Grundsatz ist unser ganzes Leben konstruiert worden: In der Kindheit und im Jugendalter wachsen wir abseits der Arbeitswelt auf, gehen zur Schule und werden für einen Beruf ausgebildet, als Erwachsene treten wir in das Zentrum unseres Lebens, in den Beruf ein, aus dem wir dann im Alter wieder austreten. Auf diesen Lebenslauf hin ist auch unsere Erziehung angelegt, nämlich darauf, daß wir Arbeit und Beruf als Mitte unseres Lebens akzeptieren und daß wir alle anderen Lebensäußerungen und Lebensansprüche den vom Beruf ausgehenden Anforderungen unterordnen.
In dem Maße nun, wie wirtschaftliches Wachstum schrumpft, bezahlbare Arbeit knapp geworden ist und die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit möglicherweise zur Neuverteilung der Arbeit, also zur Verkürzung der Arbeitszeit zwingt - in eben diesem Maße läßt sich unser Leben nicht mehr einfach um die Arbeit gruppieren. Aber was wird dann zur sozialen Mitte unseres Lebens? Freizeit war bisher im wesentlichen Ausgleich für die Arbeit, Freizeit als Selbstzweck oder gar als Zentrum unseres Lebens - das ist etwas, was wir nicht gelernt haben und wofür auch unsere Erziehung nicht ausgelegt ist. Jedenfalls ist es sehr wahrscheinlich, daß wir auch die
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gegenwärtige junge Generation nach Grundsätzen erziehen, die sie später in ihrem Lebenszusammenhang wenig wird verwirklichen können. Auch diese Aussicht trägt wenig dazu bei, Vertrauen in die gegenwärtige Erziehung zu setzen.
Nun führt die eben skizzierte Krise der Erziehung vielfach zu der Hoffnung, der Staat könne da helfen, zum Beispiel indem er in den Schulen die nötigen Erziehungsziele vorschreibt. Die Schule wird ja überhaupt gerne als gesellschaftliche Korrektur-Anstalt in Anspruch genommen. Wenn zu viele junge Männer nicht zur Bundeswehr wollen, wenn zu viele Menschen im Straßenverkehr umkommen, wenn es zu viele politische Radikale gibt: immer erwartet man von der Schule, daß sie durch erzieherische und unterrichtliche Maßnahmen gegensteuert. So hoffen viele Bürger auch, daß die Schule die erforderlichen grundlegenden Erziehungsziele festsetzen und verwirklichen könne. Tatsächlich finden sich derartige Zielvorgaben auch in den Schulgesetzen. So heißt es zum Beispiel im Niedersächsischen Schulgesetz, daß die Schule die Wertvorstellungen vermitteln soll, auf denen die Bundes- und die Landesverfassung beruhen, zudem soll der Schüler lernen, "nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten", und seine "Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz zu gestalten".
Das ist nicht wenig, wenn es sich realisieren läßt. Im wesentlichen kann die Schule auf zweierlei Weise erziehen: Einmal durch die Gegenstände des Unterrichts, indem etwa die grundlegenden Werte des Grundgesetzes der Einsicht der Schüler erschlossen werden. In wieweit jedoch diese Einsicht auch erzieherisch wirksam wird, indem der Schüler sie auch in sein Verhalten aufnimmt, kann die Schule nicht mehr planen. Dies hängt wesentlich davon ab, ob und in welchem Maße diese Werte in der Lebenswelt der Schüler tatsächlich Geltung haben. Die Schule kann die kulturelle Krise nicht unterlaufen, sie kann nicht das, was außerhalb ihrer Mauern umstritten ist, im Unterricht unumstritten machen. Gemessen an den Einflüssen, die vom Elternhaus, von der Gleichaltrigen-Gruppe, von den Massenmedien und vom Freizeit- und Konsumbereich ausgehen, muß der erzieherische Einfluß der Schule gering bleiben, obwohl die Schüler einen nicht geringen Teil ihrer Zeit dort verbringen. Diese Einschränkung gilt auch für die andere erzieherische Möglichkeit, nämlich für die sozialen Erfahrungen, die Schüler in der Schule machen können. Kann der Schüler in der Schule wirklich erleben, wie man die Beziehungen zu seinen Mitmenschen nach den "Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz" gestaltet? Lernt er nicht außerhalb der Schule und auch weitgehend in der Schule gerade das Gegenteil, nämlich seinen eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die anderen anzustreben? Wenn die Zensuren - oft mit Zehntelwerten hinter dem Komma - darüber entscheiden, ob jemand einen Studienplatz erhält, dann ist da wenig Raum für Solidarität und Brüderlichkeit.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die gegenwärtige Erziehungskrise eine tiefgehende kulturelle Krise widerspiegelt, daß sie deren Ausdruck ist. Damit ist gemeint, daß die Unsicherheit in Erziehungsfragen erst dann wieder beseitigt werden kann, wenn wir auf wichtige Grundfragen unseres Lebens wieder überzeugende Antworten gefunden haben: Was wollen und können wir mit unserem Leben machen und
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wie wollen wir es tun? Diese Frage findet gegenwärtig zunehmendes öffentliches Interesse. Wenig nützen da alle Versuche, einfach Erziehungsziele zu formulieren oder gar den Schülern vorzuschreiben, die im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang selbst keine Resonanz finden. Im Gegenteil: Erziehung im klassischen Sinne, wo Eltern und Lehrer das Kind zu irgendeiner gewünschten Form zu bringen versuchten, ist unter unseren gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen kaum noch möglich, dafür fehlt die Autorität kultureller Institutionen. Erziehung ist nur noch möglich als privates Handeln in Familien, öffentliche Erziehung hat weitgehend den Charakter von unverantworteten sozialen Vergesellschaftungen angenommen. In dieser Lage kann Erziehung nur als Hilfe zur Selbsterziehung eine Chance haben, das heißt die Erziehungsziele müssen die Zuerziehenden zu einem guten Teil selbst finden. Dabei wird der Begriff "Erziehungsziel" streng genommen unbrauchbar, weil es in erster Linie gar nicht darum geht, sich für bestimmte Ziele und gegen andere zu entscheiden, sondern darum, zwischen verschiedenen Normen und Ansprüchen eine subjektiv befriedigende Balance zu finden und zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Lebensgestaltung eine Auswahl zu treffen, die subjektiv überzeugt und den eigenen Möglichkeiten entspricht. "Selbsterziehung" unter unseren kulturellen Bedingungen vollzieht sich nicht mehr durch den Entwurf von Erziehungszielen, denen man dann möglichst genau entsprechen will, sondern indem man durch Teilhabe an der Umwelt und durch Auseinandersetzung mit ihren widersprüchlichen Erwartungen Zug um Zug seinen eigenen Lebensplan entwirft und gestaltet. Was aber könnte Hilfe zu einer solchen Selbsterziehung heißen?
Erstens sollten wir dem persönlichen Bezug im Umgang mit jungen Menschen wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Die öffentliche Diskussion über Erziehung und die Ratschläge der Massenmedien verführen uns allzu leicht dazu, die Erziehung technisch zu sehen, etwa unter der Frage: Was muß ich tun und wie muß ich es tun, um beim Kind dies oder jenes zu erreichen? Daraus folgt jedoch keine Erziehung, sondern Manipulation, und gerade junge Menschen haben ein feines Gespür für diesen Unterschied. Was sie brauchen sind Menschen - Eltern und Lehrer - die sich mit persönlicher Verbindlichkeit mit ihnen einlassen, wozu neben Verständnis auch die ehrliche Auseinandersetzung gehört. Das "Verständnis", das heute so propagiert wird, ist oft bei Licht betrachtet auch nur eine Form der Manipulation, die mehr Gleichgültigkeit als Interesse beweist. Allerdings sind die Zeiten vorbei, wo die älteren Generationen genau wußten, was gut für die Jüngeren ist, so daß sie daraus einen Überlegenheitsanspruch ableiten konnten. Gefragt ist nicht Überlegenheit, sondern Erfahrung im weitesten Sinne des Wortes - einschließlich des Wissens und Könnens - wie umgekehrt auch die Fähigkeit, sich auf die Erfahrungen der Jüngeren einzulassen, davon ebenfalls zu lernen; denn über die Erfahrung eines anderen Menschen - auch eines Kindes - kann niemand verfügen und man kann sie auch nicht pädagogisch planen. Indem man die Erfahrung des Anderen ernst nimmt, also das, was aus seinem bisherigen Leben in seiner eigenen Vorstellung geworden ist, nimmt man ihn auch als Person ernst. Im Rahmen eines solchen Austauschs der Erfahrungen kann sich der Jüngere selbst bilden und erziehen.
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Zweitens sollten unmittelbare Erfahrungen nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Sachen und Sachverhalten wieder mehr möglich werden. Das gilt vor allem für die Schule. Sie hat den unmittelbaren Bezug zum Beispiel zu literarischen Texten, zu historischen Quellen, zu Musik und Kunst durch einen Wust von Lernzielen und anderen Vorschriften zerstört. Hier ist die Manipulation mit Händen zu greifen. Staatliche Richtlinien haben inzwischen für manche Fächer den Umfang von Karl-May-Romanen angenommen. Was aus der Beschäftigung mit einer Sache herauskommen soll, ist immer schon durch Lernziele vorgeschrieben. Dabei könnte es doch sein, daß eine Sache durch die Erfahrung des Schülers einen anderen Sinn bekommt, als der Lernzielmacher sich das gedacht hat. Insofern die Schule die Erfahrung der Kinder nur als Störung des geplanten Unterrichts betrachtet, gibt sie auch ihre wichtigste Erziehungsmöglichkeit preis - allerdings auch dann, wenn sie den Reiz der Sache gar nicht erst zum Vorschein kommen, sondern im eilfertigen Geschwätz der Gruppe untergehen läßt, was manchmal als "erfahrungsorientierter Unterricht" ausgegeben wird. In der Schule müßten die Schüler die Möglichkeit haben, sich mit Gelassenheit und ohne Leistungsdruck von außen geordnete Vorstellungen über die Welt zu erarbeiten, um so ein stabilisierendes Zentrum inmitten der kulturellen und normativen Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit sich zu schaffen.
Die Schule hätte also die Aufgabe, die kommunikative Borniertheit des Alltags - auch des familiären - zu durchbrechen mit dem Ziel, prinzipielle Dimensionen und Strukturen der Natur und der Kultur der Besinnung des Schülers zugänglich zu machen, damit er Distanz zu seiner und seiner Gruppe Subjektivität zu gewinnen vermag.
Drittens schließlich sollte die Unmittelbarkeit des sozialen Zusammenlebens erzieherisch genutzt werden. Das gilt in erster Linie für die Familie. Hier können immer noch grundlegende soziale Erfahrungen erworben werden, wie sie den Maximen der Toleranz, Solidarität und Brüderlichkeit entsprechen, sofern die Eltern sich nicht listig selbst pädagogisieren (3), sondern neben ihrer Bereitschaft zur Liebe und Fürsorge auch ihre Bedürfnisse und Interessen zur Geltung bringen, und insofern sie auch ihre Erfahrung mit ihren Irrtümern und Schwächen zur Diskussion stellen. In diesem Falle könnten wichtige soziale und normative Grundlagen für die Selbsterziehung entstehen, die nicht aus erzieherischen Predigten, sondern aus der unmittelbaren Bewältigung des gemeinsamen Alltags erwachsen.
Die Erziehungskrise zwingt uns also in mehrfacher Hinsicht zur Besinnung: zur Besinnung darüber, wie wir eigentlich in Zukunft leben, welche der dafür gegebenen Möglichkeiten wir wählen wollen, aber auch zur Besinnung über die elementaren Grundsätze und Regeln des menschlichen Zusammenlebens im Alltag. Dabei
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stellt sich heraus, daß das Erzieherische ein Teil des Zusammenlebens zum Beispiel in der Familie ist, sich daraus ergibt. Das Leben in der Familie ist im ganzen nicht pädagogisch geplant, es besteht vielmehr aus einer Reihe von Tätigkeiten, die die Familienmitglieder einzeln oder gemeinsam ausüben, und die an und für sich mit planmäßiger Erziehung nichts zu tun haben. Aber was da geschieht und wie es geschieht, bestimmt das Klima für erzieherische Handlungen, ob zum Beispiel eine mehr harmonische oder eine mehr konflikthafte, eine mehr autoritär-ängstliche oder mehr gesprächsoffene Grundstimmung vorherrscht. So oder so aber dienen erzieherische Eingriffe nicht der Planung des Zusammenlebens, sondern seiner Korrektur: sie erfolgen erst, wenn das Kind etwas falsch macht. Das, was es "richtig" macht, ist nicht das Ergebnis erzieherischen Wollens, sondern erwächst aus seiner eigenen Initiative im Rahmen des Klimas des Zusammenlebens. Wo Eltern dagegen versuchen, ihr Zusammenleben in erster Linie zum Zwecke einer planvollen Erziehung der Kinder zu organisieren, da wird nicht nur diese Erziehung, sondern das Zusammenleben selbst gefährdet. Beispiele dafür finden wir heute fast in jeder Nachbarschaft. Dabei geht die Einsicht verloren, daß Erziehung ein wechselseitiger Prozeß ist, daß auch das Kind in gewisser Weise seine Eltern erzieht, indem es seine Gedanken, Gefühle und Wünsche zur Geltung bringt und seine Eltern veranlaßt, sich darauf einzulassen. Erst wenn man sich solche Zusammenhänge klarmacht, vermag man zu erkennen, wie erziehungsfeindlich eine Schulpädagogik ist, die nicht nur die Gedanken der Schüler, sondern inzwischen auch deren Gefühle und ihr Sozialverhalten in ihre Planung einbeziehen will, so daß alle Impulse, die vom Schüler ausgehen, entweder in diese Planung passen oder als deren Störung abgewiesen werden müssen.
Als Ergebnis unserer Überlegungen läßt sich also festhalten, daß gegenwärtig eine Diskussion über Erziehungsziele wenig nützt. Wir brauchen keine alten oder neuen Erziehungsziele, sondern in Familie und Schule Bedingungen dafür, daß dort Erziehung als menschlich verbindlicher Austausch der Erfahrungen zwischen den Generationen wieder möglich wird.
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Anmerkungen:
(1) Von der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft ist hier Hilfe kaum zu erwarten, weil sie die kulturelle Krise auch nur widerspiegelt und die im folgenden kritisierten technokratischen und Vergesellschaftungstendenzen nicht unerheblich mit gefördert hat. Vgl. dazu E. König/P. Zedler (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Forschung: Positionen, Perspektiven, Probleme, Paderborn - München 1982, vor allem die Beiträge von K Mollenhauer, H. v. Hentig und H. Giesecke.
(2) Vgl. dazu R. Dahrendorf: Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. Wandlungen in der sozialen Konstruktion des menschlichen Lebens. In: Merkur H. 8/1980, S. 749-760.
(3) Die zunehmende Psychologisierung des pädagogischen Verhältnisses hat inzwischen nicht nur in der pädagogischen Ausbildung, sondern auch in vielen Familien - vor allem der Mittelschicht - zu einer "Klientelisierung" des Kindes geführt, die "un-vermittelte" menschliche Beziehungen zwischen den Generationen mehr oder weniger erschwert. Ein wichtiges Merkmal dieser Tendenz ist, daß das Wie der Beziehungen im Vordergrund steht und immer bedeutungsloser wird, was man mit einander tut.
132. Zur Unzeit laut gedacht (1982)
(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 18, 2.5.1982)
"Überlegungen zur Diskussion" stellte jüngst in einem Gespräch mit Vertretern der Westdeutschen Rektorenkonferenz der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände, Otto Esser, an, "auch im Hochschulsystem marktwirtschaftliche Steuerungselemente, insbesondere auch kostenorientierte Studiengebühren - mit entsprechenden Darlehen - einzuführen. Damit sollte einerseits ein Anreiz für ein effektiveres und kürzeres Studium, andererseits den Hochschulen ein zusätzlicher Spielraum im Qualitätswettbewerb gegeben werden."
Nun würde sich sicherlich hier und da die Studienmotivation verbessern, wenn man für die Teilnahme an einer Lehrveranstaltung etwas bezahlen müßte. Aber im ganzen könnte ein solcher Vorschlag kaum eines der wichtigen Probleme im Hochschulbereich lösen; er würde nur wieder die finanziell Schwachen treffen und entmutigen.
Erstens nämlich würde ein effektiveres, also kürzeres Studium in vielen Fällen die offensichtliche Arbeitslosigkeit nur vergrößern. Längst ist die Hochschule auch zu einer Art von "Bewahranstalt" für faktisch Arbeitslose geworden, und sie wird sich auf diese neue "sozialpädagogische" Funktion vermutlich noch mehr einlassen müssen als bisher.
Zweitens kann "Kostenorientierung" wohl nur heißen, daß der Student für einen teuren Studiengang (etwa einen naturwissenschaftlichen) mehr bezahlen muß als für einen weniger teuren (etwa geisteswissenschaftlichen). Dies wäre aber nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß die späteren Einkommen eine ähnliche Differenz aufweisen, was man kaum behaupten kann. Gegenwärtig würde eine solche "Kostenorientierung" dazu führen, daß die in der jungen Generation weit verbreitete anti-technische Studienneigung noch honoriert würde.
Würde man aber unbeliebte, jedoch benötigte Ausbildungsabschlüsse mit einer Prämie versehen, so wäre das kein Prinzip des Marktes, sondern der bürokratischen Intervention.
Drittens schließlich stellt sich schnell heraus, daß "marktwirtschaftliche Steuerungselemente" die Arbeitslosigkeit eher hervorrufen als beseitigen, allenfalls verlagern sie diese von den Hochschulabsolventen auf die Real- und Hauptschulabgänger nach dem Motto: den ("Ausbildungs"-)Letzten beißen die Hunde.
Otto Esser stellt seine Überlegungen zum falschen wirtschaftlichen Zeitpunkt an. Man könnte ja auch an den Hochschulen einen Teil des Lehrpersonals etwa dadurch "wegrationalisieren", daß man die Studenten belohnt, die die wenigsten Kosten verursachen, also mit den wenigsten Lehrveranstaltungen auskommen; denn die "Verschulung" und die dadurch bedingte Abschaffung des selbständigen Studierens verursachen in der Tat überflüssige Kosten. Aber auch das würde nur die akademische Arbeitslosigkeit vermehren.
Geboten ist heute eher, daß die Hochschule auf Distanz geht zu ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Erwägungen und Prognosen. Sie kann nicht mehr das künftige Berufsschicksal der Studenten antizipieren, und je mehr sie sich um "Berufsbezogenheit" bemüht, um so mehr weckt sie falsche Hoffnungen. Studieren sollte zumindest auch wieder stärker als ein "kultureller Luxus" verstanden werden, den man sich als junger Mensch gönnt, zumal Experten ohnehin meinen, daß für die kommenden Generationen das "Ende der Arbeitsgesellschaft" in Sicht sei.
133. Hat Hitler die Jugend verführt? (1982)
Über die Beziehung von Identität und Gewalt
(In: deutsche jugend, H. 10/1982, S. 457-467)
Vorbemerkung: Der folgende Text basiert auf einem Funkmanuskript, das unter dem Titel "Die Verführbarkeit der Jugend - Lehrbeispiel: Machtergreifung durch die Hitlerjugend" vom Dritten Programm des NDR gesendet wurde. Der ursprüngliche Text wurde erheblich gekürzt und überarbeitet.
