Hermann
Giesecke Gesammelte
Schriften Band
26:
2000 - 2001
© Hermann
Giesecke Inhaltsverzeichnis aller
Bände Inhaltsverzeichnis
205. Sitzenbleiben
abschaffen? (2000) 206. Zwischen Nähe und
Distanz.
"Soziales Lernen" in Familie und Schule (2000)
207.
Muster im
Flickenteppich. Gerhard
Bliersbach reflektiert den Alltag in einer "Patchworkfamilie" (2001) 208.Was bleibt von der
Politischen
Bildung? (2001) 209. Hauptsache happy.
Martha und
William Pieper erziehen "mit Herz und Verstand" – aber scheuen dabei
vor
Konflikten zurück (2001) 210. Am
Ende pädagogischer Illusionen? Erwägungen für ein
Bildungskonzept
der Zukunft (2001)
211. Wie
führe ich
einen neuen
Partner in meine Familie ein? (2001) 212. "Meine
Stiefkinder
lehnen mich
ab!" (2001) 213. Warum "Wirtschaft" in
der Geschichte
der Politischen Bildung marginal geblieben ist (2001)
214. Ökonomische
Implikationen
des pädagogischen Handelns (2001) 215.
Jugendarbeit als
Kulturpädagogik
(2001) 216. Rezension
zu: Ewald Terhart: Lehrerberuf und Lehrerbildung (2001)
Zu
dieser Edition Dieser 26. Band
meiner gesammelten Schriften enthält
Arbeiten aus
den Jahren 2000-2001. In dieser Zeit war ich
bereits
emeritiert.
Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen,
Weinheim:
Juventa Verlag
2000. Die Edition der Schriften in
diesem Band bemüht sich um
Vollständigkeit.
Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte. Allerdings wurden
Texte,
die nach Vorträgen mehrmals an unterschiedlichen Orten - z.B. in
Verbandszeitschriften
- wiedergegeben wurden, nur einmal berücksichtigt.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden
sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler
wurden
korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht
verändert.
Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder
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ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die
Zitierfähigkeit
der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen
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Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden
Arbeiten
befinden sich in den früheren Bänden. © Hermann Giesecke
205.Sitzenbleiben
abschaffen? (2000) In:
Pädagogik, H.
3/2000, S. 51 Bei
der Diskussion über das Sitzenbleiben
muß
eine politisch-gesellschaftliche bzw. administrative Ebene und eine
pädagogische
Ebene unterschieden werden. Unter dem ersten Aspekt kann das Sitzenbleiben
grundsätzlich
nicht abgeschafft werden. Mit der Drohung bzw. Durchsetzung des
Sitzenbleibens
macht die Gesellschaft ihren Anspruch geltend, ihr - sehr teures -
Bildungsangebot
zwar grundsätzlich allen Kindern, aber nicht zum geistigen
Nulltarif
anzubieten. Insofern handelt es sich hier um ein Instrument der
Leistungskontrolle
im Rahmen der Beurteilung der Schülerleistung durch Noten und
Zeugnisse.
Wer das Sitzenbleiben grundsätzlich ablehnt, macht sich diesen
politisch-gesellschaftlichen
Zusammenhang nicht klar. Dieser hat insofern sogar eine neue Bedeutung
gewonnen, als die Schule heute im Unterschied zu früheren Zeiten
nicht
mehr in erster Linie der Loyalitätssicherung und der ideologischen
Formierung des Nachwuchses "im Interesse der herrschenden Klassen"
dient,
sondern zu einer Bildungsdienstleistung geworden ist, die primär
dem
Individuum gesellschaftliche Partizipationschancen eröffnet.
Dafür
muß eine entsprechende Gegenleistung erwartet werden. Zudem sind
mit Schulabschlüssen bestimmte Berechtigungen - z.B. zum
Hochschulstudium
- verbunden, die an die Stelle früherer ständischer
Geburtsrechte
getreten sind. Solche Berechtigungen ohne entsprechende Gegenleistung
zu
verteilen, wäre ungerecht und unter demokratischen Vorzeichen
politisch
nicht vertretbar. Die weit verbreitete Kritik am Sitzenbleiben ist im
Grunde
nur die Konsequenz der Forderung, Schulnoten und Zeugnisse
überhaupt
abzuschaffen. Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen ist
ferner zu
zählen, daß unser allgemeinbildendes Schulwesen nach
Jahrgangsklassen
geordnet ist, in denen Lehrgänge mit zunehmendem Leistungsanspruch
aufeinander folgen, die noch einmal nach Schulformen differenziert
werden.
