Hermann Giesecke 

Gesammelte Schriften 

Band 26: 2000 - 2001
© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände 

Register

Inhaltsverzeichnis 

205. Sitzenbleiben abschaffen? (2000)
206. Zwischen Nähe und Distanz. "Soziales Lernen" in Familie und Schule (2000)
207. Muster im Flickenteppich. Gerhard Bliersbach reflektiert den Alltag in einer            "Patchworkfamilie" (2001) 
208.Was bleibt von der Politischen Bildung? (2001)
209. Hauptsache happy. Martha und William Pieper erziehen "mit Herz und Verstand" –     aber scheuen dabei vor Konflikten zurück (2001)
210. Am Ende pädagogischer Illusionen? Erwägungen für ein Bildungskonzept der Zukunft (2001)
211. Wie führe ich einen neuen Partner in meine Familie ein? (2001)
212. "Meine Stiefkinder lehnen mich ab!" (2001)
213. Warum "Wirtschaft" in der Geschichte der Politischen Bildung marginal geblieben ist (2001)
214.  Ökonomische Implikationen des pädagogischen Handelns (2001)
215. Jugendarbeit als Kulturpädagogik (2001)
216. Rezension zu: Ewald Terhart: Lehrerberuf und Lehrerbildung (2001)


Zu dieser Edition

Dieser 26. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 2000-2001. In dieser Zeit war  ich bereits  emeritiert.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000. 

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte. Allerdings wurden Texte, die nach Vorträgen mehrmals an unterschiedlichen Orten - z.B. in Verbandszeitschriften - wiedergegeben wurden, nur einmal berücksichtigt. 
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals. 
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden. 

© Hermann Giesecke



205.
Sitzenbleiben abschaffen? (2000)

In: Pädagogik, H. 3/2000, S. 51

Bei der Diskussion über das Sitzenbleiben muß eine politisch-gesellschaftliche bzw. administrative Ebene und eine pädagogische Ebene unterschieden werden. 

Unter dem ersten Aspekt kann das Sitzenbleiben grundsätzlich nicht abgeschafft werden. Mit der Drohung bzw. Durchsetzung des Sitzenbleibens macht die Gesellschaft ihren Anspruch geltend, ihr - sehr teures - Bildungsangebot zwar grundsätzlich allen Kindern, aber nicht zum geistigen Nulltarif anzubieten. Insofern handelt es sich hier um ein Instrument der Leistungskontrolle im Rahmen der Beurteilung der Schülerleistung durch Noten und Zeugnisse. Wer das Sitzenbleiben grundsätzlich ablehnt, macht sich diesen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang nicht klar. Dieser hat insofern sogar eine neue Bedeutung gewonnen, als die Schule heute im Unterschied zu früheren Zeiten nicht mehr in erster Linie der Loyalitätssicherung und der ideologischen Formierung des Nachwuchses "im Interesse der herrschenden Klassen" dient, sondern zu einer Bildungsdienstleistung geworden ist, die primär dem Individuum gesellschaftliche Partizipationschancen eröffnet. Dafür muß eine entsprechende Gegenleistung erwartet werden. Zudem sind mit Schulabschlüssen bestimmte Berechtigungen - z.B. zum Hochschulstudium - verbunden, die an die Stelle früherer ständischer Geburtsrechte getreten sind. Solche Berechtigungen ohne entsprechende Gegenleistung zu verteilen, wäre ungerecht und unter demokratischen Vorzeichen politisch nicht vertretbar. Die weit verbreitete Kritik am Sitzenbleiben ist im Grunde nur die Konsequenz der Forderung, Schulnoten und Zeugnisse überhaupt abzuschaffen. 

Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen ist ferner zu zählen, daß unser allgemeinbildendes Schulwesen nach Jahrgangsklassen geordnet ist, in denen Lehrgänge mit zunehmendem Leistungsanspruch aufeinander folgen, die noch einmal nach Schulformen differenziert werden. Würde das Sitzenbleiben grundsätzlich abgeschafft, würden über Jahre hinweg die Leistungsprofile in den Schulklassen derart auseinander driften, daß eine gemeinsame Arbeit kaum noch möglich wäre. 

Das kann - pädagogisch gesehen - auch nicht im Interesse der Schüler liegen, weil niemand mehr seinen Fähigkeiten entsprechend gefordert und gefördert werden könnte. Das ist vielmehr nur möglich, wenn der einzelne Schüler sich in einer Lerngruppe bewegen kann, die ihm einen chancengleichen Zugang zu den geforderten Lernaufgaben gewährt; er muß bei wenigstens mittlerem guten Willen die erwarteten Leistungen auch erbringen können, sonst wird er zum Außenseiter - mit allen bekannten kompensatorischen Folgen. Ohne Zensuren mit der möglichen Konsequenz des Sitzenbleibens bekäme der Schüler keine Rückmeldungen über seinen Leistungsstand. Er würde Jahr für Jahr in eine höhere Klassenstufe aufsteigen, ohne dafür entsprechende Leistungen erbracht zu haben. Die meisten Schüler, die ungerechtfertigt versetzt werden, müssen später doch eine Klasse wiederholen, aber dann ist viel Zeit nutzlos verstrichen. 

Auch Pädagogisch gesehen kann es also nicht um die Abschaffung des Sitzenbleibens gehen, sondern nur darum, wie es vernünftigerweise verhindert oder eine alternative Lösung rechtzeitig gefunden werden kann. Sitzenbleiben ist ja nur die letzte Konsequenz einer zu geringen Lernleistung. Sie entsteht nicht plötzlich, sondern deutet sich über einen längeren Zeitraum an - durch schlechte Noten in einzelnen Fächern oder insgesamt. Nötig ist vorher zunächst einmal eine Diagnose der Ursachen: Ist der betreffende Schüler lediglich lernunwillig ("faul"), oder befindet er sich an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit, so daß ihm (bzw. seinen Eltern) letztlich nur der Übergang in eine andere Schulform zu raten wäre? Die letztere Entscheidung sollte möglichst rechtzeitig getroffen werden, bevor ein Sitzenbleiben erfolgt. Eine Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß die eine Diagnose von der anderen nicht immer klar zu trennen ist. Deshalb ist es in der Regel zweckmäßig, zunächst eine optimale zusätzliche Förderung zu versuchen, die aber durch einen entsprechenden Willen des Schülers unterstützt werden muß, sonst kann sie keinen Erfolg haben. Da der Zugang zu höheren Bildungsstufen heute weitgehend offen geworden ist, muß der Schüler auch ausprobieren können, ob eine bestimmte Schulform seinen Leistungsmöglichkeiten, aber auch seinen Erwartungen entspricht - was man vorher nicht hinreichend wissen kann. Die Drohung des Sitzenbleibens zwingt ihn bzw. seine Eltern dazu, sich zu vergewissern, ob die gewählte Schulart bzw. Schulform seinen Fähigkeiten wirklich entspricht. Ohne eine entsprechende Kontrolle würde ein Schüler möglicherweise Jahre seines Lebens vergeuden, anstatt rechtzeitig eine seinen Fähigkeiten entsprechende Bildung bzw. Ausbildung zu finden. 

Auch Gründe, die außerhalb der Schule liegen, wie etwa Familienkrisen, können einen Leistungsabfall verursachen, weil die Energie dann zunächst einmal für andere Zwecke gebraucht wird. In solchen Fällen muß dem Schüler geholfen werden, die Durststrecke zu überstehen, wenn abzusehen ist, daß er danach wieder erfolgreich am Unterricht teilnehmen kann. Aber ohne die Gefahr des Sitzenbleibens würde das eigentliche Problem auch hier nicht zum Vorschein kommen. 

Sitzenbleiben mit dem Ziel, eine Klasse zu wiederholen, ergibt nur Sinn, wenn sich diese Maßnahme für den Schüler auch lohnt, wenn seine Fähigkeiten also entsprechend herausgefordert werden können, sonst langweilt er sich ein Schuljahr lang und wird dadurch zum Außenseiter. Deshalb ist die Meßlatte wichtig: Wie viele nicht ausreichende Leistungen in wie vielen und in welchen Fächern sollen dafür ausschlaggebend sein, und wie lassen sich schlechte Leistungen durch gute in anderen Fächern kompensieren? 

Fazit: Bei solchen Entscheidungen sollten Lehrer und Eltern das Wohl des Schülers und nicht ihre eigenen Interessen im Auge haben und mit dem Schüler gemeinsam zu einer auch ihn überzeugenden Lösung gelangen. 

206.Zwischen Nähe und Distanz. "Soziales Lernen" in Familie und Schule (2000)

In: J. Schlömerkemper (Hrsg.): Differenzen. Über die politische und pädagogische Bedeutung von Ungleichheiten im Bildungswesen. = 6. Beiheft der Zeitschrift "Die Deutsche Schule", Weinheim 2000, S. 182 – 189
 
 

In modernen Gesellschaften müssen Kinder im Verlaufe ihrer Sozialisation lernen, sich sozial unterschiedlich zu verhalten - anders in der Diskothek als in der Schule, anders im Kaufhaus als in der Kirche, in der Familie anders als unter Gleichaltrigen. Das Kind muß also fähig werden, seine Bestrebungen und Bedürfnisse auf verschiedene soziale Orte zu sortieren bzw. umgekehrt die Angebote dieser Orte für seine Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung zu nutzen. Es muß soziale Differenzen wahrnehmen und handhaben lernen. Gelingt dies nicht, droht Verweigerung bzw. Verlust sozialer Akzeptanz am jeweiligen sozialen Ort. Dabei ist zunächst einmal gleichgültig, ob die jeweils geltenden Regeln und Normen vernünftig sind oder nicht, ob sie auf Dauer bestehen oder daß sie kulturellen Wandlungen unterliegen. Wenn das Kind sozial partizipieren will, muß es die Regeln kennen und handhaben können, die jeweils gelten. Dies zu lernen ist ein mühsamer Prozeß, weil es sich um kulturell definierte Standards handelt, die das Kind von sich aus nicht kennen kann. Die Frage ist also, wo und in welcher Weise es derartige Verhaltensdispositionen lernen kann und vor allem, welche Rolle die beiden wichtigsten pädagogischen Felder - Familie und Schule - dabei spielen können. Eine Antwort kann im folgenden nur in knappen Skizzen und idealtypisch versucht werden, tatsächlich gehen die hier unterschiedenen Aspekte vielfach ineinander über. 

In seiner Familie erlebt das Kind - idealiter - , daß es in seiner lebendigen Ganzheit akzeptiert wird, und konzentriert seine Wünsche deshalb ausnahmslos und undifferenziert auf seine Fürsorgepersonen. Erst mit dem Ende des Säuglingsalters treten die ersten sozialen Unterscheidungen auf: Es lernt Menschen kennen, die nicht zur Familie gehören, und wird angehalten, sich zu diesen anders zu verhalten als zu den Mitgliedern der eigenen Familie. Üblicherweise wird erwartet, daß das Kind im Rahmen seiner Familie bis zum Schuleintritt lernt, im Binnenverhältnis seine Wünsche und Bedürfnisse mit denen der anderen Mitglieder auszubalancieren, im Außenverhältnis Grundformen distanzierter Höflichkeit zu erwerben. 

Diese erste soziale Differenzierung scheint bis zum Grundschuleintritt immer seltener zu funktionieren. Das mag viele Gründe - wie fehlende Geschwister - haben, hängt aber gewiß auch mit einer einseitigen psychologischen Deutung der Kindheit zusammen, die die sozialen Verhaltensnotwendigkeiten zugunsten der Entfaltung des individuellen Ichs weitgehend vernachlässigt. Soziale Regeln erwachsen jedoch nicht aus der Innerlichkeit der kindlichen Seele, werden nicht immer wieder neu von ihr erfunden, sondern werden dadurch gelernt, daß die Kinder in soziale Formationen hineinwachsen und deren Regeln kennenlernen, indem sie sich mit den Interessen und Bedürfnissen anderer auseinandersetzen müssen. 

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Nun führt es nicht weit, der Familie alle möglichen gut gemeinten und an sich auch wünschenswerten Erziehungsziele nahezulegen in der Erwartung, daß die Eltern diese dann bei gutem Willen auch verwirklichen könnten. In der Familie kann das Kind z.B. nicht lernen, was Schule ist. Jede Erziehung, gleich wo sie stattfindet, vollzieht sich vielmehr in ihren eigentümlichen sozialen Kontexten und muß auch von daher begründet werden. Ohne ein Bewußtsein davon, auf welchen notwendigen Normen und Regeln die Sozialität Familie selbst beruht, so daß deren Mißachtung diese Sozialform in Frage stellen würde, kann demnach eine angemessene Sozialerziehung dort nicht erfolgen. Erziehung dient - allgemeiner gesagt - dem Erhalt sozialer Gemeinschaften und ist insofern zu unterscheiden von davon unabhängigen pädagogischen Einwirkungen im Rahmen personaler Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Gerät dieser soziale Bezug aus dem Blick, wird die Beziehung zwischen Eltern und Kindern von immer wieder neuen Erwartungen und Absichten überschwemmt, was zu Willkür und Verunsicherung führt. Die Familie kann vielmehr nur solche Erziehungsziele anstreben, die in ihrer Sozialform selbst angelegt sind. Was ist demnach charakteristisch für die Sozialform Familie - unabhängig davon, ob es sich um eine Normalfamilie, Alleinerzieherfamilie, Stieffamilie oder Pflegefamilie handelt? 

Die Familie ist bekanntlich eine eigentümliche Lebensgemeinschaft, in der Kinder mit Erwachsenen rund um die Uhr und auf Dauer zusammenleben. Als Sozialform kann sie mit keiner anderen gleichgesetzt werden, die wir sonst im gesellschaftlichen Leben finden. Ihr Sinn liegt darin, die Folge der Generationen nicht abreißen zu lassen; ihr vorrangiger Zweck ist, ein befriedigendes Leben ihrer Mitglieder zu organisieren, nicht, die einen durch die anderen zu erziehen. Charakteristisch für die Familie als Lebensform ist vielmehr, daß ihre Mitglieder ganzheitlich so akzeptiert werden, wie sie sind - was allerdings keine Rechtfertigung für schlechtes Benehmen ist. Insofern ist sie in erster Linie Ort vielfältiger personaler Einwirkungen. Im üblichen Begriff der Erziehung schwingt aber mit, daß man die Kinder grundsätzlich anders haben will, als sie sind. Erziehung in der Lebensform Familie ist jedoch eher eine notwendige Begleiterscheinung, eine Implikation, weil sonst die Gestaltung eines befriedigenden Zusammenlebens nicht gelingen könnte. Es geht also nicht darum, abstrakte Erziehungsziele aufzustellen und die Kinder damit täglich zu traktieren - das würde im Extremfall ihre soziale Zugehörigkeit sogar gefährden. Erziehung muß vielmehr im Rahmen der Gestaltung des gemeinsamen Lebens gleichsam selbstverständlich erfolgen, wo und wie die Situation es jeweils gebietet: Erziehung ist hier Intervention von Fall zu Fall in das Verhalten der Kinder, das im ganzen jedoch nicht planmäßig geregelt wird. 

Für soziales Lernen - als Teil der Erziehung - in der Familie sind nun vor allem zwei konstitutive Faktoren ihrer Sozialform von Bedeutung: ihr Charakter als Haushalts- und als Generationengemeinschaft. 

- Ökonomisch gesehen ist die Familie ein Haushalt, für den alle Mitglieder, auch die Kinder, nach ihren Kräften verantwortlich sind; Einnahmen und Ausgaben müssen ausbalanciert werden. Wenn Kinder nicht dazu veranlaßt werden, sich auf die eine oder andere Weise an der Familienarbeit zu beteiligen, wachsen sie als bloße Nutznießer der Arbeit der anderen auf und werden dadurch faktisch aus der Familiengemeinschaft ausgeschlossen. Für jede 

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menschliche Gemeinschaft gilt nämlich, daß ihre Mitglieder nur insofern in ihr geachtet und anerkannt sind, als sie für das Ganze, für das gemeinsame Wohl, einen eigenen Beitrag leisten. Geschieht dies nicht, erwerben Kinder falsche Vorstellungen über die materiellen und sozialen Grundlagen ihrer Existenz, indem sie etwa lernen, Verwöhnung als ihr selbstverständliches Recht anzusehen. 

- Ferner ist die Familie eine Generationengemeinschaft. In ihr leben mindestens zwei Generationen zusammen, dadurch unterscheidet sie sich von anderen Lebensgemeinschaften, die nur aus Erwachsenen bestehen - auch von der kinderlosen Ehe. Daraus ergeben sich zwei wichtige pädagogische Konsequenzen. Zum einen haben Kinder zwar Anspruch darauf, daß Erwachsene - in der Regel die Eltern - sich um sie kümmern, sie versorgen, ihnen Ausbildungsmöglichkeiten verschaffen, so daß sie als Herangewachsene eine ihren Fähigkeiten entsprechende und subjektiv befriedigende Position in der Gesellschaft einnehmen können. Aber dieses moralische Recht hat die Form eines Kredits. Indem die zuständigen Erwachsenen eine immense Arbeit sowie die damit verbundenen Verzichte in das Aufwachsen ihrer Kinder investieren, zahlen sie gleichsam einen Kredit zurück, der ihnen in ihrer eigenen Kindheit durch diejenigen Erwachsenen gewährt wurde, die damals für sie gesorgt haben. Der jeweils heranwachsenden Generation steht dieser Kredit jedoch nur so lange und nur insoweit zu, wie dies für den Abschluß einer Berufsausbildung und überhaupt für die Führung eines selbständigen Lebens erforderlich ist. Deswegen haben die Eltern z.B. einen Anspruch darauf, daß ihre Kinder ihnen von einem angemessenen Zeitpunkt an finanziell nicht mehr auf der Tasche liegen. Aus dem Generationenvertrag erwachsen also für die Kinder auch Pflichten. Dazu gehört zum Beispiel, daß sie durch Lernen ihre Fähigkeiten so gut wie möglich entwickeln, um einerseits die Fürsorge durch ihre Eltern überflüssig zu machen und andererseits den als Kind erhaltenen Kredit wiederum an die nächste Generation weiterzugeben zu können - und sei es nur in Form von Steuerzahlungen. Wer also in der Schule wie in der Berufsausbildung seine Fähigkeiten nicht optimal zu entwickeln versucht, handelt gegen die Regeln des Generationenvertrags, dem er andererseits sein meist recht gutes Leben verdankt. Ob also Kinder in der Schule lernwillig sind oder nicht, steht ihnen nicht frei, wenn man ihnen nicht gestatten will, auf anderer Leute Kosten auf Dauer dahinzuleben. 

Zum anderen besteht der pädagogische Sinn des Generationenverhältnisses in der Familie darin, daß die Kinder von den Erwachsenen grundlegende soziale Regeln und Einstellungen lernen, die sie für die spätere Führung eines selbständigen Lebens brauchen. Weil die Kinder von sich aus davon nichts wissen können, müssen die Eltern ihnen gute Manieren sowohl für den Umgang innerhalb der Familie wie mit Außenstehenden ebenso geduldig wie unmißverständlich beibringen. Dazu gehören sowohl die Gewährung von Autonomie wie die erforderlichen Grenzsetzungen. 

Wenn Kinder von Anfang an zur größtmöglichen Selbständigkeit angeleitet werden sollen, dann brauchen sie einen autonomen Handlungsraum, der zunächst sehr begrenzt ist und sich immer mehr erweitert: Die Spielecke in Mutters Nähe, das Kinderzimmer, die ganze Wohnung, ein Stück Straße draußen, das Lebensfeld der Gleichaltrigen, bis dem Heranwachsenden schließlich seine Freizeitautonomie zugestanden wird. 

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Zum autonomen Handlungsspielraum gehören aber auch seine Grenzen. Jeder Mensch ist auf Grenzsetzungen durch andere angewiesen. Nur indem wir gezwungen werden, uns mit Grenzen auseinanderzusetzen, können wir unsere eigenen Bestrebungen abarbeiten und zugleich einen eigenen Standpunkt gewinnen. Diese Einsicht erwächst aber nicht aus dem Inneren der kindlichen Seele, sondern vor allem aus sozialer Tätigkeit mit anderen und gegen sie. Vom Umgang mit seinen Freunden her ist dem Kind diese Tatsache nicht unbekannt. Da muß es sich behaupten, indem es ständig Grenzerfahrungen macht. Der autonome Handlungsraum muß sich erweitern, je älter das Kind wird. Aber diese Erweiterung darf nicht kampflos zugestanden, sondern muß verdient werden, vor allem durch Zug um Zug erhöhte Verantwortungsfähigkeit: mehr Freiheit nur gegen mehr Verantwortung. Die Verantwortung der Erwachsenen nimmt in dem Maße ab, wie die des Kindes zunehmen kann; denn der Sinn des Aufwachsens besteht darin, daß das Kind lernt, Stück für Stück sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb muß es die Fähigkeit dazu in solchen Grenzkämpfen nachweisen. Wenn Eltern nur autonome Handlungsspielräume zulassen, ohne auch die Grenzen zum Thema zu machen, dann fördern sie nicht Initiative und Selbstverantwortung des Kindes, sondern lassen es fortgesetzt ins Leere laufen. Durch Auseinandersetzungen erfährt das Kind dagegen immer wieder, daß die Eltern Anteil nehmen an seinem Leben und ihm nicht gleichgültig gegenüberstehen. 