Jugend und Politik 1930-1933
"Die Abwendung der Jugend von den liberalen Parteien, ihre Zusammenrottung unter den plattesten Parolen, das betonte Plebejertum in ihren Scharen, die Lust am Drill und die Bereitschaft für jeden, der sie kommandieren will, sind natürliche, jugendgemäße Reaktionen auf eine Bedrohung des Lebens und der Moral vom Geistigen her. Der Geist-Feindlichkeit der Jugend liegen primitive revolutionäre Instinkte zugrunde.
Noch nie ist eine Revolution von der Jugend ausgegangen. Die Situation unserer Jugend aber, nimmt man zu dem Hiergesagten ihre wirtschaftlichen Nöte, ihr Preisgegebensein an das heute herrschende Notsystem hinzu ist derart, daß sie ein mit Jammer, Haß, Wut und edler Empörung geladenes Material ist, bereit für jede Revolution. Ein echter revolutionärer Gedanke kann in ihr in jedem Moment auch den revolutionären Elan wecken"(1).
Mit diesen Worten beendete Peter Suhrkamp im Jahre 1932 einen Aufsatz mit dem Titel "Söhne ohne Väter und Lehrer". Darin versucht er, die Probleme und Nöte der damaligen jungen Generation zu beschreiben. Ein halbes Jahr später, am 30. Januar 1933, war die "Revolution" da: Hitler hatte die Macht ergriffen. Ein großer Teil der jungen Generation hatte seine Bewegung teils aktiv, teils passiv unterstützt.
Mit Ausnahme des Kerns der in der SPD und ihren Jugendverbänden organisierten Jugendlichen hatte sich die Jugend in ihrer überwältigenden Mehrheit von der Republik
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abgewandt. Schon in den Septemberwahlen von 1930, die das Ende der Republik einleiteten, verhalfen vor allem die Jungwähler zwischen 20 und 30 Jahren der NSDAP zu einem Stimmenanteil von 18,3 Prozent. Zwei Jahre zuvor hatte diese Partei ganze 2,6 Prozent der Stimmen gewinnen können. Aber 1928 war auch die Wahlbeteiligung der Neu- und Jungwähler erheblich geringer. Ab 1930 wich die Parteimüdigkeit bei den Jungwählern einem zunehmenden politischen Engagement. Es kam aber nicht den etablierten demokratischen Parteien zugute, sondern den radikalen Parteien KPD und NSDAP, die 1930 etwa zwei Drittel aller Jungwähler für sich gewinnen konnten, wobei die große Mehrheit sich der NSDAP zuwandte. Wie ist das zu erklären?
Vordergründig bietet sich die Antwort an, die wirtschaftliche Situation, zum Beispiel die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die daraus resultierende Zukunftsunsicherheit seien die Ursachen gewesen. Viele junge Leute hätten damals gehofft, Hitler würde ihnen Arbeit und Brot geben, wie er versprochen hatte. Aber diese Erklärung ist zu einfach, so bedrückend die materielle Not mit ihren psychologischen Folgen auch gewesen ist; denn sie war in vielen Industrieländern nicht geringer, ohne daß dort eine vergleichbare politische Bewegung entstanden wäre (2). Es muß vielmehr eine "Entsprechung" zwischen dem damals herrschenden "Charakter", also dem "Sozialisationstyp", der jungen Generation und der Hitlerbewegung gegeben haben. Das bedeutet: Das, was die Nationalsozialisten in der jungen Generation ansprachen, muß in tiefere Strukturen der Persönlichkeit vorgedrungen sein und dort Resonanz gefunden haben; eine bloß wirtschaftliche Erklärung wäre zu "vernünftig".
Im Juli 1932 gab es 1,45 Millionen Arbeitslose unter 25 Jahren. Das bedeutete nicht nur materielles Massenelend, sondern hatte auch sozialpsychologische Folgen.
"Durch die Notverordnung vom 5. Juli 1931 ... wurden alle Arbeitslosen unter 21 Jahren von der Unterstützung ausgenommen, die einen Unterhaltsanspruch gegenüber Familienangehörigen hatten. Genauso wurde mit der Krisenfürsorge verfahren. Man kann sagen, daß gerade die Arbeiterjugend durch die Arbeitslosigkeit eine künstliche und schreckliche Jugendphase erlebte, die sie in ein nie gekanntes Abhängigkeitsverhältnis von der Elterngeneration brachte und zudem das Lebensniveau der Lohnabhängigen insgesamt drückte. Außerdem waren diese Maßnahmen dazu angetan, den häuslichen Frieden in vielen Familien vollends zu zerstören" (3).
Hinzu kamen die enttäuschten Aufstiegshoffnungen. Die Weimarer Republik hatte den Zugang zu den Gymnasien und Hochschulen bewußt geöffnet. In Preußen zum Beispiel gingen im Jahre 1910 nur 1,9 Prozent der Volksschüler auf die höhere Schule über, im Jahre 1929 waren es schon 17 Prozent.
"Die Enttäuschung, aus finanziellen Gründen die höhere Schule verlassen zu müssen, führte gerade bei begabten Jugendlichen zu tiefgreifenden Kränkungen und einer existentiellen Verzweiflung. Bei Funktionären des kommunistischen Jugendverbandes habe ich einige ... solcher Arbeiterjugendlichen gefunden, die zwar durch ihre Herkunft klassenkämpferisch und sozialistisch eingestellt waren, aber erst durch die Enttäuschung ihrer Aufstiegshoffnung fanatische Hasser der Republik wurden und sich voll und unkritisch in den Dienst der Partei stellten, wo sie eine intellektuell anspruchsvolle und 'sinnvolle' Aufgabe finden konnten" (4).
Wer unter Versagungen und Anstrengungen den Schul- oder Studienabschluß geschafft hatte, hatte jedoch kaum die Chance, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden:
"Die Folge war bald ein unerbittliches Wettrennen um die letzten Ausbildungs- und Studienplätze, ein Ansturm, der in einer Atmosphäre freigesetzter Emotionen sich rasch zu einer Art
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Klassenkampf steigerte, wobei der Unbeschäftigte dem Beschäftigten bzw. der beruflich geforderte Jugendliche dem von der beruflichen Bewährung ausgeschlossenen Jugendlichen gegenüberstand" (5).
Alles in allem tat der Weimarer Staat wenig, den Jugendlichen zu helfen; im Gegenteil: er sparte vor allem auf ihre Kosten. Ein jugendpolitisches Konzept gab es praktisch nicht.
Erfolge der HJ
Das aber hatte die Hitlerjugend. Sie war die einzige Jugendorganisation zur Zeit des Niedergangs der Republik, die auch praktisch etwas für die Jugendnöte tat, während die anderen Jugendverbände entweder nur politische Forderungen stellten oder, wie die "Bünde", die Probleme ohne praktische Konsequenzen diskutierten.
"Was sowohl Arbeiterjugend als auch klein- und großbürgerliche Jugendliche ... magisch zur Hitlerjugend zog, waren die innerhalb der HJ-Führung erkennbaren sozialfürsorgerischen Intentionen. Wenngleich manche der von der HJ geplanten Aktionen nur in bescheidenen Ansätzen stecken blieben, erhielten sie doch vor dem sozio-ökonomischen Hintergrund der sich seit 1929 katastrophal ausbreitenden Wirtschaftskrise ... eine überhöhte Bedeutung ... Die HJ-Führung ... arbeitete ein detailliertes Sozialprogramm für Jungarbeiter und Lehrlinge aus, das als Grundlage für ein später zu schaffendes 'Reichsjugendgesetz' gedacht war ... Das oft wiederholte Beispiel stellungsloser Jungarbeiter, Lehrlinge oder kleinerer Angestellter, die von uneigennützigen HJ-Unterführern wirtschaftlich über Wasser gehalten wurden, so daß der HJ ähnlich wie mancherorts der SA der Ruf einer karitativen Vereinigung voranging, verfehlte seinen Eindruck auch unter höheren Bürgerkindern nicht" (6).
Daß hier Taten versucht wurden, machte angesichts der allgemeinen Ohnmacht der Politiker Eindruck. Hinzu kam, daß die Nationalsozialisten in ihrer Ideologie eine weitverbreitete "Stimmung" ansprachen: Das Weimarer parlamentarische System habe abgewirtschaftet; das Parteiensystem diene nur dem Egoismus einzelner Gruppen; die Republik sei eine Veranstaltung der Juden zur Unterdrückung des deutschen Volkes; die Ideen des Liberalismus und der bürgerlichen Freiheiten hätten nur zur Zersetzung des Volkes geführt.
Vor diesem Feindbild erschien der Nationalsozialismus als der einzig mögliche Retter. Er versprach "Volksgemeinschaft" statt Parteiensystem; Kampf gegen die Juden in Volk und Staat, eine neue, auf Arbeit beruhende soziale Integration, in der jeder wieder den ihm gemäßen Platz finde, statt liberaler Freiheiten, die den einzelnen nur in seiner volklichen sozialen "Gemeinschaft" entfremdeten. Die Nazi-Ideologie war kein Parteiprogramm wie andere. Sie enthielt kaum Hinweise darauf, was konkret nach der Machtergreifung geschehen sollte. Es handelte sich um ein Konglomerat von Gefühlen und Wünschen, das allerdings dazu dienen konnte, möglichst viele Menschen zur Unterstützung des eigenen Machtanspruchs zu gewinnen. So gab es vor 1933 einen starken sozialrevolutionären Flügel mit anti-kapitalistischen und teilsozialistischen Vorstellungen. Diese waren vor allem in der SA und in der HJ verbreitet. Deshalb konnte die HJ den Eindruck erwecken, für eine soziale Revolution zu kämpfen, während Hitler längst begonnen hatte, die sozialrevolutionären Impulse in seiner Partei auszuschalten.
Andererseits waren damals wichtige Elemente der Nazi-Ideologie wie Antiparlamenta-
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rismus und Antiliberalismus sowie Vorstellungen über eine künftige anti-demokratische "Volksgemeinschaft" nicht nur in der "Bündischen Jugend", sondern auch in den konfessionellen Jugendverbänden - vor allem den protestantischen - weit verbreitet (7). Nichts davon hatten die Nazis erfunden, sie griffen es nur auf und verwandelten alles in politische Gewalt.
Zweifellos war also schon 1932 ein großer Teil der bürgerlichen Jugend auf der Seite des Nationalsozialismus. Das zeigte sich weniger in den Mitgliederzahlen der Hitlerjugend. Sie hatte im Januar 1933 nur rund 50 000 Mitglieder. Das waren nur 1 Prozent der Jugendlichen, die von den im "Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände" zusammengeschlossenen Jugendverbänden erfaßt wurden. Aber im Reichsausschuß, dem Vorläufer des heutigen Bundesjugendrings, waren nur die förderungswürdigen Jugendverbände erfaßt, die sich vorwiegend pädagogisch-jugendpflegerischen Aufgaben zuwandten. Dazu gehörten nicht die "Wehrverbände", die vor allem parteipolitische Ziele verfolgten. Der Wehrverband der NSDAP war die SA. Sie hatte im November 1930 rund 60000, im Januar 1932 rund 291000 und im Januar 1933 rund 700 000 Mitglieder. Davon waren 59,1 Prozent 19 bis 24Jahre alt. Und die SA war es, die in erster Linie das Öffentlichkeitsbild der Nationalsozialisten prägte. Die HJ war bis 1932 der SA unterstellt, als deren Nachwuchsorganisation und Hilfstruppe gedacht. Jeder Hitlerjunge mußte mit 18 Jahren die HJ verlassen und in die SA eintreten.
Die Attraktivität der SA - und später auch der SS - für die 20- bis 30jährigen lag nicht zuletzt darin, daß sie gerade dieser Altersgruppe ein unmittelbares Betätigungsfeld anbot. Die anderen Jugendverbände hatten nichts Vergleichbares anzubieten. Man konnte zwar Mitglied einer Partei werden, aber die etablierten politischen Apparate waren nur für wenige interessant. Charakteristisch war, daß die Versuche der Jungsozialisten, sich als junge Generation in der SPD zu integrieren, am Widerstand der Partei scheiterten. Ihre Organisation wurde 1931 aufgelöst.
Im politischen und gesellschaftlichen System von Weimar war also für die 20- bis 30jährigen zwischen Beruf und privater Freizeit keine öffentliche soziale Position vorhanden. In diese Lücke stieß die SA. Sie bot handfestes Handeln statt grüblerischen Problematisierens an, sowie männerbündlerische Geborgenheit.
Das Problem der Identität
Die Wendung vom Denken zur Tat, zum Handeln war ohnehin ein charakteristisches Moment des schon erwähnten "Generationsgefühls" in der damaligen jungen Generation. Dieses Gefühl wurde von Zeitgenossen als "heroischer Skeptizismus" bezeichnet. Diese Generation war geprägt vom Krieg und von den Nöten der Nachkriegszeit, sie war nicht mehr jugendbewegt, sie war eher angepaßt, emotional kühl und distanziert ohne tiefgehende geistige Interessen, aufs Praktische und Konkrete gerichtet, zugewandt der modernen Technik, der Arbeitswelt, den Massenmedien und den konventionellen Geselligkeitsstandards. Auf der Führertagung des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände 1928 diskutierten Jugendführer und Experten über das Thema "Die geistige Formung der Jugend unserer Zeit". Hermann Maass, der aus der sozialistischen Jugendarbeit kam und Geschäftsführer des Reichsausschusses war, charakterisierte das neue Generationsgefühl so:
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"Lebensbestand und Lebenserhaltung dieser Jugend waren in der Zeit ihrer Kindheit und Reife ... bedroht, leiblich, geistig, seelisch. Lebenssicherung war ihnen ein unbekannter oder früh angezweifelter Begriff; 'Unordnung und frühes Leid' umso vertrauter, als in die Zeit der Bewußtwerdung Bürgerkrieg, Inflation, Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Berufsnöte fielen. Wie eine Reaktion und Selbsthilfe der Natur wirkt nun das, was sich bisher zu menschlichen Zügen dieser neuen Jugend gebildet und verdichtet hat: Jene instinktive Neigung und Fähigkeit, zunächst den äußeren Lebensbestand zu sichern und zu mehren; jenes Ergreifen des Nächstliegenden, die Abkehr von der Ferne; jener starke Sinn für Distanzierung, die in Kindheit und früher Jugend als Sicherung des Ich erprobt worden ist; jenes Abweisen von Erschütterungen, von gefühlsmäßiger Ergriffenheit, die man sich nicht leisten kann und zumuten darf, weil sie den Druck, unter dem man ohnehin schon lebt, nur noch verstärken (8).
Beherrschend war das Gefühl der Einsamkeit in der Masse: "Wir sind ein einsames Geschlecht, auch wo wir mitten in der großen Menge stehen. Dem widerspricht auch nicht, daß wir uns willig in Gemeinschaften einordnen; das ist nur das Äußere: Im Innern sind wir immer ganz allein " (9). So hieß es in einem damals viel beachteten Buch von Frank Matzke mit dem Titel "Jugend bekennt: So sind wir!«
Diese Generation hatte besondere Probleme, ihre Identität zu finden. Das erwähnte Gefühl der Einsamkeit, des Auf-sich-selbst-angewiesen-seins hatte aber nicht nur die schon erwähnten lebensgeschichtlichen Ursachen, sondern auch gesellschaftliche. Diese Generation mußte aufwachsen in einer Gesellschaft, die wenig normative Orientierung bot. Die politische Form und die Werte, denen sich diese Gesellschaft verpflichtet fühlen sollte - das parlamentarische System und die liberalen Freiheitsrechte - wurden von einem großen Teil der Erwachsenen nicht anerkannt. Die Jugend wuchs also damals auf in einem Staat, der von politisch maßgeblichen Gruppen und Personen ungestraft in seiner Substanz attackiert werden konnte. Damit entfiel für viele die Möglichkeit, Identität durch Identifikation mit demokratischen Prinzipien zu gewinnen. Die von den Antidemokraten empfohlenen Ersatzobjekte wie Volk, Nation, Führer mußten die feindliche Distanz zu den Werten der Republik nur noch vergrößern.
Aber die normative Orientierungslosigkeit betraf viele junge Menschen auch unmittelbar und persönlich. Die Mittelschichten, insbesondere das Bildungsbürgertum, hatten mitsamt ihrer materiellen Sicherheit auch ihre frühere gesellschaftliche Position verloren. So konnten sie ihrem Nachwuchs kaum etwas bieten, womit zu identifizieren sich lohnte. Der nun zugelassene, auf den Ideen des Liberalismus beruhende normative Pluralismus ließ, auch in der privaten Sphäre, alles beliebig erscheinen: Es gab nichts, woran man sich halten und womit man sich auseinandersetzen konnte.
Das galt weniger für diejenigen Gruppen, die noch in einigermaßen intakten weltanschaulichen Bindungen lebten: für die organisierte Arbeiterjugend etwa und für die katholische Jugend. Aber auch hier gerieten für selbstverständlich gehaltene Traditionen ins Wanken. Sogar die damalige Reformpädagogik, die die alte Lern- und Paukschule ablöste und einen freieren, schöpferischen Umgang zwischen Schülern und Lehrern propagierte, verstärkte die Verunsicherung noch, anstatt Orientierungspunkte zu setzen. Peter Suhrkamp, der selbst ein engagierter reformpädagogischer Lehrer war, faßte seine Erfahrungen so zusammen:
"Je mehr Beifall ich hatte, desto größer wurde meine Verdrossenheit. Ich fand, daß die Begeisterung der Schüler wohl zunahm, daß ... Anregungen sie aufschlossen und alle
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Fähigkeiten in ihnen aufblätterten; sie bekamen Einfälle, Phantasie und Mut und verrieten sogar gelegentlich Geist. Aber als sie ganz aufgetan waren, bis in die zarten Herzblättchen hinein, schlossen sie sich nicht mehr. Sie konnten nur noch schlaffer werden und dürrer. Sie versagten, sobald Konzentration verlangt wurde ... Sie langweilten sich leicht. Sie waren von einer zehrenden Ruhelosigkeit. Ihre Flamme wurde dünner und dünner. Insgesamt war das Resultat Lebensuntüchtigkeit, innere Verzärtelung, Selbstverliebtheit und Lebensangst" (10).
Die Reformpädagogik bot der jugendlichen Identitätsfindung das Konzept eines persönlich-autonomen Lebensstiles an, der sich auf die eigene "Innerlichkeit", also auf das Vertrauen in die eigenen Gedanken und Gefühle, stützen und zu individuell verantwortbaren Entscheidungen befähigen sollte. Aber was vor dem Ersten Weltkrieg - als solche Konzepte im Rahmen der wilhelminischen Kultur entstanden - unter historisch überfällig gewordenen Traditionen befreiend wirken konnte, mußte nun vielfach als Verstärkung der Orientierungslosigkeit erlebt werden, zumal auch die "Basisbeziehungen", die familiären und die grundlegenden weltanschaulichen Bindungen in Frage gestellt waren.
Die Alternative zu diesem Konzept ist die Unterwerfung unter eine Idee oder Führung, die dem Einzelnen die ihn belastenden Wert- und Lebensentscheidungen abnimmt.