Würde das Sitzenbleiben grundsätzlich abgeschafft,
würden
über Jahre hinweg die Leistungsprofile in den Schulklassen derart
auseinander driften, daß eine gemeinsame Arbeit kaum noch
möglich
wäre. Das
kann - pädagogisch gesehen - auch
nicht im Interesse
der Schüler liegen, weil niemand mehr seinen Fähigkeiten
entsprechend
gefordert und gefördert werden könnte. Das ist vielmehr nur
möglich,
wenn der einzelne Schüler sich in einer Lerngruppe bewegen kann,
die
ihm einen chancengleichen Zugang zu den geforderten Lernaufgaben
gewährt;
er muß bei wenigstens mittlerem guten Willen die erwarteten
Leistungen
auch erbringen können, sonst wird er zum Außenseiter - mit
allen
bekannten kompensatorischen Folgen. Ohne Zensuren mit der
möglichen
Konsequenz des Sitzenbleibens bekäme der Schüler keine
Rückmeldungen
über seinen Leistungsstand. Er würde Jahr für Jahr in
eine
höhere Klassenstufe aufsteigen, ohne dafür entsprechende
Leistungen
erbracht zu haben. Die meisten Schüler, die ungerechtfertigt
versetzt
werden, müssen später doch eine Klasse wiederholen, aber dann
ist viel Zeit nutzlos verstrichen. Auch Pädagogisch gesehen kann es also
nicht um die
Abschaffung des Sitzenbleibens gehen, sondern nur darum, wie es
vernünftigerweise
verhindert oder eine alternative Lösung rechtzeitig gefunden
werden
kann. Sitzenbleiben ist ja nur die letzte Konsequenz einer zu geringen
Lernleistung. Sie entsteht nicht plötzlich, sondern deutet sich
über
einen längeren Zeitraum an - durch schlechte Noten in einzelnen
Fächern
oder insgesamt. Nötig ist vorher zunächst einmal eine
Diagnose
der Ursachen: Ist der betreffende Schüler lediglich lernunwillig
("faul"),
oder befindet er sich an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit, so
daß ihm (bzw. seinen Eltern) letztlich nur der Übergang in
eine
andere Schulform zu raten wäre? Die letztere Entscheidung sollte
möglichst
rechtzeitig getroffen werden, bevor ein Sitzenbleiben erfolgt. Eine
Schwierigkeit
besteht jedoch darin, daß die eine Diagnose von der anderen nicht
immer klar zu trennen ist. Deshalb ist es in der Regel
zweckmäßig,
zunächst eine optimale zusätzliche Förderung zu
versuchen,
die aber durch einen entsprechenden Willen des Schülers
unterstützt
werden muß, sonst kann sie keinen Erfolg haben. Da der Zugang zu
höheren Bildungsstufen heute weitgehend offen geworden ist,
muß
der Schüler auch ausprobieren können, ob eine bestimmte
Schulform
seinen Leistungsmöglichkeiten, aber auch seinen Erwartungen
entspricht
- was man vorher nicht hinreichend wissen kann. Die Drohung des
Sitzenbleibens
zwingt ihn bzw. seine Eltern dazu, sich zu vergewissern, ob die
gewählte
Schulart bzw. Schulform seinen Fähigkeiten wirklich entspricht.
Ohne
eine entsprechende Kontrolle würde ein Schüler
möglicherweise
Jahre seines Lebens vergeuden, anstatt rechtzeitig eine seinen
Fähigkeiten
entsprechende Bildung bzw. Ausbildung zu finden.
Auch Gründe, die
außerhalb der
Schule liegen,
wie etwa Familienkrisen, können einen Leistungsabfall verursachen,
weil die Energie dann zunächst einmal für andere Zwecke
gebraucht
wird. In solchen Fällen muß dem Schüler geholfen
werden,
die Durststrecke zu überstehen, wenn abzusehen ist, daß er
danach
wieder erfolgreich am Unterricht teilnehmen kann. Aber ohne die Gefahr
des Sitzenbleibens würde das eigentliche Problem auch hier nicht
zum
Vorschein kommen. Sitzenbleiben mit dem Ziel, eine Klasse zu
wiederholen,
ergibt nur Sinn, wenn sich diese Maßnahme für den
Schüler
auch lohnt, wenn seine Fähigkeiten also entsprechend
herausgefordert
werden können, sonst langweilt er sich ein Schuljahr lang und wird
dadurch zum Außenseiter. Deshalb ist die Meßlatte wichtig:
Wie viele nicht ausreichende Leistungen in wie vielen und in welchen
Fächern
sollen dafür ausschlaggebend sein, und wie lassen sich schlechte
Leistungen
durch gute in anderen Fächern kompensieren?
Fazit: Bei solchen Entscheidungen
sollten
Lehrer und Eltern
das Wohl des Schülers und nicht ihre eigenen Interessen im Auge
haben
und mit dem Schüler gemeinsam zu einer auch ihn überzeugenden
Lösung gelangen.  206.Zwischen
Nähe und Distanz. "Soziales Lernen" in Familie und Schule (2000)
In: J.
Schlömerkemper
(Hrsg.): Differenzen. Über die politische und pädagogische
Bedeutung
von Ungleichheiten im Bildungswesen. = 6. Beiheft der Zeitschrift "Die
Deutsche Schule", Weinheim 2000, S. 182 – 189
In
modernen Gesellschaften müssen Kinder
im Verlaufe
ihrer Sozialisation lernen, sich sozial unterschiedlich zu verhalten -
anders in der Diskothek als in der Schule, anders im Kaufhaus als in
der
Kirche, in der Familie anders als unter Gleichaltrigen. Das Kind
muß
also fähig werden, seine Bestrebungen und Bedürfnisse auf
verschiedene
soziale Orte zu sortieren bzw. umgekehrt die Angebote dieser Orte
für
seine Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung zu nutzen. Es muß
soziale
Differenzen wahrnehmen und handhaben lernen. Gelingt dies nicht, droht
Verweigerung bzw. Verlust sozialer Akzeptanz am jeweiligen sozialen
Ort.
Dabei ist zunächst einmal gleichgültig, ob die jeweils
geltenden
Regeln und Normen vernünftig sind oder nicht, ob sie auf Dauer
bestehen
oder daß sie kulturellen Wandlungen unterliegen. Wenn das Kind
sozial
partizipieren will, muß es die Regeln kennen und handhaben
können,
die jeweils gelten. Dies zu lernen ist ein mühsamer Prozeß,
weil es sich um kulturell definierte Standards handelt, die das Kind
von
sich aus nicht kennen kann. Die Frage ist also, wo und in welcher Weise
es derartige Verhaltensdispositionen lernen kann und vor allem, welche
Rolle die beiden wichtigsten pädagogischen Felder - Familie und
Schule
- dabei spielen können. Eine Antwort kann im folgenden nur in
knappen
Skizzen und idealtypisch versucht werden, tatsächlich gehen die
hier
unterschiedenen Aspekte vielfach ineinander über.
In seiner Familie
erlebt das Kind - idealiter
- , daß
es in seiner lebendigen Ganzheit akzeptiert wird, und konzentriert
seine
Wünsche deshalb ausnahmslos und undifferenziert auf seine
Fürsorgepersonen.