Wichtige Grenzerfahrungen erwachsen aus dem Familienleben selbst. Das Kind trifft mit seinen Absichten, Wünschen und Bedürfnissen auf die der anderen Familienmitglieder. Die dadurch bedingte Interessenkollision muß ausbalanciert werden. Das Kind lernt, daß seine Bestrebungen dort an ihre Grenze stoßen, wo sie solche der anderen tangieren - dauerhaft allerdings nur dann, wenn ihm solche Kollisionen von den Erwachsenen - möglicherweise auch von älteren Geschwistern - erklärt werden. Voraussetzung dafür ist, daß auch die Eltern deutlich machen, daß sie persönliche Interessen haben, die mit denen der Kinder nicht übereinstimmen müssen, die vielleicht auch Geld kosten, die sie aber mit Rücksicht auf die Kinder einschränken. 

Selbst wenn die Familie die soeben skizzierten Chancen des sozialen Lernens nutzt, bleibt ihre Wirkung in dem Maße beschränkt, wie ihr sozialer Erfahrungshorizont begrenzt ist. Eine wichtige Grenze ist durch ihren größten Vorteil gesetzt: daß sie nämlich eine ihre Mitglieder - und eben auch die Kinder - in ihrer Ganzheit akzeptierende Lebensgemeinschaft ist. Diese Konstellation wird das Kind außerhalb der Familie in seinem weiteren Lebensweg nicht wieder vorfinden - auch nicht im Rahmen von Freundschaften. Deshalb ist die Schule für die weitere Sozialerziehung unentbehrlich. Mit der Schule begegnet dem Kinde zum ersten Mal eine Institution des öffentlichen Lebens. Der Übergang ist bekanntlich schwierig, weil das Kind seine ganzheitlichen familiären Erwartungen zunächst einmal auch auf seine Lehrer und Mitschüler überträgt, er verlangt deshalb seitens der Lehrer ein erhebliches Einfühlungsvermögen. Gerade in der Grundschule ist jedoch die Vorstellung weit verbreitet, man müsse das Klima familiärer Geborgenheit zumal dann weiterhin aufrecht erhalten, wenn die Familienbezüge der Schüler erkennbar brüchig geworden sind. Das mag für den Übergang eine Zeitlang sinnvoll sein, auf Dauer jedoch werden auf diese Weise die charakteristischen sozialen Lernchancen der Institution Schule ignoriert. Die Schule als Sozialgebilde unterscheidet sich nämlich von der Familie in wesentlichen Punkten: 

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- Sie stellt in Gestalt des Unterrichts Aufgaben, die nicht mehr unmittelbar anschaulich der Reproduktion der familiären Gemeinschaft etwa im Rahmen des Haushaltes dienen, sondern von außen herangetragen werden. Sie erwachsen auch nicht aus den subjektiven Bestrebungen des Kindes, sondern treten diesen entgegen, weil sie als gesellschaftliche definiert sind. Das Kind muß nun lernen, seine Bedürfnisse im Interesse der Bewältigung dieser Aufgaben zeitweise zurückzustellen, bzw. sie darauf zu konzentrieren, was einer Selbstdisziplinierung gleichkommt: Zur Bewältigung der Aufgaben ist eine Grunddisziplin erforderlich, wozu wiederum eine erhebliche innere Umorientierung nötig ist. Der Schüler muß zwar selbst, als Individuum, im Unterricht und durch ihn lernen, aber die Gestaltung der Lernprozesse erfolgt nicht als je individuelle, sondern in der sozialen Formation der Schulklasse. Das ist nur möglich, wenn alle Schüler lernen, anderen zuzuhören, ihre eigenen Überlegungen argumentativ einzubringen, tolerant gegenüber anderen Meinungen zu sein, Konflikte und Auseinandersetzungen gewaltlos zu lösen; sonst kann die gemeinsame Aufgabe des Unterrichts nicht gelingen. Der Zweck des Unterrichts konstituiert und begrenzt also die eigentümliche Reichweite dieser für das Kind neuen Sozialität. 

- Dabei ändert sich auch die Zeitperspektive: Die Aufgaben, die die Schule stellt, dienen nur teilweise dem gegenwärtigen Leben des Schülers, sind überwiegend jedoch auf seine Zukunft gerichtet, auf seine künftigen gesellschaftlichen Partizipationschancen. Deshalb müssen Schüler lernen, ihre Bereitschaft zur Mitarbeit wie die Art und Weise des Umgangs mit den anderen nicht von aktuellen Stimmungslagen und nicht von unmittelbaren Verwendungszwecken abhängig zu machen. 

- Die ganzheitliche Akzeptanz wird abgelöst durch eine partikulare, auf die Aufgaben bezogene. Das Kind muß lernen, daß nur noch bestimmte Aspekte seiner Persönlichkeit, seiner Fähigkeiten und seines Verhaltensrepertoires gefragt sind, daß andere, an denen ihm liegt, auf andere soziale Bezüge verlagert werden müssen. Das gilt insbesondere auch für die Steuerung emotionaler Impulse und Erwartungen. Die unterschiedlichen sozialen Regeln und Erwartungen der verschiedenen sozialen Orte - Schule, Familie, Freundeskreis - werden so allmählich bewußt. 

- Die eigentümlichen Aufgaben der Schule bestimmen auch das Verhältnis zu den Mitschülern. Ihnen allen gegenüber ist ein ganzheitlicher Bezug nicht mehr möglich, das einzig Gemeinsame, was die willkürlich, jedenfalls nicht nach persönlichen Auswahlkriterien zusammengestellte Klasse miteinander verbindet, ist der Zweck der Erfüllung der schulischen Aufgaben. 

- Die Zweckorientierung führt dazu, daß sich die Beziehungen zu den Mitschülern ausdifferenzieren: Mit einigen freundet man sich an, andere sind einem eher gleichgültig, wieder andere kann man nicht ausstehen. Die soziale Lernaufgabe besteht nun darin, diese unterschiedlichen Beziehungserfahrungen einerseits zu akzeptieren, andererseits aber auch dem gemeinsamen Zweck unterzuordnen. Es kommt also darauf an, das Gemeinsame und das Trennende gleichermaßen zu akzeptieren. Dafür müssen unterschiedliche Verhaltensstile entwickelt werden - auf einer Skala von Nähe und Distanz, also von ganzheitlicher Zuwendung einerseits bis etwa zur bloßen Höflichkeit andererseits. "Klassengemeinschaft" ist also ein problematischer Begriff, weil die Schule eigentlich keine "Gemeinschaft" ist, sondern ein Zweckverband. Zu lernen ist vor allen Dingen, wie man mit denen auskommt, 

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die man nicht mag. Aus dieser Konstellation ergeben sich Konflikte, zu deren Lösung bzw. Beilegung Regeln entwickelt und angewandt werden müssen. Grundsätzlich jedoch behält der Schüler das Recht, sich innerhalb wie außerhalb der Schule seine Beziehungen nach Nähe und Distanz aussuchen zu können: Er muß zwar auch mit denen produktiv zusammenarbeiten, die er nicht ausstehen kann, aber er muß mit ihnen auch nicht befreundet sein. 

- Die Beziehung zu den Lehrern gestaltet sich ähnlich differenziert: Die einen mag man, die anderen weniger oder gar nicht. Aber seine Lehrer kann der Schüler sich ebenso wenig aussuchen wie seine Mitschüler, also muß er lernen, auch mit denen auszukommen, die er nicht mag. Das gilt umgekehrt auch für den Lehrer, dem nicht alle Schüler gleichermaßen sympathisch sein können, dessen Professionalität aber dazu ausreichen muß, jeden Schüler zu seinem Recht kommen zu lassen. Nur die Orientierung am gemeinsamen Zweck des Unterrichts vermag derartige Differenzen zu überbrücken, die sonst kaum erträglich wären. 

- Im Rahmen der jeweiligen Schulgesetze ist den Schülern ein Mitbestimmungsrecht eingeräumt. Dieses ermöglicht die Artikulation und die Verfolgung von Interessen im Rahmen der Schule als Institution. Dieser politische Zweck unterscheidet sich von dem des möglichst erfolgreich zu gestaltenden Unterrichts; denn er fordert eigentümliche Verhaltensweisen etwa des Überredens, des Taktierens und des Kompromisseschließens heraus, die im Unterricht kontraproduktiv und deshalb unangebracht wären. Der Schüler muß hier - mit anderen Worten - lernen, daß das Verhalten gegenüber denselben Menschen - Mitschülern wie Lehrern - je nach der vorliegenden Situation unterschiedlich sein kann oder gar muß. 

- Das aus der Familie bekannte Generationenverhältnis ändert sich. Der Lehrer ist kein Vater, die Lehrerin keine Mutter oder Tante. Im Prinzip ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis ein - fachlich begrenztes - Kompetenzgefälle, keine Generationendifferenz; diese wird vielmehr im Erwachsenenleben bedeutungslos, obwohl es dann immer noch Lehrende und Lernende, etwa im Rahmen der Erwachsenenbildung, gibt. Deshalb geht es in der Schule einerseits darum, das Generationengefälle Zug um Zug abzubauen, andererseits aber auch darum, den Schüler vor noch unangemessenen Anforderungen zu schützen. 

Diese wenigen Hinweise zeigen schon, daß faktisch die Beziehungen in der Schule aus der Sicht der Schüler komplex sind. Aufgabe der Lehrer ist nun, diese Komplexität nicht ungebührlich zu reduzieren, sondern sie zur Sprache zu bringen und zu differenziertem Verhalten zu ermuntern. Das ist nur möglich, wenn die Lehrer sich nicht nur von der unmittelbaren pädagogischen Beziehung her verstehen, sondern auch als Repräsentanten der Institution, als die sie etwa Disziplin einfordern, Zensuren erteilen und Berechtigungen vergeben. 

Aber ebenso wie in der Familie sind auch die Möglichkeiten des sozialen Lernens in der Schule begrenzt. Auch in ihr können Schüler im wesentlichen nur das lernen, was man in ihrem sozialen Rahmen braucht. Was sie für ein erfolgreiches Verhalten im Kaufhaus oder in der Diskothek benötigen, kann die Schule zwar erörtern, aber nicht selbst einüben. Auch die Teamarbeit im Rahmen schulischer Lernprozesse ist nicht einfach übertragbar etwa auf entsprechende Kooperationen am Arbeitsplatz, weil die Aufgaben und die Rahmenbedingungen unterschiedlich sind. Transferierbar aus der Schule ist nur das, was als allge- 

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meines, unspezifisches öffentliches Verhalten verallgemeinert werden kann, und dazu gehören alle diejenigen Verhaltensaspekte, die für einen gelingenden Unterricht unentbehrlich sind: Höflichkeit, Toleranz, Affektkontrolle, sachbezogene Disziplin, gewaltlose Austragung von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten. Nicht das bloße Zusammenleben in der Schule, sondern deren aufgabenorientierter Zweck provoziert öffentlich relevante Verhaltensweisen. 

Öffentliche im Unterschied zu privaten Verhaltensweisen sind jedoch dadurch charakterisiert, daß ihre äußere Erscheinungsform genügt. Wer sich in der Öffentlichkeit gewaltlos und höflich verhält, muß dafür nicht seine Motive offenbaren. Umgekehrt kann niemand, wenn er sich in der Öffentlichkeit aggressiv oder gar gewalttätig benimmt, Interesse für seine Beweggründe erwarten. Öffentliches Verhalten beruht auf Selbstverständlichkeit und somit auch darauf, daß wir auf die Erforschung und Bewertung von Motiven unserer Mitmenschen verzichten, weil der öffentliche Umgang sonst gar nicht funktionieren könnte. Deshalb geht es, wenn die Schule entsprechende Verhaltensweisen in ihren Mauern einfordert, nicht um die Durchsetzung eines allgemeinen Tugendkatalogs, sondern eines bestimmten Verhaltens. Die Öffentlichkeit kann weder von Erwachsenen, noch von Kindern eine bestimmte Gesinnung oder eine bestimmte Charakterstruktur erwarten, und beides kann man auch in Schulen nicht überprüfbar anerziehen. Niemand muß z.B. Ausländer oder einen bestimmten Frauen- bzw. Männertyp mögen, aber verhalten muß sich jeder ihnen gegenüber höflich und zivilisiert und erst recht im Rahmen der Gesetze. Dieser Grundsatz muß auch für die Schule gelten, insofern die dort einzuübenden öffentlichen Verhaltensweisen nicht an bestimmte Motivationen oder Gesinnungen gebunden werden dürfen. Seine inneren Beweggründe darf der Schüler für sich behalten, sie gehen den Lehrer und die Mitschüler grundsätzlich nichts an. Mit diesem Grundsatz sind Bewertungen des Charakters unvereinbar, wie sie inzwischen im Sinne von "Kopfnoten" wieder diskutiert werden; lediglich beobachtbares, auf den Zweck der Schule bezogenes Verhalten darf die Schule bewerten, aber das erlaubt und ermöglicht keine Rückschlüsse auf die Persönlichkeit im ganzen. Nur zur Hilfe im Krisenfalle (schlechte Noten; offensichtliche Verhaltensstörung) darf - mit Zustimmung des Schülers und mit seiner Unterstützung - nach in der persönlichen Verfassung begründeten Ursachen geforscht werden. 

Gegen diese Argumentation ließe sich einwenden, daß eine dauerhafte Verinnerlichung und Festigung solcher Verhaltensweisen nur über eine entsprechende Steuerung von Einsichten und Affekten sowie im Prozeß der Gewissensbildung möglich seien; sonst bliebe das erwünschte Verhalten vielleicht nur auf die Schulsituation begrenzt, sei möglicherweise lediglich Resultat einer kalkulierten Anpassung. Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen, markiert aber auch die Grenze des schulischen Einwirkungsvermögens. Ebenso wenig wie die durch bildenden Unterricht bewirkten subjektiven Aneignungsprozesse stehen der pädagogischen Planung die Beweggründe für ein bestimmtes Verhalten zur Disposition. Deshalb ist wichtig, daß die Schule zunächst einmal auf dem erforderlichen, von außen erkennbaren Verhalten besteht. Seine Vertiefung innerhalb der Persönlichkeit wird dann entweder durch Gewöhnung, oder durch Erklärungen der Lehrer (etwa nach dem Sprichwort: "Was Du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu"), oder 

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durch die Analyse der normativen Implikationen der Schulstoffe gelingen - oder auch nicht. Davon darf das Insistieren auf dem für die Erfüllung des Schulzwecks notwendigen Verhaltenskodex jedoch nicht abhängig gemacht werden. 

Öffentliches Verhalten beruht also auf kulturell geformter Distanz, nicht auf Nähe. Kultivierung von Nähe unter den Menschen ist ein anderes Thema, das übrigens auch schon in der Familie ansteht. Aber dazu kann die Schule keinen Beitrag leisten - außer durch Reflexion. Nähe zu kultivieren - wozu ebenfalls Formen der Distanzierung gehören - ist Aufgabe der Familie. Da aber andererseits pädagogische Felder wie die Schulklasse schon von der räumlichen Enge her Nähe signalisieren, ist die Versuchung groß, die distanzierten Formen des Umgangs zu übersehen und zu übergehen. Die Geschichte der öffentlichen Erziehung bietet für beides, für die Beschränkung auf Nähe wie für deren Überwindung unter den Bedingungen der Nähe, genügend Beispiele. Zu erinnern wäre etwa einerseits an den Gemeinschaftskult der Reformpädagogik, andererseits an Makarenkos Versuch, in seinen Kolonien zwischen privatem und dienstlichem Umgang der Zöglinge dadurch zu unterscheiden, daß er für den dienstlichen militärähnliche Formen einführte bzw. akzeptierte. 

Die eben erörterten Chancen des sozialen Lernens in der Schule haben allerdings ein bestimmtes Verständnis von Sinn und Zweck der Schule zur Voraussetzung. Wird es anders definiert und organisiert, ändert sich auch die Struktur der sozialen Beziehungen. In jedem Falle erscheint es jedoch an der Zeit, Verhaltensdifferenzierungen im privaten wie im öffentlichen Bereich wieder zu einem theoretischen und praktischen pädagogischen Thema zu machen. 

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207. Muster im Flickenteppich. Gerhard Bliersbach reflektiert den Alltag in einer "Patchworkfamilie" (2001)

In: Psychologie heute, H. 1/2001, S. 70-71 
 
 

Gerhard Bliersbach: Halbschwestern, Stiefväter, und wer sonst noch dazu gehört. Leben in einer Patchwork-Familie. Düsseldorf: Walter-Verlag 2000, 194 S., DM 29,80 

In den letzten Jahrzehnten hat die Zahl der Stieffamilien erheblich zugenommen. Ursache dafür ist im Unterschied zu früheren Zeiten weniger der Tod eines Ehepartners, als vielmehr Scheidung oder Trennung der Eheleute. Übrig bleibt dann eine Restfamilie, in der Regel die Mutter mit den Kindern, zu denen sich irgendwann ein neuer Partner als Stiefvater dieser Kinder gesellt. Weil immer mehr Erwachsene und Kinder in dieser Familienform leben, ist auch das Interesse an einer spezifischen Ratgeberliteratur erheblich gestiegen. Die meisten Autoren wenden sich diesem Thema zu, weil sie auf diese Weise ihre eigenen einschlägigen Erfahrungen abarbeiten und weitergeben wollen. Sie gehen dann in der Regel von derjenigen Variante aus, die sie selbst erlebt haben, und versuchen daraus allgemein gültige Regeln abzuleiten. 

So verfährt auch Gerhard Bliersbach in seinem Buch über die "Patchwork-Familie" - eine Bezeichnung, die ihm angemessener erscheint als "Stieffamilie" oder "Zweitfamilie", weil die internen und externen Beziehungen dieser Familienform so buntscheckig, unsystematisch und zumindest am Anfang auch ungeordnet sind wie ein Flickenteppich. Diese eigenartige Konstellation ist Ursache für eine Reihe typischer Missverständnisse und Konflikte, die fast zwangsläufig zumindest zunächst die Gefühle und das Verhalten der Beteiligten verwirren. Im vorliegenden Falle besteht die Beispielfamilie aus der Mutter, ihrem volljährigen Sohn und seinem zwei Jahre jüngeren Bruder, dem Stiefvater und einer gemeinsamen dreijährigen Tochter. 

Der Autor - ein Psychoanalytiker - versteht sein Buch als "die Geschichte 

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eines Klärungsprozesses" innerhalb der neuen Familie. Anschaulich erzählend und interpretierend wechselt er die Perspektive zwischen den (fast) erwachsenen Söhnen, der "zwischen den Stühlen" agierenden Mutter, dem Stief-Elternteil sowie der kleinen Tochter als dem "Star der Mannschaft", die von allen Beteiligten die wenigsten Probleme hat und macht. Im Kern geht es ihm aber vor allem um das Verhältnis des Stiefvaters, der sich nicht selten als "fünftes Rad am Wagen" wahrnimmt, zum "unsichtbaren Dritten", nämlich dem abwesenden leiblichen Vater. Zu den Besonderheiten dieser Familienform gehört ja, dass der abwesende Elternteil auf vielfache Weise gegenwärtig ist, etwa über Terminabsprachen mit den Kindern, über deren Berichte und Erzählungen oder über Vereinbarungen im Hinblick auf die Ferien. Aber der psychoanalytisch geschulte Blick des Autors sieht noch mehr: die Gefühle der Eifersucht etwa oder die Versuchung, dem Abwesenden über die Kritik an den Kindern eins auszuwischen. 

In den Schlusskapiteln zieht der Autor ein Fazit und versucht seine Erfahrungen unter der Leitfrage zu systematisieren, wie aus dem anfänglichen Gefühls- und Verhaltenschaos eine familiäre Ordnung entstehen kann und wie die Familienmitglieder sich in die Familie integrieren lassen, ohne von der Vielfalt ihrer Beziehungen unnötig etwas aufgeben zu müssen. Ratschläge für "die dringendsten Fragen" können als eine Art von Zusammenfassung verstanden werden; sie laufen im Wesentlichen darauf hinaus, Verständnis für die anderen aufzubringen und permanent auf Verständigung hinzuarbeiten. 

Der Wille des Autors zur psychoanalytisch fundierten Aufklärung des komplizierten Beziehungsgefüges wirkt trotz aller Empathie gelegentlich überzogen und langatmig und neigt zu Wiederholungen. Möglicherweise schafft die subtile Dauerreflexion des Alltags erst eine Reihe von Problemen, die sonst gar nicht entstünden; denn soziale Stabilität beruht nicht zuletzt auch auf der Akzeptanz von Selbstverständlichkeiten. Dazu gehört etwa, dass der "Stiefvater" "selbstverständlich" den Stiefkindern "etwas zu sagen hat", sofern es sich nämlich auf das familiäre Zusammenleben bezieht; erst darüber hinausgehende generelle Erziehungsansprüche werden problematisch. Jede Sozialität beruht auch auf Entscheidungen, die nicht verhandelbar sind, das gilt etwa für das Eigenrecht des erwachsenen Paares gegenüber den Kindern, zumal wenn diese fast erwachsen sind. So wird nicht jeder Leser die Eingangsgeschichte nachvollziehen können, an der der Autor eine erste Problemskizze entfaltet: An einem Samstagabend entscheiden sich Mutter und Söhne für Fernsehen, der Stiefvater hingegen möchte lesen und wird durch den Spielfilm dabei gestört. Warum, so fragt man sich, müssen vier erwachsene Familienmitglieder den Abend unbedingt gemeinsam in einem Raum verbringen, wenn sie sich nicht auf ein gemeinsames Programm verständigen können? Riecht das nicht nach Familienideologie? Auch andere vom Autor beschriebene Situationen ließen eine von ihm abweichende Deutung zu - nämlich eine eher pragmatische. Die soziale Qualität einer menschlichen Gemeinschaft ist nun einmal mehr als die Summe der in ihr vollzogenen - oder auch vermiedenen - Beziehungen. 