Gewaltbereitschaft ohne Ziele
Unter diesem Gesichtspunkt wird der Haß gegen das Weimarer System und seine liberalen Zumutungen verständlich. Es verlangte ständige Selbstüberforderungen zur Herausarbeitung der eigenen Identität, denen viele nicht gewachsen waren. Jugendliche Radikalität, die so entstand, verband sich mit der schon erwähnten Neigung zur Tat auf Kosten des Denkens zu jenem gewalttätigen Szenarium, das die politischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren der Republik kennzeichnete. Es war eine im Grunde inhalts- und ziellose Gewaltbereitschaft. Sie diente nicht dem Zweck, irgend etwas zu erreichen, sie hatte einen Feind - die Republik mit allem, was sie verkörperte - aber keine das Handeln konkret anleitende Perspektive. Sie war- so paradox das klingen mag - zutiefst unpolitisch. Das erkannten auch einige zeitgenössische Beobachter. Der Pädagoge Erich Weniger schrieb:
"Die wirtschaftliche Lage mit ihrer Existenzunsicherheit, die Aussichtslosigkeit der meisten Berufswege, die Fragwürdigkeit der gesellschaftlichen Stellung, alles das führt in der Jugend einen Zustand herbei, dessen Ausdruck die radikale Betätigung ist. Es wäre also ganz falsch, die in den Radikalismen vorgegebenen Willensrichtungen ohne weiteres als die bewegenden Tendenzen der radikalen Jugend zu nehmen und an sie anzuknüpfen. Sie gehören lediglich zu den Symptomen unserer Lage. Die wirkliche Willensrichtung dieser Jugend geht in ganz anderer Richtung, auf Selbstbehauptung im Daseinskampf und auf Anteil an den Gütern des Lebens, und weil zu ihnen der Zugang gesperrt ist, sucht und findet man Befriedigung in radikaler Ideologie und Betätigung. Es hat darum Radikalismus als Massenbewegung geistig noch nie so wenig bedeutet wie heute, so viel er auch für den Augenblick verderben kann" (11).
Auch Hermann Schafft, ein bekannter Führer der damaligen Jugendbewegung, sah die Inhaltslosigkeit der Radikalität:
"Es muß gehandelt werden, und es ist im Grunde nicht so wichtig, an welche Machtgruppe man sich eigentlich anschließt ... Der Anschluß erfolgt so, daß man sich der Idee der Bewegung und der sie tragenden Organisation in unbedingter Hingabe verschreibt ... Anstelle des Gespräches
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mit dem Gegner tritt Schlagring und Messer. Jenes Bewußtsein der Verbundenheit mit anderen in einer letzten Grundhaltung über die Unterschiede der Richtung hinweg, wie es in den Anfängen der Jugendbewegung war, ist fast völlig vernichtet" (12).
Gewaltbereitschaft und damit verbunden die Militarisierung des Jugendlebens ergriffen auch andere Jugendverbände oder diese versuchten selbst solche Impulse für sich aufzugreifen (13).
"Marschierende, einheitlich gekleidete Jungentrupps in geschlossenen, disziplinierten Reihen. Sie halten Gleichschritt, die Fahne an ihrer Spitze, die einmal die rote Fahne des kommenden sozialistischen Staates ist, oder die Hakenkreuzfahne als Wahrzeichen des kommenden Dritten Reiches; ein andermal das Kreuz katholischer oder evangelischer Jugend oder die schwarze Fahne des Widerstandes gegen den Versailler Gewaltfrieden. Das Stehen und Marschieren in Reih und Glied ist allen Ausdruck ihres stärksten Lebensgefühls, bedeutet allen elementares Erlebnis, wirkt auf alle wie ein Rausch" (14). Ohne Zweifel zeigte sich hier das Verlangen vieler Angehöriger dieser Generation nach Identität durch Integration in irgendeine Form von Gemeinschaft. Diese Generation wartete nur darauf, daß jemand ihren Wunsch, der zugleich ein Angebot enthielt, akzeptierte. Es waren die Nationalsozialisten, die diese Jugend dort abholten, wo sie stand, und sie mußten nicht erst gebeten werden. Im Gegenteil: seit 1930 konzentrierte sich ihre Agitation auf die junge Generation. Die Nazis hatten die materiellen, sozialen und psychologischen Probleme der Jugend wenigstens soweit verstanden, daß sie wußten, wie man sie agitatorisch nutzen konnte. Man bot den jungen Leuten ein Gefühl der Wichtigkeit und ein neues Selbstbewußtsein an. "Die NSDAP ist die Partei der Jugend", formulierte Baldur von Schirach.
Die Nazis waren nicht die ersten, die der Jugend damals schmeichelten. Es gab in der Weimarer Zeit einen regelrechten Jugendkult; jeder Erwachsenenverband und jede politische Partei wollte sich einen möglichst großen Teil der Jugend als Nachwuchs sichern. Die einen erwarteten von ihr die Überwindung der Parteienherrschaft zugunsten einer nationalen Volksgemeinschaft; die anderen hofften, daß die Jugend den Sozialismus verwirklichen werde. Dazwischen gab es eine Fülle von Organisationen, von den Kirchen bis zu den lebensreformerischen Bewegungen, die alle in dem Maße auf die Jugend setzten, wie sie sich selbst am Ende ihres Lateins glaubten. Aber alles war nur ein "Kult"; für die eigentlichen Probleme der Jugendlichen hatte man keine Hilfe anzubieten. "Die Jugend als Symbol wird gefeiert, die Jugend als Lebensalter unterdrückt" (15).
Am Ende der Republik war schließlich das Gefühl weit verbreitet, daß die "Alten" mit ihrer Weisheit am Ende seien und nur die Jugend noch im Stande sein könne, allen eine bessere Zukunft zu bescheren. Und die nationalsozialistische Bewegung bot sich dabei ohne erkennbare Alternative als Vollstrecker an. So sah es auch Günter Gründel in seinem damals vielbeachteten Buch "Die Sendung der jungen Generation":
"Die Alten glauben heute, am Ende zu stehen, wir lassen ihnen ihren Pessimismus, denn für sie besteht er zu recht. Wir aber stehen an einem neuen Anfang: Im Beginn der deutschen Revolution, am Morgen des vierten abendländischen Schöpfungstages. Die Alten können nicht mehr glauben, weil sie am Ende stehen. Wir aber glauben, weil wir am Anfang stehen. An jedem Anfang steht ein großer Glaube. Und aus ihm - und erst aus ihm! - wächst der Wille, der die Tat gebiert ... Wir glauben an unsere Sendung. Wir sind besessen von unserer Berufung. Das heißt: Wir empfinden uns als Werkzeug eines höheren Willens" (16).
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Derartige Vorstellungen von der Sendung einer jungen Generation, die jenseits aller Parteien und aller partikularer Interessen die neue Volksgemeinschaft gestalten sollte, schienen nach der Machtergreifung realisierbar zu sein. Baldur von Schirach, der von Hitler ernannte "Reichsjugendführer", nahm diese Vorstellungen beim Wort, forderte die Auflösung aller anderen Jugendverbände und die Anerkennung der HJ als einziger einheitlicher nationaler Jugendorganisation (17). Nachdem man sich auf die Ideologie des Nationalsozialismus eingelassen oder diese sogar mit hervorgebracht hatte, konnte der Wunsch, weiterhin eigene Jugendorganisationen zu behalten, nur als rückständig erscheinen, als Vereinsmeierei und als Weigerung, an der neuen Volksgemeinschaft mitzuwirken.
Angesichts der hier geschilderten Entwicklung ist es fraglich, ob man das Verhältnis von Hitlerbewegung und junger Generation als eines von Verführern und Verführten bezeichnen kann. Im Grunde nämlich hat Hitler der Jugend keine falschen Versprechungen gemacht; sie ist ihm in ihrer großen Mehrheit freiwillig gefolgt, ja, fast könnte man sagen: sie hat sich ihm geradezu aufgedrängt - und zwar aus Schwäche und Unsicherheit:
"Aller einseitiger Radikalismus ist ja im Grunde genommen auch nur die geistige Notwehr von Menschen, die sich der bunten Vielheit der Dinge gegenüber machtlos fühlen und dennoch etwas Ganzes schaffen wollen ... Rabiat wird nur, wer einen Grund hat, sich innerlich unsicher zu fühlen; fanatisch intolerant nur der, den die Notwehr seiner eigenen Primitivität zu krassen Vereinfachungen zwingt; nationalistisch verkrampft nur derjenige, der unter der inneren Diskrepanz zwischen der Größe seiner weitgespannten Ziele und der völligen Unzulänglichkeit seiner Mittel und Fähigkeiten leidet. Kurzum: Fanatischer Radikalismus ist die geistige Notwehr der Unzulänglichen " (18).
Identität und Gewalt heute
Gilt diese Deutung auch für gegenwärtige Formen des jugendlichen Radikalismus, für den Neonazismus etwa oder für gewalttätige Demonstranten? Sind sie auch die "Unzulänglichen", deren gewalttätige Radikalität nur Ohnmacht ausdrückt angesichts der Kluft zwischen dem, was man will, und dem, was man kann?
Gewisse Parallelen zwischen damals und heute sind nicht zu übersehen: Soziale und normative Desorientierung; tief gestörte "Basisbeziehungen"; Zukunftsangst; Wut gegen die Apparate des Staates, der Parteien und der Arbeiterorganisationen; Sehnsucht nach einfachen, überschaubaren Lebenszusammenhängen und Affekte gegen die gesellschaftliche Komplexität. Lernen aus der damaligen Liaison zwischen junger Generation und Hitlerbewegung läßt sich vielleicht folgendes:
Liberale demokratische Gesellschaften mit ihren pluralistischen Wertkonkurrenzen bieten problematische Voraussetzungen für die jugendliche Sozialisation und Identitätsbildung. In Gesellschaften mit starker Tradition erfolgt Identität im wesentlichen durch Identifikation mit der sozialen Herkunft und mit den Perspektiven, die aus dieser Herkunft sich ableiten lassen. In liberalen Gesellschaften dagegen muß der Heranwachsende statt dessen eine Reihe wichtiger Entscheidungen persönlich treffen, zum Beispiel, mit wem und womit er sich bis zu welchem Grade identifizieren will. Der Maßstab dafür liegt nun nicht mehr in der sozialen Resonanz von außen ("Du bist einer
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von uns"), sondern in der jeweils subjektiven Innerlichkeit. Individuelle Verantwortung in einem relativ großen Freiheitsspielraum von Entscheidungsmöglichkeiten ist geboten. Da diese Art der Identitätsfindung jedoch sehr mühevoll ist und ein hohes Maß an Einsicht und Einfühlung verlangt, werden viele junge Menschen überfordert. Sie neigen deshalb dazu, jene alte, einfache Form der Identität durch - möglicherweise totale - Identifikation mit einer Gruppe zu suchen. Daran wird deshalb mit Fanatismus festgehalten, weil jede Relativierung das labile Selbstbewußtsein gefährden würde.
Das Problem mindert sich dann, bzw. läßt sich kompensieren, wenn die Gesellschaft attraktive Tätigkeitsfelder bietet, die zum Beispiel beruflichen Aufstieg und damit auch soziale Zugehörigkeit eröffnen. Gibt es jedoch wie am Ende der Weimarer Republik Millionen von Arbeitslosen und eine trostlose Zukunftsperspektive, dann wird man auch auf der Suche nach Identität radikal. Die Radikalisierung des Identitätsproblems kann dann zu politischer Radikalität führen. Es entstehen Haß und Wut auf das politische System, das den Menschen diese ständige Überforderung zumutet, ohne geeignete Kompensationen zu bieten. Aber dieser Haß kann nur zerstörerisch sein, ohne produktive politische Ziele und einsichtsvolles politisches Bewußtsein. Die Radikalität ist gleichsam inhaltsleer und gerade deshalb politisch ausbeutbar. Außerdem ist sie rationalen Argumenten schwer zugänglich.
Vermutlich haben wir es heute bei der Jugendrevolte zumindest zum Teil mit dieser Art von Radikalität zu tun, aber auch damit, daß hier Kompensationen für labile Identität gesucht werden. Wenn zum Beispiel Hausbesetzer sich weigern, in eine klassische Familienwohnung einzuziehen, dann sollte man es ernst nehmen, weil ein Haus voller Gleichgesinnter möglicherweise eine solche Kompensation darstellt oder ermöglicht. Und wenn Jugendliche neo-nazistischen Organisationen beitreten, weil sie durch totale Identifikation mit deren Ideologien und durch Geborgenheit und Anerkennung in der Gruppe ihre Version von Identität finden, dann ist das Problem nicht dadurch gelöst, daß man solche Organisationen verbietet.
In demokratischen Gesellschaften hat die Politik es nicht in der Hand, die Gesellschaft so zu ordnen, daß sich optimale Bedingungen für Sozialisation und Identitätsbildung ergeben - und zwar unterschiedliche für unterschiedliche Bedürfnisse. Zur Erhaltung des inneren Friedens ist es deshalb wichtig, daß es einigermaßen befriedigende Kompensationsmöglichkeiten für labile Identität gibt. Diese aber kann die Politik kaum planen; sie werden in der Regel von den Betroffenen erfunden. Die Politiker können das jedoch dulden oder gar fördern. Politisch riskant ist dies allemal, aber viel riskanter wäre es, Haß und Wut als politisch ausbeutbares Kapital an Gewalt ohne Kompensationsmöglichkeiten auf sich beruhen zu lassen, wie es vor 1933 geschah.
Es ist unter dem Einfluß bestimmter sozialwissenschaftlicher Theorien auch in der Jugendpolitik üblich geworden, nach den Ursachen von Jugendproblemen zu forschen in der Erwartung, durch deren Beseitigung auf dem Wege gesellschaftlicher Planung auch die Probleme lösen zu können. Das ist illusionär und politisch naiv. Die Konflikte zwischen Staatsorganen und jugendlicher Rebellion zeigen doch gerade die Grenze des auf diese Weise Machbaren: Planen kann man allenfalls gewisse äußere Bedingungen, aber nicht gelungene Kompensationen (sonst müßte zum Beispiel die Fürsorgeerziehung ein voller Erfolg sein).
Ein Vergleich der damaligen jungen Generation mit der heutigen ergibt - neben ähnlichen Problemlagen - auch erhebliche Unterschiede. Damals zum Beispiel wollten
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die Jungen sich an das Leistungsprinzip anpassen; sie wollten lernen, arbeiten und eine berufliche Position erlangen. Aber sie konnten ihren Wunsch nach gesellschaftlicher Eingliederung durch Fleiß und Arbeit nicht verwirklichen. So paradox es klingen mag: sie wurden deshalb radikal, weil ihnen verwehrt war, sich an das Übliche anzupassen.
Heute dagegen scheint es eher so zu sein, daß der Sinn für eben diese Art von Eingliederung durch Arbeit und sozialen Aufstieg fragwürdig geworden ist. Sicher gibt es auch heute Jugendarbeitslosigkeit, die in vielen Fällen als Belastung erlebt wird. Andererseits aber wird immer unklarer, ob die Anstrengung von Ausbildung und Arbeit und die damit verbundene Lebensperspektive noch lohnend sind. Die "Alternativszene" zeigt, daß der Sinn der Arbeit als Zentrum des Lebens und damit auch der Identität schwindet.
Dahinter verbergen sich wichtige gesellschaftliche Veränderungen, deren Folgen noch gar nicht abzusehen sind. Die bezahlbare Arbeit nämlich wird knapper - eine Entwicklung, die bei uns noch weitgehend verdeckt wird durch sozialpolitische Gegenmaßnahmen. Andererseits ist unser Leben bisher von der Vorstellung geprägt worden, daß Berufsarbeit der Mittelpunkt unseres Daseins sei. Die Arbeit hat alle anderen Dimensionen unseres Lebens, zum Beispiel Familie, Freizeit und Konsum sozial und normativ geregelt. Verliert die Arbeit ihre zentrale Stellung in unserem Leben, dann stellt sich zunächst Sinnlosigkeit ein.
"Für lange Zeit hat die Arbeit als ausstrahlende Kraft des Lebens die übrigen Aspekte seiner sozialen Konstruktion zusammengehalten ... Gott war noch nicht tot, und die Familie fing den verlorenen Einzelnen noch auf. Dann, mit dem Schrumpfen der Arbeit, fielen die verschiedenen Bestandteile auseinander - und sichtbar wurde eine trümmerhafte Leere, die anzufüllen nichts Bekanntes sich mehr zu eignen schien" (19).
Wenn das zutrifft, dann steht die junge Generation von heute vor ganz anderen Problemen als die von 1933. Zwar muß auch sie ihre Identität finden in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft, aber für viele wird die überlieferte Anschauung vom Wert der beruflichen Arbeit dabei weder Zentrum noch Kompensation sein können.
Ob aus dieser für die Jugend sehr schwierigen, weil neuartigen Lage ein neues Potential an politischer Verführbarkeit oder - genauer gesagt - eine neue Offerte an radikale Politiker entsteht, ist schwer vorauszusagen.
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Anmerkungen:
(1) Peter Suhrkamp: Söhne ohne Väter und Lehrer. in: Neue Rundschau 1932, S. 681 ff., hier: S. 696.
(2) Vgl. dazu H. J. Kocka: Ursachen des Nationalsozialismus. In: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Nr. 25/1980, S. 3ff.
(3) I. Götz von Olenhusen: Die Krise der jungen Generation und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 12/1980, S. 53 ff., hier: S. 62f.
(5) H. Küppers: Weimarer Schulpolitik in der Wirtschafts- und Staatskrise der Republik. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, H. 1/1980, S. 33.
(6) M. H. Kater: Bündische Jugendbewegung und Hitlerjugend in Deutschland von 1926 bis 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte 1977, S. 127ff., hier: S. 146ff.
(7) Vgl. H. Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitler-Jugend. München 1981, S. 169ff.
(8) H. Maass: Geistige Formung der Jugend unserer Zeit. Berlin 1931, S. 11f.
(9) Zit. n. Maass, a.a.O., S. 11.
(10) P. Suhrkamp, a.a.O., S. 691.
(11) E. Weniger: Die Jugend und die Lebensmächte der Gegenwart. In: H. Maass, a.a.O.,
S. 41ff., hier: S. 44f.(12) Hermann Schafft: Jugend in der Gegenwart. In: Die Jugendpflege, H. 1/1932, S. 4ff., hier: S. 7.
(13) Vgl. dazu H. Giesecke, a.a.O., S. 175.
(14) J. Fischer: Entwicklungen und Wandlungen in den Jugendverbänden im Jahre 1931. In: Das junge Deutschland, H. 2/1932, S. 38ff., hier: S. 39f.
(15) L. Dingräve: Wo steht die junge Generation. Jena 1931, S. 5.
(16) E. G. Gründel: Die Sendung der jungen Generation. München 1932, S. 441.
(17) Zum Prozeß der Monopolisierung der HJ siehe H. Giesecke, a.a.O., S. 184ff.
(18) E. G. Gründel, a.a.O., S. 297.
(19) R. Dahrendorf: Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. In: Merkur, H. 8/1980, S. 749ff., hier: S. 756.