Erst mit dem Ende des Säuglingsalters treten die ersten sozialen
Unterscheidungen
auf: Es lernt Menschen kennen, die nicht zur Familie gehören, und
wird angehalten, sich zu diesen anders zu verhalten als zu den
Mitgliedern
der eigenen Familie. Üblicherweise wird erwartet, daß das
Kind
im Rahmen seiner Familie bis zum Schuleintritt lernt, im
Binnenverhältnis
seine Wünsche und Bedürfnisse mit denen der anderen
Mitglieder
auszubalancieren, im Außenverhältnis Grundformen
distanzierter
Höflichkeit zu erwerben. Diese erste soziale Differenzierung scheint
bis zum Grundschuleintritt
immer seltener zu funktionieren. Das mag viele Gründe - wie
fehlende
Geschwister - haben, hängt aber gewiß auch mit einer
einseitigen
psychologischen Deutung der Kindheit zusammen, die die sozialen
Verhaltensnotwendigkeiten
zugunsten der Entfaltung des individuellen Ichs weitgehend
vernachlässigt.
Soziale Regeln erwachsen jedoch nicht aus der Innerlichkeit der
kindlichen
Seele, werden nicht immer wieder neu von ihr erfunden, sondern werden
dadurch
gelernt, daß die Kinder in soziale Formationen hineinwachsen und
deren Regeln kennenlernen, indem sie sich mit den Interessen und
Bedürfnissen
anderer auseinandersetzen müssen. 182 Nun führt es nicht weit, der Familie alle
möglichen
gut gemeinten und an sich auch wünschenswerten Erziehungsziele
nahezulegen
in der Erwartung, daß die Eltern diese dann bei gutem Willen auch
verwirklichen könnten. In der Familie kann das Kind z.B. nicht
lernen,
was Schule ist. Jede Erziehung, gleich wo sie stattfindet, vollzieht
sich
vielmehr in ihren eigentümlichen sozialen Kontexten und muß
auch von daher begründet werden. Ohne ein Bewußtsein davon,
auf welchen notwendigen Normen und Regeln die Sozialität Familie
selbst
beruht, so daß deren Mißachtung diese Sozialform in Frage
stellen
würde, kann demnach eine angemessene Sozialerziehung dort nicht
erfolgen.
Erziehung dient - allgemeiner gesagt - dem Erhalt sozialer
Gemeinschaften
und ist insofern zu unterscheiden von davon unabhängigen
pädagogischen
Einwirkungen im Rahmen personaler Beziehungen zwischen Erwachsenen und
Kindern. Gerät dieser soziale Bezug aus dem Blick, wird die
Beziehung
zwischen Eltern und Kindern von immer wieder neuen Erwartungen und
Absichten
überschwemmt, was zu Willkür und Verunsicherung führt.
Die
Familie kann vielmehr nur solche Erziehungsziele anstreben, die in
ihrer
Sozialform selbst angelegt sind. Was ist demnach charakteristisch
für
die Sozialform Familie - unabhängig davon, ob es sich um eine
Normalfamilie,
Alleinerzieherfamilie, Stieffamilie oder Pflegefamilie
handelt? Die
Familie ist bekanntlich eine
eigentümliche Lebensgemeinschaft,
in der Kinder mit Erwachsenen rund um die Uhr und auf Dauer
zusammenleben.
Als Sozialform kann sie mit keiner anderen gleichgesetzt werden, die
wir
sonst im gesellschaftlichen Leben finden. Ihr Sinn liegt darin, die
Folge
der Generationen nicht abreißen zu lassen; ihr vorrangiger Zweck
ist, ein befriedigendes Leben ihrer Mitglieder zu organisieren, nicht,
die einen durch die anderen zu erziehen. Charakteristisch für die
Familie als Lebensform ist vielmehr, daß ihre Mitglieder
ganzheitlich
so akzeptiert werden, wie sie sind - was allerdings keine
Rechtfertigung
für schlechtes Benehmen ist. Insofern ist sie in erster Linie Ort
vielfältiger personaler Einwirkungen. Im üblichen Begriff der
Erziehung schwingt aber mit, daß man die Kinder
grundsätzlich
anders haben will, als sie sind. Erziehung in der Lebensform Familie
ist
jedoch eher eine notwendige Begleiterscheinung, eine Implikation, weil
sonst die Gestaltung eines befriedigenden Zusammenlebens nicht gelingen
könnte. Es geht also nicht darum, abstrakte Erziehungsziele
aufzustellen
und die Kinder damit täglich zu traktieren - das würde im
Extremfall
ihre soziale Zugehörigkeit sogar gefährden. Erziehung
muß
vielmehr im Rahmen der Gestaltung des gemeinsamen Lebens gleichsam
selbstverständlich
erfolgen, wo und wie die Situation es jeweils gebietet: Erziehung ist
hier
Intervention von Fall zu Fall in das Verhalten der Kinder, das im
ganzen
jedoch nicht planmäßig geregelt wird.
Für soziales Lernen - als Teil
der
Erziehung - in
der Familie sind nun vor allem zwei konstitutive Faktoren ihrer
Sozialform
von Bedeutung: ihr Charakter als Haushalts- und als
Generationengemeinschaft. - Ökonomisch gesehen ist die Familie ein
Haushalt,
für den alle Mitglieder, auch die Kinder, nach ihren Kräften
verantwortlich sind; Einnahmen und Ausgaben müssen ausbalanciert
werden.
Wenn Kinder nicht dazu veranlaßt werden, sich auf die eine oder
andere
Weise an der Familienarbeit zu beteiligen, wachsen sie als bloße
Nutznießer der Arbeit der anderen auf und werden dadurch faktisch
aus der Familiengemeinschaft ausgeschlossen. Für jede
183
menschliche
Gemeinschaft gilt nämlich,
daß
ihre Mitglieder nur insofern in ihr geachtet und anerkannt sind, als
sie
für das Ganze, für das gemeinsame Wohl, einen eigenen Beitrag
leisten. Geschieht dies nicht, erwerben Kinder falsche Vorstellungen
über
die materiellen und sozialen Grundlagen ihrer Existenz, indem sie etwa
lernen, Verwöhnung als ihr selbstverständliches Recht
anzusehen. - Ferner ist die Familie eine
Generationengemeinschaft.