Andererseits überzeugt das Buch durch die Ehrlichkeit der äußeren und inneren Auseinandersetzung des Autors mit seinen einschlägigen Erfahrungen und durch den Tiefgang der Reflexion. 

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208. Was bleibt von der Politischen Bildung? (2001)

In: Karl Neumann /Reinhard Uhle (Hrsg.): Pädagogik zwischen Reform und Restauration. Weinheim 2001, S. 153-158
 
 

In entwickelten demokratischen Staaten geht es bei der politischen Bildung - wie immer sie bezeichnet und schulisch organisiert werden mag - darum, die heranwachsende Generation zur politischen Partizipation zu befähigen und ihr die dafür notwendigen Informationen systematisch anzubieten. Die vorliegende demokratische Verfassung und Struktur wird dabei - unbeschadet aller Chancen zu ihrer Veränderung und Verbesserung - als Vorgabe angesehen. Wie aber steht es mit dieser pädagogischen Aufgabe, wenn demokratische Regeln und Maximen erst einmal eingeführt werden müssen? 

Dieser Aufgabe stand die Pädagogik in Deutschland zweimal gegenüber: Nach 1918, als die Weimarer Verfassung verabschiedet worden war, und nach 1945, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Die Probleme und Lösungsversuche, die im ersten Fall entstanden, hat Dietrich Hoffmann (1970) in seiner Dissertation ausführlich dargestellt. Diese umfangreiche und gründliche Studie ist bis heute in ihrem Kern keineswegs überholt, und ihre Ergebnisse werden nach meiner Einschätzung in Zukunft wieder gebraucht werden; das liegt daran, daß sich die politische Bildung, wie sie sich nach 1945 entwickelt hat, in einer Krise befindet, zu deren Reflexion die Erinnerung an frühere Irrtümer, wie sie Hoffmann herausgearbeitet hat, einen wesentlichen Beitrag leisten könnte. Etwas vereinfacht könnte man sagen: Ihre Krise besteht darin, daß sie zumindest einige Fehler der Vergangenheit wiederholt, denen sie vielleicht nicht erliegen würde, wenn die Protagonisten dieser Fehler, die reformpädagogischen Propagandisten etwa der Ganzheits-, Handlungs- und Erlebnisorientierung, Hoffmanns Buch lesen würden. 

Nach 1945 ging es erneut darum, politische Bildung und Erziehung ohne Vorgabe durch eine selbstverständlich akzeptierte demokratische Verfaßtheit zu verankern. Im Unterschied nämlich zu den entsprechenden pädagogischen Bestrebungen der anderen westlichen Demokratien, die sich dafür auf einen Schatz fraglos akzeptierter Traditionen und normativer Grundlagen selbst dann berufen konnten, wenn sie von innenpolitischen Krisen geschüttelt wurden, war in unserem Falle die politische Bildung und Erziehung Ergebnis eines verlorenen Krieges und zudem und vor allem belastet durch die politische Kriminalität des besiegten NS-Staates, deren Ausmaße erst in unseren Tagen hinreichend aufgedeckt worden sind - wenn wir etwa an die lange verkannte Mitwirkung der "normalen" Wehrmacht denken. Aber obwohl führende Vertreter der damaligen Pädagogik wie Spranger (1957), Litt (1957) und Weniger (1964) ihre vor 1933 angestellten Überlegungen zum Komplex der politischen Bildung und Erziehung auch nach 1945 wieder zur Geltung zu bringen versuchten, wurden seit Anfang der 

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fünfziger Jahre die neu etablierten Sozialwissenschaften - insbesondere Soziologie und Politikwissenschaft - zu Leitwissenschaften, weil sie viel präziser angeben konnten, was nun in Sachen Politik zu lehren und zu lernen sei; die junge Politikwissenschaft verstand sich sogar ausdrücklich als "Demokratiewissenschaft", nämlich als wissenschaftliche Begleitung des nun einsetzenden Demokratisierungsprozesses. Nach den Erfahrungen der NS-Zeit reichte es nicht mehr, an grundsätzliche Überlegungen der Zeit vor 1933 einfach anzuknüpfen. So entstand notwendigerweise ein Traditionsbruch. Dieser westdeutsche "Sonderweg" schlug sich vor allem in zwei Konsequenzen nieder, die die politische Bildung bei uns mehr oder weniger bis heute geprägt haben: 

1. Sie entstand im Rahmen der Umerziehungsbemühungen der (westlichen) Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg und sah sich somit von vornherein unter einer politischen Zielvorgabe: Mit pädagogischen Mitteln - Lernen und Bildung - sollte das politische Ziel erreicht werden, Denazifizierung, Demilitarisierung und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Deutschen zu verankern. So konnte sie vielen Zeitgenossen als bloße Implikation des Siegerhandelns erscheinen, was ihrer öffentlichen Reputation zunächst nicht unbedingt zugute kam. Folgenreicher jedoch war die Tatsache, daß sie sich im Unterschied zu den anderen westlichen Demokratien nicht auf demokratische Normen und Strukturen als selbstverständliche Vorgaben beziehen konnte, vielmehr sollten mit Hilfe der politischen Bildung diese demokratischen Rahmenbedingungen erst einmal geschaffen und gefestigt werden; dies setzte aber eine Relativierung des üblichen Generationenverhältnisses voraus, insofern ja die Erwachsenen selbst noch keine Erfahrung mit demokratischen Normen und Strukturen hatten. Deshalb ging von der politischen Bildung, anders als von den "klassischen" schulischen Aufgaben, von Anfang an ein Emanzipationsimpuls aus, der sich in der Achtundsechziger-Bewegung unüberhörbar artikulierte und zu neuen Vorstellungen über das Verhältnis der Generationen zueinander führte. Weil nun die politische Bildung erst mit suchen mußte, worauf sie sich eigentlich hätte selbstverständlich beziehen müssen, geriet sie immer wieder in die innenpolitischen Auseinandersetzungen hinein, und ihre didaktisch-methodischen Konzeptionen mußten sich ständig in einem komplizierten politisch-ideologischen Begründungs- und Rechtfertigungszwang bewegen, so daß alle wesentlichen innenpolitischen Kontroversen dabei ihre Spuren hinterließen: Indem die politische Bildung gezwungenermaßen die Grundlagen wie die Tatsachen des neuen Gemeinwesens reflektierte, war sie immer auch politische Einmischung - ob ihre Vertreter das nun wollten oder nicht. Ihre extreme Politisierung finden wir im Zeitraum Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre. Die heftigen Auseinandersetzungen über neue Rahmenrichtlinien vor allem in Hessen und Nordrhein-Westfalen markierten dabei einen Höhepunkt, und sie wären ohne diesen politischen Legitimationszwang nicht verständlich. 

2. Die charakterisierten Ausgangsbedingungen nach 1945 schlugen sich ferner nieder 

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in einer hochgradigen Moralisierung der Politik. Aufgabe der Erziehung im allgemeinen und der politischen im besonderen sollte sein, die Wiederholung jener politischen Kriminalität ein für allemal zu verhindern. Bald jedoch zeigte sich, daß das moralische Desaster, das der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, frei flottieren und für innenpolitische Auseinandersetzungen eingesetzt werden konnte. Unter dem Begriff des "Totalitarismus" wurde z.B. in den fünfziger Jahren das nationalsozialistische mit dem DDR-Regime wie mit allen anderen stalinistischen wenn nicht gleichgesetzt, so doch auf eine gleiche moralische Ebene gehoben. Der aus der Achtundsechziger-Bewegung hervorgegangene westdeutsche "Anti-Faschismus" vollzog dann unter Verwendung ideologiekritischer Begründungen eine moralische Polarisierung, die sich mit der nun einsetzenden innenpolitischen Zuspitzung verband und in der politischen Bildung zu regelrechten "Lagerdidaktiken" führte. Die Moralisierung setzte sich dann nach der deutschen Vereinigung in einer fast flächendeckenden Stasi-Verdächtigung fort. 

Diese eben knapp skizzierte Nachkriegsphase geht jedoch zu Ende. Eine Zukunft wird die politische Bildung nur haben, wenn sie sich emanzipiert von den eben genannten Ausgangsbedingungen und ihren Folgen. Damit meine ich folgendes: 

1. Die ursprüngliche Ausgangssituation, daß nämlich die politische Bildung erst die demokratische Verfaßtheit mit konstituieren mußte, anstatt sich auf sie berufen zu können, hat sich inzwischen normalisiert. Wir können nun so verfahren wie andere westliche Demokratien auch. Auch die Bundesrepublik verfügt nun über eine wenn auch noch kurze demokratische Geschichte, und auf diese Vorgabe kann sich die politische Bildung nun beziehen, sie kann in diesem Sinne "normal" werden. 

Die Aufgabe der politischen Bildung besteht nun darin, sich auf die gegebenen Normen und Strukturen der demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung zu beziehen und die Bedingungen der Möglichkeit politischen Lernens didaktisch-professionell zu reflektieren, damit entsprechende Lernarrangements inszeniert werden können. Das schließt natürlich kritische Distanz zu den Realitäten und ihren Begründungen nicht aus, aber diese kann sich nun, im Unterschied zur Aufbauphase, auf grundlegende, seit Jahrzehnten entfaltete demokratische Prinzipien beziehen. Damit aber wird die politische Bildung auch nicht mehr zur Durchsetzung demokratischer Prinzipien gebraucht, vielmehr rechtfertigt sie sich nur noch durch den im Bildungsbegriff gesetzten Zweck der optimalen politischen Partizipation - daran aber scheint kaum jemand interessiert zu sein. 

Die Realität des Schulunterrichts - glaubt man den veröffentlichten Unterrichtsbeispielen und den Lehrplänen - sieht nämlich so aus, daß der ursprüngliche politische Sinn der Durchsetzung demokratischer Prinzipien heruntergekommen ist auf partikulare, aber als selbstverständlich in der Öffentlichkeit verkaufte moralische Absichten, nämlich beispielsweise feministischer, multikultureller oder ökologischer Provenienz. Da wird nicht aufgeklärt, sondern Gesinnung provoziert, oder anders: Erziehung hat Bildung wieder unter ihr Joch getrieben. 

2. Schwieriger wird die Emanzipation von der Ausgangslage in moralischer 

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Hinsicht. Die NS- Verbrechen sind immer noch gegenwärtig und bestimmen die aktuelle politische Diskussion nach wie vor mit. Solange dies so ist, kann die politische Bildung davon nicht abstrahieren. Andererseits muß sie jedoch die Interessen aufdecken, die sich inzwischen damit verbunden haben; sie muß Front machen gegen die vorgängige Moralisierung des Politischen, die sich weitgehend vom Ausgangspunkt der NS-Verbrechen gelöst hat, und sie muß dies tun, wenn sie nicht an den jungen Generationen vorbei operieren will. Ihre Aufgabe in einer nun entfalteten Demokratie ist nicht, politische Phänomene vorweg durch die Brille einer bestimmten "erzieherisch wertvollen" Moral zu sehen, sondern umgekehrt moralische Begründungen in der Politik zum Thema der Reflexion zu machen. Vorweg verpflichtet ist sie nur den Werten, die die Verfassung vorgibt. Abgesehen davon ist die politische Bildung selbst keine moralische Instanz und geht nicht vorweg von bestimmten moralischen Positionen aus, mögen sie auch im Gewande des "erzieherisch Wertvollen" daherkommen. 

Auch in diesem Punkte sieht die Praxis in den Schulen teilweise jedoch ganz anders aus. Es geht nicht mehr um Aufklärung, sondern eher um eine Moralisierung der politischen Welt, nun allerdings nicht mehr in Sinne jener moralischen Polarisierung der siebziger Jahre, sondern im Sinne banal gewordener Selbstverständlichkeiten: die Guten und die Bösen werden geschieden, aber so, daß niemand sich mehr zu den Bösen rechnen muß. Ich hatte beim letzten Mal die These vertreten, daß Bildung im Sinne der Aufklärung über die Welt und damit der Selbstaufklärung der Menschen ein Selbstzweck sein müsse, der nicht durch erzieherische Zwecke erst legitimiert werden müsse und dürfe (Giesecke 1999). Diese Tendenz hat es in der politischen Bildung nur wenige Jahre gegeben, auf dem Höhepunkt des Einflusses der erwähnten Sozialwissenschaften, also etwa Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre - also vor dem Auftreten der Achtundsechziger-Bewegung; diese war - entgegen ihrer Selbsteinschätzung - gegenaufklärerisch und ist es mit den Generationen, die dann als Lehrer in die Schulen kamen, bis heute geblieben. Jedenfalls haben die von mir erwähnten Tendenzen der Politisierung und der Moralisierung die zarten Pflänzchen der politischen Aufklärung schnell außer Kraft gesetzt. 

3 Das hängt nicht zuletzt mit der subjektiven Wende der Pädagogik seit Ende der siebziger Jahre zusammen. Der Blick richtete sich nun auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, Politik wurde verstanden als Rohmaterial für das Drama der jeweiligen Subjektivität. Hatten die Neomarxisten die politischen Institutionen immerhin noch anerkannt - wenn auch mit dem Ziel, sie abzuschaffen oder umzukrempeln - so wurden diese nun intimisiert, nämlich auf unmittelbare menschliche Beziehungen reduziert. Hatten die Neomarxisten mit dem Klassenbegriff das gesellschaftlich Böse immerhin dingfest zu machen versucht, so verschwand es nun ins ungreifbar Allgemeine. "Irgendwie" liege es immer auch an der Gesellschaft, wenn Kinder und Jugendliche Probleme hätten und machten. 

In den tonangebenden schulpädagogischen Konzepten, die die Schulfächer am liebsten abschaffen wollen, findet das Fach Politik nicht nur keine Unterstützung, in ihrem Rahmen ist auch keine vernünftige Rekonstruktion dessen mehr möglich, was politische Bildung eigentlich zu leisten hat. Im "Haus des Lernens" der "Rau-Kommission" (Bildungskommission ... 1995) ebenso wie im neuen Allgemeinbildungskonzept von Wolfgang Klafki (1996) verschwindet das Politische in 

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allgemeinen, von möglichst allen Fächern zu bearbeitenden "Lerndimensionen" und "Schlüsselproblemen" (Giesecke 1998). 

Entgegen modisch gewordener subjektorientierter didaktisch-methodischer Konstruktionen, die nicht zuletzt aus der Moralisierung der Politik erwachsen sind, ist darauf zu bestehen, daß Aufklärung sowohl im historischen wie auch im didaktisch-systematischen Sinne in erster Linie eine Sache des Kopfes, des Verstandes ist, und daß von emotionaler "Betroffenheit" und bloß vordergründigem Engagement ohne Leitung durch den Verstand nach aller Erfahrung nichts Gutes zu erwarten ist. 

4. In den vergangenen Jahrzehnten wurden unter dem Druck der politischen und moralischen Legitimation alle nur denkbaren politischen, ideologischen und einzelwissenschaftlichen Begründungszusammenhänge sowie alle nur denkbaren methodischen Variationen durchgespielt, so daß wir uns heute von deren Plausibilität wie von ihrer Leistungsfähigkeit ein auf Erfahrung beruhendes Bild machen könnten. Das geschieht aber nicht, die didaktisch-methodische Diskussion setzt sich kaum mit diesem Repertoire auseinander, sondern fängt immer wieder beim Nullpunkt an, ist in diesem Sinne geschichtslos. Das führt zu neuen, nun didaktisch-methodischen Dogmatisierungen wie etwa der "Handlungsorientierung" (Breit/Massing 1998) - bis in die Oberstufe des Gymnasiums hinein. Die dazu veröffentlichten Unterrichtsbeispiele sind an Trivialität kaum noch zu überbieten. Das Politische wird hier nicht mehr als ein objektiver, nämlich außersubjektiver Zusammenhang von Tatsachen, Strukturen, Institutionen und deren Wechselwirkungen begriffen, aus deren Aufklärung sich angemessene politische Vorstellungen ergeben könnten, sondern als eine chaotische Realität, aus der sich die Schüler per Handeln einen ihnen passende Wirklichkeit konstruieren sollen. Die Denunziation des Kognitiven führt zu neuen Denkverboten. 

5. Auch die politische Bildung unterliegt wie jede andere Erziehungsaufgabe dem Wechsel der Generationen. Jede neu heranwachsende Generation findet auf Grund ihrer besonderen Sozialisationsbedingungen auch einen neuen Zugang zu den Tatbeständen der Politik. Was sie daran für bedeutsam hält, ob und in welchem Maße sie sich dafür überhaupt interessiert, hängt sehr wesentlich von den Erfahrungen ab, die sie sonst in ihrem Leben macht. Die heutigen Schüler haben z.B. keinen eigenen Bezug mehr zu Krieg und Nachkriegszeit und somit auch nicht zu den moralischen Implikationen, die daraus für die älteren Generationen hervorgegangen sind. Ähnlich war es bei der deutschen Vereinigung; während die Älteren im allgemeinen darin schon deshalb ein bedeutsames Ereignis sahen, weil sie mit dem anderen Teil Deutschlands auf vielfältige persönliche und biographische Weise noch verbunden waren, fehlten den Jüngeren solche Bezüge schon weitgehend. 

Aus dieser unausweichlichen Generationendifferenz ergeben sich eine Reihe von Problemen. Dazu gehört, daß die inzwischen geradezu ritualisierte Beschwörung der NS-Vergangenheit die Jungen auf Dauer immer weniger beeindrucken wird, 

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weil sie daraus für sich selbst kaum noch verbindliche Schlußfolgerungen im Hinblick auf ihr eigenes Leben ziehen können. Die politische Bildung der Nachkriegszeit war trotz - oder gerade wegen - des Desasters der NS-Zeit zukunftsorientiert; darin lag ihre Attraktivität etwa für meine Generation. Heute scheint sie diesen Zukunftsbezug verloren zu haben. Verliert sie aber die Zukunft der jetzt Heranwachsenden aus dem Blick, kann sie das schlecht mit der Vergangenheit ihrer Urgroßeltern rechtfertigen oder gar kompensieren. 

Was bleibt also von der politischen Bildung? 

Man könnte vielleicht sagen, daß sie ein Produkt der Nachkriegsgeschichte war und mit deren Ende auch ihre Berechtigung verloren hat. Dafür spricht, daß weder die Politik noch die Erziehungswissenschaft bzw. Schulpädagogik an ihr ein nachhaltiges Interesse mehr zu haben scheinen. Was in den Schulen heute unter diesem Namen betrieben wird, was in den Richtlinien und Schulbüchern steht, könnte in der Tat weitgehend ersatzlos gestrichen werden, weil es die Mühen des Lernens nicht lohnt. Was gegenwärtig ansteht, ist eine Kritik des politischen, besser: entpolitisierten Selbstverständnisses der Schulpädagogik überhaupt, und dafür ist der Rückblick, wie ihn uns Dietrich Hoffmann vorgelegt hat, wieder von aktuellem Nutzen. 

Literaturverzeichnis

Bildungskommission Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen. Neuwied 1995 

Blankertz H./Hoffmann D.: Geschichtsunterricht und politische Bildung. In: I. Dahmer/W. Klafki: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche - Erich Weniger. Weinheim o. J., S. 175 ff. 

Breit, G./Schiele, S. (Hrsg.): Handlungsorientierung im Politikunterricht. Schwalbach 1998 

Giesecke, H. : Politische Bildung. Didaktik und Methodik für Schule und Jugendarbeit. Weinheim/München 1993 

Giesecke, H.: Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart 1998 

Giesecke, H.: Rückkehr zur Bildung? In: D. Hoffmann (Hrsg.): Rekonstruktion und Revision des Bildungsbegriffs. Weinheim 1999, S. 125-131 

Hoffmann, D.: Politische Bildung 1890 - 1933. Ein Beitrag zur Geschichte der pädagogischen Theorie. Hannover 1970. 

Klafki, W.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 5. Aufl. Weinheim 1996 

Litt, Th.: Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes. Bonn 1957 

Spranger, E.: Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung. Bonn 1957 

Weniger, E.: Politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung. Würzburg 1964 

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209. Hauptsache happy. Martha und William Pieper erziehen "mit Herz und Verstand" – aber scheuen dabei vor Konflikten zurück (2001)

In: Psychologie heute H. 6/2001, S. 72-73

Martha Heineman Pieper/ William J. Pieper: Smart Love. Erziehen mit Herz und Verstand. Stuttgart: Klett-Cotta-Verlag 2001, 336 S., DM 29,50

Zentraler Begriff dieses angeblich "neuen" Erziehungskonzeptes ist "Zufriedenheit" (happiness). "Primäre" Zufriedenheit schaffen die Eltern dadurch, dass sie die jeweils altersspezifischen Bedürfnisse des Kindes erfüllen. Das Bewusstsein, auf diese Weise bedingungslos von seinen Eltern geliebt zu werden, ja, diese Liebe selbst bewirkt zu haben, ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind sich im Umgang mit der Außenwelt eine "sekundäre" Zufriedenheit erwerben kann, die es vor Fehlentwicklungen bewahrt. Zunächst schöpft das Kind seine sekundäre Zufriedenheit lediglich aus seinen Allmachtsphantasien. Die dabei notwendigerweise entstehenden Enttäuschungen kann es nur überwinden, wenn es lernt, ein "kompetentes Selbst" zu entwickeln, sich konstruktive Ziele zu setzen und diese konsequent zu verfolgen. In der Hilfe dazu besteht der von den Eltern anzuleitende Prozess der Erziehung. Die dafür erforderliche Strategie setzt nicht auf Nachgiebigkeit oder Strenge, sondern auf "einfühlsames Lenken" (loving regulation): das Kind von falschem Verhalten ablenken und wegführen, ihm statt dessen lohnende Ziele anbieten und vor allem niemals das Gefühl geben, man entziehe ihm seine Liebe. Deshalb sind weder Belohnung noch Bestrafung angemessene Erziehungsmittel, aber auch antiautoritäres Gewährenlassen wird - als lediglich bequemes Elternverhalten - entschieden abgelehnt. 