134. Veränderungen im Verhältnis der Generationen (1983)
(In: Neue Sammlung, H. 5/1983, S. 450-463)
(Dieser Text ist die überarbeite Fassung eines Vortrages, den ich im Rahmen der Ringvorlesung "Jugend - wessen Problem?" gehalten habe, die im Wintersemester 1982/83 vom Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Göttingen angeboten wurde.)
Im Jahre 1914 schrieb der Pädagoge Herman Nohl einen Aufsatz unter dem Titel "Das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik" (1). Anlaß war die um die Jahrhundertwende entstandene Jugendbewegung (Wandervogel und freideutsche Jugend), die den Anspruch erhoben hatte, daß die Jugend sich selbst organisieren und erziehen könne. Ihre radikalen Vertreter, voran Gustav Wyneken, forderten sogar, die Erwachsenen aus dem Erziehungsprozeß möglichst auszuschalten, um die Selbsterziehung der Jugend so unbeeinflußt wie möglich zum Zuge kommen zu lassen; denn die Älteren seien unfähig zur Erziehung geworden, weil sie für sich selbst keine idealen Lebensziele mehr sähen, sondern ein in Konventionen erstarrtes und von materialistischen Interessen geprägtes Leben führten. Eine Besserung des gesellschaftlichen Lebens sei nur von einer jungen Generation zu erwarten, die fern dieser Konventionen und Interessen gleichsam mit "reinen" Motiven ihre natürlichen Anlagen entfalten und dabei zu den höchsten menschlichen Idealen und geistigen Werten vorzustoßen vermöge.
Nohl sah diese Tendenz zur Emanzipation der Jugend positiv und kritisch zugleich. Für ihn war dieser Anspruch nur die letzte Konsequenz einer Entwicklung, die mit der Aufklärung begann und die Zug um Zug zur Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums führte. Alle künftige Pädagogik werde das Eigenrecht des Kindes und Jugendlichen zu respektieren und in ihre Planungen mit einzubeziehen haben.
Andererseits sei durch diese Entwicklung die pädagogische Bedeutung des Verhältnisses von alter und junger Generation zwar verändert, aber nicht aufgehoben, wie die radikalen Vertreter der Jugendkultur meinten. Die Schönheit der Jugend beruhe auf ihrer Natürlichkeit, auf ihrer Naivität. Jene Intellektualität, "das ewige Debattieren, Kritisieren und Zerreden" (S. 118), wie es die Vertreter der Jugendkultur verlangten und praktizierten, zeige in Wahrheit eine "unjugendliche", weil abstrakte Reflexivität. Die Jugend brauche auch eine "gesunde Dumpfheit des inneren Wachsens", einen "Reichtum an konkretem und undiskutiertem Leben". Es sei ein Irrtum anzunehmen, die Jugend könne allein, losgelöst aus der Beziehung zu anderen Generationen, zu jener sittlichen Autonomie und geistigen Freiheit sich durchringen, wie sie die Vertreter der Jugendkultur im Auge hatten. Im Gegenteil
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sei dafür nötig, den Bruch mit der schönen Jugendzeit zu wagen und in die Auseinandersetzung mit den von den Älteren repräsentierten geistigen Ansprüchen einzutreten; denn die geistigen Ideen könnten niemals in ihrer Abstraktheit bedeutsam werden, sondern "nur durch die Gestalt der Persönlichkeiten, in denen (die Jugend) sie erfährt" (S. 120), also nur durch persönlich-verbindliche Vermittlung. Trotz des Eigenrechtes des Kindes und Jugendlichen bleibe ein Verhältnis von Jung und Alt erforderlich, das einerseits durch Autorität, andererseits durch "Gehorsam, das heißt (durch) die freie Aufnahme des Erwachsenenwillens in den eigenen Willen und (durch) innere Unterordnung bis zum Moment der Reife und Selbständigkeit" (S. 119) definiert sei. Nur im unmittelbaren, persönlichen Umgang mit der älteren Generation, keineswegs in der Beschränkung auf die Gleichaltrigen, können Jugendliche wichtige Erfahrungen machen, eine Moralität erwerben und so fundamentale Gefühle wie "Ehrfurcht und Achtung, Pietät und Dankbarkeit" erleben.
Nohl sah also im Generationenverhältnis, genauer in seinem Gefälle: Reif - unreif; selbständig - unselbständig das unverzichtbare Fundament von Erziehung und Bildung überhaupt. Sollte dieses Verhältnis nicht mehr so bestehen, oder sollte es sich gar umkehren, dann müßte der Begriff Erziehung seinen Sinn und seinen Gegenstand verlieren.
Da gegenwärtig viele Stimmen einen neuen "Mut zur Erziehung" fordern oder zumindest das Fehlen erzieherischer Impulse etwa in der Schule beklagen, und da andererseits oft ratlos das "Gespräch mit der jungen Generation" gesucht wird, ist die Frage naheliegend, ob seit 1914 das Verhältnis der Generationen sich so weit verändert habe, daß wir es auch pädagogisch neu interpretieren müssen. Ist das, was Erziehung einmal meinte, historisch überholt?
Anknüpfend an die erwähnten Gedanken von Nohl möchte ich nun einige Überlegungen zum Wandel des Generationsverhältnisses anstellen. Dabei treten drei Tendenzen in den Blick, die miteinander eng zusammenhängen:
- die Politisierung des Generationsverhältnisses,
- seine Funktionalisierung,
- die Separierung der Generationen.
Ich beginne mit der Tendenz der Politisierung.
Nohls These, Jugend könne von sich aus nicht in einem ernstzunehmenden Sinne kulturell produktiv sein und schon gar nicht ihre Erziehung vollständig in die eigene Hand nehmen, scheint sich insofern schon zu bestätigen, als die damalige "Jugendkultur" nicht von Jugendlichen, sondern von Erwachsenen formuliert und organisiert wurde. Das berühmte Fest der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner 1913 war nicht zuletzt eine Versammlung von Erwachsenen, die mit ihren teils völkisch-nationalistischen, teils lebensreformerischen Ideen die Jugend für ihre Ziele gewinnen wollten. Die Jugendbewegung, die sich einen selbstbestimmten Freizeit-Freiraum öffnen wollte, rief eine Menge Männer auf den Plan, die - wie es Nohl forderte - in einem persönlich-verbindlichen Bezug für ihren Willen und ihre Autorität freiwilligen Gehorsam erwarteten. Diese Tendenz verschärfte sich noch in der Weimarer Zeit zum Beispiel im Rahmen der sogenannten "Bündischen Jugend", aber auch im Rahmen einer allumfassenden politischen Umwerbung der Jugend, die
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bekanntlich ihren Höhepunkt fand in der angeblich "jungen" Partei der Nationalsozialisten (2). Jugend wird in dem Maße, wie sie sich den traditionellen Erziehungsmächten wie Familie, Schule, Kirche entziehen kann, zu einem Nachwuchsmarkt für die Erwachsenen und ihre Organisationen. Sie wird in einem neu entstehenden Freizeitraum disponibel für alle möglichen gesellschaftlichen Erwartungen und Versprechungen, für einander widersprechende Normen und Werte ebenso wie für unterschiedliche berufliche und weltanschauliche Karrieren. Ja, mehr noch - und das ist nur die Kehrseite: Sie wird zu einem Legitimationsgrund oder gar zu einem Vorwand für die Ambitionen Erwachsener. Der größte Teil dessen zum Beispiel, was heute über die Jugendkrise geschrieben wird, ist von dieser Art: Man will dem politischen Gegner eins auswischen oder die staatliche Administration attackieren oder einen pädagogischen Beruf aufwerten - was ja alles sehr vernünftig sein kann - und da kommen einem die Jugendprobleme gerade recht. Man kann diesen Typus von Literatur unschwer daran erkennen, daß er die Jugend entweder umschmeichelt oder als hilfloses Opfer gesellschaftlicher Zustände definiert, ohne dabei in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr einzutreten.
Eine besonders problematische Rolle spielen hier gerade auch die professionellen Pädagogen. Wir Pädagogen leben ja - im materiellen wie ideellen Sinne - davon, daß Kinder, Jugendliche und z. B. auch Studenten Probleme haben, für die wir fachlich kompetent sind, und wo sie von sich aus noch keine Probleme haben, da definieren wir eben welche. Wir machen zum Beispiel Studienordnungen so kompliziert, daß wir damit das Bedürfnis nach Beratung aufzwingen, was dann wieder bei Kapazitätsberechnungen zu Buche schlagen kann. Man kann die Geschichte der Jugend in diesem Jahrhundert ohne Schwierigkeiten auch als eine Geschichte ihrer politischen und pädagogischen Ausbeutung schreiben. Wenn man - wie heute - die konkreten Probleme Jugendlicher als Zeichen einer allgemeinen "Kulturkrise" diskutiert, dann diskutiert man eben nicht über Arbeitslosigkeit und Wohnraummangel, sondern über das, was andere Leute oder bestimmte Berufe daraus für sich selbst machen können. Die Jugendlichen selbst wollen und können keine kulturkritischen Theorien produzieren, sie wollen lediglich in einer bestimmten Weise leben.
Insofern ist das weitverbreitete Mißtrauen der jungen gegenüber den älteren Generationen, insbesondere dann, wenn diese auch als Repräsentanten öffentlicher Organisationen und Institutionen auftreten, durchaus nicht unberechtigt. Die gescheiterten Versuche, mit jungen Hausbesetzern Fernsehdiskussionen zu veranstalten, sind nur ein besonders sichtbares Zeichen dafür. Das hierbei zutage getretene grundsätzliche Mißtrauen, sozusagen gegen jeden Erwachsenen, der irgendetwas repräsentiert, hat einen sehr ernst zu nehmenden Hintergrund. Es ist im tatsächlichen Verhältnis der Generationen unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen verankert.
Die Politisierung schafft unübersehbare Rahmenbedingungen für jede unmittelbare Beziehung zwischen den Generationen. Sie läßt zwar immer noch verbindliche und persönlich befriedigende Beziehungen zu, aber nicht mehr naiv; denn der persönli-
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chen Verbindlichkeit entgegengesetzte politische Kategorien wie Mißtrauen, Kontrolle, Propaganda, Taktik usw. müssen erst außer Kraft gesetzt werden.
Die Überprüfungspraxis bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst, von der nun schon eine Menge von Planstellen leben, die schließlich auch "Erfolge" vorweisen müssen, ist ein einziges politisches Mißtrauensvotum gegen die junge Generation; sozialpolitische Zuwendungen z. B. an Jugendzentren oder an alternative Projekte sind ganz unzweifelhaft auch ein Instrument sozialer und politischer Kontrolle; durch Diskriminierung jugendlicher Minderheiten, denen der politische Gegner als "Verführer" gleich beigesellt wird, wird unverhohlen Propaganda für die Ziele der eigenen Partei oder Regierung betrieben. Insofern ist ein Lehrer naiv, der da glaubt, sein freundliches Verhalten müsse entsprechend beantwortet werden von den Schülern. Noch naiver sind aber jene Politiker, die vor dem Fernsehschirm den Dialog mit der jungen Generation suchen, weil ihre Funktion sie darauf festlegt, ein politisches Gespräch zu führen und kein persönlich-verbindliches, das ja durch Öffentlichkeit nur gestört werden kann. In Wahrheit spricht der Politiker im Fernsehen gar nicht mit seinen Partnern, sondern im Hinblick auf eine kalkulierte öffentliche Reaktion, und ohne diese öffentliche Resonanz kann er sich schon deshalb kaum auf solche Gespräche einlassen, weil seine Zeit nicht vermehrbar ist und er diese - von seinem Privatleben abgesehen - einigermaßen geizig auf seine politische Arbeit konzentrieren muß. Das ist kein böser Wille, sondern eine strukturelle Notwendigkeit. Dies nicht zu verstehen, ist nun wiederum die Beschränktheit der Jüngeren, die uneinlösbare Erwartungen am falschen sozialen Ort stellen.
Damit ist eine zweite Veränderung des Generationsverhältnisses angesprochen, die ich als seine Funktionalisierung bezeichnen möchte. Außer den Eltern und dem familiären Bekanntenkreis tritt heute jeder Erwachsene den Jugendlichen als Funktionär gegenüber, also als jemand, der mit einem Auftrag und mit einer Absicht kommt. Im Berufsleben ist das ohnehin klar, aber im Freizeitbereich gilt dies ebenfalls, ob es sich nun um einen bezahlten Freizeitpädagogen handelt oder um einen Discobesitzer oder um einen Vertreter einer Jugendorganisation. Und selbst viele Eltern behandeln ihre Kinder gemäß den durch die Massenmedien verbreiteten pädagogischen Weisheiten wie Klienten, als ob sie nicht mit ihnen zusammenleben, sondern sie therapieren wollten. Nohls Vorstellung, daß die Ideen und kulturellen Werte durch den Umgang mit Erwachsenen, mit reifen Persönlichkeiten also, den Jungen nahegebracht werden müßten, ist heute nicht einmal mehr ein offizielles Leitbild für die Schule. Auch in der Lehrerausbildung ist von "Persönlichkeit" des Lehrers kaum noch die Rede, also von jener unverwechselbaren je besonderen Version, mit der jemand seine Persönlichkeitsstruktur mit seinen beruflichen Aufgaben verschmilzt. Die Rede ist von "Unterrichtsplanung" und von "Lehrerverhalten", also von kommunikativen und manipulativen Techniken. Das, was der Lehrer unterrichtet, muß ihn selbst gar nicht interessieren. Das ist auch logisch, insofern der Lehrer zumindest seit Einführung des Curriculum-Denkens ja auch keine Ideen und kulturellen Objektivationen mehr vertreten soll. Es geht nicht mehr um eine Fülle von Vorstellungen, Gedanken und Phantasien, sondern um Anleitung zum Handeln und um Verhalten in standardisiert gedachten Lebenssituationen.
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Ein anderes Beispiel: Viele Sozialpädagogen, die zum Beispiel in einem Jugendzentrum arbeiten, klagen darüber, daß sie zwar gute Beziehungen zu den Jugendlichen hätten, daß aber ihre pädagogischen Bemühungen ständig scheiterten. Anstatt also sich dieser guten Beziehungen zu freuen und sich darin mit dem, was sie wirklich sind, können und denken, einzubringen, plagt sie ständig das schlechte Gewissen, denn schließlich würden sie ja fürs Pädagogische bezahlt. Fern liegt da der Gedanke, daß sie von der Gesellschaft dafür bezahlt werden, daß sie einfach Zeit für junge Menschen haben, daß sie für Gespräche und Hilfen zur Verfügung stehen und im übrigen das tun können, was ihnen selbst Spaß macht. Die durchgehende Pädagogisierung des Generationsverhältnisses ist ein wichtiges und besonders problematisches Stück seiner Funktionalisierung, weil sie auf besonders nachhaltige Weise die Generationen einander entfremdet.
Kritik an der "Pädagogisierung" ist hier nicht "antipädagogisch" gemeint. Im Gegenteil funktionalisiert - wie zum Beispiel A. Flitner (3) gezeigt hat - gerade auch die sogenannte ",Anti-Pädagogik" das pädagogische Verhältnis, weil sie das Verhältnis der Generationen - in analogem oder tatsächlichem Sinne - zu einem bloßen Rechtsverhältnis machen will. Gerade die Verrechtlichung der pädagogischen Beziehungen ist aber - wie ihre Therapeutisierung auch - in unseren pädagogischen Institutionen für die Funktionalisierung des Generationsverhältnisses in hohem Maße verantwortlich und sein sichtbarster Ausdruck; denn hier wird die umfassende pädagogische Verantwortung, die jedenfalls herkömmlich für den Begriff der Erziehung konstitutiv ist, auf eine rechtliche, beziehungsweise (pseudo-) medizinische "Professions-Verantwortung" reduziert. So notwendig - weil auch alle Beteiligten voreinander schützend - rechtliche Beziehungsregelungen in pädagogischen Institutionen sind, so machen sie, wenn sie übermächtig werden, die pädagogische Begegnung unauthentisch - sowohl im menschlichen Sinne wie auch im Hinblick auf die Sache. Verrechtlichung macht aus dem erzieherischen Verhältnis gleichsam ein ordnungspolitisches. "Pädagogisierung" als Leitvorstellung professionell-pädagogischen Handelns ist eben durch dieses fehlende Authentizität charakterisieret: durch das Desinteresse an der Dignität der kulturellen Gegenstände (der "Stoffe") ebenso wie durch die persönliche Verantwortungslosigkeit für den je einzelnen Bildungsgang des Kindes und Jugendlichen. "Pädagogisierung" ist also nicht ein Stück Erziehung, sondern bloß einer unter vielen Faktoren der Sozialisation.
Eine ähnliche und verstärkende Funktion haben die Massenmedien erhalten. Als Nohl von der unersetzbaren erzieherischen Bedeutung der Begegnung mit erwachsenen Persönlichkeiten sprach, kannte er das Fernsehen noch nicht. Mit dem Fernsehen und anderen Instrumenten der Massenkommunikation ist vorstellbar geworden, was Nohl für unmöglich hielt: Daß nämlich eine junge Generation mit einem Minimum an persönlichen Beziehungen zur älteren Generation heranwachsen kann, und dennoch so weit kulturell gesteuert wird, daß man sie zwar nicht als erzogen,
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aber doch als sozialisiert betrachten kann. Offensichtlich haben die Massenmedien zu einem guten Teil die Funktion der kulturellen und moralischen Überlieferung übernommen, die Nohl noch als ein konstitutives Element des unmittelbaren Generationsverhältnisses ansah. Ja, die Massenmedien und vor allem das Fernsehen haben die Differenz der Generationen weitgehend aufgehoben, verbreiten eine Kultur der Generationslosigkeit, treiben die Geheimnisse weg, die über dem Denken und Verhalten der Erwachsenen aus der Perspektive der Kinder lagen - Beispiel Sexualität - und damit auch die Neugier darauf, die ein wesentliches Motiv dafür war, erwachsen werden zu wollen. Wie neulich im "Spiegel" (4) zu lesen war, hat ein amerikanischer Medienwissenschaftler vorausgesagt, daß auf Dauer durch den Einfluß insbesondere des Fernsehens die Phase der Kindheit, die ja ohnehin eine Erfindung der Moderne ist, wieder verschwinden wird, und daß sich in diesem Punkte wieder mittelalterliche Verhältnisse einstellen würden.
Ohne Zweifel ist das Verhältnis der Generationen bedeutungsloser geworden, was sich pädagogisch als Wandel von der Erziehung zur Sozialisation deuten läßt, also als Wende von der persönlich verantworteten erzieherischen Einflußnahme hin zur anonymen kulturellen Steuerung. Darin drückt sich eine Separierung der Generationen aus. In Schule und Hochschule sowie vor allem in der Freizeit bleiben die Jungen unter sich. Viele verlassen so früh wie möglich das Elternhaus, um sich - oft gemeinsam mit anderen Gleichaltrigen - eine eigene Wohnung zu nehmen. Kontakte zur Lebens- und Vorstellungswelt anderer Generationen laufen über die Massenmedien oder über funktionalisierte Repräsentanten wie Lehrer, Hochschullehrer oder Sozialarbeiter. Jugend ist ebenso in ein Getto der Gleichaltrigen verbannt wie die Rentner, die, zumal wenn sie im Altenheim leben, oft über den Mangel an Beziehungen zu anderen Generationen klagen.