In ihr leben mindestens zwei Generationen zusammen, dadurch
unterscheidet
sie sich von anderen Lebensgemeinschaften, die nur aus Erwachsenen
bestehen
- auch von der kinderlosen Ehe. Daraus ergeben sich zwei wichtige
pädagogische
Konsequenzen. Zum einen haben Kinder zwar Anspruch darauf, daß
Erwachsene
- in der Regel die Eltern - sich um sie kümmern, sie versorgen,
ihnen
Ausbildungsmöglichkeiten verschaffen, so daß sie als
Herangewachsene
eine ihren Fähigkeiten entsprechende und subjektiv befriedigende
Position
in der Gesellschaft einnehmen können. Aber dieses moralische Recht
hat die Form eines Kredits. Indem die zuständigen Erwachsenen eine
immense Arbeit sowie die damit verbundenen Verzichte in das Aufwachsen
ihrer Kinder investieren, zahlen sie gleichsam einen Kredit
zurück,
der ihnen in ihrer eigenen Kindheit durch diejenigen Erwachsenen
gewährt
wurde, die damals für sie gesorgt haben. Der jeweils
heranwachsenden
Generation steht dieser Kredit jedoch nur so lange und nur insoweit zu,
wie dies für den Abschluß einer Berufsausbildung und
überhaupt
für die Führung eines selbständigen Lebens erforderlich
ist. Deswegen haben die Eltern z.B. einen Anspruch darauf, daß
ihre
Kinder ihnen von einem angemessenen Zeitpunkt an finanziell nicht mehr
auf der Tasche liegen. Aus dem Generationenvertrag erwachsen also
für
die Kinder auch Pflichten. Dazu gehört zum Beispiel, daß sie
durch Lernen ihre Fähigkeiten so gut wie möglich entwickeln,
um einerseits die Fürsorge durch ihre Eltern überflüssig
zu machen und andererseits den als Kind erhaltenen Kredit wiederum an
die
nächste Generation weiterzugeben zu können - und sei es nur
in
Form von Steuerzahlungen. Wer also in der Schule wie in der
Berufsausbildung
seine Fähigkeiten nicht optimal zu entwickeln versucht, handelt
gegen
die Regeln des Generationenvertrags, dem er andererseits sein meist
recht
gutes Leben verdankt. Ob also Kinder in der Schule lernwillig sind oder
nicht, steht ihnen nicht frei, wenn man ihnen nicht gestatten will, auf
anderer Leute Kosten auf Dauer dahinzuleben.
Zum anderen besteht der
pädagogische Sinn
des Generationenverhältnisses
in der Familie darin, daß die Kinder von den Erwachsenen
grundlegende
soziale Regeln und Einstellungen lernen, die sie für die
spätere
Führung eines selbständigen Lebens brauchen. Weil die Kinder
von sich aus davon nichts wissen können, müssen die Eltern
ihnen
gute Manieren sowohl für den Umgang innerhalb der Familie wie mit
Außenstehenden ebenso geduldig wie unmißverständlich
beibringen.
Dazu gehören sowohl die Gewährung von Autonomie wie die
erforderlichen
Grenzsetzungen. Wenn Kinder von Anfang an zur
größtmöglichen
Selbständigkeit angeleitet werden sollen, dann brauchen sie einen
autonomen Handlungsraum, der zunächst sehr begrenzt ist und sich
immer
mehr erweitert: Die Spielecke in Mutters Nähe, das Kinderzimmer,
die
ganze Wohnung, ein Stück Straße draußen, das
Lebensfeld
der Gleichaltrigen, bis dem Heranwachsenden schließlich seine
Freizeitautonomie
zugestanden wird. 184 Zum autonomen Handlungsspielraum gehören
aber auch
seine Grenzen. Jeder Mensch ist auf Grenzsetzungen durch andere
angewiesen.
Nur indem wir gezwungen werden, uns mit Grenzen auseinanderzusetzen,
können
wir unsere eigenen Bestrebungen abarbeiten und zugleich einen eigenen
Standpunkt
gewinnen. Diese Einsicht erwächst aber nicht aus dem Inneren der
kindlichen
Seele, sondern vor allem aus sozialer Tätigkeit mit anderen und
gegen
sie. Vom Umgang mit seinen Freunden her ist dem Kind diese Tatsache
nicht
unbekannt. Da muß es sich behaupten, indem es ständig
Grenzerfahrungen
macht. Der autonome Handlungsraum muß sich erweitern, je
älter
das Kind wird. Aber diese Erweiterung darf nicht kampflos zugestanden,
sondern muß verdient werden, vor allem durch Zug um Zug
erhöhte
Verantwortungsfähigkeit: mehr Freiheit nur gegen mehr
Verantwortung.
Die Verantwortung der Erwachsenen nimmt in dem Maße ab, wie die
des
Kindes zunehmen kann; denn der Sinn des Aufwachsens besteht darin,
daß
das Kind lernt, Stück für Stück sein Leben selbst in die
Hand zu nehmen. Deshalb muß es die Fähigkeit dazu in solchen
Grenzkämpfen nachweisen. Wenn Eltern nur autonome
Handlungsspielräume
zulassen, ohne auch die Grenzen zum Thema zu machen, dann fördern
sie nicht Initiative und Selbstverantwortung des Kindes, sondern lassen
es fortgesetzt ins Leere laufen. Durch Auseinandersetzungen
erfährt
das Kind dagegen immer wieder, daß die Eltern Anteil nehmen an
seinem
Leben und ihm nicht gleichgültig gegenüberstehen.