Nachdem die ersten drei Kapitel die Grundlagen des Erziehungskonzeptes "Smart Love" ausführlich vorgestellt haben, befassen sich die folgenden mit den einzelnen Stufen der kindlichen Entwicklung: ein bis drei Jahre, drei bis sechs Jahre, sechs bis zwölf Jahre, dreizehn Jahre und älter. An Hand einer Fülle von Fallbeispielen wird erläutert, welche altersspezifischen Bedürfnisse jeweils zu berücksichtigen sind, damit die Eltern lernen, die Welt aus der Perspektive ihres Kindes zu betrachten. 

Offensichtlich soll "Smart Love" - "Erziehen mit Herz und Verstand" - mehr sein als nur ein neuer Elternratgeber, nämlich Leitmotiv für eine Art von Erziehungsbewegung. Dafür spricht, dass der Verlag für die Werbung "ein attraktives Dekopaket ... mit Smart Love T-Shirts, Poster und Smarties" zur Verfügung stellt, aber auch, dass die wenigen Prinzipien in immer neuen Variationen im Text wiederholt werden - einschließlich des ständigen Versprechens, dass "Smart Love" funktioniere, wenn man sich an dessen Grundsätzen orientiert. Sollte das trotzdem einmal auf Dauer nicht erfolgreich sein, müsste ein Therapeut zu Rate gezogen werden. Die Autoren - ein Ehepaar mit fünf Kindern - leben in Chicago und arbeiten selbst therapeutisch bzw. psychiatrisch mit Kindern und Eltern. Sie sind der festen Überzeugung, dass die Prinzipien von "Smart Love" für alle mit Kindern und Jugendlichen befassten Berufe Gültigkeit haben, also auch z.B. für Lehrer. 

Die Lektüre hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Liest man das Buch unter pragmatischen Gesichtspunkten, findet man eine Fülle in sich vernünf- 

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tiger und plausibler Ratschläge und Reflexionen, deren Beachtung Kindern in den verschiedenen Altersstufen gewiss zu helfen vermag. Auch das Motiv der "Zufriedenheit" kann als Orientierungspunkt für das elterliche Handeln und Gewährenlassen sicherlich weit tragen. Problematisch sind jedoch die mit Eifer verkündeten Übertreibungen und Einseitigkeiten. Keine Rolle spielt, dass der Mensch - und eben auch ein Kind - einfach böse sein und mit diesem Verhalten durchaus zufrieden sein kann. Wie sollen Eltern im Alltag die richtige von der falschen Zufriedenheit unterscheiden können? Wie auch in anderen therapeutischen Konzepten bleibt den Eltern hier die Verlegenheit, einer Theorie gehorchen zu sollen, deren Maßstäbe zwar plausibel klingen, aber tatsächlich nicht oder nur ungenügend zu verifizieren sind. "Smart Love" ist eine jener therapeutischen Erziehungstheorien, die schon von ihrer Konstruktion her nicht falsch sein, sondern nur falsch angewandt werden können. Zudem wehren die Autoren vehement ab, dass wichtige Persönlichkeitsmerkmale auch genetisch bedingt, also vererbt sein können, was ihrem optimistischen Menschenbild widersprechen würde. Das Konzept ist ausgesprochen konfliktscheu, Auseinandersetzungen mit den Kindern sollen möglichst vermieden oder ablenkend umgeformt werden, damit die "primäre Zufriedenheit" nicht gestört wird. Dadurch kommt in die Eltern-Kind-Beziehung - wie zahlreiche Fallbeispiele zeigen - eine übertriebene therapeutische Tendenz, die - fortlaufend angewandt - durchaus selbst zum Problem werden kann. Diese Strategie soll sogar bis in die Adoleszenz aufrechterhalten werden, wie überhaupt irritiert, dass vom Umgang mit dem Baby bis zur Adoleszenz eigentlich nichts Neues an Erziehungseinwirkungen und Erziehungsmitteln hinzu kommt. 

Unrealistisch wird das Konzept aber vor allem dadurch, dass es die sozialen Dimensionen nur ungenügend würdigt. Es setzt auf die Innerlichkeit des Kindes, auf seine Fähigkeit diese zu steuern. Die Außenwelt wird - durchaus in idealistischer Tradition - als Bewährungsfeld dieser Innerlichkeit verstanden. Aber schon die Familie selbst ist mehr als nur die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, sie ist eine Lebensgemeinschaft. Es geht nicht nur um die Balance zwischen den ichbezogenen Ansprüchen der Eltern und den Bedürfnissen des Kindes, sondern immer auch um die stabilisierende Reproduktion dieser Gemeinschaft. Das gilt erst recht für andere soziale Formationen, in die das Kind bzw. der Jugendliche eintritt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass für eine ganze Reihe von Jahren die Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt zu stehen haben, wird das Soziale irgendwann sein Eigenrecht anmelden, und dann geht es eben doch um Belohnungen für erwünschtes Verhalten und um Sanktionen für unerwünschtes. Irgendwann muss also das Kind auch lernen, dass Liebe und andere positiven Gefühle keine Einbahnstraße sind, sondern durch eigene soziale Aktivität erhalten und gestaltet werden müssen. 

Fazit: Ein interessantes Buch, von dem man jedoch erst dann etwas hat, wenn man es auch gegen den Strich liest. Als Grundschrift einer neuen Erziehungsbewegung taugt es allerdings nicht. 

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210. Am Ende pädagogischer Illusionen? (2001) 

Erwägungen für ein Bildungskonzept der Zukunft

In: Andrea Grimm /Hans-Peter Burmeister (Hrsg.): Bildung neu denken. Aufbrüche zwischen Bildungskanon und Selbstorganisation. Rehburg-Loccum 2001, S. 51-57 ( = Loccumer Protokolle 66/99)
 

Ich halte "Bildung", wie sie im klassischen Bildungskonzept etwa von Humboldt formuliert wurde, für die einzig tragfähige pädagogische Idee der Moderne - etwa im Unterschied zu den reformpädagogischen Axiomen und Maximen, wie sie heute wieder in Mode sind. Dies zu vergessen, ist der zentrale Fehler der bildungspolitischen Entwicklung der letzten dreißig Jahre gewesen. Im Gegensatz dazu erscheint es mir nötig, die epochal bedeutsame Substanz dieses Konzeptes wieder in den Blick zu nehmen. 

Wenn man zeitgenössische Einseitigkeiten bereinigt (z.B. Fixierung auf die antike Welt), beruht die moderne Bildungsidee im wesentlichen auf der Einsicht, daß der Mensch mehr ist, als in seinem Alltag von ihm verlangt und erwartet wird, daß seine grundlegende Bildung also nicht aus der bloßen Zurichtung für diese seine Alltagsaufgaben bestehen dürfe, ja, daß Bildung sich auch nicht aus der Summe des Lernens für die alltäglichen Funktionen ergibt. Im Gegenteil: Je allgemeiner jemand gebildet ist, um so mehr kommt dies auch seinen speziellen Tagesaufgaben, etwa im Beruf, zugute. Die Leitfrage ist also: Was muß man lernen, wenn man nicht wissen kann, was man in Zukunft wissen muß?
Gerade ein Blick in die gegenwärtige berufspädagogische Diskussion läßt erkennen, wie vorausschauend diese Einsicht war: Der überlieferte Versuch, die Arbeitswelt als eine Summe voneinander abgrenzbarer Einzelqualifikationen zu verstehen, die in einem je spezifischen Berufsbild zusammengefaßt werden können, ist inzwischen gescheitert, weil die beruflichen Anforderungen ständig im Fluß sind. Als beste Berufsausbildung hat sich vielmehr eine optimale Allgemeinbildung erwiesen. 

Das Moderne an diesem Konzept besteht vor allem in folgenden vier Punkten:
 - es nimmt die fundamentale Demokratisierung der Gesellschaft vorweg;
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 - es akzeptiert die faktische und die normative Pluralisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse;
 - es enthält ein plausibles Programm für die in der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft notwendigen Individualisierungsprozesse; 
 -es ist auf eine lebenslange Perspektive gerichtet und deshalb geeignet zur geistigen Durchdringung horizontaler wie vertikaler Mobilität.

Demokratisierung
Insofern das Bildungskonzept prinzipiell für alle Menschen, nicht nur für eine bestimmte Gruppe, gedacht wurde, war es ein demokratisches, auch wenn den Erfindern diese Konsequenz nicht unbedingt klar war. Faktisch hat es die Demokratisierung der Gesellschaft und damit zusammenhängend ihre Mobilität, die Aufweichung von Klassen- und Standesschranken vorweggenommen. Demokratisierte Bildung erreicht man also gerade nicht dadurch, daß man sich an die Lebenswelten der Kinder fixiert, sondern umgekehrt dadurch, daß man dazu in Distanz tritt, ohne sie zu ignorieren. Insofern halte ich dem widersprechende schulpädagogische Konzeptionen der Gegenwart für objektiv, nämlich in einem ideologiekritischen Sinne, anti-demokratisch. 

Pluralisierung
Die gesellschaftliche und normative Pluralisierung ist eine notwendige Implikation dieser demokratischen Komponente. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Parteien, Religionen, Weltanschauungen, Lebenskonzepte, Normen diesseits des Strafrechts treten in Wettbewerb miteinander und werden deshalb wählbar - das ist die subjektive Seite der objektiven Pluralisierung. Den Konsequenzen dieser Tatsache ist die deutsche Pädagogik immer wieder entflohen - nicht zuletzt die Reformpädagogik alter und neuer Provenienz. Pädagogisch gesehen entsteht daraus die Frage, wie ein gemeinsamer Schulunterricht in der Sache - nicht auf der heute so in den Vordergrund gerückten Beziehungsebene - aussehen kann, der solche Wahlmöglichkeiten nicht dem anything goes überläßt, sondern sie einerseits nicht vorwegnimmt, andererseits aber fundierte sachliche Einsichten dafür bereitstellt. Ei-
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ne der Konsequenzen aus dieser Sachlage ist, daß Emotionen, Haltungen, Einstellungen, die im Zuge des Bildungsprozesses entstehen, den Pädagogen und ihren Auftraggebern nicht mehr verfügbar sein dürfen, nicht mehr zur Disposition stehen. Auch in dieser Hinsicht gibt es keine Alternative zum Bildungskonzept, alles andere, was versucht wurde, hat sich immer bemüht, mit erzieherischen Begründungen die Optionen wieder auszuschalten oder zumindest zu verringern. 

Individualisierung
Individualisierung ist nicht das Resultat einer pädagogischen Wohltat, sondern eine für den Einzelnen wie für die Gesellschaft notwendige Konsequenz aus den Prozessen der Demokratisierung und Pluralisierung. Die immer größer gewordenen Optionsspielräume müssen ausgefüllt werden, und sie können nur gestaltet werden durch Entscheidungsleistungen der einzelnen Personen, woher immer diese ihre Kriterien dafür nehmen.

 
Der Beitrag des Bildungskonzeptes zur Individualisierung besteht in seiner eigentümliche Subjekt-Objekt-Beziehung. Es geht nicht um Stoffhuberei, nicht um die bloße Einverleibung eines objektiv vorgegebenen Kanons, sondern um eine je subjektive Auseinandersetzung damit, um das ständige Abarbeiten der Differenz zwischen der bisherigen Erfahrung und den dazu kontroversen, sich im biographischen Verlauf steigernden Ansprüchen der Sache. In diesem Spannungsverhältnis spielt sich der Bildungsprozeß ab. Individualisierung meint hier nicht bloße Subjektivität im Sinne des "ich meine, daß..." oder "ich hab keinen Bock"; sie gilt nicht als anthropologische Vorgabe, als sei sie eine herauszukitzelnde innerpsychische Realität; sie wird vielmehr als Aufgabe verstanden, das Nichtsubjektive, nämlich die außersubjektive Welt, in ihrem Sosein ernst zu nehmen. Individualisierung erwächst als Resultat aus einem spezifischen geistigen Prozeß, nicht aus bloßer Wahrnehmung von Wahlfreiheit, von Optionen. Diese Maßgabe ist deshalb so bedeutsam für das Verständnis von Individualisierung, weil es diesem je individuellen Prozeß - im Unterschied zum Methodenkokolores der gegenwärtigen Schulpädagogik - die subjektivistische Willkür nimmt, ihn statt dessen bindet an objektive Anforderungen und ihn so auch verschränken kann etwa mit sozialen und gesellschaftlichen Pflichten. 
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Diese Maßgabe hat natürlich Folgen für die Art und Weise eines bildenden Unterrichts, für den etwa die Schülerfrage von entscheidender Bedeutung ist. In der ernsthaften Schülerfrage wird die Verbindung von der bisherigen Erfahrung zum damit konfrontierten neuen Stoff hergestellt. Bildungslernen ist also per definitionem selbsttätiges Lernen, das nicht als spezielle Methode erst inszeniert oder hinzugefügt werden muß.

Lebenslänglichkeit
"Lebenslanges Lernen" ist ein Schlagwort der Gegenwart, mit dem auch in der Pädagogik alles mögliche begründet wird. Meist wird damit jedoch lediglich Anpassung an wechselnde berufliche Erfordernisse gemeint. Aber durch ständiges Lernen gesellschaftliche Veränderungsprozesse immer wieder ins Bewußtsein zu nehmen, ist eine viel komplexere Aufgabe, weil diese Veränderungen eben nicht nur beruflicher Natur sind, sondern alle Seiten des menschlichen Lebens betreffen, also auch alle gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ebenso wie das personale Selbstverständnis. Dieser Tatsache vermag die Bildungsidee, die nicht nur auf die Schulzeit beschränkt ist, eher als andere pädagogische Ideen Rechnung zu tragen, weil sie einen Standpunkt oberhalb der Anpassungsprozesse beziehen kann.

 
Das demokratische Element der Bildung läßt sich konkretisieren in der Forderung, daß alle Bürger die prinzipiell gleiche Chance der Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten erhalten sollen; Bildung soll sie eben dazu in den Stand setzen. Nun kann man diese Teilhabemöglichkeiten genauer differenzieren, indem man etwa zwischen politischer, kultureller und beruflicher Teilhabe unterscheidet; das würde hier aber zu weit führen. Jedenfalls geht es um grundsätzlich gleichberechtigte Partizipation an allem, was die Gesellschaft zu bieten hat, wobei die aus mancherlei Gründen - zB. schon aus Zeitgründen - notwendigen Einschränkungen das Individuum jeweils selbst vornehmen muß. 
Aus dieser Forderung nach optimaler gesellschaftlicher Partizipation prinzipiell aller Gesellschaftsmitglieder ergibt sich aber ein historisch neues Problem. Die frühere soziale Begrenzung der Lebensperspektive im Hinblick etwa auf das Arbeiter-, Bauern- oder Bildungsbürgermilieu ermöglichte auch eine entsprechende didaktische Beschränkung des Bildungsangebotes und machte dieses sogar sinnvoll. Wenn 
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sich aber erst in der Zukunft entscheidet, in welchem beruflichen und kulturellen Rahmen das Kind sich dann als Jugendlicher oder Erwachsener bewegen wird, entsteht eine eigentümliche Unschärfe. Das Bildungsangebot muß dann nämlich relativ abstrakt konzipiert werden, zumindest am Anfang gleich für den künftigen Philosophieprofessor wie für den ungelernten Arbeiter, für den künftigen Berufspolitiker wie für den politisch Uninteressierten, für den Techno-Fan wie für den Mozartliebhaber. Das wiederum führt zu der ständigen und auch immer wieder zu hörenden Sorge, man müsse vielleicht etwas lernen, was man künftig nicht gebrauchen könne. Das kann im Einzelfall so sein, ist aber grundsätzlich nicht zu vermeiden. Diese Unsicherheit ist der Preis, der für eine demokratisierte Bildung zu zahlen ist. Der Schrei nach "Praxisorientierung" bis hin zur Hochschule ist der Versuch, diesen Preis zu verweigern. 


Bildung ist also der Versuch, aus der Distanz zu den aktuellen Bedürfnissen und Handlungsinteressen heraus die Welt im direkten Zugriff dem Denken und damit auch dem Verhalten verfügbar zu machen. Dazu muß sie - auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse über sie - in bearbeitbare Bereiche, nämlich Schulfächer, aufgeteilt werden, die nicht nur je besonderes Wissen, sondern mehr noch spezifische Methoden seiner Gewinnung und damit kategoriale Vorstellungen vermitteln. Beispiel: Die Physik kennt das Lebendige nicht, kann es aber gleichwohl nach ihren Regeln partiell erforschen. Konstitutiv für Bildung ist also ein Kanon von Fächern, Stoffen und Methoden. Für einen solchen Kanon gibt es allerdings keine von irgendwoher deduzierbare Gewißheit. Aber es gibt Gesichtspunkte einer vernünftigen Auswahl und Begründung: 

 - die Beschränkung auf Grundlagen, von denen aus Weiterbildung möglich ist. Was muß an Grundlagen bekannt sein, um je nach Interesse oder gesellschaftlicher Notwendigkeit erfolgreich an Weiterbildungsmaßnahmen in den Massenmedien oder auf dem Bildungsmarkt teilnehmen zu können? Unter diesem Gesichtspunkt kann der Schulstoff erheblich zusammengestrichen werden. Außerhalb des Gymnasiums reicht Englisch als Fremdsprache aus. 

 - Die Berücksichtigung der modernen Informationstechnologie. Diese macht, was leicht übersehen wird, das Lernen nicht nur leichter, sondern auch schwieriger, nämlich abstrakter, wie jeder weiß, der damit arbeitet. Prinzipien, Regeln, Begriffe, Methoden usw. treten in den Vordergrund. 
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Bildungslernen bleibt in seinem Kern an einen Kanon von Fächern und Stoffen gebunden, mag es darüber hinaus auch schon in der Schule Wahlentscheidungen geben. Zur Bildung gehören auch solche Fächer und Stoffe, die man nicht mag; sonst fällt das eben charakterisierte eigentümliche Subjekt-Objekt-Konstrukt in sich zusammen.

 
Die Bildungsgeschichte zeigt, daß die aufklärerische Emanzipation von den Determinanten der unmittelbaren Lebensvollzüge - die ja zumindest imaginativ auch immer Distanz von Herrschaftsansprüchen war und ist - stets durch erzieherisch formulierte Kanalisierungen konterkariert wurde. Bis heute muß sich Bildung dadurch rechtfertigen, daß sie auf ihre erzieherischen Vorteile verweist. Sie sollte im Wilhelminismus staatstreu sein, im NS völkisch, in der Gegenwart wird von ihr etwa solidarische, sozialintegrative und multikulturelle Gesinnung erwartet. Bildung wird in diesem Verständnis gleichsetzt mit einer bestimmten moralischen Qualität der Person. Aber Bildung ist keine Garantie für Gutmenschentum. Auch viele SS-Männer waren gebildet, und nicht wenige der RAF-Terroristen gehörten zu den Gebildetsten ihrer Generation. Bildung ist nicht mehr als eine Hoffnung auf Humanität, ob diese zum Zuge kommt, hängt nicht vom pädagogischen Konzept selbst ab, sondern weitgehend von den Sozialisationsbedingungen, auf die der Erwachsene dann trifft. 


Wer sich bildend mit der Welt beschäftigen will, muß sich gewiß bestimmten erzieherisch zu verstehenden Implikationen fügen: Er muß eine gewisse Disziplin aufbringen, kooperativ mit anderen umgehen, sich tolerant gegenüber anderen Meinungen verhalten, sonst wird daraus nichts. Aber darüber hinausgehende erzieherische Ansprüche müssen anders begründet werden, nämlich mit der Notwendigkeit sozialer und gesellschaftlicher Normen und Regeln. Solche Begründungen haben ihren eigenen Sinn und ihre eigene Dignität, aber sie gelten auch ohne die Ansprüche der Bildung. Erziehung ist immer nötig, Bildung dagegen, insbesondere Bildung für alle, ist eine Zutat, die sich eine Gesellschaft erst einmal leisten können muß und will.

 
Die demokratischen Tendenzen des Bildungsbegriffs werden sich erst dann durchgesetzt haben, wenn die aufklärende Bildung sich von erzieherischen Attitüden emanzipiert hat, Bildung also als ein pädagogischer Selbstzweck verstanden wird, der keiner anderen Rechtfertigung mehr bedarf. 
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Literaturhinweis: Hermann Giesecke: Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart 1998
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211. Wie führe ich einen neuen Partner in meine Familie ein? (2001)

In: www.familienhandbuch.de 

 https://www.familienhandbuch.de/teil-und-stieffamilien/teilfamilien/wie-fuhre-ich-einen-neuen-partner-in-meine-familie-ein

Auch alleinerziehende Eltern haben ein Recht auf eine befriedigende Partnerbeziehung, das grundsätzlich nicht von der Zustimmung der Kinder abhängig sein darf. Lebt der andere – männliche oder weibliche – Partner außerhalb der Einelternfamilie, hat er in ihr den Status eines  von  den Kindern im allgemeinen akzeptierten Gastes. Soll er jedoch auch in der Familie als deren Mitglied dauerhaft wohnen, können spezifische Probleme entstehen, weil er dann von  außen kommend auf eine bereits ausgeprägte sozio-emotionale Struktur trifft, an deren Entstehung er nicht von Anfang an mitgewirkt hat. Zudem muss er in die Erziehungsaufgabe produktiv einbezogen werden. Der Artikel gibt Hinweise für mögliche Lösungen dieser Probleme.