Und selbst in sogenannten intakten Familien, wo sich alle mehr oder weniger wohl miteinander fühlen, verbringen schon die Kinder und erst recht die Jugendlichen den größten Teil ihrer Freizeit mit den Gleichaltrigen und reduzieren damit Inhalt und Umfang des persönlichen Erziehungseinflusses erheblich. Versuchen die Eltern andererseits, möglichst viel Freizeit mit den älteren Kindern und den Jugendlichen aus pädagogischen Gründen zu verbringen, so wirkt dies meist krampfhaft, weil es eben absichtlich inszeniere wird und insofern leicht unglaubwürdig erscheinen muß.
Bedenkenswert sind in diesem Zusammenhang einige Ergebnisse der neuesten Shell-Studie "Jugend '81" (5).
Danach ist in den letzten zehn Jahren die Phase der behüteten und kontrollierten Kindheit kürzer geworden. Traditionelle Erwachsenenprivilegien, wie sexuelle Beziehungen und Autonomie in der Freizeit, werden erheblich früher in Anspruch genommen. Andererseits erweitert sich für viele Jugendliche die Jugendzeit um eine weitere Phase, die sogenannte Post-Adoleszenz. Das heißt: Zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr leben viele junge Menschen jugendzen-
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triert weiter, unter Gleichaltrigen und ohne sich an den Ansprüchen der Erwachsenenwelt zu orientieren Sie streben zum Beispiel keine Ehe und Familie an, sondern eine experimentelle Partnerschaft. Das "klassische" Merkmal für die Übernahme von Erwachsenenrollen, der Eintritt in das Berufsleben, ist vielen wegen Arbeitslosigkeit versperrt, wird von anderen aber auch als nicht, beziehungsweise noch nicht erstrebenswert verweigert. Allerdings gibt es nach der Shell-Studie immer noch einen großen Teil erwachsenenorientierter Jugendlicher, insbesondere auch außerhalb der großen Städte und auf dem Lande.
Die einzig erkennbare Gegenbewegung gegen diese Tendenz zur Separierung der Generationen sehe ich in der ökologischen Bewegung und in der Friedensbewegung. Und möglicherweise macht gerade die Tatsache, daß es sich hier um generationsübergreifende Bewegungen handelt, auch ihre politische Bedeutung aus. Politisch gesehen hat offensichtlich die Separierung der Generationen zur Folge, daß in unserem gesellschaftlichen System Widerstand und kulturelle Innovationen erschwert werden.
In diesem Zusammenhang ist ein Rückblick auf die Hitlerjugend interessant. Im Jahre 1936 erklärte Baldur von Schirach den Generationengegensatz für überwunden. In der Tat war die Hitlerjugend konzipiert als eine Art von eigenem "Stand" im Volke, mit eigenen Symbolen und Funktionen, in gewisser Weise sogar mit einer eigenen Polizei in der Form des "Streifendienstes". Die Folge war eine planmäßige Separierung der Generationen, so daß zum Beispiel kritische oder innovierende Impulse von der Jugend auf die älteren Generationen - also auch auf die NSDAP - nicht mehr möglich waren. In der Gestalt der HJ wurde die Tendenz der Funktionalisierung und der Separierung der Generationen absichtlich radikalisiert, die Tendenz der Politisierung wurde monopolisiert.
Reine Jugendbewegungen, wie sie etwa in der Hausbesetzer-Szene zu finden sind, sind offensichtlich zum Scheitern verurteilt, weil sie über kurz oder lang an der Beschränktheit des eigenen Erfahrungshorizontes zerbrechen, solange sie sich nicht mit anderen Generationen verbünden können.
Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich einige Schlußfolgerungen ableiten, wenn wir noch einmal auf Nohl zurückgreifen.
1) Die Separierung der jungen Generation seit dem Entstehen der bürgerlichen Jugendbewegung ist dank des expandierten Freizeitsystems und dank des engen sozialen Netzes weiter fortgeschritten. Damit hat der unmittelbare Einfluß älterer Generationen auf die Lebensgestaltung junger Menschen - und damit auch das Maß an Erziehung - sowohl an Umfang wie an Intensität erheblich abgenommen. Umgekehrt hat die Bedeutung der Gleichaltrigen-Beziehungen immens zugenommen.
In einem weiteren Sinne des Wortes kann man zwar auch von einer erzieherischen Wirkung der Gleichaltrigengruppe sprechen. Jedoch scheint mir hier der Begriff Sozialisation angemessener, weil ja dort im allgemeinen nicht planmäßig pädagogisiert wird. Insbesondere über die Gleichaltrigen funktioniert die soziale und kulturelle Steuerung, hier vor allem wird sie in Moden, Denk- und Sprachstrukturen und in Verhaltensweisen konkret. Hier andererseits entstehen auch der Protest, die gesellschaftliche Abkapselung oder die Szenen - vom Rechtsradikalismus bis zur
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Drogenszene. Jedenfalls scheint die klassische Theorie von Eisenstadt (6) nicht mehr ohne weiteres gültig zu sein, nach der die jugendliche Gleichaltrigengruppe eine notwendige Funktion im Übergang von den Kindheitsrollen zu den Erwachsenenrollen hatte, nämlich um diesen Bruch zu mildern und einen Raum für experimentelles Einüben von Erwachsenenverhalten zu gewähren. Schon Riesman (7) hatte in den fünfziger Jahren mit Blick auf die USA darauf hingewiesen, daß die Grenzen zwischen familiär-privat und gesellschaftlich-öffentlich fließend werden, weil der öffentlichen Sphäre der Schein des Privat-Vertrauten gegeben wird - wie an Wahlkämpfen deutlich zu beobachten ist. Auch die Trennung von Arbeit und Freizeit wird - so Riesman - immer mehr verwischt, weil einerseits in der Freizeit Arbeitsnormen üblich werden, zum Beispiel Leistungs- und Geltungsstreben, und weil andererseits durch human relations und einen betont lockeren Kommunikationsstil der Arbeit die Fiktion des Privat-Vertraulichen angehängt wird. Werden aber die Grenzen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen beziehungsweise Dimensionen verwischt, dann besteht das Problem gar nicht mehr, von dem Eisenstadt ausging.
Ich kann diesen Aspekt hier nicht weiter verfolgen, will aber nur nachdrücklich darauf hinweisen, daß wir die heutige Separierung der jungen Generation nicht mehr mit den Augen der klassischen soziologischen Theorie sehen dürfen. Diese Separierung ist in ihrer Tendenz kein Experimentierfeld mehr mit Blick auf die biographische Zukunft, kein pädagogisch sinnvolles "psychosoziales Moratorium", in dem Fehlverhalten als Jugendstreich und als Probehandeln weitgehend zu tolerieren ist, sondern sie ist eine auf unbestimmte Dauer gestellte gesellschaftliche Isolation - teils selbst gewählt, teils gesellschaftlich erzwungen.
2) Die beschriebenen Tendenzen der Politisierung und Funktionalisierung - einschließlich der Pädagogisierung - blocken zusätzlich Dialoge zwischen den Generationen ab. Sie sind nur möglich, wenn man diese Tendenzen unterlaufen kann, also kaum in irgendeiner Form von Öffentlichkeit. Noch in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre gab es im Rahmen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung vor Öffentlichkeit geschützte Orte, in denen solche Dialoge auch unter Fremden möglich waren. Pädagogische Professionalisierung und damit einhergehende Verrechtlichung haben diese Möglichkeiten ganz erheblich beschnitten. Man muß sich ja fragen, an welchen sozialen Orten außerhalb der Familie und außerhalb pädagogischer Veranstaltungen heute sich die Generationen noch zwanglos treffen und das sogenannte "Gespräch" miteinander suchen können, also ohne daß dabei Mehrheiten herauskommen müssen oder Prüfungen oder überhaupt irgendwelche Sieger und Besiegte.
3) Nun bleibt die Frage, wie dies alles zu bewerten sei. Gerade wir Pädagogen müssen uns klarmachen, daß der klassische Begriff von Erziehung seinem historischen Ende entgegenzugehen scheint, und ich habe nicht den Eindruck, daß wir uns dies schon genügend deutlich gemacht haben. Sonst wäre zum Beispiel die Diskus-
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sion um einen neuen "Mut zur Erziehung" anders geführt worden. Dann hätten zum Beispiel diejenigen, die für mehr Erziehung plädierten, auch sehen müssen, daß durch Kabelfernsehen mit einer praktisch unbegrenzten Zahl von Programmen die Chance dazu sicherlich nicht wachsen wird.
Wir könnten uns natürlich mit der beschriebenen Tendenz "von der Erziehung zur Sozialisation" abfinden, sie für einen Fortschritt halten, der er ja in mancher Hinsicht auch sicher ist. So scheint es zum Beispiel, daß Kinder heute sehr viel unkomplizierter und freier aufwachsen als früher, zumal auch die Erziehungsmethoden weniger repressiv zu sein scheinen. Außerdem bieten die Gleichaltrigen eine Kompensation an für problematische Familienbeziehungen, machen diese erträglicher, ja, sie ermöglichen überhaupt eine komplexere Struktur von Basisbeziehungen, als das früher möglich war.
Andererseits nimmt die Zahl der gestörten Kinder nicht ab, sondern eher zu - jeder Lehrer kann darüber abendfüllend berichten - und vielleicht wäre es an der Zeit, die Kinder und Jugendlichen zumindest in unseren pädagogischen Institutionen vor dem oft barbarischen Druck der Gleichaltrigen zu schützen, der immerhin schon so weit reicht, daß Studenten sich nicht trauen, gute Referate zu halten, weil sie fürchten, dafür von den anderen "geschnitten" zu werden. Gemessen an der Brutalität auf Schulhöfen oder in Schulbussen ist dies allerdings eher harmlos. Ob die Sozialisation durch Gleichaltrige im Ganzen humaner ist als die Erziehung in der früheren patriarchalischen Familie, bzw. in der "alten" Schule, scheint mir noch nicht erwiesen.
Andererseits sind kulturelle Prognosen ungemein schwierig, weil das Verhalten künftiger junger Generationen nicht vorhersehbar ist. Die Geschichte der Jugendsoziologie in der Bundesrepublik ist die Geschichte falscher Prognosen, oder freundlicher gesagt: die Geschichte richtiger Prognosen für sehr kurze Zeiträume. Das liegt wohl daran, daß auf der gegebenen ökonomischen Basis eine große Variationsfülle von kulturellen Stilen und Verhaltensweisen objektiv möglich ist. Denn nachdem die überlieferten kulturellen Traditionen - zum Beispiel der Kirchen oder der Arbeiterbewegung - ihre prägende Bedeutung verloren haben und kultureller und normativer Pluralismus sich durchgesetzt haben, ist der kulturelle "Überbau" fast beliebig geworden. Was realisiert wird, hängt nicht zuletzt vom Verhalten junger Generationen ab.
Insofern sind alle Erklärungen des Jugendprotestes und des jugendlichen Verhaltens überhaupt irreführend, die da eine gesellschaftliche oder psychologische Zwangsläufigkeit suggerieren. Die funktionalisierende Wirkung derartiger sozialwissenschaftlicher und psychologischer "Erklärungen" darf nicht unterschätzt werden. Man muß heute nicht notwendigerweise narzißtisch sein, man ist es nicht zuletzt deshalb, weil die Medien diesem Sozialcharakter die Dignität eines kulturellen Stiles gegeben haben. Und hätte man vor einigen Jahren nicht den "Single" als einen eigentümlichen Sozialcharakter entdeckt, dann gäbe es ihn auch nicht. Dann gäbe es - was nicht unnormal ist - eben nur Menschen, denen zum Beispiel die Partner immer wieder weglaufen, oder die derartige Bindungen gar nicht erst wollen, zum Beispiel weil sie in besonderem Maße beruflich engagiert sind. Die massen-
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mediale Etikettierung subsumiert die Betroffenen unter ein Bild ihrer selbst, das sie möglicherweise nie hatten, dem sie aber jetzt vielleicht entsprechen zu müssen glauben.
Derartige massenmediale Stilisierungen ergreifen auch die jugendlichen Subkulturen, verhindern deren Privatheit und Intimität und sorgen für "Verhaltensorientierungen" im doppelten Sinne: indem sie die Anhänger in ein Muster zwingen und den Gegnern ein Feindbild verschaffen. So oder so steht die Orientierung jedoch auf tönernen Füßen, weil sie bald durch neue "Moden" ersetzt wird und damit aus der öffentlichen Aufmerksamkeit wieder verschwindet.
Im kulturellen Überbau ist das Faktische immer nur das Faktische, niemals auch das Notwendige, beziehungsweise Unausweichliche.
Insofern ist es keine Maschinenstürmerei, wenn die Pädagogik sich den beschriebenen drei Tendenzen nicht einfach unterwirft. Gewiß sind die Politisierung des Jugendalters, also seine Disposition für den öffentlichen Zugriff, und daraus resultierend eine gewisse Funktionalisierung nicht zurücknehmbar, aber die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, sind grundsätzlich offen. Gerade die radikale Separierung der Generationen ist in diesem Maße nicht notwendig. So ist zum Beispiel vorstellbar, daß wir in wenigen Jahren eine Studentengeneration haben, die, gerade weil ihre Berufsperspektive unsicher ist, den Selbstzweck des Studierens wieder entdecken könnte, und die würde uns dann unsere Funktionalisierungen - zum Beispiel Studiengänge, die doch nichts einbringen und entsprechende Studienordnungen - um die Ohren schlagen. Im selben Maße würden dann auch die Beziehungen zwischen Dozenten und Studenten wieder entfunktionalisiert, also auch entpädagogisiert. Ebenso ist denkbar, daß eine künftige junge Generation weniger an der Fülle der Optionen im Freizeit- und Konsumbereich interessiert ist, sondern an sozialen Bindungen, so daß eine neue Familienidylle daraus resultieren könnte. All dies wäre auf den ökonomischen Grundlagen unserer Gesellschaft möglich.
Aus diesen Überlegungen nehme ich den Mut zu der Behauptung, daß der Umgang der jeweils lebenden Generationen miteinander nach wie vor zu den fundamentalen menschlichen Bedürfnissen gehört, zumal sich die Notwendigkeit dazu aus der Nachfolge immer neuer Generationen ohnehin ergibt. Nicht Verzicht auf den Verkehr zwischen den Generationen, sondern seine pädagogische Neuinterpretation erscheint mir erforderlich. Dabei erweist sich Nohls Vorstellung vom Gefälle in diesem Verhältnis (reif - unreif; selbständig - unselbständig) als generell nicht mehr tragfähig, wiewohl sie im Hinblick auf jüngere Kinder noch zutreffen mag. Überhaupt scheint das "Eigenrecht" der Jugend, das er für alle künftige Pädagogik forderte, in seinem Konzept keine konstitutive Bedeutung gefunden zu haben. Jedenfalls hält er ja am Führungsanspruch der älteren Generationen fest, und das "Eigenrecht" scheint eher eine Größe gewesen zu sein, die der Erwachsene lediglich einzukalkulieren habe. Statt von einem Gefälle sollten wir davon ausgehen, daß die Generationen einander bedürfen, um die Erfahrungen und Vorstellungen der anderen kennenzulernen. Jede Generation, nicht nur die junge, wird borniert, wenn sie von den Erfahrungen der anderen abgeschnitten wird. Unterschiedliche Erfahrun-
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gen werden konkret in der unterschiedlichen Deutung der gemeinsamen Gegenwart. Ohne den Umgang mit Älteren können Jüngere kaum lernen, daß Realitäten einmal anders waren, als sie heute sind, und daß sie sich deshalb auch wieder ändern werden. So wichtige Kategorien wie Zeit, Wandel und Veränderung müßten unterentwickelt bleiben. Die jugendliche Entwicklung bliebe fixiert auf eine Art von zeitloser Gegenwart. Ohne den Umgang mit Älteren können Jüngere nicht lernen, ihre eigenen Normen und Werte in die Reflexion zu nehmen. Die Älteren wiederum können ohne die Jüngeren nicht lernen, sich neuen Gegebenheiten anzupassen und ihre Erfahrungen und Urteile zu präzisieren und zu modifizieren. Ohne die Jungen wären die Älteren nichts als älter, so wie umgekehrt die Jüngeren für sich genommen eben nur jung wären, wie Nohl richtig gesehen hat.
Auch scheint mir Nohls Hinweis nach wie vor gültig zu sein, daß bestimmte fundamentale Gefühle nur im unmittelbaren Umgang mit Älteren entstehen können.
Er nannte als Beispiele "Pietät" und "Ehrfurcht". In der Tat ist schwer vorstellbar, daß solche Gefühle bzw. Tugenden im Umgang jugendlicher Gleichaltrigen-Gruppen entstehen können, sie werden dort einfach nicht gebraucht. Aber vielleicht werden sie ja auch in der Gesellschaft in dem Maße weniger gebraucht, wie die Generationen sich separieren und die Alten ausgegliedert und durch professionelle Sozialpädagogen bzw. Sozialarbeiter betreut werden. Sozialpädagogische Professionalität kann durchaus ohne solche Tugenden auskommen und muß dies vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grade - was ja auch als "menschliche Verarmung" in unserem heutigen Sozialwesen oft beklagt wird.
Nicht das "Gefälle" ist entscheidend, obwohl es natürlich nach wie vor eine Rolle spielt: Der Erwachsene ist immer noch lebenskundiger als das Kind; Lehrer und Hochschullehrer haben einen fachlichen Wissensvorsprung vor den Schülern, beziehungsweise Studenten; der Erziehungsberater hat einen größeren Überblick als der Ratsuchende. Und es gehört zur pädagogischen Authentizität, daß solche Abstände nicht anbiedernd verschwiegen werden. Im Gegenteil sind gerade diese Distanzen fruchtbar für die Jüngeren. Andererseits geht es aber zumindest bei allen Sinn- und Wertfragen auch um einen "Erfahrungsaustausch" zwischen den Generationen, zwischen gleichberechtigten Partnern mit ungleichen biographischen Hintergründen und Erfahrungen. Die Gleichberechtigung erwächst dabei nicht aus einem pädagogisch motivierten Entgegenkommen - genau dies wäre wieder unauthentische Pädagogisierung - sondern aus der schlichten Tatsache, daß Erfahrungen nicht hierarchisiert werden können; die des Älteren sind nicht besser oder wichtiger als die des Jüngeren, sie sind nur anders.
Für den älteren Hochschullehrer zum Beispiel ist die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit mit jüngeren Studenten unentbehrlich. Unsere pädagogische Arbeit bliebe abstrakt und würde zu sehr fragwürdigen Ergebnissen führen, wenn sie nicht immer wieder konfrontiert würde mit den zum Teil ganz anderen Erfahrungen, die die Jüngeren mit denselben pädagogischen Problemen und Texten machen. Sie sehen Probleme anders als wir, halten andere unter Umständen für wichtiger und führen andere Bewertungen ins Feld. Gerade diese Differenz macht den Reiz der erziehungswissenschaftlichen Arbeit aus.