Wichtige
Grenzerfahrungen erwachsen aus dem
Familienleben
selbst. Das Kind trifft mit seinen Absichten, Wünschen und
Bedürfnissen
auf die der anderen Familienmitglieder. Die dadurch bedingte
Interessenkollision
muß ausbalanciert werden. Das Kind lernt, daß seine
Bestrebungen
dort an ihre Grenze stoßen, wo sie solche der anderen tangieren -
dauerhaft allerdings nur dann, wenn ihm solche Kollisionen von den
Erwachsenen
- möglicherweise auch von älteren Geschwistern - erklärt
werden. Voraussetzung dafür ist, daß auch die Eltern
deutlich
machen, daß sie persönliche Interessen haben, die mit denen
der Kinder nicht übereinstimmen müssen, die vielleicht auch
Geld
kosten, die sie aber mit Rücksicht auf die Kinder
einschränken. Selbst wenn die Familie die soeben skizzierten
Chancen
des sozialen Lernens nutzt, bleibt ihre Wirkung in dem Maße
beschränkt,
wie ihr sozialer Erfahrungshorizont begrenzt ist. Eine wichtige Grenze
ist durch ihren größten Vorteil gesetzt: daß sie
nämlich
eine ihre Mitglieder - und eben auch die Kinder - in ihrer Ganzheit
akzeptierende
Lebensgemeinschaft ist. Diese Konstellation wird das Kind
außerhalb
der Familie in seinem weiteren Lebensweg nicht wieder vorfinden - auch
nicht im Rahmen von Freundschaften. Deshalb ist die Schule für die
weitere Sozialerziehung unentbehrlich. Mit der Schule begegnet dem
Kinde
zum ersten Mal eine Institution des öffentlichen Lebens. Der
Übergang
ist bekanntlich schwierig, weil das Kind seine ganzheitlichen
familiären
Erwartungen zunächst einmal auch auf seine Lehrer und
Mitschüler
überträgt, er verlangt deshalb seitens der Lehrer ein
erhebliches
Einfühlungsvermögen. Gerade in der Grundschule ist jedoch die
Vorstellung weit verbreitet, man müsse das Klima familiärer
Geborgenheit
zumal dann weiterhin aufrecht erhalten, wenn die Familienbezüge
der
Schüler erkennbar brüchig geworden sind. Das mag für den
Übergang eine Zeitlang sinnvoll sein, auf Dauer jedoch werden auf
diese Weise die charakteristischen sozialen Lernchancen der Institution
Schule ignoriert. Die Schule als Sozialgebilde unterscheidet sich
nämlich
von der Familie in wesentlichen Punkten:
185
- Sie stellt in Gestalt des
Unterrichts
Aufgaben, die
nicht mehr unmittelbar anschaulich der Reproduktion der familiären
Gemeinschaft etwa im Rahmen des Haushaltes dienen, sondern von
außen
herangetragen werden. Sie erwachsen auch nicht aus den subjektiven
Bestrebungen
des Kindes, sondern treten diesen entgegen, weil sie als
gesellschaftliche
definiert sind. Das Kind muß nun lernen, seine Bedürfnisse
im
Interesse der Bewältigung dieser Aufgaben zeitweise
zurückzustellen,
bzw. sie darauf zu konzentrieren, was einer Selbstdisziplinierung
gleichkommt:
Zur Bewältigung der Aufgaben ist eine Grunddisziplin erforderlich,
wozu wiederum eine erhebliche innere Umorientierung nötig ist. Der
Schüler muß zwar selbst, als Individuum, im Unterricht und
durch
ihn lernen, aber die Gestaltung der Lernprozesse erfolgt nicht als je
individuelle,
sondern in der sozialen Formation der Schulklasse. Das ist nur
möglich,
wenn alle Schüler lernen, anderen zuzuhören, ihre eigenen
Überlegungen
argumentativ einzubringen, tolerant gegenüber anderen Meinungen zu
sein, Konflikte und Auseinandersetzungen gewaltlos zu lösen; sonst
kann die gemeinsame Aufgabe des Unterrichts nicht gelingen. Der Zweck
des
Unterrichts konstituiert und begrenzt also die eigentümliche
Reichweite
dieser für das Kind neuen Sozialität.
- Dabei ändert sich auch die
Zeitperspektive: Die
Aufgaben, die die Schule stellt, dienen nur teilweise dem
gegenwärtigen
Leben des Schülers, sind überwiegend jedoch auf seine Zukunft
gerichtet, auf seine künftigen gesellschaftlichen
Partizipationschancen.
Deshalb müssen Schüler lernen, ihre Bereitschaft zur
Mitarbeit
wie die Art und Weise des Umgangs mit den anderen nicht von aktuellen
Stimmungslagen
und nicht von unmittelbaren Verwendungszwecken abhängig zu
machen. -
Die ganzheitliche Akzeptanz wird
abgelöst durch
eine partikulare, auf die Aufgaben bezogene. Das Kind muß lernen,
daß nur noch bestimmte Aspekte seiner Persönlichkeit, seiner
Fähigkeiten und seines Verhaltensrepertoires gefragt sind,
daß
andere, an denen ihm liegt, auf andere soziale Bezüge verlagert
werden
müssen. Das gilt insbesondere auch für die Steuerung
emotionaler
Impulse und Erwartungen. Die unterschiedlichen sozialen Regeln und
Erwartungen
der verschiedenen sozialen Orte - Schule, Familie, Freundeskreis -
werden
so allmählich bewußt. - Die eigentümlichen Aufgaben der Schule
bestimmen
auch das Verhältnis zu den Mitschülern. Ihnen allen
gegenüber
ist ein ganzheitlicher Bezug nicht mehr möglich, das einzig
Gemeinsame,
was die willkürlich, jedenfalls nicht nach persönlichen
Auswahlkriterien
zusammengestellte Klasse miteinander verbindet, ist der Zweck der
Erfüllung
der schulischen Aufgaben. - Die Zweckorientierung führt dazu,
daß sich
die Beziehungen zu den Mitschülern ausdifferenzieren: Mit einigen
freundet man sich an, andere sind einem eher gleichgültig, wieder
andere kann man nicht ausstehen. Die soziale Lernaufgabe besteht nun
darin,
diese unterschiedlichen Beziehungserfahrungen einerseits zu
akzeptieren,
andererseits aber auch dem gemeinsamen Zweck unterzuordnen. Es kommt
also
darauf an, das Gemeinsame und das Trennende gleichermaßen zu
akzeptieren.
Dafür müssen unterschiedliche Verhaltensstile entwickelt
werden
- auf einer Skala von Nähe und Distanz, also von ganzheitlicher
Zuwendung
einerseits bis etwa zur bloßen Höflichkeit andererseits.