Nach dem Tod eines Partners oder öfter noch nach einer Trennung oder Scheidung bleibt in der Regel ein Partner mit den gemeinsamen Kindern in einer Alleinerzieherfamilie zurück. In vielen Fällen entsteht dann die Absicht, mit einem neuen Partner eine Verbindung einzugehen. Dabei entsteht das Problem, wie man im Hinblick auf die Kinder den neuen Partner in die Familie einführen soll. 

Normalerweise haben die Mitglieder einer Familie eine Reihe von Außenkontakten zu Freunden und Bekannten, die mehr oder weniger häufig zu Gast sind und manchmal sogar in der Wohnung übernachten. Zu diesen Gästen dürfte im allgemeinen auch der in Aussicht genommene neue (männliche oder weibliche) Partner des allein mit den Kindern lebenden Elternteils gehören. Jedenfalls sollte er nicht als eine Art Überraschungsgast den Kindern plötzlich als neues Familienmitglied präsentiert werden. Sein Status als Gast ermöglicht es den Kindern, sich ihm mit einer gewissen Distanz offen und beobachtend zu nähern. Eine Bedrohung entsteht erst dann, wenn der neue Partner in die Wohnung einzieht oder wenn umgekehrt seinetwegen ein Umzug bevorsteht. Dieser Schritt muss sorgfältig überlegt werden, denn davon sind die Kinder unmittelbar in ihrem Alltagsleben betroffen. Er sollte nur dann erfolgen, wenn die beiden Erwachsenen sich ihrer Beziehung hinreichend sicher sind, wenn sie nach ihrer Einschätzung langfristig eine Chance hat. Möglichst vermieden werden sollte, dass eine Beziehung nach dem Zusammenziehen scheitert und sich dieser Vorgang vielleicht sogar noch mehrmals mit anderen Personen wiederholt. Diese Erfahrung könnte das Vertrauen der Kinder in die soziale Stabilität ihrer Familie erschüttern. In der Regel - vor allem wenn keine zwingenden finanziellen Gründe vorliegen - spricht wenig dafür, das Zusammenziehen mit Eile zu betreiben. Nicht selten bestehen glückliche Partnerschaften über mehrere Jahre, obwohl mit Rücksicht auf die Kinder - vor allem, wenn beide Erwachsene mit eigenen Kindern leben - jeder seine eigene Wohnung behalten hat. 

Im Unterschied zu früheren Zeiten ist heute weitgehend unbestritten, dass auch allein erziehende Eltern ein Recht auf eine befriedigende Partnerschaft haben. Auch in einer "normalen" Familie ist die Beziehung der Eltern eine eigenwertige und eigenständige, die nicht von der Zustimmung der Kinder abgeleitet oder gar davon abhängig sein darf. Im Falle der Scheidung oder Trennung wird diese Tatsache oft dadurch überdeckt, dass gegenüber den Kindern ein schlechtes Gewissen zurückbleibt, weil der andere Elternteil nun abwesend sein muss, wodurch die Neigung entstehen kann, das eigene Leben um das der Kinder herum zu zentrieren. Ein schlechtes Gewissen ist aber meist auch ein schlechter pädagogischer Ratgeber. Bei nüchterner Betrachtung ist nicht einsichtig, dass ein Leben ohne Partner für die Kinder in irgendeiner Hinsicht nützlich sein könnte, es ist vielmehr zu erwarten, dass auch das Wohlergehen der Kinder auf die Dauer ganz wesentlich davon abhängt, ob der mit ihnen lebende Elternteil sich in einer befriedigenden Partnerschaft aufgehoben fühlt. 

Dafür kann es verschiedene Formen geben. Nicht selten wird versucht, zumindest in der ersten Phase die Beziehung zum Partner strikt vom Familienleben zu trennen. Man trifft sich mit ihm möglichst außerhalb der eigenen Wohnung, um die Kinder heraus zu halten, die unter Umständen von dieser Beziehung gar nichts wissen. Das hat den Vorteil, dass die Kinder sich an den Partner gar nicht erst gewöhnen müssen und dann vielleicht enttäuscht sind, wenn die Beziehung ein Ende hat. Die Frage ist nur, wie befriedigend eine solche Beziehung auf Dauer sein kann, wenn ein so wesentlicher Teil wie das eigene Familienleben ausgeblendet bleiben muss. Zudem können Kinder, wenn sie davon etwas bemerken oder vermuten, unnötige Ängste entwickeln. 

Eine weitere Möglichkeit ist, dass der neue (männliche oder weibliche) Partner zwar seine eigene Wohnung behält, somit im Gaststatus verbleibt, den Kindern aber bekannt ist und an ihrem Leben Anteil nimmt. In diesem Falle kann er von großem Nutzen für die Kinder sein, wenn sie ihn akzeptiert haben. Dass er keinerlei Erziehungsrechte und auch keine Rechte geltend machen kann, die aus gemeinsamem familiärem Zusammenleben erwachsen, kann dabei eine Chance sein: Der Partner kann den Kindern gegenüber unbefangen bleiben, ein freundschaftliches Verhältnis aufbauen, ohne stiefväterliche oder stiefmütterliche Pflichten übernehmen zu müssen. Manche Paare sind sicher gut beraten, wenn sie es bei dieser Konstellation belassen, in der Überzeugung, dass dies für sie die richtige Mischung aus Nähe und Distanz ist. 

Eine neue Qualität tritt jedoch ein, wenn der Partner zum Mitglied der Familie wird, also mit ihr eine gemeinsame Wohnung bezieht und rund um die Uhr mit ihr zusammen lebt - mit oder ohne Trauschein. Dann wird er nämlich notwendigerweise zum Stiefelternteil, was schlecht gegen den Willen der Kinder einfach durchgesetzt werden kann, weil dann die soziale Stabilität der Familie auf dem Spiel steht. Vorausgehen sollte einem solchen Schritt deshalb eine längere Bekanntschaft, innerhalb derer der Mann bzw. die Frau die Kinder auch kennen lernt und mit ihnen eine beiderseits zufrieden stellende Beziehung aufbauen kann. In dieser Zeit können zum Beispiel Ängste von Kindern abgebaut werden, ob sie nun berechtigt sind oder nicht. Niemand kann sich seine Ängste aussuchen. Ein Kind kann zum Beispiel Angst davor haben, dass durch den neuen Partner die soziale Stabilität der Familie bedroht wird, oder dass es gezwungen werden soll, eine bestimmte Art von Beziehung zu ihm einzugehen, oder dass dem Kind etwas verloren geht, auf das es wirklich einen Anspruch hat, wie die Zeit der Mutter bzw. des Vaters oder genügend Aufmerksamkeit für seine Pläne und Probleme. Ist eine Trennung oder Scheidung vorausgegangen, befürchten Kinder zudem oft, dass sie auch noch den zweiten Elternteil verlieren könnten, dass also der neue Partner sie ihnen wegnimmt und die Kinder allein zurückbleiben könnten. 

Die eigentlichen Probleme entstehen aber durch die notwendige Neuordnung der inneren Sozialstruktur. Jede Familie entwickelt eine bestimmte Beziehungsstruktur sowie Rollenpositionen ihrer Mitglieder, die durch jeden Neuzugang - ob Kind oder Erwachsener - in Frage gestellt wird und umorganisiert werden muss. So ist es ein erheblicher Unterschied, ob ein einziger Erwachsener vorhanden ist, oder ob zwei Erwachsene nun gemeinsam agieren. Alltägliche Routinen wie Fragen des Tagesablaufs, der Ästhetik der Wohnungseinrichtung, der Ordnung und der Arbeitsteilung müssen nun neu geregelt, neue Formen der Beratung und Entscheidung müssen gefunden werden. 

Der Stiefelternteil kennt zudem - im Unterschied zu einer Erstfamilie - nicht die frühere Geschichte der Familie und vor allem der Kinder aus eigener Erfahrung, weil er nicht von Anfang an dabei gewesen, sondern später hinzugekommen ist. Diese Differenz lässt sich zwar bis zu einem gewissen Grade durch Erzählungen kompensieren, aber nie wirklich ganz beseitigen. Im Falle der Scheidung oder Trennung tritt der Stiefelternteil zudem an die Stelle des abwesenden leiblichen Elternteils, was bei den Kindern Loyalitätskonflikte und Identitätsstörungen auslösen kann - je nachdem, wie intensiv deren Bindungen an den abwesenden Elternteil sind. 

Deshalb ist es nützlich, derartige Schwierigkeiten vorweg zu bedenken, wenn ein neuer Partner in die Familie eingeführt wird. Zu empfehlen ist dem Stiefelternteil, zu Beginn eine eher defensive und zurückhaltende Position einzunehmen, die sich im weiteren Verlauf des Zusammenlebens im wechselseitigen Einverständnis weiter ausbauen kann. Sie könnte etwa so aussehen: 

Für grundsätzliche Erziehungsfragen bleibt der leibliche Elternteil möglichst in Kooperation mit dem abwesenden Elternteil ("Gemeinsames Sorgerecht") zuständig; der Stiefelternteil steht dafür lediglich beratend zur Verfügung. Im Rahmen des familiären Zusammenlebens ist seine Position jedoch auch in unmittelbaren Erziehungsfragen gleichrangig; gemeinsam mit dem leiblichen Elternteil trifft er Entscheidungen über die Organisation des Familienlebens und bestimmt Ton und Stil des Umgangs mit. Er trachtet nicht danach, den abwesenden Elternteil zu "ersetzen", sondern bemüht sich um eine davon unabhängige, eigenständige Beziehung zu den Kindern. Über den abwesenden Elternteil äußert er sich in Gegenwart der Kinder - unabhängig von seiner tatsächliche Meinung - höflich, respektvoll und ohne Diskriminierung. 

Trotz aller sorgfältigen Vorbereitung und Einführung des neuen Partners in die Familie kann es vorkommen, dass die Kinder gegen ihn heftigen Widerstand entwickeln und seine Aufnahme verhindern wollen. Dann muss der leibliche Elternteil die Gründe dafür in Gesprächen mit den Kindern sorgsam ermitteln. Sind die Einwände im Kern unberechtigt, beruhen sie vor allem auf Eifersucht und Egoismus, sollte ihnen nicht einfach nachgegeben werden, weil sie unabhängig von ihrem Anlass und je nach Alter auf mehr oder weniger massive Fehlentwicklungen hindeuten. Wenn das erwachsene Paar von der Bedeutung seiner Beziehung überzeugt ist, sollte es ebenso einfühlsam wie entschieden sein Recht darauf geltend machen. Zur Debatte stehen kann dann allenfalls, in welcher Form - ob z.B. im Rahmen einer gemeinsamen Familie - diese Beziehung gelebt werden soll. Ein Verzicht darauf "der Kinder wegen" brächte diesen keinerlei pädagogischen Nutzen. 

Literatur 

Bliersbach, G.: Halbschwestern, Stiefväter, und wer sonst noch dazu gehört. Leben in einer Patchwork-Familie. Düsseldorf 2000 

Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Beratung von Stieffamilien. Weinheim-München 1993 

Giesecke, H.: Wenn Familien wieder heiraten. Neue Beziehungen für Eltern und Kinder. Stuttgart 1997 

Krähenbühl, V. u. a.: Meine Kinder, deine Kinder, unsere Familie. Wie Stieffamilien zusammenfinden. Reinbek 2000 

Ritzenfeld, S.: Kinder mit Stiefvätern. Familienbeziehungen und Familienstruktur in Stiefvaterfamilien. Weinheim-München 1998 

Visher, E./Visher, J. F.: Stiefeltern, Stiefkinder und ihre Familie. München 1987


212. "Meine Stiefkinder lehnen mich ab!" (2001)

In: www.familienhandbuch.de 

  https://www.familienhandbuch.de/teil-und-stieffamilien/stieffamilien/meine-stiefkinder-lehnen-mich-ab
 

Entweder kommen Stiefkinder in eine Familie nur ‘zu Besuch’, weil sich ihr Lebensmittelpunkt  grundsätzlich z.B. beim anderen leiblichen Elternteil befindet. Dann nehmen sie durchaus Zeit und Aufmerksamkeit zumindest des leiblichen Elternteils  in Anspruch und sind vielleicht ein stets einzuplanender Teil seines familiären Terminkalenders. Oder der Stiefelternteil lebt mit Partner und dessen leiblichen Kindern als Familie in einer gemeinsamen Wohnung und kann sich den daraus resultierenden Ansprüchen und Vorbehalten  z.B. auch erzieherischer Art nicht entziehen. Stiefkinder und Stiefeltern können also aus mancherlei Gründen in eine für beide Seiten problematische Beziehung geraten, von der dann auch die Partnerschaft bzw. Familie allgemein betroffen ist. Zu empfehlen ist, die besondere sozio-emotionale Struktur dieser Familienformen zu akzeptieren,  dabei aber auch das Eigenrecht der Partnerschaft zur Geltung zu bringen. Der Stiefelternteil kann sich z.B. nicht einfach als Vater bzw. Mutter präsentieren – schon gar nicht, wenn der betreffende leibliche Elternteil noch lebt – sondern muss seine besondere Rolle gegenüber den Stiefkindern finden und im Alttag entwickeln. Dafür gibt der Beitrag Hinweise.

Im Unterschied zu früheren Zeiten entstehen Stieffamilien heute weniger durch den Tod des Ehepartners und Wiederverheiratung des zurückbleibenden Partners, als vielmehr durch Trennung oder Scheidung und die anschließende Aufnahme eines neuen Partners in die Restfamilie. Immer noch sind derart getrennte Familien überwiegend Mutterfamilien, weil die Kinder in der Regel bei der Mutter bleiben. Das Hinzutreten eines neuen Partners, also eines Stiefelternteils für die Kinder, wird von diesen nicht selten mit mehr oder weniger massiver Abwehr beantwortet. Deshalb ist es wichtig, diesen Schritt im Hinblick auf die Kinder gut vorzubereiten. Ausmaß und Motive der Abwehr können je nach Alter unterschiedlich sein. Jüngere Kinder machen im allgemeinen wenig Schwierigkeiten, ältere, vor allem pubertierende, die sich ohnehin mit den für sie zuständigen Erwachsenen auseinander setzen müssen, können in diesem Alter sogar dann wieder gegen den Stiefelternteil aggressiv werden, wenn sie ihn in den zurückliegenden Jahren eigentlich akzeptiert haben. Deshalb muss man zwischen einer Ablehnung, die tatsächlich der Person gilt, und einer anderen unterscheiden, für die die betreffende Person eher ein Anlass oder ein Vehikel ist. Nun gibt es derartige Schwierigkeiten im Prinzip in jeder Familie, in einer Stieffamilie jedoch können sie eine zusätzliche Bedeutung gewinnen, wenn man einige Besonderheiten dieser Familienform nicht ins Auge fasst. 

Ein leiblicher Elternteil ist entweder verstorben oder - wovon wir hier ausgehen - lebt nicht mehr mit seiner ursprünglichen Familie zusammen, bleibt aber im allgemeinen weiterhin seinen Kindern verbunden und ist vielleicht sogar gemeinsam mit dem anderen Elternteil sorgeberechtigt. Ferner beruht eine Stieffamilie von vorneherein auf einer Ungleichheit, weil es einen bereits bestehenden Familienkern gibt, zu dem eine weitere Person, der Stiefelternteil, hinzu tritt. Diese Ungleichheit muss akzeptiert und produktiv gestaltet werden, auch wenn sie auf die Dauer im Bewusstsein der Beteiligten und in Familienalltag immer bedeutungsloser werden sollte. Der Stiefelternteil kann deshalb die Position des abwesenden Elternteils nicht ersetzen, sondern muss eine andere, eigentümliche Beziehung zu seinen Stiefkindern aufbauen. Er ist nicht Vater bzw. Mutter. Ferner haben der leibliche Elternteil und der Stiefelternteils zwar gleiche Rechte und Pflichten im Hinblick auf das Zusammenleben in der Familie, aber die generelle Erziehungskompetenz bleibt beim leiblichen Elternteil. Nur wenn diese Unterschiede nicht kurzsichtig oder idealisierend ignoriert werden, lassen sich unnötige Schwierigkeiten mit den Stiefkindern vermeiden. 

Zu unterscheiden ist zwischen unmittelbaren Stiefeltern, die mit den Stiefkindern in einer Familiengemeinschaft leben, und solchen, die nur mittelbar mit ihnen zu tun haben, weil sie Partner bzw. Partnerin des abwesende Elternteils sind. 

Mittelbare Stiefeltern sind primär nicht den Stiefkindern, sondern ihrem Partner verbunden und haben nur über ihn auch mit dessen Kindern zu tun, wenn diese zum Beispiel zu Besuch kommen. Schwierigkeiten können dadurch entstehen, dass der leibliche Elternteil, obwohl er nicht mit seinen Kindern zusammenlebt, seine Loyalität und seine Gefühle in irgendeiner Weise auf sie und seinen Partner aufteilen muss. Das kann leicht zur Eifersucht führen, zumal auch der eigene Zeitplan davon berührt ist. Wenn die Kinder zu Besuch kommen, stehen sie im Mittelpunkt, die Besuchszeiten werden teilweise von außen bestimmt, über die Kinder ist der ehemalige Ehepartner stets gegenwärtig. Oft entsteht auch der Eindruck, die Kinder würden wechselseitig als "Spione" benutzt. Jedenfalls müssen sie sich zunächst einmal daran gewöhnen, dass ihre Eltern, die vorher mit ihnen zusammen gelebt haben, nun getrennte Wege gehen - sogar mit einem neuen Partner. Der Stiefelternteil sollte diese Probleme verstehen und den Kindern gegenüber zurückhaltend, offen und ohne weiter gehende emotionale und erzieherische Ansprüche gegenübertreten. Wer einen Partner wählt, der bereits eigene Kinder hat, sollte sich darüber im Klaren sein, dass deren Existenz innerhalb der Beziehung zwischen den beiden Erwachsenen nicht ausgeblendet werden kann; es gibt den anderen nicht ohne seine Kinder - wie intensiv oder distanziert die Beziehung auch sein bzw. sich entwickeln mag. Wenn die Kinder den mittelbaren Stiefelternteil ablehnen, muss es zu gemeinsamen Gesprächen darüber zunächst unter den Erwachsenen, dann auch mit den Kinder kommen. Dabei sind je nach Alter der Kinder die unterschiedlichen Bedürfnisse aufzugreifen: In welchen Punkten fühlen sich die Kinder durch die neue Situation benachteiligt, in welcher Hinsicht fühlt sich das erwachsene Paar durch sie gestört? Bei allem Verständnis für die Kinder muss auch klar werden, dass das erwachsene Paar ein eigenes Recht auf die Gestaltung seines Lebens hat - grundsätzlich unabhängig von den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder. Auf diesem Hintergrund sind vielerlei zu vereinbarende Regelungen für die Gestaltung des Alltags möglich. Dabei muss der leibliche Elternteil die erzieherische Führung übernehmen, der Stiefelternteil kann nur Regeln geltend machen, die aus dem unmittelbaren gemeinsamen Umgang etwa in der Wohnung resultieren. Dort sind die Kinder zu Gast und haben sich entsprechend zu verhalten. Emotionale Zurückhaltung zu Beginn lässt intensivere Beziehungen für die Zukunft offen. Die Beziehungen des mittelbaren Stiefelternteils zu den Kindern des Partners sind von eigener Art, jedenfalls keine väterlichen bzw. mütterlichen, auch keine Ersatzbeziehungen, vielmehr kommen sie so in einer normalen Familie nicht vor und müssen deshalb von allen Beteiligten entdeckt und gestaltet werden. 

Für den unmittelbaren Stiefelternteils stellt sich die Lage teilweise anders dar. Er bzw. sie lebt mit den Stiefkindern rund um die Uhr in einer gemeinsamen Wohnung, kann sich also den daraus resultierenden Ansprüchen und Problemen nicht entziehen. Entscheidend ist, wie die eigene Person sich den Kindern im Haushalt und in Erziehungsfragen darstellt. Auch hier gilt zunächst einmal, dass das erwachsene Paar ein eigenes Recht auf sein gemeinsames Leben hat, das unabhängig von den Kindern existiert und sich nicht aus deren Willen und Bedürfnissen einfach herleitet. Erziehungsansprüche kann der Stiefelternteil nur im Rahmen des gemeinsamen Haushaltes und des Zusammenlebens als gleichberechtigter Partner des leiblichen Elternteils geltend machen. Verfehlt wäre eine Familienvorstellung, die durch die Tatsachen nicht gedeckt sein kann. Der Stiefelternteil ist nicht Vater oder Mutter, zumal dann nicht, wenn der andere leibliche Elternteil noch lebt. Er ist im rechtlichen Sinne nicht erziehungsberechtigt, kennt die Kinder nicht seit deren Geburt, sondern ist erst später in deren Leben eingetreten. Der oft von Stiefkindern zu hörende Satz: "Du bist nicht meine Mutter!", oder: "Du bist nicht mein Vater!" ist in der Sache berechtigt, woraus allerdings nicht gefolgert werden kann, dass aus dem gemeinsamen Leben sich ergebende erzieherische Weisungen nicht erfolgen dürften. Diese feinen Unterschiede müssen von Anfang an den Kindern gegenüber als gemeinsame Ansicht des erwachsenen Paares klargestellt werden, weil sonst der eine Erwachsene gegen den anderen ausgespielt werden kann. 