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4) Bildungspolitisch gesehen sollte überlegt werden, ob es weiterhin sinnvoll ist, die junge Generation so lange auf Schule und Hochschule zu fixieren; denn neben dem Freizeitsystem ist dies sicher eine der wichtigsten Ursachen für die Separation der Generationen. Vielleicht wäre es zweckmäßiger, Phasen der Ausbildung stärker mit Phasen der beruflichen Tätigkeit abzuwechseln. Die Separierung der Generationen wird zweifellos durch die strukturelle Arbeitslosigkeit, die vor allem die Jüngeren trifft, unheilvoll verstärkt. Insofern stimme ich dem zu, was Ralf Dahrendorf (8) für die akademischen Berufe vorgeschlagen hat: daß nämlich die Jungen möglichst eingestellt werden sollen, um dafür den mittleren Generationen die Chance eines Zusatzstudiums unter erträglichen finanziellen Bedingungen zu ermöglichen. In der Tat ist gar nicht einzusehen, wieso nur die 20- bis 30jährigen studieren sollen und nicht zum Beispiel auch die 40- bis 50jährigen.
5) Die pädagogischen Institutionen, vor allem Schule und Hochschule, sollten bedenken, wie sie ihren Anteil an der Separierung der Generationen vermindern können. Dazu gehört, die Pädagogisierungstendenzen und die daraus resultierenden Reglementierungen zu überprüfen, zum Beispiel überflüssige Bestimmungen von Studienordnungen und Richtlinien wieder zurückzunehmen, beziehungsweise zumindest deren Spielräume interpretationsfähig zu halten. Dazu gehört ferner, daß Lehrer und Hochschullehrer nicht nur ihren fachlichen Sachverstand, sondern auch ihre Generationserfahrung einbringen, und zwar insbesondere dort, wo es um die gemeinsame Deutung der Gegenwart und um die gemeinsame Zukunft geht.
Das ist leicht gesagt, aber wir haben immer noch keine befriedigende Theorie des pädagogischen Verhältnisses in pädagogischen Institutionen. Von Nohl bis Flitner ist das soziale Grundmodell für die Beschreibung des Erziehungsverhältnisses die Familie geblieben; deren Normen und Strukturen sind aber nicht einfach auf pädagogische Institutionen zu übertragen. Sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Verständnismodelle dagegen lassen gerade das vermissen, was den pädagogischen Bezug im Kern ausmacht: Die Verantwortung für den Jüngeren, die liebende oder doch wenigstens wohlwollende Zuwendung zu ihm. Da liegt die Gefahr nahe, entweder in die bequeme Rolle des Unterrichts- bzw. Wissenschaftsbeamten zu schlüpfen, oder aber in anbiedernde Kameraderie zu verfallen. Die Lösung kann wohl nur in einer je individuellen Balance zwischen mindestens drei verschiedenen Dimensionen des Generationsverhältnisses in pädagogischen Institutionen liegen.
Einmal geht es um die Dimension des Rechtsverhältnisses, das im Prinzip nicht nur ein pädagogisches Ärgernis ist, sondern auch eine Schutzfunktion zum Beispiel gegen die Willkür des Stärkeren erfüllt und das deshalb zu Recht eine legitime Macht verleiht. Man muß dies betonen angesichts eines modisch gewordenen Subjektivismus, der etwa die Schule am liebsten als einen kommunikativen Tummelplatz sähe. Das Rechtsverhältnis als solches ist nicht schon die kritisierte Funktionalisierung des Generationsverhältnisses, es wird erst dann problematisch, wenn es die beiden anderen Dimensionen überlagert oder präformiert.
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Die zweite Dimension ist die schon erwähnte des Wissens- und Kenntnisgefälles. Die dritte schließlich betrifft den gleichberechtigten "Erfahrungsaustausch" angesichts der Wert- und Sinnfragen, also darüber, wie man warum leben möchte und sollte und wie nicht. Gleichberechtigung in dieser Dimension kann aber nicht Gleichheit in allen drei Dimensionen bedeuten. Authentizität des Generationsverhältnisses besteht nämlich gerade in der individuell überzeugenden Kombination dieser Dimensionen - und zwar von beiden Seiten her, vom Lehrer wie vom Schüler. Indem der Lehrer diese Kombination vorlebt, zwingt er den Schüler zu einer entsprechenden Differenzierung seines Verhaltens.
In Gefahr sind heute alle drei Dimensionen des Generationsverhältnisses: Die erste vor allem aus mangelnder politischer Einsicht in die fundamentale Bedeutung von Rechtsbeziehungen, die zweite vor allem aus mangelndem Mut zur Aufrechterhaltung und produktiven Gestaltung der nötigen Distanz, und die dritte vor allem deshalb, weil es die ist, an der jede Reglementierung, jede bürokratische Zensurierung notwendigerweise scheitert, weil sie weder meßbar noch kontrollierbar ist. Ohne sie aber ist das Reden vom erzieherischen Gehalt des Generationsverhältnisses zum Beispiel in der Schule gegenstandslos, ohne die beiden anderen Dimensionen wäre es illusionär.
Daraus ergibt sich, daß der gleichberechtigte Austausch von Erfahrungen, Wünschen und Bedürfnissen nicht weit trägt, wenn er in der Subjektivität des Augenblicks befangen bleibt, wenn er nicht über sich selbst hinausweist.
In der Atmosphäre privater Gespräche mag es dabei bleiben, zumal hier pädagogische Reflexion selten zum Besseren führt. Aber in pädagogischen Institutionen kann man das nicht so naiv-unmittelbar sehen. Hier muß sich das Generationsverhältnis auf ein Drittes beziehen, zum Beispiel auf die Suche nach gemeinsamen Lösungen.
Auch Nohl sah das Verhältnis der Generationen nicht subjektivistisch. Vielmehr sollte der Erwachsene in seiner persönlichen Version kulturelle Objektivationen präsentieren, also zum Beispiel Kenntnisse, Werte und Normen. Auch diese Vorstellung finde ich nach wie vor zumindest für Lehrer bedenkenswert. Ein Lehrer zum Beispiel, den das, was er unterrichtet, selbst nicht interessiert und der das nicht offen zugibt, funktionalisiert nicht nur seine Beziehung zu den Schülern, er mediatisiert auch seinen Gegenstand und fördert Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Ohne die Bindung an ein Drittes, sei dies eine kulturelle Objektivation oder einfach die gemeinsame Suche nach Lösungen für gemeinsame Probleme, würden die sogenannten Beziehungsprobleme monströse Ausmaße annehmen, und zwar in dem Maße, wie diese Beziehungen ohne jene Bindung sinn- und bedeutungslos werden. Zu dem "Dritten", an das sich das Generationsverhältnis in pädagogischen Institutionen binden muß, um selbst nicht in Unmittelbarkeit zu ersticken, gehört zweifellos auch die außersubjektive gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie besteht im wesentlichen in Institutionen, Regeln und Verfahrensweisen. Von deren Existenz lebt noch der radikalste Aussteiger. Dem Älteren fällt es im allgemeinen leichter, dies einzusehen und zur Geltung zu bringen.
Authentizität des Generationsverhältnisses in pädagogischen Institutionen hat also
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nichts zu tun mit augenzwinkerndem Herauslassen von Privatheit, ist nicht der "Schnaps" nach dem "Dienst", stellt sich nicht etwa dann schon ein, wenn man sich mit Schülern duzt, resultiert auch nicht aus einer einfachen Willenserklärung, sondern hat zur Voraussetzung eine hinreichend gründliche Reflexion über den objektiven, gesellschaftlich fundierten Charakter dieser Beziehung.
In einer Zeit, in der sich auf mancherlei Weise Widerstand gegen die Entfremdung der Menschen durch Bürokratisierung und Funktionalisierung anmeldet und der Wunsch nach unmittelbarer Menschlichkeit wächst, sollte gerade die Pädagogik sich nicht zum nützlichen Idioten jener Tendenzen der Funktionalisierung und der Separierung machen, sondern den pädagogischen und menschlichen Sinn des unmittelbaren Generationsverhältnisses neu entdecken. Das allerdings hätte Konsequenzen für das Selbstverständnis pädagogischer Professionalität.
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Anmerkungen:
(1) H. Nohl: Das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik. In: ders.: Pädagogische Aufsätze, 2. Aufl. Langensalza 1930, S. 111ff.
(2) Vgl. dazu H. Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. München 1981.
(3) A. Flitner: Konrad, sprach die Frau Mama ... Über Erziehung und Nicht-Erziehung. Berlin 1982.
(4) Vgl. den Bericht über Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit. In: Der Spiegel Nr. 48/1982, S. 224ff.
(5) Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend'81. 2 Bde. Leverkusen 1982.
(6) S. N. Eisenstadt: Von Generation zu Generation. München 1966.
(7) D. Riesman: Die einsame Masse. Hamburg 1958.
(8) R. Dahrendorf: Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. in: Merkur Nr. 8/1980, S. 749ff.
135. Die Suche nach der sinnvollen Zeit (1983)
Vorschläge für potentiell Arbeitslose
(In: DIE ZEIT Nr. 48, 25.11.1983)
(In leicht veränderter Form wieder abgedruckt unter dem Titel: Studieren als vernünftige Freizeittätigkeit. In: Hellmut Becker/Hartmut von Hentig (Hrsg.): Der Lehrer und seine Bildung. Frankfurt/Berlin/Wien 1984, S. 155-158, H. G.)
Wie überall in deutschen Landen, so soll auch in Niedersachsen die Zahl der Lehrerstudenten verringert werden. Darüber gibt es einen Streit zwischen den Hochschulen und dem Wissenschaftsminister. Dem Fachbereich Erziehungswissenschaften - früher Pädagogische Hochschule - in Göttingen droht die Schließung, nachdem entschieden ist, daß Grund- und Hauptschullehrer nicht mehr in Göttingen ausgebildet werden sollen.
Sicher ist es nicht sinnvoll, Massen von Lehrern zu "produzieren", die nicht eingestellt werden können. Andererseits erscheint es aber ratsam, möglichst viele Abiturienten zum Studium zu bewegen, damit der Arbeitsmarkt entlastet wird.
Das Problem ist nur, daß nirgends eine nennenswerte berufliche Nachfrage zu erkennen ist, die durch neue Studiengänge befriedigt werden könnte. Nicht nur das Lehrerstudium ist für viele eine "brotlose Kunst" geworden. Die Frage stellt sich also viel grundsätzlicher: Hat es Sinn, ein Studium für junge Leute anzubieten, die heute noch nicht wissen können, welchen Beruf sie einmal ausüben werden und ob sie dafür überhaupt ein Studium benötigt hätten? Hat es also Sinn, ein Studium für potentielle Arbeitslose anzubieten und wie müßte das aussehen?
Ist nicht ein "Freizeitstudium" - ein Studium, um sich die Zeit zu vertreiben - immer noch vernünftiger, als die Zeit mit Konsum-Nichtigkeiten totzuschlagen? Wir haben völlig aus dem Blick verloren, daß ein Studium nicht nur zur Berufsqualifizierung dient, sondern auch der individuellen "Bildung", also zum Beispiel der weiteren Entwicklung allgemeiner und grundlegender Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die man nicht nur im Beruf, sondern auch im Familienleben, in der Freizeit und für politische Tätigkeiten brauchen kann - zumal dann, wenn sich in Zukunft das Verhältnis von Arbeitszeit und Nicht-Arbeitszeit entscheidend verändern wird, wofür ja alles spricht.
Diese Einsicht ist in dem Maße aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden, wie in den sechziger und siebziger Jahren der pädagogisch-kulturelle Sektor expandierte und die Administration - wie Werner Remmers einmal sagte - jeden fertigen Lehrer gleichsam mit dem Taxi von der Hochschule holte. In den Jahren des Booms mochte es plausibel sein, möglichst differenzierte und spezialisierte Studiengänge in Richtung auf bestimmte pädagogische Berufstätigkeiten einzurichten, denn welchen der Student auch wählte, er konnte einigermaßen sicher sein, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden.
Doch die Hoffnung trog, das zeigte sich am Schicksal des pädagogischen Diploms. Ursprünglich sollte es ein Diplom sein mit jeweils örtlich möglichen Schwerpunkten (zum Beispiel Schule, Erwachsenenbildung, Sozialpädagogik) wie das soziologische oder psychologische Diplom auch. Aber aus den Schwerpunkten wurden berufsbezogene "Studiengänge", die gegenüber der beruflichen Praxis alle nicht halten können, was sie versprechen.
Solche spezialisierten Studiengänge werden nur relativ wenigen Studenten helfen. Sie noch zu vermehren, hat keinen Sinn, zumal sich wieder einmal gezeigt hat, daß nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie. In dem Maße nämlich, wie die Köpfe mit praxisorientierten Sammelsurien vollgestopft wurden, blieb die Fähigkeit unterentwickelt zu abstrahieren, Phänomene auf den Begriff zu bringen, Informationsfülle strategisch zu ordnen und damit die Fähigkeit, im Beruf kritisch, flexibel und souverän zu operieren.
Was könnte das heißen für ein Studium, das man vielleicht "Freizeit- und Kulturpädagogik" nennen könnte? Lassen sich Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzeigen, die nicht nur der persönlichen Bildung zugute kommen, sondern auch in pädagogischen und anderen kulturellen Einrichtungen nützlich, wenn nicht unabdingbar sind?
Erstens werden in diesem Bereich Menschen gebraucht, die wissenschaftlich denken, argumentieren und recherchieren können - also soll unser Student neben Pädagogik ein weiteres wissenschaftliches Fach studieren, nicht nur der Kenntnisse, sondern auch der Methoden wegen, zumal Pädagogik "als solche" nicht wissenschaftlich tragfähig ist; er braucht die Fähigkeit, sich in neue Gebiete von einem bekannten Territorium aus selbständig einarbeiten zu können.
Er muß zweitens mit Menschen in unterschiedlichen Situationen umgehen können - also soll er "Formen menschlicher Kommunikationen" - "Didaktik/Methodik" ist nur ein Sonderfall davon - lernen und üben. Wo immer er tätig sein wird, wird er drittens es mit "Verwaltung" zu tun haben - also soll er grundlegende Kenntnisse und Vorstellungen über "Verwaltungslehre" erwerben. Außerdem sollte er ein kulturelles "Hobby" haben und weiter vertiefen, damit er darüber eventuell anderen Menschen etwas beibringen kann: Musik, Theater, Kunst, Neue Medien, Journalismus.
Wohlgemerkt: Hier wird keiner verblasenen "Integration von Theorie und Praxis" das Wort geredet, das eine ist Wissenschaft, das andere Kunde oder Training, und jedes hat seine eigenen Regeln.
Ein Studium, das bei den individuellen Qualifikationen ansetzt und nicht bei bestimmten pädagogischen Berufsfeldern, wäre durchaus so zu gliedern, daß das Vordiplom nach vier Semestern, die relativ "verschult" zu gestalten wären, nicht nur Voraussetzung für das weitere Studium wäre, sondern auch einen in sich vernünftigen ersten Abschluß bilden könnte, so daß, wer eine berufliche Chance sieht oder wer nur gemerkt hat, daß Wissenschaft "nicht sein Bier ist", die Universität mit einem Abschluß verlassen kann - und nicht als "gescheiterter Student" - mit dem er später auch wieder "einsteigen" kann, um sich weiter zu qualifizieren.
Der Gedanke, ein Studium für potentielle Arbeitslose zu entwickeln, ist gar nicht so resignativ. Wie der Arbeitsmarkt in fünf Jahren aussehen wird, weiß heute niemand genau. Möglicherweise ist bis dahin die Arbeit neu verteilt, so daß viele, die heute keine Perspektive sehen, doch eine Chance bekommen.
Vielleicht haben auch unsere Bildungsverwalter bis dahin den Vorschlag von Ralf Dahrendorf aufgegriffen, die jungen Hochschulabsolventen einzustellen und dafür den mittleren Generationen unter einigermaßen erträglichen Bedingungen ein Weiterbildungsangebot an den Universitäten zu machen, so daß, wer will, zweimal in seinem Leben studieren kann; denn auf die Dauer kann es ja wohl keine vernünftige ökonomische Lösung sein, daß der Wissenschaftsminister Kosten spart, die der Sozialminister dann doch in irgendeiner Form bezahlen muß.
Schließlich verschwindet der Lehrerstudent, den der Minister nicht will, nicht in einer Tiefkühltruhe, bis bessere Zeiten kommen. Andererseits hat noch niemand etwas "umsonst" gelernt, ohne es wirklich brauchen zu können, und gerade in Zeiten der Krise ist es kein Fehler, die Junge Generation zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu ermuntern, anstatt einerseits ein "akademisches Proletariat" zu fürchten, andererseits ganze Generationen zu Sozialhilfefällen zu degradieren.
Studieren ist immer noch eine der vernünftigsten Freizeittätigkeiten, die man nicht unnötig erschweren sollte.
136. Jugend in Verbänden und Organisationen (1983)
(In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd.8. Stuttgart 1983, S. 80-89)
Zusammenfassung: Jugendverbände sind eine Reaktion auf den Prozeß der gesellschaftlichen Freisetzung des Jugendalters. Die sozialen Kontexte und Perspektiven der familiären Herkunft werden im Jugendalter offen und mehrdeutig und führen einerseits zur "Emanzipation" des Jugendalters, also zu einem Spielraum für notwendige individuelle Lebensentscheidungen und Optionen, andererseits werden Erwachsenenorganisationen gezwungen, ihren nun nicht mehr "geborenen" Nachwuchs im Jugendalter zu werben. In diesem Widerspruch eröffnen sich den Jugendverbänden Chancen für die politisch-gesellschaftliche Integration der Jugend einerseits und für die pädagogische Förderung von individueller Autonomie und Mündigkeit andererseits. Allerdings hat immer nur eine Minderheit der Jugendlichen die Angebote der Verbände akzeptiert, die Mehrheit begnügte sich mit den üblichen Angeboten des Freizeitsystems oder des jeweiligen Milieus.
(Die englische und französische Fassung der "Zusammenfassung" an dieser Stelle wurde weggelassen, H. G.)
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1 Einleitung
Die Mitgliedschaft und Mitarbeit von Jugendlichen in Verbänden und Organisationen gehört in den größeren Zusammenhang ihrer Sozialisation außerhalb von Familie und Schule oder Betrieb. Ferner ist sie ein Teil der Jugendarbeit und Jugendpflege, die aber auch noch andere Formen kennt, etwa regionale Freizeitstätten und überregionale Bildungsstätten (vgl. GIESECKE 1980). Zweifellos jedoch waren von Anfang an die Jugendverbände das Kernstück der Jugendarbeit. Allerdings ist die Frage, wie weit der Begriff "Verband" und "Organisation" hier gefaßt werden kann. Neben den Verbänden im engeren Sinne, die sich eine vereinsrechtliche Struktur gegeben haben, gab und gibt es offen strukturierte Organisationsformen (Gruppen, Arbeitsgemeinschaften, Clubs und vieles mehr), deren Kontinuität ständig in Frage steht und die beispielsweise durch den Weggang eines Gruppenleiters oder eines Führungsteams zerfallen können. Derartige vor-verbandliche Formen gehören insofern in unseren Zusammenhang, als die Gründe und Motive für die Teilnahme von Jugendlichen hier im Prinzip dieselben sind wie bei der Mitgliedschaft in formellen Verbänden. Zudem besteht auch bei den Verbänden eine Differenz zwischen den Aktivitäten und Intentionen der Verbandsorgane und denen der einzelnen Gruppen an der Basis. In der Regel verhalten sich die Gruppen weitgehend autonom gegenüber den Verbandsorganen - sie üben beispielshalber Freizeittätigkeiten nach ihrem Geschmack aus - , so daß sie keineswegs einfach ausführen, was die Verbandsorgane beschließen, sondern sich eher unter deren organisatorischem Dach relativ selbständig bewegen. Die folgende Darstellung soll daher beide Aspekte im Auge behalten: sowohl die formelle Verbandsstruktur als auch das Gruppenleben und seine Bedeutung. Die Tätigkeit der Gruppen variiert je nachdem, um welchen Typ eines Verbandes es sich handelt. Im wesentlichen lassen sich politische, kirchlich-religiöse und freizeitorientierte (etwa Sportjugend) Jugendorganisationen unterscheiden, allerdings haben Freizeittätigkeiten in allen Jugendorganisationen einen hohen Stellenwert. Auffallend ist, daß Jugendliche überwiegend in eigens für sie eingerichteten Verbänden und Organisationen und offensichtlich kaum in generationsunspezifischen tätig sind. Dabei wird das Ende des Jugendalters erheblich ausgedehnt, bei parteipolitischen Verbänden (Junge Liberale, Jungsozialisten, Junge Union) sogar über das 30. Lebensjahr hinaus.