"Klassengemeinschaft"
ist also ein problematischer Begriff, weil die Schule eigentlich keine
"Gemeinschaft" ist, sondern ein Zweckverband. Zu lernen ist vor allen
Dingen,
wie man mit denen auskommt, 186 die man nicht mag. Aus dieser Konstellation
ergeben sich
Konflikte, zu deren Lösung bzw. Beilegung Regeln entwickelt und
angewandt
werden müssen. Grundsätzlich jedoch behält der
Schüler
das Recht, sich innerhalb wie außerhalb der Schule seine
Beziehungen
nach Nähe und Distanz aussuchen zu können: Er muß zwar
auch mit denen produktiv zusammenarbeiten, die er nicht ausstehen kann,
aber er muß mit ihnen auch nicht befreundet sein.
- Die Beziehung zu
den Lehrern gestaltet sich
ähnlich
differenziert: Die einen mag man, die anderen weniger oder gar nicht.
Aber
seine Lehrer kann der Schüler sich ebenso wenig aussuchen wie
seine
Mitschüler, also muß er lernen, auch mit denen auszukommen,
die er nicht mag. Das gilt umgekehrt auch für den Lehrer, dem
nicht
alle Schüler gleichermaßen sympathisch sein können,
dessen
Professionalität aber dazu ausreichen muß, jeden
Schüler
zu seinem Recht kommen zu lassen. Nur die Orientierung am gemeinsamen
Zweck
des Unterrichts vermag derartige Differenzen zu überbrücken,
die sonst kaum erträglich wären. - Im Rahmen der jeweiligen Schulgesetze ist
den Schülern
ein Mitbestimmungsrecht eingeräumt. Dieses ermöglicht die
Artikulation
und die Verfolgung von Interessen im Rahmen der Schule als Institution.
Dieser politische Zweck unterscheidet sich von dem des möglichst
erfolgreich
zu gestaltenden Unterrichts; denn er fordert eigentümliche
Verhaltensweisen
etwa des Überredens, des Taktierens und des
Kompromisseschließens
heraus, die im Unterricht kontraproduktiv und deshalb unangebracht
wären.
Der Schüler muß hier - mit anderen Worten - lernen,
daß
das Verhalten gegenüber denselben Menschen - Mitschülern wie
Lehrern - je nach der vorliegenden Situation unterschiedlich sein kann
oder gar muß. - Das aus der Familie bekannte
Generationenverhältnis
ändert sich. Der Lehrer ist kein Vater, die Lehrerin keine Mutter
oder Tante. Im Prinzip ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis ein
- fachlich begrenztes - Kompetenzgefälle, keine
Generationendifferenz;
diese wird vielmehr im Erwachsenenleben bedeutungslos, obwohl es dann
immer
noch Lehrende und Lernende, etwa im Rahmen der Erwachsenenbildung,
gibt.
Deshalb geht es in der Schule einerseits darum, das
Generationengefälle
Zug um Zug abzubauen, andererseits aber auch darum, den Schüler
vor
noch unangemessenen Anforderungen zu schützen.
Diese wenigen Hinweise zeigen
schon, daß
faktisch
die Beziehungen in der Schule aus der Sicht der Schüler komplex
sind.
Aufgabe der Lehrer ist nun, diese Komplexität nicht
ungebührlich
zu reduzieren, sondern sie zur Sprache zu bringen und zu
differenziertem
Verhalten zu ermuntern. Das ist nur möglich, wenn die Lehrer sich
nicht nur von der unmittelbaren pädagogischen Beziehung her
verstehen,
sondern auch als Repräsentanten der Institution, als die sie etwa
Disziplin einfordern, Zensuren erteilen und Berechtigungen
vergeben. Aber ebenso wie in der Familie sind auch die
Möglichkeiten
des sozialen Lernens in der Schule begrenzt. Auch in ihr können
Schüler
im wesentlichen nur das lernen, was man in ihrem sozialen Rahmen
braucht.
Was sie für ein erfolgreiches Verhalten im Kaufhaus oder in der
Diskothek
benötigen, kann die Schule zwar erörtern, aber nicht selbst
einüben.
Auch die Teamarbeit im Rahmen schulischer Lernprozesse ist nicht
einfach
übertragbar etwa auf entsprechende Kooperationen am Arbeitsplatz,
weil die Aufgaben und die Rahmenbedingungen unterschiedlich sind.
Transferierbar
aus der Schule ist nur das, was als allge-
187
meines, unspezifisches
öffentliches
Verhalten verallgemeinert
werden kann, und dazu gehören alle diejenigen Verhaltensaspekte,
die
für einen gelingenden Unterricht unentbehrlich sind:
Höflichkeit,
Toleranz, Affektkontrolle, sachbezogene Disziplin, gewaltlose
Austragung
von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten. Nicht das bloße
Zusammenleben
in der Schule, sondern deren aufgabenorientierter Zweck provoziert
öffentlich
relevante Verhaltensweisen. Öffentliche im Unterschied zu privaten
Verhaltensweisen
sind jedoch dadurch charakterisiert, daß ihre äußere
Erscheinungsform
genügt. Wer sich in der Öffentlichkeit gewaltlos und
höflich
verhält, muß dafür nicht seine Motive offenbaren.
Umgekehrt
kann niemand, wenn er sich in der Öffentlichkeit aggressiv oder
gar
gewalttätig benimmt, Interesse für seine Beweggründe
erwarten.
Öffentliches Verhalten beruht auf Selbstverständlichkeit und
somit auch darauf, daß wir auf die Erforschung und Bewertung von
Motiven unserer Mitmenschen verzichten, weil der öffentliche
Umgang
sonst gar nicht funktionieren könnte. Deshalb geht es, wenn die
Schule
entsprechende Verhaltensweisen in ihren Mauern einfordert, nicht um die
Durchsetzung eines allgemeinen Tugendkatalogs, sondern eines bestimmten
Verhaltens. Die Öffentlichkeit kann weder von Erwachsenen, noch
von
Kindern eine bestimmte Gesinnung oder eine bestimmte Charakterstruktur
erwarten, und beides kann man auch in Schulen nicht
überprüfbar
anerziehen. Niemand muß z.B. Ausländer oder einen bestimmten
Frauen- bzw. Männertyp mögen, aber verhalten muß sich
jeder
ihnen gegenüber höflich und zivilisiert und erst recht im
Rahmen
der Gesetze. Dieser Grundsatz muß auch für die Schule
gelten,
insofern die dort einzuübenden öffentlichen Verhaltensweisen
nicht an bestimmte Motivationen oder Gesinnungen gebunden werden
dürfen.