Insbesondere Stiefmüttern fällt es oft schwer, die nötige emotionale Zurückhaltung aufzubringen. Das traditionelle mütterliche Rollenverständnis verführt sie leicht dazu, das Heft als Mutter und Hausfrau sofort in die Hand zu nehmen, anstatt sich gegenüber den Kindern abwartend und freundlich zu verhalten und ihnen zu überlassen, wie viel Nähe sie wünschen. Zudem steht sie unter dem Druck der sozialen Umgebung, sich möglichst schnell als perfekte, von den Kindern geliebte Mutter zu präsentieren. In weit höherem Maße als der Stiefvater mit dem leiblichen Vater konkurriert die Stiefmutter mit der Mutter der Kinder. Lässt sie sich auf diese Konkurrenz ein, anstatt zu signalisieren, dass sie nur so viel Mütterlichkeit zu zeigen bereit ist, wie die Kinder von sich aus erwarten, sind Beziehungskrisen mit den Kindern wahrscheinlich. Väter neigen zudem eher als Mütter dazu, ihren Partnerinnen die Verantwortung für die Kindererziehung und den Haushalt zu überlassen, sie also in die traditionelle Rolle zu drängen. Andererseits neigen Stiefmütter dazu, übertriebene Zuwendung zu den Kindern als Liebesbeweis für den Vater als ihren Partner zu verstehen. 

Aber auch Stiefväter übertreiben oft ihre Rolle, wenn sie den Kindern gegenüber ein falsches Verständnis von Väterlichkeit präsentieren. Das zeigt sich oft daran, welche Anrede von den Kindern erwartet wird. Die Kinder sollten jedoch selbst entscheiden, wie sie den Stiefelternteil anreden wollen - am häufigsten ist wohl die Anrede mit dem Vornamen. 

Charakteristisch für eine Stieffamilie ist, dass ein leiblicher Elternteil - wenn er nicht verstorben ist - außerhalb lebt, aber zumindest über die Kinder weiter in eigentümlicher Weise mit der Stieffamilie verbunden bleibt. Mit dieser Tatsache ist nicht immer leicht umzugehen, zumal wenn die früheren Partner noch emotional nicht ausgeräumte Probleme miteinander haben. Für die Akzeptanz des Stiefelternteils seitens der Kinder ist jedoch von großer Bedeutung, wie mit diesem abwesenden Elternteil in der Familie umgegangen wird. Gerade der Stiefelternteil sollte mit dafür sorgen, dass über den Abwesenden respektvoll und nicht diskriminierend in Gegenwart der Kinder gesprochen wird. Sonst würden sich die Kinder wohl gekränkt fühlen, zumal sie in diesen Fällen entweder den abwesenden Elternteil verraten oder zu seiner Verteidigung in Opposition zu ihrer Familie treten müssten. Ein entsprechendes Verhalten ist selbstverständlich umgekehrt auch vom abwesenden Elternteil zu erwarten, aber darauf hat die Stieffamilie wenig Einfluss. Gerade der Stiefelternteil sollte unmissverständlich zu erkennen geben, dass er die frühere Rolle des nun abwesenden Elternteils nicht zu übernehmen gedenkt, dass er den Kindern vielmehr den Weg zu ihm nicht verbaut, sondern ihnen überlässt, welche Art von Beziehung mit welcher Intensität sie weiterhin zu ihrem abwesenden Elternteil pflegen wollen. Darauf haben sie schon deshalb ein Recht, weil die Scheidung oder Trennung nicht von ihnen ausgegangen ist. Andererseits muss aber auch klar bleiben, dass davon die Rechte und Pflichten der Kinder im Rahmen ihrer Familie als ihrem sozialen Lebensmittelpunkt nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. 

Eine realistische Einschätzung der besonderen Situation von Stieffamilien und ein daraus resultierender Umgang mit den Kindern in Verbindung mit einem hohen Maß an Verständnis für sie können gewiss unnötige Schwierigkeiten mit dem Stiefelternteil verhindern, sie jedoch keineswegs ganz ausschließen. Deshalb ist als strategischer Gesichtspunkt wichtig, dass das Zentrum einer Familie die Partnerschaft der Erwachsenen sein muss. Die beiden Erwachsenen müssen sich klar darüber sein, was sie miteinander wollen, auch wenn die Kinder nicht bei ihnen leben würden. Für die Kinder ist die Familie lediglich ein Durchgangsstadium, sie werden sie in absehbarer Zeit verlassen; das erwachsene Paar hingegen wird - jedenfalls der Idee nach - weiterhin zusammen bleiben. Werden jedoch die Kinder zum Ausgangspunkt und Mittelpunkt der Partnerschaft erhoben, dann verblassen die Maßstäbe, an denen sich die Partner im Umgang miteinander und in ihrem Verhalten zu den Kindern orientieren können. Den Kindern geht es umso besser, je mehr sich die Partner in ihrer Beziehung wohlfühlen. 

Literatur 


  • Bien, W. u.a. (2002): Stieffamilien in Deutschland. Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt. Wiesbaden.
  • Bliersbach, G.(2000): Halbschwestern, Stiefväter, und wer sonst noch dazu gehört. Leben in einer Patchwork-Familie. Düsseldorf.
  • Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (1993): Beratung von Stieffamilien. Weinheim-München.
  • Giesecke, H.(1997): Wenn Familien wieder heiraten. Neue Beziehungen für Eltern und Kinder. Stuttgart.
  • Krähenbühl, V. u. a. (2000): Meine Kinder, deine Kinder, unsere Familie. Wie Stieffamilien zusammenfinden. Reinbek.

213. Warum "Wirtschaft" in der Geschichte der Politischen Bildung marginal geblieben ist (2001)

In: www.sowi-onlinejournal.de /H.1/2001
 
 

Wer einen Mangel an wirtschaftlichen Kenntnissen bei den Absolventen allgemeinbildender Schulen zu erkennen glaubt, hat sicher Recht. Diese Feststellung wird auch nicht dadurch relativiert, dass es in anderen Wissensbereichen nicht besser aussieht. Die Forderung, deswegen an den Gymnasien ein spezifisches Schulfach einzuführen, ist jedoch nicht nur politisch unrealistisch, sondern verspricht auch nicht unbedingt eine Lösung des Problems, wie das Schicksal des Faches "Politische Bildung" - unter welchem Namen es auch geführt wird - zeigt. Obwohl seit Jahrzehnten dafür fachlich-didaktisch ausgebildet wird, ist es über weite Strecken zu einem "Laberfach" verkommen. 

Wenn es Sinn der Allgemeinbildung ist, zur optimalem Partizipation an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu befähigen, dann gehören wirtschaftliche Grundkenntnisse zweifellos dazu. Der fachliche Ort zum Erwerb solcher Kenntnisse ist in erster Linie die Politische Bildung. Tatsächlich jedoch haben ökonomische Probleme und Themen in der bisherigen politischen Bildung eine eher randständige Bedeutung gehabt. Die Gründe dafür sollen im folgenden durch eine knappe historischen Skizze angedeutet werden. 

1. Dominanz der traditionellen Bildungsidee 

Bis etwa 1960 dominierte den Kanon der Schulfächer, die Ausbildung der Lehrer und deren Bewusstsein eine bildungsbürgerliche Tradition und Vorstellungswelt, in der Politik, Wirtschaft und Technik keinen rechten Ort hatten. Demnach konnte der Bildung des Menschen nur dienen, was in hinreichender Distanz zur Unmittelbarkeit des Lebens stand und deshalb der sittlichen Entfaltung der individuell gedachten, von den konkreten sozialen Kontexten abstrahierten Persönlichkeit zugute kommen konnte. Schon die seit Beginn des 20. Jahrhunderts geführte umfangreiche Diskussion darüber, ob den Naturwissenschaften überhaupt ein Bildungswert zugesprochen werden könne, ist dafür ein deutliches Zeugnis. Das heißt nicht, dass die Probleme von Wirtschaft und Technik ignoriert worden wären, aber man ging davon aus, dass der sittlich Gebildete sein Verhältnis zu diesen Aspekten seines realen Lebens in rechter Weise gestalten könnte, wenn er sich vom Standpunkt seiner erworbenen (allgemeinen) Bildung aus damit beschäftigte. Wirtschaft und Technik galten als Thema einer spezifischen Berufsausbildung, nicht der Allgemeinbildung. Selbst als eine besondere politische Bildung wegen der "sozialen Frage", also der Eingliederung der Arbeiterschaft in den bürgerlichen Staat, auch für Volks- und Berufsschüler unübersehbar zur Debatte stand und in Georg Kerschensteiner 1901 ihren ersten Didaktiker fand, diente als didaktisches Zentrum lediglich die "Arbeit", während das Wirtschaftsleben ausgeklammert blieb; es gehörte nach der damals herrschenden Auffassung der Sphäre der privaten Verträge und ihrer gesetzlichen Rahmenbedingungen an, wurde nicht der lediglich auf das staatliche Handeln bezogenen Politik zugerechnet. Das führte zum Beispiel zu der paradoxen Situation, dass vor dem Ersten Weltkrieg Lehrlinge nicht an Versammlungen politischer Parteien teilnehmen, wohl aber ihre Meister öffentlich angreifen durften, wenn sie sich von diesen ausgebeutet glaubten. 

Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts empfand das Bildungsbürgertum die durch Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft bestimmte Moderne als Bedrohung seines sozialen Status und seiner kulturellen Führerschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die bildungsbürgerliche Vorstellungswelt noch einmal von ihrer Unterdrückung durch den Nationalsozialismus erholen und bis etwa Mitte der fünfziger Jahre wieder tonangebend werden. Das zeigte sich im Widerstand gegen die Phänomene der technisch bedingten und ermöglichten "Massengesellschaft" und vor allem gegen die aufkommende "Freizeit- und Konsumgesellschaft". Deren ökonomische Propagandisten erklärten den möglichst hohen privaten Konsum zu einer Art von wirtschaftlicher Bürgerpflicht, was ökonomische Argumente und Sachverhalte vollends als per se bildungsfeindlich verdächtig machte. In den fünfziger Jahren gab es vor allem in Pädagogenkreisen einen regelrechten Kulturkampf zu den Stichworten "Freizeit" und "Konsum". Die Kernfrage war nicht, wie Wirtschaft funktioniert, sondern wie der Gebildete seine sittliche Innerlichkeit gegen ihre Auswirkungen verteidigen könnte. Wegen dieser Grundeinstellung konnte "Wirtschaft" kaum in den Kanon des Gymnasiums eindringen. Die kulturelle Dominanz des Bildungsbürgertums zerbrach zwar gegen Ende der fünfziger Jahre, aber zumindest die nachfolgende Lehrergeneration war davon noch stark geprägt. 

Für die Volksschule bzw. Hauptschule war schon eher Verständnis dafür aufzubringen, dass deren Absolventen auf den Eintritt in den Beruf nicht zuletzt auch durch grundlegende Wirtschaftskenntnisse vorbereitet werden müssten. Das sollte 1969 durch die Einführung des Faches "Arbeitslehre" geschehen - dessen wechselnde Bezeichnung jedoch schon inhaltliche Unsicherheit verrät und dessen Konturen zwischen Handwerkelei, politischer Kritik und sachlicher Information schwankten. 

2. Dominanz des Politischen 

Eigentlich sollte man annehmen, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und angesichts der ökonomischen Verwüstung, die er auch in Deutschland hinterlassen hatte, gerade wirtschaftliche Probleme in der politischen Bildung jener Zeit besondere Beachtung erfahren hätten. Das war jedoch nur in einem vordergründigen Sinne der Fall, insofern jedem klar war, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau enorme Kräfte beanspruchen werde. Ein Defizit an wirtschaftlicher Bildung in der Bevölkerung schien dabei kein nennenswertes Problem zu sein; gefragt waren eine ordentliche Berufsausbildung und die Verinnerlichung der benötigten Arbeitstugenden - und dafür sollte die mit der erforderlichen Autorität ausgestattete Volksschule sorgen. Überhaupt war die überlieferte Struktur des Bildungswesens und der Kanon der Schulfächer wenig strittig, so dass Versuche der Alliierten, vor allem der Amerikaner, scheiterten, das deutsche Schulsystem etwa in Richtung auf eine Gesamtschule hin zu reformieren. 

Die Entstehung und Entwicklung der politischen Bildung nach 1945 verdankte sich denn auch einem nachdrücklichen politischen Impuls: Sie war eine Reaktion auf die NS-Verbrechen und den verlorenen Krieg. Ihre ersten Anschübe erhielt sie vom Umerziehungskonzept ("re-education") der alliierten Sieger. Sie stand also von vornherein unter einer politischen Zielvorgabe: Mit pädagogischen Mitteln - Lernen und Bildung - sollte das politische Ziel erreicht werden, Denazifizierung, Demilitarisierung und Demokratisierung in den Köpfen und Herzen der Deutschen - vor allem der jungen - zu verankern. Von diesem Ausgangspunkt her erschien sie nicht wenigen Deutschen damals als Teil des Siegerhandelns - im Zusammenhang mit anderen, zweifellos als repressiv gedachten Maßnahmen wie Entnazifizierung, Kriegsverbrecherprozesse und Demontage. Die politische Bildung begann also bei uns unter der Voraussetzung, dass es demokratische Strukturen und Normen noch gar nicht bzw. erst in Anfängen gab, deren Existenz sie eigentlich hätte voraussetzen müssen. Daraus ergab sich die pädagogische Paradoxie, dass die Erwachsenen, die traditionell für die Bildung und Erziehung der Jungen zuständig sind und dabei diesen gegenüber die normativen Prinzipien der Gesellschaft zur Geltung zu bringen haben, selbst erst einmal einer demokratischen Erziehung bedurften: die potentiellen Erzieher waren selbst zu Erziehende; denn schließlich waren sie in das undemokratische und dazu noch hochgradig kriminelle System des Nationalsozialismus irgendwie verwickelt gewesen, das sich in einem hohen Maße auf anti-demokratische deutsche Traditionen stützen konnte. Es ging darum, diese Traditionen aufzuklären, Fundamente für eine demokratische Erneuerung zu legen und vor allem darüber nachzudenken, warum die Nationalsozialisten überhaupt die Macht erringen konnten und wie eine Wiederholung dieses Schreckens zu vermeiden sei. Von daher waren auch die grundlegenden Themen der politischen Bildung bestimmt. 

Eine Folge dieses politischen Ausgangspunktes war, dass die politische Bildung von vornherein in die innenpolitische Diskussion über die Werte und Strukturen der neuen demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung involviert wurde bzw. diese mit veranlasste. In diesem Sinne war sie von Anfang an notwendigerweise parteilich und konnte keineswegs wie in anderen westlichen Demokratien selbstverständlich von einem breiten Konsens ausgehen. In dem Bemühen, ihre pädagogischen Maximen und Praktiken zu finden, geriet sie unausweichlich in die innenpolitischen Debatten, die sich nach dem Krieg etwa über bestimmte Aspekte der Verfassung, über das ihr entsprechende Menschenbild und über die politische Kultur angesichts der unmittelbar zurückliegenden NS-Vergangenheit folgerichtig ergaben. Eine solche Grundsatzfrage war z.B.: Ist unsere demokratische Verfassung lediglich als ein formelles Regelsystem anzusehen, das Mehrheiten und Minderheiten auf der Grundlage von Wahlen zustande bringen soll, um so Regierungen zu legitimieren? Oder müssen mit dem Begriff "Demokratie" inhaltliche Entscheidungen verbunden werden, die dieser Staats- und Gesellschaftsverfassung erst ihren spezifischen Sinn im Unterschied zu den totalitären politischen Systemen des Nationalsozialismus und des Stalinismus geben? Und: Sollen außer dem Staat nur die Parteien und Verbände demokratisch verfasst sein oder auch die Kirchen, Familien, Schulen? Hat Demokratie also auch etwas mit einer bestimmten Kultur des öffentlichen Umgangs zu tun, ist sie so etwas wie eine Lebensform? 

Das etwa waren die beherrschenden Themen, als in einigen Bundesländern das Fach politische Bildung eingeführt wurde - 1946 in Berlin, Schleswig-Holstein und Hessen, 1948 in Württemberg-Hohenzollern, 1950 in Württemberg-Baden, 1953 in Bayern und Rheinland-Pfalz. Die Kultusministerkonferenz beschloss 1950, Politische Bildung an den Schulen einzurichten, überließ den einzelnen Ländern aber, ob dies in einem besonderen Fach erfolgen sollte. 

In Westdeutschland spielten dabei wirtschaftliche Fragen im fachlichen Sinne keine besondere Rolle, auch die Wirtschaft wurde vielmehr unter politischen Gesichtspunkten gesehen, was sich etwa in den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung zeigte. Abgesehen davon gingen die westlichen Alliierten nicht davon aus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem zu den Ursachen der Naziverbrechen zu rechnen sei. In der SBZ wurde jedoch gerade darin der eigentliche Grund für die Machtergreifung der Nationalsozialisten und ihrer kriminellen Politik gesehen. Der Primat des ökonomischen Denkens im Rahmen des Marxismus-Leninismus führte trotz aller ideologischer Einschränkungen in der SBZ bzw. DDR zu einem durch das Schulwesen vermittelten breiten Verständnis ökonomischer Grundbegriffe in der Bevölkerung, wenn dies auch auf das eigene Wirtschaftssystem beschränkt blieb. Seit 1990 ist aber auch diese Tradition versiegt. 

3. Die Moralisierung der Politik und der Wirtschaft 

Wegen der NS-Verbrechen war eine bloß sachlich-nüchterne Fundierung der Politischen Bildung in der Bundesrepublik von Anfang an nicht möglich. Diejenigen Lehrer, die wie beschädigt auch immer die NS-Zeit überstanden hatten und nun nach einem geistigen Neuanfang suchten, flüchteten sich meist in eine bildungsbürgerliche Innerlichkeit - das hatten sie gelernt - und versuchten das moralische Desaster durch mehr oder weniger allgemeine normative Reflexionen darüber zu überwinden, wie man generell den Menschen vorm Bösen bewahren und zum Guten führen könne. Die Lehrer, die den neuen Unterricht erteilen sollten, waren dafür nicht ausgebildet und erledigten diese Aufgabe überwiegend eher unwillig, verunsichert oder im Rahmen der erwähnten traditionellen bildungsbürgerlichen Vorstellungen. 

Hinzu kam, dass nach dem Kriege im wesentlichen dieselben Eliten wieder die Führung in Politik, Wirtschaft und Kultur übernommen hatten, die auch während der Zeit des Nationalsozialismus maßgeblich waren. Alternativen dazu waren nicht vorhanden. Die Emigranten, die den Nationalsozialisten entkommen waren und nun zurückkehrten, waren nicht zahlreich genug und fanden in den etablierten Führungsschichten meist wenig Resonanz. Die alten Eliten hatten sich nun zwar überwiegend moralisch vom Nationalsozialismus distanziert und erkannten wohl auch das neue parlamentarische System zumindest formell an, aber ihre grundlegenden politisch-kulturellen Einstellungen und Haltungen blieben - was biographisch gesehen nicht verwundern kann - oft bewusst oder unbewusst noch jenen konservativen, autoritären, antiwestlichen und antipluralistischen Maximen verhaftet, die die nationalsozialistische Bewegung für ihre Zwecke hatte mobilisieren können. Dieser geistige Zusammenhang war damals kaum bewusst, er prägte aber gerade die Erziehungseinrichtungen nachhaltig und führte später zur massiven Konfrontation mit der studentischen Protestbewegung. Jedenfalls blieb das öffentliche Interesse an einer sachbezogenen Politischen Bildung verständlicherweise in den fünfziger Jahren eher gering, nachdem die westlichen Alliierten sich von dieser Aufgabe zurückgezogen hatten. Es stieg erst wieder, als Ende der 50er Jahre antisemitische Schmierereien das Ansehen der Bundesrepublik und damit auch ihrer Führungseliten im Ausland beschädigten, und als eine massive Propagandakampagne der DDR gegenüber westdeutschen Jugendlichen einsetzte, die z.B. zu preiswerten Ferienlagern eingeladen und dort in ideologische Debatten verwickelt wurden, denen sie nicht gewachsen und auf die sie nicht vorbereitet waren. Ähnlich erging es westdeutschen Studenten und Oberschülern bei entsprechenden Einladungen. Das Gespenst einer unkontrollierbaren kommunistischen Infiltration tauchte auf und sorgte für Aufregung bei der politischen Administration. Nun war der Boden dafür bereitet, die politische Bildung besser als vorher zu fördern, und davon profitierte nun neben der Schule auch die außerschulische Jugendbildung; in deren Einrichtungen wurde politische Bildung fortan verhältnismäßig großzügig vor allem durch den Bundesjugendplan finanziert. 

Auf diesem Hintergrund bekam in den fünfziger Jahren der moralische Impetus, der von den NS-Verbrechen ausging, auf dem Vehikel des "kalten Krieges" unter dem Stichwort des "Totalitarismus" einen neuen Akzent, der sich gegen den östlichen Kommunismus richtete - der auf diese Weise dem Nationalsozialismus moralisch-politisch gleichgestellt wurde. Diese moralische Umdefinition kam verständlicherweise den eben erwähnten alten - und wieder neuen - Eliten entgegen, die zum großen Teil selbst Grund genug hatten, ihre NS-Vergangenheit unter die Lupe zu nehmen, was ihnen weitgehend erspart blieb durch die Blickwendung nach Osten. 

Die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Staaten des Ostens, vor allem natürlich mit der DDR, forderte nun zu Systemvergleichen heraus. Dabei spielten die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme eine herausragende Rolle. Man konnte die DDR nicht ohne ihr Wirtschaftssystem verstehen, und dieses nicht, ohne über das eigene nicht wenigstens grundlegende Kenntnisse zu erwerben. Abgesehen davon jedoch, dass in den fünfziger und den frühen sechziger Jahren vor allem die außerschulische Bildungsarbeit hier Vorreiter war, hat diese Auseinandersetzung allenfalls an den Gymnasien und Realschulen, kaum an den Hauptschulen stattgefunden. Zudem ging es dabei wiederum mehr um politisch-moralische, weniger um im fachlichen Sinne wirtschaftliche Aspekte: Im Mittelpunkt standen vielmehr Leitmotive wie "Freiheit" und "Demokratie", allenfalls sekundär wirtschaftliche Grundbegriffe wie "Markt", "Haushalt" oder "Investition". 