2 Historische Entwicklung
Um 1900 gab es zwar bereits im 19.Jahrhundert entstandene, vor allem von den Kirchen initiierte Jugendvereinigungen, die hier nicht weiter dargestellt werden müssen, denn für sie war charakteristisch, daß sie nach den traditionellen Vorstellungen der Erwachsenenverbände - diese gleichsam nach unten verlängernd - und ohne Kenntnis einer jugendspezifischen Problematik eingerichtet wurden. Es ging also im wesentlichen um Nachwuchsbetreuung und Nachwuchswerbung sowie um religiöse Aktivitäten. Erst mit der bürgerlichen Jugendbewegung (ab 1898) und der Arbeiterjugendbewegung (ab 1904) entstanden Organisationen, die von Jugendlichen geleitet wurden oder in denen sie in relativ hohem Maße mitbestimmen konnten.
Der Wandervogel - die erste Organisation der bürgerlichen Jugendbewegung - gehört in den Zusammenhang der um die Jahrhundertwende einsetzenden Kulturkritik. Verstädterung und Technisierung des Lebens, erstarrte gesellschaftliche Konventionen, ein lebensfremdes und bildungsformalistisches Gymnasium, darüber hin-
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aus soziale Spannungen verunsicherten vor allem das mittlere Bürgertum, dem die Mitglieder des Wandervogels ganz überwiegend angehörten. Gleichwohl entstand der Wandervogel nicht aus bewußtem Protest gegen diese bürgerliche Zivilisation und Kultur, der Protest war vielmehr die Folge jener neuen Erfahrungen, die man auf den Wanderfahrten gewann. Das Erlebnis der "reinen" Natur, der "natürlichen" Lebensweise auf dem Land, der jugendlichen Gemeinschaft Gleichberechtigter, des einfachen und reduzierten Lebens, der schlichten Lieder und der zweckmäßigen Mode boten einen - allerdings auch gesellschaftlich regressiven und deshalb problematischen - Maßstab zur Kritik des Alltags.
Die Bewegung breitete sich von Steglitz aus rasch aus und erreichte trotz mehrerer Spaltungen auf dem sogenannten Meißner-Treffen im Jahre 1913 ihren Höhepunkt. Das Treffen wurde als Gegenveranstaltung zur patriotischen Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig geplant. Die sogenannte Meißner-Formel sollte die Gemeinsamkeiten der ansonsten bereits unterschiedlichen Vorstellungen der einzelnen Gruppen zum Ausdruck bringen: "Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein" (GIESECKE 1981, S. 22). Die "Freideutsche Jugend" hatte sich auf dem Meißner-Treffen konstituiert als eine Art Arbeitsgemeinschaft der Älteren aus den Wandervogelbünden. In jener Formel kommt deutlich das Bedürfnis zum Ausdruck, in Distanz zu den traditionellen Erziehungsmächten sich einen selbstbestimmten Erfahrungsraum zum Zwecke der Selbsterziehung zu verschaffen.
Im Jahre 1904 entstand spontan eine Arbeiterjugendbewegung in Berlin und Mannheim, die sich ebenfalls schnell ausbreitete. Hintergrund waren hier vor allem die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen der jungen Arbeiter und Lehrlinge sowie ihre allgemeine sozioökonomische Lage. Die Vereine erstrebten Autonomie, also organisatorische Unabhängigkeit von den Erwachsenenverbänden der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften, bei gemeinsamer sozialistischer Zielsetzung. Konflikte mit der Partei und vor allem mit den Gewerkschaften waren die Folge: Dem Kampfzweck der Arbeiterorganisationen schade jede Art von organisatorischer Autonomie; der politische und wirtschaftliche Kampf auch für die Lehrlinge und jungen Arbeiter sei Sache der Erwachsenenorganisationen, Aufgabe der Jugendvereine dagegen sei die Bildungsarbeit, um die Jugendlichen für die späteren Aufgaben in den Erwachsenenorganisationen vorzubereiten (vgl. KORN 1922). Andererseits rief die Gründung der Arbeiterjugendvereine staatliche Abwehrmaßnahmen hervor. Durch das Reichsvereinsgesetz von 1908 wurde Jugendlichen die Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen und die Teilnahme an politischen Veranstaltungen verboten. Daraufhin mußten die Arbeiterjugendvereine in der bisherigen Form aufgelöst werden, an ihre Stelle traten lokale Jugendausschüsse, die sich zusammensetzten aus Vertretern der örtlichen Parteiorganisation und der Gewerkschaften sowie aus über 18 Jahre alten Vertrauenspersonen der jugendlichen Arbeiter. Spitzenorganisation mit Sitz in Berlin wurde die "Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands", die drittelparitätisch besetzt war (Partei; Gewerkschaften; Arbeiterjugend) und mit ihrer Zeitschrift "Die Arbeiterjugend" die örtliche Bildungsarbeit anzuregen versuchte.
Eine weitere Maßnahme des Staates gegen die Arbeiterjugendbewegung war die Unterstützung und Förderung der konservativ-patriotischen Jugendvereine durch die Jugendpflegeerlasse von 1911 (für Jungen) und 1913 (für Mädchen), mit denen auch finanzielle Subventionen zur Verfügung gestellt wurden. Jugendpflege im Sinne einer Förderung staatspolitisch genehmer Jugendorganisationen wurde zu ei-
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ner wichtigen staatspolitischen Aufgabe erklärt. Jedoch waren sich die so geförderten Vereine in ihrer Zielsetzung keineswegs einig. Die katholischen Jugendvereine waren an den jugendpolitischen Zielsetzungen des Staates kaum interessiert, während auf der anderen Seite etwa der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, der als Dachverband alle anderen bürgerlichen Jugendorganisationen für seine Ideen einer militärischen Jugendpflege zu gewinnen suchte, auf das Mißtrauen der katholischen Kirche stieß. So bot sich im Jahre 1914 das Bild eines allgemeinen "Kampfes um die Jugend", der nicht nur gegen die sozialistische Arbeiterjugendbewegung gerichtet war, in dem vielmehr auch die bürgerlichen Vereine untereinander rivalisierten. Lediglich die bürgerliche Jugendbewegung versuchte, Distanz zu diesen Auseinandersetzungen zu behalten und unpolitisch zu bleiben. Der Krieg brachte die Arbeit der Jugendvereine weitgehend zum Erliegen.
Nach 1918 erlebten die Jugendverbände einen großen Aufschwung. Die "Erfindungen" des Wandervogels im Hinblick auf ein "jugendgemäßes Leben" setzten sich nun auch in den traditionellen Verbänden weitgehend durch. Hinzu kamen weitere wichtige Neuerungen: Die Neupfadfinder - sie hatten sich 1922 von den vor dem Krieg gegründeten deutschen Pfadfindern abgespalten - ermöglichten durch ihr System der "Stammeserziehung" ein auch für eine Massenorganisation brauchbares Prinzip der Altersaufteilung, so daß nun auch Kinder organisiert werden konnten. Die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) - die Jugendorganisation der SPD - führte "Reichsjugendtage" ein (Weimar 1920, Nürnberg 1923), wo sich 20-50 Tausend Jugendliche zu Massenveranstaltungen trafen. Im ganzen setzte sich in der Weimarer Republik die Jugendpflege der großen Erwachsenenverbände durch, für eine freie Jugendbewegung blieb immer weniger Raum.
Nach dem Krieg wurde die Wandervogelbewegung durch die neuen "Bünde" ("Bündische Jugend") abgelöst (vgl. LAQUEUR 1962, PROSS 1964). An die Stelle der "Autonomie" in den frühen Wandervogelverbänden trat nun die Bindung an romantisch verklärte, emotional und weniger rational erlebte Symbole und Werte. Die Bünde waren meist antidemokratisch eingestellt oder standen der Republik wie dem politisch-parlamentarischen Leben überhaupt zumindest distanziert gegenüber. Ihre Mitglieder verstanden sich als eine Elite des Volkes, die sich in Distanz zur politischen Realität an den Werten der Bünde charakterlich bilden wollte, bis das Volk sie braucht. Die Bünde waren unter anderem eine Reaktion auf die normative und soziale Verunsicherung insbesondere des mittleren Bürgertums nach dem Ersten Weltkrieg, das zudem auch den größten Teil der wirtschaftlichen Verluste durch Krieg und Inflation zu tragen hatte. Auf der Suche nach einer neuen politisch-gesellschaftlichen Identität griffen die Bünde wie ein großer Teil des Bürgertums überhaupt auf jene völkisch-elitären Vorstellungen zurück, die SONTHEIMER (1978) als Teilstücke des damaligen "antidemokratischen Denkens" bezeichnet hat. Sie versuchten, die Jungen - Mädchen spielten hier eine untergeordnete Rolle in eigenen Mädchenbünden und Mädchengruppen - in Distanz zu den parteipolitischen Auseinandersetzungen zu halten und in den "ganzheitlichen" bündischen Werten und Vorstellungen erwachsen werden zu lassen. Entsprechend dem erwähnten ideologischen Hintergrund wollte der Bund darüber hinaus jedoch auch eine das Jugendalter überdauernde Lebensgemeinschaft aller Generationen sein. Dies ist den Bünden jedoch - im Unterschied zum Nationalsozialismus (SA als Anschlußorganisation für die Hitlerjugend) - nur unvollkommen gelungen. Diejenigen Jugendverbände, die "Jugendpflegearbeit" betrieben, also ihre Mitglieder körperlich, geistig und sittlich bilden wollten, und die den Weimarer Staat und seine Organe achteten, schlossen sich im "Reichsausschuß der deutschen Jugendverbän-
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de" zusammen - einem Vorläufer des heutigen deutschen Bundesjugendringes (DBJR). Nach seinen Angaben waren etwa 40% der Jugendlichen Mitglieder der ihm angeschlossenen Verbände (vgl. ZWERSCHKE 1963, S. 246). Obwohl der "Reichsausschuß" wichtige Beschlüsse nur einstimmig fassen konnte, entwickelte er eine beachtliche - wenn auch weitgehend erfolglose - jugendpolitische Aktivität, insbesondere mit dem Ziel, für die arbeitende Jugend bessere Arbeits-, Ausbildungs- und Freizeitbedingungen sowie einen gesetzlich garantierten Urlaub zu erreichen.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden zugunsten eines Monopols für die Hitlerjugend (HJ) alle übrigen Jugendverbände verboten, aufgelöst oder - wie die katholischen Jugendverbände - auf rein kirchlich-religiöse Tätigkeiten beschränkt. Die HJ wurde 1936 (Hitlerjugendgesetz) Staatsjugend, seit 1939 wurde die Mitgliedschaft für die 10-18jährigen "Dienstpflicht". Hauptziel der HJ war die planmäßige Beeinflussung der heranwachsenden Generation im Sinne der NS-Ideologie sowie eine spezifisch vormilitärische Disziplinierung. Dabei wurden die "jugendgemäßen" Erfindungen der Jugendbewegung (Fahrt, Lager, Heimabend, Liedgut), der Symbolkult (etwa Fahnenkult, Feuerkult) der Bünde, die Massenveranstaltungen der sozialistischen Jugendverbände geschickt kombiniert und unter dem Leitbild des "politischen Soldaten" militarisiert. Die weltanschauliche und praktische Schulung der Mädchen blieb auf ein traditionelles Rollenmuster fixiert: Hüterin von Haus und Hof, von Kultur und Sitte, Gefährtin des (kämpfenden) Mannes, soziale und pflegerische Tätigkeiten. Im Krieg übernahm die HJ wichtige Aufgaben an der "Heimatfront" ("Kinderlandverschickung") und wurde gegen Ende des Krieges teilweise auch militärisch eingesetzt (vgl. KLÖNNE 1982).
Nach 1945 entstanden die Jugendverbände im wesentlichen in der Form wieder, wie sie 1933 aufgelöst wurden. Lediglich die Bündische Jugend gewann nur noch marginale Bedeutung. Die neuen Jugendverbände waren nun ganz überwiegend an große Erwachsenenorganisationen angelehnt. Im Zuge ihrer Re-education-Politik förderten die Besatzungsmächte die Neugründung von Jugendverbänden zunächst auf lokaler Ebene, den Großorganisationen standen sie eher skeptisch gegenüber. Trotzdem entwickelten sich die Jugendverbände schnell, und im Jahre 1949 wurde der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) nach dem Vorbild des alten "Reichsausschusses" gegründet. Die Jugendverbände wollten nun gemeinsam den Jugendlichen ein jugendgemäßes Leben ermöglichen und die junge Generation für den neuen demokratischen Staat gewinnen und "ein Aufleben militärischer, nationalistischer und totalitärer Tendenzen im Interesse der Jugend mit allen Kräften [...] verhindern" (Gründungsaufruf) (GIESECKE 1980, S.26). Die politische und weltanschauliche Pluralität der Verbände sollte jedem Jugendlichen ein ihm gemäßes Identifikationsangebot gewähren, an das er sich binden könne. In dem Maße jedoch, wie weltanschauliche Unterschiede und Gegensätze an Bedeutung verloren und das als "jugendgemäß" Überlieferte seine formende Kraft zugunsten kommerzieller Konsumstandards einbüßte, geriet das Selbstverständnis der Jugendverbände in eine Krise, die heute noch anhält und die auch durch verstärkte Bildungsarbeit nicht behoben werden konnte. Das gilt vor allem für die politisch und kirchlich orientierten Jugendverbände, weniger für die freizeitorientierten.
3 Die jugendpolitische und pädagogische Bedeutung
Die knappe Darstellung der historischen Entwicklung sagt noch wenig über die politische und pädagogische Funktion der Jugendorganisationen aus. Diese ergibt sich erst, wenn man Aspekte des gesellschaftlichen Wandels mit der gesellschaftlichen
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Problemlage des Jugendalters sowie mit den daraus resultierenden Sozialisationsproblemen in einem Zusammenhang sieht. Dann lassen sich etwa folgende Hinweise geben:
Erstens treffen sich in der Entstehung und Entwicklung der modernen Jugendverbände zwei Tendenzen, die man oberflächlich als den Widerspruch von Jugendbewegung und Jugendpflege bezeichnen kann. In dem Maße, wie die Zukunft eines Jugendlichen nicht mehr durch seine familiäre Herkunft und durch eine damit verbundene eindeutige normativ-kulturelle und beruflich-soziale Perspektive programmiert und garantiert werden kann, wird das Jugendalter zu derjenigen Lebensphase, in der diese Perspektiven durch den einzelnen zumindest mitbestimmt werden müssen. Auf diese Weise entsteht eine Kulturpubertät (vgl. SPRANGER 1926), ein psychosoziales "Moratorium" (ERIKSON 1965, S.257), also ein gesellschaftlich notwendiger und irgendwann auch zugelassener Spielraum für relativ selbständige Lebensentscheidungen, beispielsweise Schulwahl, Berufswahl, Wahl des Studienfaches, aber auch für politische und für weltanschauliche Optionen. Man kann diesen Prozeß die Emanzipation des Jugendalters nennen. Andererseits ist damit aber auch das Jugendalter einem öffentlichen Zugriff ausgesetzt, etwa von denjenigen Erwachsenenorganisationen, die ein Interesse daran haben, auf diesen Prozeß einzuwirken, um beispielsweise den eigenen Nachwuchs zu sichern. Der einzelne Jugendliche wird also von jeder Richtung her öffentlich "zugänglich", es entbrennt ein "Kampf um die Jugend". Die Jugendpflege der großen Jugendorganisationen ist ein Ergebnis dieser Auseinandersetzungen. Pädagogisch bedeutet dieser Widerspruch, daß der Erziehungsanspruch der Erwachsenen und der traditionellen "Erziehungsmächte" relativiert wird zugunsten einer "Selbsterziehung" der Heranwachsenden.
Zweitens hat die Freisetzung des Jugendalters im eben beschriebenen Sinne jedoch nicht nur eine zeitliche Dimension - Verlängerung der Jugendzeit unter anderem durch Verlängerung der höheren Ausbildungsgänge -, sondern auch eine soziale Konsequenz: Immer mehr Lebenszeit wird unter Gleichaltrigen verbracht. Im Zwischenstadium zwischen familiärer Herkunft einerseits und der endgültigen Übernahme von Erwachsenenpositionen andererseits entsteht eine gemeinsame Bewußtseinslage derjenigen, die gemeinsame Orientierungs- und Anpassungsprobleme haben (vgl. EISENSTADT 1966). Es entsteht ein Bedürfnis nach gleichaltrigen Gruppen mit eigentümlichen, subkulturellen Formen und Ritualen. Jedoch schloß sich immer nur eine Minderheit deswegen Gruppen der Jugendverbände oder größeren Jugendorganisationen an. Der Mehrheit der Jugendlichen reichte dazu der übliche Freundes- und Bekanntenkreis, mit dem die Freizeit verbracht wurde. Eine oft gestellte, aber kaum bündig zu beantwortende Frage ist dabei, ob sich in den Jugendverbänden immer ein besonderer Sozialisationstyp gesammelt hat, etwa derjenige mit besonderen Anpassungsproblemen, oder solche, die sich zum Führertum drängten, um damit geringere Fähigkeiten bei der Ausführung üblicher Erwachsenenfunktionen zu kompensieren, oder etwa besonders kontaktbedürftige Jugendliche. Sicher ist nur, daß die Jugendverbände jungen Menschen Mitwirkungs- und Verantwortungsmöglichkeiten anbieten, wie sie in keinem anderen Sozialisationsbereich möglich waren und sind. Andererseits verweist die Existenz der Jugendverbände auch auf die gesellschaftliche Ausgliederung des Jugendalters, auf die Kanalisierung gesellschaftlicher Partizipation Jugendlicher.