Seine inneren Beweggründe darf der Schüler für sich
behalten,
sie gehen den Lehrer und die Mitschüler grundsätzlich nichts
an. Mit diesem Grundsatz sind Bewertungen des Charakters unvereinbar,
wie
sie inzwischen im Sinne von "Kopfnoten" wieder diskutiert werden;
lediglich
beobachtbares, auf den Zweck der Schule bezogenes Verhalten darf die
Schule
bewerten, aber das erlaubt und ermöglicht keine
Rückschlüsse
auf die Persönlichkeit im ganzen. Nur zur Hilfe im Krisenfalle
(schlechte
Noten; offensichtliche Verhaltensstörung) darf - mit Zustimmung
des
Schülers und mit seiner Unterstützung - nach in der
persönlichen
Verfassung begründeten Ursachen geforscht werden.
Gegen diese
Argumentation ließe sich
einwenden,
daß eine dauerhafte Verinnerlichung und Festigung solcher
Verhaltensweisen
nur über eine entsprechende Steuerung von Einsichten und Affekten
sowie im Prozeß der Gewissensbildung möglich seien; sonst
bliebe
das erwünschte Verhalten vielleicht nur auf die Schulsituation
begrenzt,
sei möglicherweise lediglich Resultat einer kalkulierten
Anpassung.
Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen, markiert aber auch die
Grenze des schulischen Einwirkungsvermögens. Ebenso wenig wie die
durch bildenden Unterricht bewirkten subjektiven Aneignungsprozesse
stehen
der pädagogischen Planung die Beweggründe für ein
bestimmtes
Verhalten zur Disposition. Deshalb ist wichtig, daß die Schule
zunächst
einmal auf dem erforderlichen, von außen erkennbaren Verhalten
besteht.
Seine Vertiefung innerhalb der Persönlichkeit wird dann entweder
durch
Gewöhnung, oder durch Erklärungen der Lehrer (etwa nach dem
Sprichwort:
"Was Du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem
anderen
zu"), oder 188 durch die Analyse der normativen Implikationen
der Schulstoffe
gelingen - oder auch nicht. Davon darf das Insistieren auf dem für
die Erfüllung des Schulzwecks notwendigen Verhaltenskodex jedoch
nicht
abhängig gemacht werden. Öffentliches Verhalten beruht also auf
kulturell
geformter Distanz, nicht auf Nähe. Kultivierung von Nähe
unter
den Menschen ist ein anderes Thema, das übrigens auch schon in der
Familie ansteht. Aber dazu kann die Schule keinen Beitrag leisten -
außer
durch Reflexion. Nähe zu kultivieren - wozu ebenfalls Formen der
Distanzierung
gehören - ist Aufgabe der Familie. Da aber andererseits
pädagogische
Felder wie die Schulklasse schon von der räumlichen Enge her
Nähe
signalisieren, ist die Versuchung groß, die distanzierten Formen
des Umgangs zu übersehen und zu übergehen. Die Geschichte der
öffentlichen Erziehung bietet für beides, für die
Beschränkung
auf Nähe wie für deren Überwindung unter den Bedingungen
der Nähe, genügend Beispiele. Zu erinnern wäre etwa
einerseits
an den Gemeinschaftskult der Reformpädagogik, andererseits an
Makarenkos
Versuch, in seinen Kolonien zwischen privatem und dienstlichem Umgang
der
Zöglinge dadurch zu unterscheiden, daß er für den
dienstlichen
militärähnliche Formen einführte bzw. akzeptierte.
Die eben erörterten
Chancen des sozialen
Lernens
in der Schule haben allerdings ein bestimmtes Verständnis von Sinn
und Zweck der Schule zur Voraussetzung. Wird es anders definiert und
organisiert,
ändert sich auch die Struktur der sozialen Beziehungen. In jedem
Falle
erscheint es jedoch an der Zeit, Verhaltensdifferenzierungen im
privaten
wie im öffentlichen Bereich wieder zu einem theoretischen und
praktischen
pädagogischen Thema zu machen. 189 
207.
Muster im Flickenteppich. Gerhard Bliersbach reflektiert den Alltag in
einer "Patchworkfamilie" (2001) In:
Psychologie heute, H. 1/2001, S.
70-71
Gerhard
Bliersbach: Halbschwestern,
Stiefväter, und wer sonst noch dazu gehört. Leben in einer
Patchwork-Familie.
Düsseldorf: Walter-Verlag 2000, 194 S., DM 29,80
In den letzten
Jahrzehnten hat die Zahl der
Stieffamilien
erheblich zugenommen. Ursache dafür ist im Unterschied zu
früheren
Zeiten weniger der Tod eines Ehepartners, als vielmehr Scheidung oder
Trennung
der Eheleute. Übrig bleibt dann eine Restfamilie, in der Regel die
Mutter mit den Kindern, zu denen sich irgendwann ein neuer Partner als
Stiefvater dieser Kinder gesellt. Weil immer mehr Erwachsene und Kinder
in dieser Familienform leben, ist auch das Interesse an einer
spezifischen
Ratgeberliteratur erheblich gestiegen. Die meisten Autoren wenden sich
diesem Thema zu, weil sie auf diese Weise ihre eigenen
einschlägigen
Erfahrungen abarbeiten und weitergeben wollen. Sie gehen dann in der
Regel
von derjenigen Variante aus, die sie selbst erlebt haben, und versuchen
daraus allgemein gültige Regeln abzuleiten.
So verfährt auch Gerhard
Bliersbach in
seinem Buch
über die "Patchwork-Familie" - eine Bezeichnung, die ihm
angemessener
erscheint als "Stieffamilie" oder "Zweitfamilie", weil die internen und
externen Beziehungen dieser Familienform so buntscheckig,
unsystematisch
und zumindest am Anfang auch ungeordnet sind wie ein Flickenteppich.