Eine neue politisch-ideologische Qualität erreichte die Moralisierung der Politik durch den "anti-kapitalistischen" Affekt der Achtundsechziger und ihrer diversen Folgeorganisationen. Die Wirtschaft wurde nun zum innenpolitischen Hauptfeind, wirtschaftliche Einzelheiten oder spezifisches Fachwissen waren dabei nicht mehr von Belang, vielmehr genügte eine grundsätzliche ideologiekritische Positionierung. Dieser Zeitgeist hat die Einstellung der gegenwärtigen älteren Lehrergeneration zu wirtschaftlichen Themen und Problemen nachhaltig geprägt. Er hat auch schon die seinerzeitige pädagogische Diskussion um die Einführung der Arbeitslehre mit bestimmt und mit dazu beigetragen, dass dieses Fach sich in der Schulpraxis nur schwer entfalten konnte. 

4. Die Subjektwendung der Schulpädagogik 

Der moralistische Tenor hat nicht nur die öffentliche politische Diskussion in Westdeutschland nachhaltig bestimmt, sondern auch die politische Bildung. Sie hat dieser eine "erzieherische" Attitüde angeheftet, die der Aufklärung, die Bildung eigentlich erstreben soll, von Anfang an immer wieder im Wege stand. Die Schüler sollen demnach z.B. nicht nur etwas erkennen und Einsichten gewinnen, sondern darüber hinaus auch ein erwünschtes Verhalten daraus erwerben, z.B. bestimmte politische Gruppen oder Ziele für moralisch verwerflich halten und andere für gut befinden. Sie sollen nicht nur begreifen, warum die Nazis an die Macht gekommen sind, sondern diese Erkenntnis auch mit dem gebührenden Widerwillen gewinnen, so dass sie zeitlebens einen großen Bogen um Neonazis machen oder wen sie dafür halten (sollen). Einer Aufklärung ohne erzieherische Direktion wird immer noch zutiefst misstraut, weil ihr keine eigenständige pädagogische Wirkung zugestanden wird, so dass nicht wenige Schüler die politische Bildung in den Schulen als ein "Laberfach" erleben. 

Zudem vollzog die Schulpädagogik schon Ende der siebziger und verstärkt in den achtziger Jahren eine subjektive Wende; der Blick richtete sich nun auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, Politik wurde verstanden als Rohmaterial für das Drama der jeweiligen Subjektivität. Hatten die Neomarxisten die politischen Institutionen immerhin noch anerkannt - wenn auch mit dem Ziel, sie abzuschaffen oder umzukrempeln - so wurden diese nun intimisiert, nämlich auf unmittelbare menschliche Beziehungen reduziert. Hatten die Neomarxisten mit dem Klassenbegriff das gesellschaftlich Böse immerhin dingfest zu machen versucht, so verschwand es nun ins ungreifbar Allgemeine. "Irgendwie" liege es immer auch an der Gesellschaft, wenn Kinder und Jugendliche Probleme hätten und machten. 

Der politischen Bildung ist im Verlaufe dieser Entwicklung das Politische als etwas Objektives, in das durch Lernen einzudringen ist, weitgehend abhanden gekommen. Eine Kultivierung des Ich machte sich breit, ins Zentrum der didaktisch-methodischen Reflexion drängte sich die Frage, was ein politisches Thema mit diesem Ich zu tun habe; die gegenwärtig immer wieder meist positiv zitierte Politikverdrossenheit der Jugend, die in der Regel vor allem auf sachlicher Ignoranz beruht, ist eine Konsequenz dieser Tendenz. Die menschlichen Beziehungen, gerade auch zwischen Lehrern und Schülern, wurden wichtiger als die Inhalte; menschliche Nähe wurde zum Kult und Selbstzweck. Die objektiven, nämlich außersubjektiven Strukturen von Gesellschaft und Politik verflüchtigten sich und alles Kognitive wurde entwertet oder zumindest als nachrangig angesehen. In dieser Form ist die politische Bildung durch fast beliebige andere Fächer substituierbar geworden, haben auch spezifische wirtschaftliche Kenntnisse keinen pädagogischen Ort mehr. 

5. Fachliche Qualifikation der Lehrer 

Lehrer können nur unterrichten, was sie selbst verstehen. Die eben beschriebene Verlagerung von der inhaltlichen Kompetenz zur kommunikativen wertet auch deren fachliche Qualifikation ab. Diese war von Anfang an ein zentrales Problem für die politische Bildung. Nach dem Kriege fehlten die von den Nazis weitgehend verdrängten Politik- und Sozialwissenschaften, die der politischen Bildung einen realistischen wissenschaftsorientierten Bezug und damit eine eigentümliche fachliche Professionalität hätten verschaffen können; deren emigrierte Vertreter kamen erst zögernd im Laufe der fünfziger Jahre zurück. Sie vor allem schufen dann die wissenschaftlichen Grundlagen für einen an den politisch-gesellschaftlichen Realitäten orientierten politischen Unterricht in den Schulen, der sich vor allem an den Gymnasien im Laufe der sechziger Jahre langsam durchzusetzen begann. Publizistischer Mittelpunkt der darum kreisenden Debatten war die Zeitschrift "Gesellschaft-Staat-Erziehung", deren grundlegende Beiträge zur politischen Bildung in den Schulen in der Regel ebenso praxisnah wie theoretisch durchdacht waren; es lohnt sich auch heute noch, sie zu studieren. 

Die sachbezogenen Bezugswissenschaften Soziologie und Politikwissenschaft konnten aber das Terrain der politischen Bildung keineswegs kampflos übernehmen, weil im überlieferten deutschen Bildungsdenken ein hinreichendes Verständnis für soziale und politische Strukturen gar nicht vorgesehen war. Mit dem Perspektivenwechsel auf die soziopolitischen Realitäten verband sich also zwangsläufig eine kritische Distanz zum Bildungsverständnis der bisherigen politischen Bildung, wie sich überhaupt die Erziehungswissenschaft hinsichtlich ihres Weltverständnisses wie ihrer anthropologischen Grundannahmen einer grundsätzlichen Kritik durch diese Wissenschaften ausgesetzt sah; ich erinnere nur an ihre einschlägigen Auseinandersetzungen mit Helmut Schelsky. Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft spielten als mögliche Bezugswissenshaften bei der Konstituierung des Schulfaches politische Bildung keine Rolle, weshalb wirtschaftliche Themen jedenfalls in der Lehrerbildung auch nur marginal blieben. 

Die weitere Entwicklung lässt sich vereinfachend auf den Nenner bringen, dass die Erziehungswissenschaft - vor allem in Gestalt der allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktik - sich gegen die beiden Realwissenschaften wieder durchsetzte und zum wichtigsten Legitimator und Transporteur der moralisierenden und subjektorientierten Wende geworden ist. Sie expandierte zudem Anfang der siebziger Jahre - im Gefolge der Bildungsreformbewegung - an den Hochschulen und Universitäten, wovon nicht zuletzt auch die Fachdidaktiken profitierten. Nun gab es an den Universitäten neben der Professur für Politikwissenschaft eine solche für Didaktik der Politik, an den Pädagogischen Hochschulen in der Regel kombiniert und in Personalunion als "Politik und ihre Didaktik" oder in ähnlichen Formulierungen. Insbesondere die Politikwissenschaft übernahm die fachliche und didaktische Ausbildung der Lehrer für das neue Fach. Aber obwohl es inzwischen wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen - und meistens mit anderen Fächern zu einem "Lernbereich" zusammengelegt - an den Schulen fest etabliert ist, wird ein großer Teil des Unterrichts vor allem in den Haupt- und Realschulen immer noch fachfremd erteilt. In diesen Fällen unterrichtet ein Lehrer das, was er auch zu verstehen glaubt, oder er agiert nur noch als Moderator für das, was die Schüler sich selbst ausdenken. Auf einem solchen Hintergrund ergäbe die Forderung nach der Vermittlung wirtschaftlicher Grundkenntnisse keinen Sinn. 

6. Didaktische Überanstrengung 

Die Fachdidaktiken als Vermittler zwischen Wissenschaft und Schule entstanden als eigenständige Disziplinen überhaupt erst in den fünfziger und sechziger Jahren. An den Volksschulen, die erst seit 1964 in Hauptschulen umgewandelt wurden, gab es keine Fächer im heutigen Sinne. Im Unterschied zu den seit langem fest etablierten wissenschaftlichen Disziplinen konnten also die Fachdidaktiker auf keine vergleichbare akademische Tradition zurückblicken. Eine Folge davon war, dass in vielen Fällen die Didaktik, vor allem wenn sie sich gegenüber der Bezugswissenschaft verselbständigte, ihre Profilierung dadurch betrieb, dass sie die Pädagogisierung der Fächer forcierte und somit auch zum bedeutsamen Träger des erwähnten Wechsels von der fachbezogenen zur kommunikativen Kompetenz avancierte. 

Hinzu kam gerade für die Politische Bildung ein weiteres Problem. Die ersten didaktisch-methodischen Entwürfe Anfang der sechziger Jahre, die sich auf die politischen und sozialen Wissenschaften stützten, wurden von Praktikern aus der Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung vorgelegt, also von solchen Personen, die selbst politischen Unterricht erteilten und die Probleme, auf die sie dabei stießen, den anderen Kollegen in gleicher Lage mit dem Ziel präsentierten wollten, von ihnen Rückmeldungen zur Verbesserung ihrer eigenen Praxis zu erhalten. Hatten also zunächst die Didaktiker als Praktiker ihre Texte für andere Praktiker geschrieben, so mussten sie nun als Hochschulangehörige Rücksicht nehmen auf die wissenschaftlichen Erwartungen, die dem neuen Fach entgegen traten. Immer weniger für die pädagogische Praxis und immer mehr für die Akzeptanz an den Hochschulen wurden nun didaktische Konzepte entworfen. Diese Tendenz führte nicht nur zu einer Überproduktion didaktischer Entwürfe und Gegenentwürfe, sondern auch zu immer praxisferneren Konstruktionen. Hochschullehrer präsentieren ja ihr Fach und damit auch sich selbst nicht zuletzt dadurch, dass sie für andere Professoren darüber schreiben. Hinzu kommt die Notwendigkeit für den wissenschaftlichen Nachwuchs, sich durch einschlägige Veröffentlichungen zu profilieren. Wenn nun aber der Gegenstand - Didaktik - dafür nur einen begrenzten Stoff hergibt, muss er eben immer weiter ausgedehnt werden, z.B. in historische, empirische, soziologische, psychologische bzw. psychoanalytische Dimensionen oder sich gar auf modische gesellschaftliche Trends berufen. Anstatt die pädagogische Praxis als Handlungszusammenhang aufzuklären, wurden ihr überdimensionierte Postulate gegenübergestellt. Diese Tendenz ist auch in den gegenwärtig vorgetragenen fachdidaktische Entwürfen und Begründungen für ein Fach "Wirtschaft" zu erkennen, wenn man bedenkt, dass es sich dabei im besten Falle um ein bis zwei Stunden Unterricht pro Woche handeln kann. Diese Texte sind offensichtlich nicht an Lehrer, die das Fach unterrichten sollen, sondern an universitäre Fachkollegen gerichtet, oder sie sollen mit dem Schwergewicht der vorgebrachten Argumentationen der Politik und der Öffentlichkeit imponieren. 

Insofern die Fachdidaktik sich mit der einseitig schülerzentrierten neuen Reformpädagogik in den Schulen verbündet hat, hat sie der politischen Bildung eher geschadet. In den tonangebenden schulpädagogischen Konzepten, die die Schulfächer am liebsten abschaffen wollen, findet weder das Fach Politische Bildung noch eines, das sich besonders auf wirtschaftliche Themen konzentrieren würde, eine nennenswerte Unterstützung. Das Politische verschwindet hier in allgemeinen, von möglichst allen Fächern zu bearbeitenden "Lerndimensionen", "Lernbereichen" und "Schlüsselproblemen". 

7. Fazit: Chancen einer auch ökonomisch fundierten Allgemeinbildung 

Die hier nur kurz skizzierten Aspekte der Entwicklung der politischen Bildung sind einer Vertiefung der ökonomischen Bildung im Rahmen der Allgemeinbildung nicht gerade förderlich. Dass ein eigenständiges Schulfach keine Patentlösung ist, zeigt das Schicksal der politischen Bildung und auch der Arbeitslehre. Vielmehr kommt es darauf an, was dort eigentlich unterrichtet wird. Wenn es Ziel des allgemeinbildenden schulischen Unterrichts ist, die Partizipationschancen der Schüler an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu optimieren, dann gehören wirtschaftliche Grundkenntnisse zweifellos dazu. Nach meinem Eindruck gibt es eigentlich nur zwei pragmatische Möglichkeiten, in dieser Frage zügig voran zu kommen: 

Weil Lehrer nur lehren können, was sie selbst auch wissen, und weil sie im allgemeinen auch lehren, wessen sie sich in der Sache sicher sind, ist eine spezifische Lehrerfortbildung zu diesem Komplex angesagt, die zumindest zunächst einmal auf das ganze fachdidaktische Brimborium verzichtet und möglichst von den einschlägigen Einrichtungen der Wirtschaft selbst nach ihren eigenen Einschätzungen angeboten wird. Es kommt zunächst einmal darauf an, die Lehrer fachlich weiterzubilden, wie sie das im Unterricht ihres jeweiligen Faches umsetzen können, werden sie selbst herausfinden, wenn sie über genügend Unterrichtserfahrungen verfügen. 

Partizipation heißt in diesem Falle, sich am öffentlichen Diskurs über wirtschaftliche Fragen beteiligen zu können. Der findet in den Medien statt. Folglich ließe sich zweitens eine didaktische Struktur des Unterrichts dadurch gewinnen, dass man ermittelt, was man zum Verständnis einschlägiger Texte oder anderer medialer Darstellungsformen wissen und deshalb lernen muss. Das ist nicht wenig, selbst wenn man sich zunächst auf relativ einfach strukturierte Beiträge etwa in der Boulevardpresse beschränken würde. Da solche Beiträge sich auf aktuell bedeutsame Probleme beziehen, die nicht für ein Schulbuch verfasst und nicht von Pädagogen erfunden wurden, dürfte die Arbeit daran auch eine gewisse Motivation auslösen. Aus derartigen Sachanalysen ließen sich gewiss grundlegende Verständnismodelle herausbilden, die - auch für die Schüler einsichtig - relativ abstrakt und systematisch gelernt werden müssen. 

214. Ökonomische Implikationen des pädagogischen Handelns (2001)

In: Dietrich Hoffmann /Kathrin Maack-Rheinländer (Hrsg.): Ökonomisierung der Bildung. Die Pädagogik unter den Zwängen des "Marktes". Weinheim 2001, S. 15-21
 
 

Im allgemeinen werden unter Pädagogen ökonomische Tatsachen und Dimensionen lediglich als Randbedingungen verstanden, die das pädagogische Handeln mehr oder weniger beeinflussen, begrenzen oder auch unterstützen. Höhere Finanzmittel und personelle Ressourcen fördern demnach die pädagogische Arbeit, Streichungen erschweren sie. Oder aber Forderungen an die Pädagogik, sie solle die wirtschaftliche Brauchbarkeit ihrer Absolventen im Blick haben, werden als unberechtigte Einmischung in die Substanz des pädagogischen Handelns abgewehrt. Die gegenwärtige Diskussion ist voll sowohl von entsprechenden Ansinnen wie auch Argumenten der Abwehr. 

Aus dem Blick gerät dabei leicht, dass das pädagogische Handeln selbst ohne ökonomische Implikationen gar nicht denkbar ist. Diese sind nicht bloß hinzugefügt, sondern Bestandteil dessen, was man mit Fug und Recht Pädagogik überhaupt nennen kann. Wenn man diese Implikationen nicht sieht, droht das pädagogische Selbstverständnis illusionär zu werden. Ich will das an einigen Beispielen erläutern. 

Das Generationenverhältnis, auf dem letztlich jedes pädagogische Selbstverständnis beruht, ist im Kern ein ökonomisch fundiertes. Es resultiert bekanntlich aus der biologisch bedingten Tatsache, dass die nachwachsende Generation von sich aus über Jahre hinweg nicht nur physisch nicht überlebensfähig ist, sondern auch ihren Unterhalt nicht erwirtschaften kann. Nicht nur die Entwicklungstatsache konstituiert eine eigentümliche Beziehung der Generationen, sondern auch die daraus resultierende ökonomische Abhängigkeit; in armen Ländern ist dieser Zusammenhang - wie bei uns früher auch - mit Händen zu greifen. 

Deshalb hat das Generationenverhältnis die Form eines Kredits, der zurückgezahlt werden muss. Zum einen haben Kinder zwar Anspruch darauf, dass Erwachsene - in der Regel die Eltern - sich um sie kümmern, sie versorgen, ihnen Ausbildungsmöglichkeiten verschaffen, so dass sie als Herangewachsene eine ihren Fähigkeiten entsprechende und subjektiv befriedigende Position in der Gesellschaft einnehmen können. Aber dieses moralische Recht hat die Form eines Kredits. Indem die zuständigen Erwachsenen eine immense Arbeit sowie die damit verbundenen Verzichte in das Aufwachsen ihrer Kinder investieren, zahlen sie gleichsam einen Kredit zurück, der ihnen in ihrer Kindheit durch diejenigen Erwachsenen gewährt wurde, die damals für sie gesorgt haben. Der jeweils heranwachsenden Generation steht dieser Kredit jedoch nur so lange und nur insoweit zu, wie dies für den Abschluss einer Berufsausbildung bzw. überhaupt für die Führung eines selbständigen Lebens erforderlich ist. Die Eltern haben z.B. einen Anspruch darauf, dass ihre 

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Kinder zu einem angemessenen Zeitpunkt aus ihrer finanziellen Bilanz wieder verschwinden. Aus dem Generationenvertrag und seinen ökonomischen Implikationen erwachsen also für die Kinder auch Pflichten. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten so gut wie möglich entwickeln, um einerseits die Fürsorge durch ihre Eltern überflüssig zu machen und andererseits den als Kind erhaltenen Kredit wiederum an die nächste Generation weitergeben zu können - und sei es nur in Form von Steuerzahlungen. Wer also in der Schule wie in der Berufsausbildung seine Fähigkeiten nicht optimal zu entwickeln versucht, handelt gegen die Regeln des Generationenvertrags, dem er andererseits sein meist recht gutes Leben verdankt, und dagegen kann man nicht mit inneren Gestimmtheiten oder mit pädagogischen Klauseln argumentieren. Ob also Kinder in der Schule lernwillig sind oder nicht, steht ihnen grundsätzlich nicht frei, wenn man ihnen nicht gestatten will, auf anderer Leute Kosten auf Dauer dahinzuleben. Die pädagogischen Wunschbilder - nicht zuletzt auch schulpädagogischer Art - die diese fundamentale Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen, beruhen also auf ökonomischer Ignoranz. 

Dem widerspricht auch nicht der Hinweis auf Kants oft zitierte These, dass Eltern die Kinder nicht gefragt haben, ob sie denn überhaupt gezeugt werden wollten, und dass aus diesem Eingriff in deren Freiheit eine besondere Verpflichtung zur Erziehung erwachse; denn diese - im Prinzip akzeptierbare - Begründung schließt ein, als so Erzogener wiederum für die alt gewordenen Eltern zu sorgen - was bis in die Neuzeit hinein die einzig realistische Form der Altersversorgung war und in vielen Ländern immer noch ist. - Ein weiteres Beispiel ist die Schule. Auch sie ist Bestandteil des Generationenvertrages, aber auch sie beruht auf dem Grundsatz einer wechselseitigen Ökonomie. Sie ist nämlich primär keine Veranstaltung zum Wohle des Kindes - dafür kann im Prinzip auch ohne Schule gesorgt werden - , sondern des Staates bzw. der Gesellschaft, und dies nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht, nämlich zur Sicherung der wirtschaftlichen Produktion und Reproduktion aller Mitglieder der Gesellschaft. Wenn dabei in der Moderne der Persönlichkeit und der Individualität des Kindes nachdrücklich Rechnung getragen wird, dann nicht aus romantischer Sentimentalität, sondern weil moderne Gesellschaften eines hohen Maßes an Individualisierung möglichst aller Menschen bedürfen. Was Pädagogen gelegentlich für ihren großen humanitären historischen Sieg halten, war im Kern ökonomische Notwendigkeit. Damit soll die mobilisierende Bedeutung der modernen Individualitäts- und Freiheitsideen nicht geleugnet werden, aber ohne eine entsprechende ökonomische Basis hätten sie sich nicht durchsetzen können. 