Drittens steht die Entwicklung der Jugendverbände in einem engen Zusammenhang mit Entstehung und Entwicklung der modernen Freizeit und ihrer zunehmenden kommerziellen Beeinflussung. Die Jugendverbände sprechen ihre Mitglieder in deren Freizeit an. Gerade im Freizeitbereich aber machten sich die um die Jahr-
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hundertwende einsetzende normativ-kulturelle Verunsicherung und Mehrdeutigkeit besonders bemerkbar. Das in den Jugendverbänden gepflegte "Jugendleben" hatte den Charakter einer Freizeitteilkultur, die sich von den kommerziell bestimmten Freizeitinhalten abzusetzen trachtete. In diesem Zusammenhang, nämlich um die Jugend vor solchen Einflüssen zu schützen, die politisch und wirtschaftlich nicht mehr verhindert werden konnten, aber gleichwohl als pädagogisch schädlich galten, gehört auf anderer Ebene der "Jugendschutz". Vor allem unter dem Einfluß der jederzeit zugänglichen Massenmedien setzten sich jedoch spätestens seit Anfang der 60er Jahre die kommerziellen Freizeitleitbilder durch und bestimmten auch das Leben in den Jugendverbänden. An die Stelle jener "jugendgemäßen" Freizeitkultur traten kommerziell geprägte subkulturelle Ausdrucksformen mit schnell wechselnden Moden. Allerdings ist zur Zeit offen, ob sich im Rahmen der modernen Umweltbewegung nicht in Distanz zur üblichen Vermarktung neue Formen und Stile bilden werden. Der Wegfall einer für die Jugendarbeit und damit auch für die Jugendverbände spezifischen Freizeitkultur hat jedoch zur Folge, daß die Jugendverbände ihren jugendspezifischen Charakter immer mehr verlieren; denn ihre gegenwärtigen Haupttätigkeiten (Angebote für unverbindliche Geselligkeit, Nachwuchswerbung, Bildungsarbeit) unterscheiden sich kaum von denen der Erwachsenenorganisationen. Möglicherweise zeigt sich darin eine Tendenz zur Aufhebung und Vergesellschaftung der Jugendphase. Schelsky hatte schon 1957 behauptet, daß nicht das Ende des Jugendalters, sondern das Ende der Kindheit den Übergang zum Erwachsenenstatus markiere, die Jugendarbeit verlängere mit ihren Vorstellungen und Einwirkungen nur die Kindheit und mache die Übergangsphase unnötig konflikthaft. In der Tat scheinen gegenwärtig nach der Entmachtung der klassischen "Erziehungsmächte" und angesichts der kaum noch generationsspezifischen Einflüsse der Massenmedien auch jugendspezifische öffentliche Reaktionen (etwa angesichts von Suchtgefahren oder Arbeitslosigkeit) immer mehr gegenstandslos zu werden. Jugendarbeitslosigkeit beispielsweise wird heute im Unterschied zu früher im wesentlichen als ökonomisches Problem behandelt, kaum noch unter dem Gesichtspunkt einer besonderen und pädagogisch höchst bedenklichen "Berufsnot der Jugend" wie noch nach den beiden Weltkriegen. Probleme der Jugendphase gelten offensichtlich als allgemeine Probleme, die einer privilegierten, pädagogisch begründeten Lösung nicht mehr bedürfen. Andererseits aber dürfte es kaum zweifelhaft sein, daß Jugendliche diese allgemeinen Probleme (Normunsicherheit, unsichere Berufsperspektive, Identitätsunsicherheit) in ihrer besonderen Lage (auf dem biographischen Weg von der Herkunftsfamilie zu relativ offenen Lebensperspektiven) in besonderer Dringlichkeit erleben.
Viertens könnte in dieser Lage eine Aufgabe der Jugendverbände von besonderer Bedeutung werden, die sie sich seit etwa 1919 - einzeln wie vor allem gemeinsam - gestellt haben: die Vertretung der spezifischen Lebensinteressen aller Jugendlichen gegenüber der Öffentlichkeit, vor allem also gegenüber den politischen und gewerkschaftlichen Instanzen. Trifft nämlich die Beobachtung von der zunehmenden gesellschaftlichen "Gleichschaltung" des Jugendalters zu, so folgt daraus keineswegs auch die gleichberechtigte Behandlung jugendlicher Interessen und Bedürfnisse durch die einschlägigen Erwachsenenorganisationen.
Fünftens können die Jugendverbände, obwohl sie nicht in erster Linie pädagogisch geplante Institutionen und Felder sind, sondern auch Einrichtungen des üblichen Freizeitlebens, spezifische Lern- und Erfahrungschancen von pädagogischer Relevanz bieten: Engagement für politische, soziale oder kulturelle Ziele, Entwicklung zielgerichteter Handlungsstrategien, kooperatives und solidarisches Handeln, Mit-
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bestimmung und Selbstbestimmung, Einsicht in die Mechanismen von Großorganisationen, Entdeckung spezifischer Begabungen, Übernahme von Führungs-, Verantwortungs- und Funktionstätigkeiten. Allerdings sind damit nur Möglichkeiten angedeutet, die wohl nur von einer Minderheit wahrgenommen werden. Alle Untersuchungen stimmen darin überein, daß die meisten Mitglieder in den Jugendverbänden vor allem mit Gleichaltrigen ihre Freizeit verbringen wollen - mit Erwartungen, die kaum von den Jugendverbänden beeinflußt werden können, sondern überwiegend durch kommerzielle Angebote und Moden geprägt sind. Dieser Widerspruch zwischen den Intentionen der Verbände und der für sie tätigen Pädagogen einerseits und den Erwartungen der Jugendlichen andererseits hat sich durch die zunehmende Professionalisierung und den Rückgang der ehrenamtlichen Mitarbeiter noch verschärft. Zudem verändert sich dadurch auch die Qualität der Beziehung: Aus der gemeinsamen Freizeitbeziehung von Ehrenamtlichen und Jugendlichen wird eine professionelle Arbeit-Freizeit-Beziehung. Anzeichen deuten darauf hin, daß diese Tendenz zur pädagogischen Professionalisierung auf dem Weg über die staatliche Subvention nicht nur zur Bürokratisierung und zu mangelnder Flexibilität führt, sondern auch zur Diskreditierung ehrenamtlicher Tätigkeit und insofern auch zur Abwehr jugendbewegter Innovationen.
Sechstens entstand die bürgerliche Jugendbewegung im Umfeld einer von reformpädagogischen Intentionen geprägten öffentlichen Diskussion über Grundfragen der Erziehung. Eines der beherrschenden Themen war dabei die Frage des "pädagogischen Bezugs" zwischen den Generationen. Die formellen Erziehungsverhältnisse waren damals durchweg nach dem Muster der patriarchalischen bürgerlichen Familie strukturiert. Demgegenüber gelangen in den Veranstaltungen der Jugendbewegung eher partnerschaftliche Erziehungsverhältnisse, nicht nur unter Gleichaltrigen, sondern auch zwischen den Generationen. Viele ehemalige Mitglieder der Jugendbewegung brachten dann ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit diesem neuen pädagogischen Bezug in ihre spätere pädagogische Berufstätigkeit ein und bestimmten damit auch die öffentliche Erziehungsdiskussion und die pädagogische Theorie in der Weimarer Republik in erheblichem Maße mit. Kinder und Jugendliche wurden nun weniger als Objekte von außen kommender Erziehungsansprüche und mehr als pädagogisch zu fördernde Subjekte ihrer Bildung und Erziehung gesehen. In diesem Zusammenhang gewannen die selbsterzieherischen Funktionen des Gruppenlebens besondere Aufmerksamkeit. Allerdings blieb diese zeitweise euphorisch verkündete Befreiung des kindlichen und vor allem jugendlichen Individuums ambivalent. Die "Demontage des Vaters" nämlich als des alles beherrschenden Erziehungsprinzips hinterließ Lücken, die auf unterschiedliche Weise gefüllt werden konnten. Die sich selbst erziehende Gruppe war nur eine Möglichkeit, eine andere war das Führer-Gefolgschafts-Verhältnis, das schon in der Bündischen Jugend eine gewisse Rolle spielte und dann im Nationalsozialismus zum ausschließlichen Prinzip des pädagogischen Verhältnisses wurde. Der von der frühen Jugendbewegung praktizierte partnerschaftliche Bezug setzt ein relativ hohes Maß an Ich-Stärke und autonomer Entscheidungsfähigkeit voraus, Fähigkeiten, die zudem zu einem großen Teil selbständig erworben werden müssen. In welchem Maße dies wievielen Jugendlichen gelingt, ist nicht nur eine Frage der jeweiligen individuellen Disposition, sondern auch eine Frage des gesamten kulturellen Umfeldes. In Zeiten starker soziokultureller Desorganisation und heftiger normativer und sozialer Widersprüche wie zur Zeit der Weimarer Republik können sich solche Fähigkeiten offensichtlich weniger gut entfalten. Unter derartigen Bedingungen kann dann auch die Jugendgruppe ihren Charakter ändern. Anstatt in gegenseitiger Erziehungs-
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hilfe die Fähigkeiten ihrer Mitglieder zu autonomem Verhalten zu fördern, kann sie zum Fluchtort vor den Anforderungen der Realität werden mit der Folge eines mehr oder weniger großen Wirklichkeitsverlustes. Oder aber die überschaubare Gruppe wird - wie im Nationalsozialismus - zum Instrument der Indoktrination, der politischen und sozialen Disziplinierung und Kontrolle mit dem Ziel, autonomes Verhalten gerade zu verhindern.
Siebentens bestand das Problem der "Demontage des Vaters" und die damit verbundene Entstehung eines relativ autonomen Handlungsspielraums im Jugendalter zunächst eher für die Jungen als für die Mädchen. Sowohl der Wandervogel wie auch die Bünde waren stark männerbündnerisch orientiert. Insbesondere die Mystik der Bünde (etwa der weiße Ritter der Neupfadfinder, der als heiliger Sucher und ritterlicher Held aufbricht, um mit einer "neuen Menschheit" die Welt durch sein "Reich" zu erlösen) bot Mädchen wenig Identifikationsmöglichkeiten. Im Wandervogel gab es schon vor dem Krieg eine Grundsatzdiskussion über das Mädchenwandern mit dem Ergebnis, daß Mädchen möglichst in eigenen Gruppen wandern sollten, um nicht zu "verbengeln". In Süddeutschland allerdings war das gemischte Wandern weiter verbreitet. Aber im ganzen herrschte in der bürgerlichen Jugendbewegung die Tendenz vor, Koedukation nur bei besonderen Gelegenheiten (beispielsweise Feste, Tagungen) zu realisieren, wobei traditionelle Vorstellungen von der Rolle der Frau überwogen. Andererseits hatte die gleichgeschlechtliche Gruppe den Vorteil, daß die Mädchen ohne den ständigen Vergleich mit den Jungen und ohne deren Dominanz eigene Erlebnis- und Verhaltensmaßstäbe entwickeln konnten. Zumindest brachte das Wandern eine Distanz zur alltäglichen Konvention. In den Arbeiterjugendorganisationen wurde aus Prinzip koedukativ gearbeitet, obwohl auch hier die Mädchen Schwierigkeiten hatten, ihre Gleichberechtigung faktisch durchzusetzen. Aber immerhin boten die Gegenstände der gemeinsamen Arbeit (politische und ökonomische Fragen, Freizeitgestaltung, Bildung) geeignetere Ansätze für die Gleichberechtigung des Mädchens als bei den bürgerlichen Jugendorganisationen. Die Hitlerjugend setzte die Trennung der Geschlechter wieder durch, und nach 1945 blieb sie in weiten Teilen der kirchlichen Jugendarbeit erhalten, in den politischen Jugendorganisationen wurde dagegen wieder koedukativ gearbeitet. Vom Standpunkt des Mädchens und seiner Bedürfnisse im Jugendalter her läßt sich weder die gleichgeschlechtliche noch die koedukative Gruppe prinzipiell pädagogisch favorisieren. Wichtig scheint zu sein, daß beide Möglichkeiten wählbar sind. Spätestens seit Ende der 60er Jahre ist diese Frage insofern gegenstandslos geworden, als es für den Umgang zwischen den Geschlechtern kaum noch gesellschaftlich durchsetzbare Normen gibt.
Achtens: Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Bedürfnis Jugendlicher, die Freizeit in altershomogenen Gruppen zu verbringen, anhält. In welchem Ausmaß Jugendliche sich deshalb großen Organisationen und Verbänden anschließen, hängt nicht zuletzt davon ab, in welcher Weise die Verbände darauf eingehen können, ob es ihnen etwa gelingt, neue Stile für Kommunikation und Geselligkeit zu finden, nachdem das "Jugendgemäße" seine prägende Kraft verloren hat. Gegenwärtig verdienen zwei Tendenzen Beachtung: Einmal wächst das Bedürfnis nach neuen, auch emotional erfahrbaren "Gemeinschaftsformen". Andererseits hat sich unterhalb der offiziellen Jugendverbände eine vielschichtige subkulturelle "Szene" gebildet, die ohne die Vermittlung durch in die Gesellschaft eingebundene Organisationen leicht in die gesellschaftliche Isolierung geraten und damit zu einem sozialpädagogischen und sozialpolitischen Problem werden kann.
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137. Bildung, politische (1983)
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Begriff. Eine demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung setzt ihrem eigenen Begriff nach den "mündigen" Bürger voraus, der in der Lage ist, politische Prozesse und Entscheidungen zu verstehen und in seinem Kompetenz- und Lebensbereich nach demokratischen Normen und nach der eigenen Interessenperspektive zu handeln. Diese Fähigkeiten sind nicht angeboren, sondern müssen erlernt werden. Dies geschieht zunächst mehr oder weniger unbewußt im Rahmen der politischen Sozialisation, die in Familie, Gleichaltrigengruppe, Schule und durch die Massenmedien politisch relevante Normen und Einstellungen vermittelt und die sinngemäß in allen gesellschaftlichen Verfassungen stattfand. Insofern dies planmäßig geschieht, sprechen wir von politischer oder politisch relevanter Erziehung. Politische Bildung dagegen ist die bewußte gedankliche Erschließung der politischen Realität, aber auch des eigenen Sozialisationsprozesses. Insofern ist politische Bildung als individu-
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ell sich aufklärendes politisches Bewußtsein immer auch nach zwei Seiten kritisch: gegenüber der Realität wie gegenüber der Formung durch diese Realität. Allerdings wurde der Begriff politische Bildung seit 1918 immer im engen Kontext mit dem der politischen Erziehung verwendet, eine Differenzierung erfolgte weniger in systematischer als vielmehr in schulspezifischer Hinsicht (politische Bildung im Rahmen von Gymnasium und Hochschule, politische Erziehung im Rahmen der Volks-, Berufs-und Realschulen); seine sinnvolle Verwendung ist gebunden an die Vorstellung einer sich entfaltenden Individualität, die bei zunehmender Reife zu politischen Einsichten und demgemäß zu adäquaten Verhaltensweisen gelangt. Diese Vorstellung ist jedoch wegen der zunehmenden Vergesellschaftung (Bürokratisierung, Komplexität der politischen Realität, zunehmende Abhängigkeit der Individuen von gesellschaftlichen Teilsystemen) fragwürdig geworden im Sinne einer von der Realität nicht mehr gedeckten anthropologischen Fiktion. Obwohl der Begriff der politischen Bildung weiterverwendet oder jedenfalls nicht ausdrücklich abgelehnt wird, sind davon abweichende Leitvorstellungen entstanden, die mehr auf kollektiv-solidarische Verhaltensmuster zielen: "Soziales Lernen" soll derartige Fähigkeiten fördern, Curriculumkonstruktionen sollen standardisierte - also kollektive - Verhaltensweisen in standardisiert gedachten Lebenssituationen (wie Arbeit, Freizeit) lernbar machen.
Politische Bildung in der Schule. Wenn politische Bildung als komplementär zur demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung zu sehen ist, so impliziert dies, daß es je nach gesellschaftlicher Interessenlage auch unterschiedliche Vorstellungen über Ziele und Verfahren (Didaktik und Methodik) der politischen Bildung gibt. Im Rahmen der außerschulischen Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung können sich diese partikularen Vorstellungen teilweise (je nach gesellschaftlicher Macht) realisieren. In der Schule entsteht dabei das Problem des Konsenses, wie also der Widerspruch zwischen legitimen partikularen Interessenperspektiven einerseits und dem staatlich monopolisierten Schulwesen andererseits zu lösen ist (Lehrpläne, Richtlinien, Schulbuchzulassung). Die unterschiedlichen Bezeichnungen für das entsprechende Schulfach (Staatsbürgerkunde, Politische Weltkunde, Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Gesellschaftslehre) verweisen auf unterschiedliche Lösungsversuche, die in einem geschichtlichen Prozeß verstanden werden können. In der Weimarer Republik und auch noch in den 50er Jahren wurde davon ausgegangen, daß das Kindes- und Jugendalter politisch exterritorial zu halten, also durch die älteren Generationen politisch zu vertreten sei; demnach durften politische Kontroversen und Konflikte möglichst nicht Gegenstand des Unterrichts sein. Politische Bildung war im wesentlichen Geschichtsunterricht, Institutionenkunde und Tugendlehre. In dem Maße, in dem das Jugendalter jedoch selbst vergesellschaftet wurde (Konsum, Vergesellschaftung ökonomischer Familienleistungen durch Sozialpolitik), wurden Jugendliche auch unmittelbar zu politischen Subjekten, die ihre politischen Interessen und Perspektiven selbst vertreten müssen. In diesem Prozeß wurde die kontroverse politische Realität, in der sich die Jugendlichen verhalten müssen, selbst zum Gegenstand des Unterrichts, wofür neue didaktische Konzeptionen (beispielsweise "Konfliktansatz") entwickelt wurden. Eine Gefahr dieser neuen Entwicklung ist, daß durch die Aufgabe der Distanz zur unmittelbaren politischen Realität der politische Unterricht durch partikulare politische Einflüsse selbst Teil jenes der politischen Bildung entgegenstehenden
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Vergesellschaftungsprozesses wird, insofern kritische Distanz durch die Unmittelbarkeit der Stoffe und politischen Parteiungen überwältigt werden kann.
Die überlieferte Dreigliederung des Schulwesens führte auch zu schultypbezogenen didaktischen Ansätzen. In den Volks- und später Hauptschulen sowie Berufsschulen dominierten bis etwa Mitte der 60er Jahre Konzeptionen der "volkstümlichen Bildung" und des heimatkundlichen Prinzips, die davon ausgingen, daß die Schüler im wesentlichen in der Lebenswelt ihrer sozialen Herkunft bleiben würden, so daß es sie dort zu integrieren gelte. Im Rahmen der "wissenschaftlichen" Bildung an den Gymnasien - die Realschulen nahmen eine Zwischenstellung ein - dagegen erfolgte, wenn auch zögernd, schon Mitte der 50er Jahre eine fachwissenschaftliche Grundlegung des politischen Unterrichts durch Politikwissenschaft und Soziologie, was zu entsprechend orientierten didaktischen Konzeptionen führte, die auch gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte thematisierten. Die mit der Studentenbewegung einsetzende radikale Politisierung hatte auch eine politische Polarisierung der Didaktik zur Folge, so daß gegenwärtig eine allgemein anerkannte didaktische Theorie fehlt. Es erscheint fraglich, ob aus dieser Lage das eingangs skizzierte Konzept von politischer Bildung als einer Selbstaufklärung mündiger Menschen neu entstehen kann.
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