Und schließlich ein Beispiel aus der Bildungspolitik. In den 60er und 70er Jahren war man euphorisch der Meinung, eine höchstmögliche Bildung für möglichst alle zahle sich auch volkswirtschaftlich aus, schaffe Innovationen und Arbeitsplätze. Die damit verbundenen Reformpläne von der Universität bis zum Kindergarten und zur Jugendhilfe erwiesen sich jedoch schon Anfang der 70er Jahre als nicht finanzierbar - oder genauer gesagt: der Wille zur expansiven Finanzierung - der ja immer Verzicht auf andere Vorhaben einschließt - erlahmte. Inzwischen war aber dem Bildungswesen gegenüber eine sozialpolitisch motivierte Anspruchshaltung 

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entstanden, die die Balance von Leistung und Gegenleistung - eine zentrale ökonomische Denkfigur - zerstört hat: Der Andrang auf die höheren Bildungseinrichtungen - Gymnasium wie Universität - wurde verbunden mit der Einstellung, dies alles stünde einem zu, sei als ein Recht ohne entsprechende Gegenleistung zu verstehen. Selbst der offenkundig lernunwillige Schüler oder auch Student habe das Recht, optimal gefördert zu werden: Wer nicht begabt sei, müsse eben begabt werden - nicht etwa zumindest auch sich selbst zu begaben versuchen. Ökonomisch gesehen ist unser Bildungswesen deshalb in einen Trend der Verschwendung geraten, wenn man etwa an die Ergebnisse der TIMSS-Studien denkt. Die höheren Bildungsstufen Universitäten und Gymnasien sind teilweise besetzt mit Schülern bzw. Studenten, die im Grunde dort nicht hingehören, bzw. nur dann dort einen Platz beanspruchen dürften, wenn sie das Ihre zu einer effektiven Nutzung dieser Einrichtungen beitragen würden - im Sinne der Rückzahlung des erwähnten Kredits. 

Inzwischen hat sich wieder herausgestellt, dass Bildung auch bei uns ein teures und deshalb knappes Gut bleibt. Volkswirtschaftlich gesehen gibt es in einer Zeit hoher struktureller Arbeitslosigkeit und einer Zweidrittelgesellschaft kein ökonomisches Interesse mehr daran, möglichst alle möglichst hoch zu qualifizieren, sondern nur noch daran, die wirklich Begabten optimal zu fördern, denn diese, und nicht die anderen, sichern die ökonomische Zukunft der Gesellschaft. Diese unangenehme Einsicht wird unter Hinweis auf andere vergleichbare Länder mit ihren hohen Absolventenquoten und mit der Sportmetapher vom Zusammenhang zwischen Breitensport und Leistungssport immer wieder abgewehrt. Gerade die Pädagogik sollte sich jedoch in diesem Punkte keine Illusionen machen; denn der eigentliche politische Durchbruch für die Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre resultierte aus der erwähnten ökonomischen Hoffnung. Wer nun auch künftig an Chancengerechtigkeit im Bildungswesen festhalten will, braucht dafür andere Begründungen als ökonomische. Aber welche? Am naheliegendsten ist noch die demokratisch-politische Begründung der Chancengerechtigkeit, aber die ist manipulierbar, weil sich ihre Wirkung kaum beweisen lässt. Hat die Bildungsreform der letzten Jahrzehnte wirklich für mehr Chancengerechtigkeit gesorgt oder nicht eher - wie auch früher schon - die ohnehin Privilegierten weiterhin bevorzugt? Auch vollmundige Reformpädagogik kann ein solches Ergebnis haben. Die pädagogische Begründung der höchstmöglichen Bildung für alle - ökonomisch gesehen eine Art Luxus, den wir uns leisten könnten - interessiert in der Öffentlichkeit ohnehin kaum noch jemanden. Wie immer auch solche Begründungen lauten könnten: Wie sollen sich diese auf Dauer gegen die ökonomischen Prioritäten behaupten, wenn das Prinzip des zurückzuzahlenden Kredits hier nicht mehr greift? 

Eine Schulpädagogik jedoch, die immer noch Schule als eine Zumutung des Staates an das Kind denunziert, verkennt diesen Zusammenhang gründlich. Wenn nämlich das Kind die knappen Ressourcen der Bildung für sich nicht nutzt, schadet es ökonomisch gesehen in erster Linie sich selbst, nicht dem Staat und der Gesellschaft, solange deren ökonomische Reproduktion gewährleistet bleibt. Für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen wäre es nützlich, solche ökonomischen Ge- 

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sichtspunkte wieder ins Feld zu führen und deutlich zu machen, dass Ökonomie die Verwaltung eines Mangels ist und dass deshalb die Inanspruchnahme einer gesellschaftlichen Ressource wie der Bildung einer Gegenleistung bedarf. 

II 

Nun bedeutet die Anerkennung der Tatsache, dass das pädagogische Handeln und die pädagogischen Institutionen ohne Rücksicht auf die Ökonomie der Gesellschaft gar nicht zu denken sind, keineswegs, dass die Pädagogik von daher determiniert, im wesentlichen ein ausführendes Organ wirtschaftlicher Interessen sei oder zu sein habe. Dagegen spricht schon die Entwicklung von Erziehung und Bildung in der Moderne. Sie beruht ja gerade bewusst auf der Freisetzung des Kindes- und Jugendalters von unmittelbaren ökonomischen Zwängen, was die Ausdifferenzierung eines hochkomplexen Bildungs- und Erziehungssystems überhaupt erst möglich machte. Kinder und Jugendliche - heißt das - konnten dem Markt für eine Reihe von Jahren entzogen werden. Einerseits war dies nur möglich auf dem Hintergrund entsprechend gestiegener volkswirtschaftlicher Ressourcen; die ökonomischen Implikationen und Zwecke wurden nur auf eine höhere, nämlich effektivere Ebene transponiert. 

Auf der anderen Seite war dieser Prozess jedoch auch die ökonomische Voraussetzung für die Emanzipation der professionellen Pädagogik von unmittelbaren ökonomischen Abhängigkeiten; sie musste immer weniger gleichsam "von der Hand in den Mund leben". Die Gesellschaft konnte sich zunehmend den "Luxus" relativ autonomer pädagogischer Einrichtungen und darauf bezogener Konzepte und Theorien leisten. Und erst in diesem Prozess entfalten sich auch die "einheimischen" pädagogischen Konzepte und Begriffe. Die Pädagogik erhält nun einen relativ unabhängigen eigenen professionellen Kern, von dem aus sie Erwartungen der gesellschaftlichen Interessenten - auch der Wirtschaft - überprüfen und sortieren kann. 

Um diesen Kern zu finden, ist eine wichtige Unterscheidung notwendig. Die bisher erwähnten ökonomischen Implikationen des pädagogischen Handelns waren auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge bezogen, die gegenwärtige Diskussion zwischen Pädagogik und Wirtschaft ist aber primär betriebswirtschaftlich bestimmt. Das ist ein erheblicher Unterschied. Dafür einige Beispiele: 

Das gegenwärtig viel verwendete Schlagwort "Modernisierung" legt die Vorstellung nahe, dass alles, was bisher gegolten hat, überholt, neuen Anforderungen nicht gewachsen sei. Modernisierung erscheint als ein Prozess, der ohnehin abläuft und in den man sich bloß einklinken muss. Auch die Schulen und sogar Hochschulen sind von dieser Debatte erfasst worden: Ihre Lehre müsse praxisnäher werden, sie müsse im Hinblick auf ihre Effizienz regelmäßig evaluiert werden; die Bildungseinrichtungen müssten zu lernenden Organisationen werden, sie brauchten wie ein florierender Industriebetrieb ein gut funktionierendes Management, die Professoren müssten nach Leistung bezahlt und ihres Beamtenstatus entkleidet werden usw. Das einzig Moderne in diesem Zusammenhang scheinen die Studenten zu sein, die von faulen oder rück- 

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ständigen Professoren an der Entfaltung ihrer wirklichen Fähigkeiten gehindert werden. Dies anders zu sehen, wäre politisch nicht opportun, weil die Studenten ja zur "neuen Mitte" gehören, von der man schließlich gewählt werden will. 

Charakteristisch für solche Argumentationstrends ist zweierlei: Geschichtslosigkeit und Expansion betriebswirtschaftlicher Verstehensmuster 

Die Geschichtslosigkeit ist darin zu sehen, dass nicht real existierende Verhältnisse und Strukturen in ihrem Entstehungszusammenhang analysiert und hinsichtlich ihrer künftigen Tragfähigkeit überprüft werden, so dass man überzeugende Argumente erhielte, was warum und wie zu verbessern sei. Vielmehr wird die nicht aufgeklärte Wirklichkeit lediglich konfrontiert mit Postulaten, die irgendwie und ohne weitere Begründung für "modern" gehalten werden (ein Verfahren, das sich übrigens auch im Rahmen von inneren Schulreformen beobachten lässt). Diese geschichtslose Argumentationsfigur hat zur Folge, dass der Modernisierungszauber daherkommen kann mit der Aura des historisch Unausweichlichen, zu dem es ernsthaft keine Alternative geben könne. Hier kommt eine typisch betriebswirtschaftliche Sichtweise zum Tragen. Sie vermag mit Kategorien wie Erinnerung und Tradition wenig anzufangen. Ihre Maßstäbe sind Veränderung, Innovation und Flexibilität. Von daher kommt auch der permanente Hinweis, dass Wissen schnell veralte, während doch nur seine betriebswirtschaftliche Verwertbarkeit veraltet - was ja nicht dasselbe ist. Die Informatiker, die die Wirtschaft heute braucht, hat sie in betriebswirtschaftlicher Blindheit Mitte der neunziger Jahre selbst gefeuert, was marktgerecht Studierende dann vom Studium dieses Faches über Jahre abgehalten hat. 

Mit der Geschichtslosigkeit in Verbindung steht die Vorstellung, dass allein ökonomische Maßstäbe und Organisationsformen als fortschrittlich zu gelten hätten und deshalb auf alle gesellschaftlichen Institutionen zu übertragen wären. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion über die Hochschulreform. Es mag ja sein, dass moderne Managementmethoden diesen Einrichtungen gut täten. Aber um das herauszufinden, wäre es doch wohl zweckmäßig zu analysieren, warum die vor fast 35 Jahren mit soviel Enthusiasmus ins Werk gesetzte Organisation der Hochschule nach den Regeln eines ständepolitischen Parlamentes jämmerlich Schiffbruch erlitten hat. Das wird jedoch so gut wie gar nicht reflektiert, vielmehr soll jetzt das Heil durch einen ebenso wenig aufgeklärten neuen Transfer - diesmal aus betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen - gefunden werden. Der Gedanke, dass auch diese Übertragung unter hohen menschlichen und materiellen Verlusten scheitern könnte, weil man erneut den Eigen-Sinn dieser Institution nicht zur Kenntnis nimmt, kommt gar nicht erst auf. 

Wir tun also gut daran, die ökonomischen Implikationen der Pädagogik zwar zu akzeptieren, aber auch einzusehen, dass "Ökonomie" mehr und anderes ist, als "die Wirtschaft" uns in den Medien vorträgt. Dann eröffnet sich ein Argumentations- und Deutungsspielraum der Pädagogik, den ich hier nur noch kurz andeuten kann. 

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III 

Die Pädagogik hat in dem erwähnten historischen Prozess ihrer relativen Autonomisierung drei Säulen ihrer Professionalität entwickeln können, die sie in eine notwendige Distanz zu gesellschaftlichen Anforderungen - auch und gerade zu wirtschaftlichen - treten lässt. "Notwendig" soll heißen: Ohne diese Distanz könnte sie ihre Aufgabe nicht erfüllen, den Nachwuchs per Erziehung in die Gesellschaft zu integrieren und dabei auch wirtschaftlich brauchbar zu machen. Ich meine die Kategorie der Bildung als sinnstiftendes Leitmotiv des Lehrens und Unterrichtens, das didaktisch-methodische Handwerk und die eigentümliche professionelle pädagogische Beziehung. 

1. Mit der Kategorie der Bildung ist ein Leitmotiv gegeben, das den individuellen menschlichen Entwicklungsprozess an die Auseinandersetzung mit der objektiven Kultur bindet. Dieses Arrangement ist mit betriebswirtschaftlichen Kategorien schon deshalb nicht zu beschreiben, weil unmittelbare Nützlichkeit ihm von vornherein fremd ist. Aber paradoxerweise ist gerade das Unnütze der Bildung ein unverzichtbares Fundament für daran anknüpfende vielfältige - auch wirtschaftliche - Brauchbarkeit. Der Kanon der Bildung, wenn er denn vernünftig gefasst wird, enthält gerade diejenigen Wissensstoffe, die nicht schnell veralten, gleichwohl aber der benötigten wirtschaftlichen Flexibilität zugute kommen können, geradezu deren Voraussetzung sind. Damit ist gesagt, dass auch die Bildungsidee sich nicht von ihren ökonomischen Implikationen gänzlich lossagen kann; bestünde ihr Ergebnis in Scharen nutzloser Bücherwürmer, würde sie vermutlich niemand finanzieren. Aber die Prozesse der je subjektiven Aneignung z.B. haben eine eigene Logik, sie folgen nicht den Regeln des Marktes oder der betriebswirtschaftlichen Effizienz. Der Mensch lernt nicht auf dieselbe Weise, wie er produziert oder überhaupt einen Arbeitsplatz ausfüllt. Die bloße betriebswirtschaftliche Perspektive weiß nicht, welche Qualifikationen die Arbeitswelt wirklich braucht und wie sie gelernt werden können. Das jämmerliche Schicksal der sogenannten "Schlüsselqualifikationen" hat das nur erneut bewiesen. Die Wirtschaft fordert ein eigenes Schulfach, weiß von sich aus aber nicht, was da eigentlich in welcher Reihenfolge warum gelehrt und gelernt werden soll. Sie zeigt überhaupt nicht selten bei ihren Forderungen pädagogische Unkenntnis, wenn sie z.B. nicht bemerkt, dass manche reformpädagogischen Schulkonzepte sich lediglich per Jargon in den betriebswirtschaftlichen Sprachgebrauch einschmeicheln, tatsächlich jedoch die der Wirtschaft nützlichen Bildungsanforderungen unterminieren. 

2. Mit der Bildungskompetenz zusammen hängt die didaktisch-methodische. Auch sie ist ein Kernstück pädagogischer Professionalität. Allerdings braucht die Wirtschaft sie auch - vermutlich aber eher beim Verkaufen als bei der Instruktion für die Nutzung der Produkte, wenn man jedenfalls an die Unverständlichkeit vieler Gebrauchsanweisungen denkt. 

Das didaktisch-methodische Handwerk hat ebenfalls eine ökonomische Implikation, die nicht übersehen werden darf. Der Schulunterricht z.B. ist nicht zuletzt dadurch charakterisiert, 

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dass er zumindest auch den Regeln der Effizienz gehorchen muss: nämlich im Rahmen einer vorgegebenen Zeit ein bestimmtes Pensum zu erreichen; das unterscheidet ihn von außerunterrichtlichten Lernprozessen, die etwa das Leben selbst mannigfach anbietet. Das Arrangement erfolgreicher Lernprozesse ist das eigentliche pädagogische Handwerk, und das unterscheidet sich grundlegend etwa von der Organisation von Produktionsprozessen. Lernen hat eine andere Logik als Produzieren, darüber können wir auch nachträglich noch viel von den Erfahrungen der DDR mit der Polytechnik lernen. 

3. Schließlich ist der für das Arrangement von Lernprozessen nötige personale Beziehungsrahmen zu nennen: der "pädagogische Bezug". Nur in seinem spezifischen personalen Kontext können geplante Lehr- und Lernprozesse als intendierte Bildungsprozesse ablaufen, weil sie der dialogischen Form der Wechselseitigkeit bedürfen. Auch der pädagogische Bezug hat eine ökonomische Grundlage, weil er erfolgreich nur im wechselseitigen Geben und Nehmen sein kann; auch der Schüler muss darin etwas investieren. Wird das vergessen, bricht diese eigentümliche Kommunikation in sich zusammen. Gleichwohl gilt für diese Art der menschlichen Beziehung ein eigentümliches professionelles Ethos, das von anderer Art ist, als eine noch so modern verstandene Management-Beziehung im Betrieb. 

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Das Verhältnis von Ökonomie und Pädagogik ist offensichtlich sehr komplex. Einerseits spielen ökonomische Implikationen in allen professionellen Dimensionen des pädagogischen Handelns eine Rolle. Andererseits muss das pädagogische Handwerk bei Strafe seines Erfolges auch nach anderen als ökonomischen Kriterien geordnet sein. Welche das sind, woher sie eigentlich stammen, wie sie zu begründen sind und unter welchen Voraussetzungen sie auf Akzeptanz hoffen können - das sind Fragen, die einer genaueren Überlegung bedürfen. 

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215. Jugendarbeit als Kulturpädagogik (2001)

In: Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung (Hrsg.): Kultur Jugend Bildung. Kulturpädagogische Schlüsseltexte 1970 – 2000. Remscheid 2001, S.193-200

(Nachdruck, identisch mit: Gesammelte Schriften Bd. 19, Nr. 148) 



216. Rezension zu: Ewald Terhart: Lehrerberuf und Lehrerbildung (2001)

In: Die Deutsche Schule, H. 1/2001, S. 118-119

Ewald Terhart: Lehrerberuf und Lehrerbildung
Forschungsbefunde, Problemanalysen, Reformkonzepte. Weinheim/Basel: Beltz, 2001, 246 S., € 34,-

Der Autor, Professor für Schulpädagogik an der Universität Bochum, war Vorsitzender der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission, die über die Neuordnung der Lehrerbildung nachdenken sollte; ihren Abschlussbericht hat er im Namen dieser Kommission inzwischen unter dem Titel "Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland" veröffentlicht (Weinheim: Beltz, 2000).

Für das Thema seines neuen Buches "Lehrerberuf und Lehrerbildung" ist Terhart also bestens ausgewiesen. Hier präsentiert er 11 zwischen 1990 und 2001 bereits gedruckte Beiträge, die er in zwei Kapiteln ("Lehrerberuf"; "Lehrerbildung") ordnet. Eine solche nachträgliche und nicht weiter redigierte, lediglich um ein Vorwort ergänzte Zusammenstellung ermüdet oft wegen zahlreicher Wiederholungen - davon kann in diesem Fall jedoch keine Rede sein.

Terhart weist im 1. Kapitel einerseits auf neue Aufgaben für die Lehrer hin, die durch gesellschaftliche Veränderungen und nicht zuletzt auch im Verhalten und in den Einstellungen von Kindern und Jugendlichen begründet sind, plädiert andererseits aber auch für Augenmaß und für ein Grenzenbewusstsein des beruflichen Selbstverständnisses. "Die Schule und die Lehrerschaft sind keineswegs dazu in der Lage, gesellschaftlich erzeugte Problemlagen abzuarbeiten; eine systematische Überforderung und damit auch eine Gefährdung der Zentralfunktion kann die Folge sein. Pädagogisierung sozialer Probleme bedeutet immer auch deren
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Entpolitisierung" ... (S. 182 f.). Eher skeptisch im Vergleich zur allgemeinen Euphorie beurteilt Terhart auch die Tendenz zur "Schulautonomie". "Erweiterte Selbständigkeit ist bei den guten Lehrern gar nicht nötig. Bei den schlechten Lehrern wiederum bringt sie nichts, da diese nichts damit anzufangen wissen bzw. bei falsch verstandener Autonomie ihre schlechte Arbeitsqualität noch besser als bisher verbergen können" (S. 158). Zudem vermindere die nun angestrebte größere Autonomie des Kollegiums vermutlich die bisherige individuelle des einzelnen Lehrers - abgesehen davon, dass die Lerninteressen der Schüler in dieser ganzen Debatte bisher nur am Rande vorkämen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sei jedoch die Kooperation im Kollegium, die allerdings nicht verordnet werden könne und nicht mit zu hohen Erwartungen begonnen werden sollte. Vielmehr sollte sich "die Einübung von Kooperation zunächst auf ganz elementare, arbeitsbezogene wechselseitige Hilfestellungen konzentrieren".

Ähnlich pragmatisch argumentieren die Beiträge des 2. Kapitels zum Stichwort ,Lehrerbildung", die ebenfalls ein erhebliches Forschungsmaterial verarbeiten. Von "revolutionären" Konzepten zu deren Neuorganisation hält der Autor wenig. Stattdessen plädiert er für eine Verbesserung der vorhandenen Strukturen und gegen idealisierende Hoffnungen auf eine deutlich zu verbessernde berufsbezogene Wirkung des Hochschulstudiums, von dem man nicht erwarten dürfe, was es unter den Bedingungen der Massenuniversität nicht leisten könne. Zudem sei die Rolle der Erziehungswissenschaft in diesem Zusammenhang problematisch geworden, Sie folge immer mehr ihren eigenen wissenschaftlich-systematischen Regeln und vergrößere so ihre Distanz zu den praktischen Bedürfnissen des pädagogischen Handelns. Auf diese Weise verliere sie ihre Funktion als Betreuungswissenschaft für die pädagogischen Berufe. Werde die Kluft zwischen den "zwei Kulturen" von Theorie und Praxis nicht durch eine "klinische" Komponente gemildert, wären die Folgen für beide gravierend. Trotzdem gebe es keine vernünftige Alternative zur universitären Ausbildung in der ersten Phase. Aber diese und die zweite Phase müssten besser miteinander verknüpft, die zweite unter professionelle Qualitätsansprüche gestellt, vor allem aber müssten die ersten Berufsjahre unter dem Aspekt der professionellen Profilierung als eine dritte Phase der Ausbildung neu gesehen und gestaltet werden -wofür sich schon die erwähnte KMK-Kommission eingesetzt hatte.

Die Texte sind durchweg gut lesbar, klar gegliedert, verraten präzise Argumentation und vermeiden die übliche Begriffsscholastik. Da Terhart fast immer auch wesentliche andere Positionen vorträgt bevor er seine eigene entwickelt, ist ein sachkundiges, nicht zuletzt auch empirisch fundiertes Buch entstanden, dem man nur weite Verbreitung - gerade auch unter Lehrern - wünschen kann, Leider dürfte dem der mir unverständlich hohe Preis nicht gerade förderlich sein.
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