Diese
eigenartige Konstellation ist Ursache für eine Reihe typischer
Missverständnisse
und Konflikte, die fast zwangsläufig zumindest zunächst die
Gefühle
und das Verhalten der Beteiligten verwirren. Im vorliegenden Falle
besteht
die Beispielfamilie aus der Mutter, ihrem volljährigen Sohn und
seinem
zwei Jahre jüngeren Bruder, dem Stiefvater und einer gemeinsamen
dreijährigen
Tochter. Der
Autor - ein Psychoanalytiker - versteht
sein Buch
als "die Geschichte 70 eines Klärungsprozesses" innerhalb der
neuen Familie.
Anschaulich erzählend und interpretierend wechselt er die
Perspektive
zwischen den (fast) erwachsenen Söhnen, der "zwischen den
Stühlen"
agierenden Mutter, dem Stief-Elternteil sowie der kleinen Tochter als
dem
"Star der Mannschaft", die von allen Beteiligten die wenigsten Probleme
hat und macht. Im Kern geht es ihm aber vor allem um das
Verhältnis
des Stiefvaters, der sich nicht selten als "fünftes Rad am Wagen"
wahrnimmt, zum "unsichtbaren Dritten", nämlich dem abwesenden
leiblichen
Vater. Zu den Besonderheiten dieser Familienform gehört ja, dass
der
abwesende Elternteil auf vielfache Weise gegenwärtig ist, etwa
über
Terminabsprachen mit den Kindern, über deren Berichte und
Erzählungen
oder über Vereinbarungen im Hinblick auf die Ferien. Aber der
psychoanalytisch
geschulte Blick des Autors sieht noch mehr: die Gefühle der
Eifersucht
etwa oder die Versuchung, dem Abwesenden über die Kritik an den
Kindern
eins auszuwischen. In den Schlusskapiteln zieht der Autor ein
Fazit und versucht
seine Erfahrungen unter der Leitfrage zu systematisieren, wie aus dem
anfänglichen
Gefühls- und Verhaltenschaos eine familiäre Ordnung entstehen
kann und wie die Familienmitglieder sich in die Familie integrieren
lassen,
ohne von der Vielfalt ihrer Beziehungen unnötig etwas aufgeben zu
müssen. Ratschläge für "die dringendsten Fragen"
können
als eine Art von Zusammenfassung verstanden werden; sie laufen im
Wesentlichen
darauf hinaus, Verständnis für die anderen aufzubringen und
permanent
auf Verständigung hinzuarbeiten. Der Wille des Autors zur psychoanalytisch
fundierten Aufklärung
des komplizierten Beziehungsgefüges wirkt trotz aller Empathie
gelegentlich
überzogen und langatmig und neigt zu Wiederholungen.
Möglicherweise
schafft die subtile Dauerreflexion des Alltags erst eine Reihe von
Problemen,
die sonst gar nicht entstünden; denn soziale Stabilität
beruht
nicht zuletzt auch auf der Akzeptanz von Selbstverständlichkeiten.
Dazu gehört etwa, dass der "Stiefvater" "selbstverständlich"
den Stiefkindern "etwas zu sagen hat", sofern es sich nämlich auf
das familiäre Zusammenleben bezieht; erst darüber
hinausgehende
generelle Erziehungsansprüche werden problematisch. Jede
Sozialität
beruht auch auf Entscheidungen, die nicht verhandelbar sind, das gilt
etwa
für das Eigenrecht des erwachsenen Paares gegenüber den
Kindern,
zumal wenn diese fast erwachsen sind. So wird nicht jeder Leser die
Eingangsgeschichte
nachvollziehen können, an der der Autor eine erste Problemskizze
entfaltet:
An einem Samstagabend entscheiden sich Mutter und Söhne für
Fernsehen,
der Stiefvater hingegen möchte lesen und wird durch den Spielfilm
dabei gestört. Warum, so fragt man sich, müssen vier
erwachsene
Familienmitglieder den Abend unbedingt gemeinsam in einem Raum
verbringen,
wenn sie sich nicht auf ein gemeinsames Programm verständigen
können?
Riecht das nicht nach Familienideologie? Auch andere vom Autor
beschriebene
Situationen ließen eine von ihm abweichende Deutung zu -
nämlich
eine eher pragmatische. Die soziale Qualität einer menschlichen
Gemeinschaft
ist nun einmal mehr als die Summe der in ihr vollzogenen - oder auch
vermiedenen
- Beziehungen. Andererseits überzeugt das Buch durch die
Ehrlichkeit
der äußeren und inneren Auseinandersetzung des Autors mit
seinen
einschlägigen Erfahrungen und durch den Tiefgang der
Reflexion. 71  208.
Was bleibt von der Politischen Bildung? (2001)
In:
Karl Neumann
/Reinhard Uhle
(Hrsg.): Pädagogik zwischen Reform und Restauration. Weinheim
2001,
S. 153-158
In
entwickelten demokratischen Staaten geht es
bei der
politischen Bildung - wie immer sie bezeichnet und schulisch
organisiert
werden mag - darum, die heranwachsende Generation zur politischen
Partizipation
zu befähigen und ihr die dafür notwendigen Informationen
systematisch
anzubieten. Die vorliegende demokratische Verfassung und Struktur wird
dabei - unbeschadet aller Chancen zu ihrer Veränderung und
Verbesserung
- als Vorgabe angesehen. Wie aber steht es mit dieser
pädagogischen
Aufgabe, wenn demokratische Regeln und Maximen erst einmal
eingeführt
werden müssen? Dieser Aufgabe stand die Pädagogik in
Deutschland
zweimal gegenüber: Nach 1918, als die Weimarer Verfassung
verabschiedet
worden war, und nach 1945, als die Bundesrepublik gegründet wurde.
Die Probleme und Lösungsversuche, die im ersten Fall entstanden,
hat
Dietrich Hoffmann (1970) in seiner Dissertation ausführlich
dargestellt.
Diese umfangreiche und gründliche Studie ist bis heute in ihrem
Kern
keineswegs überholt, und ihre Ergebnisse werden nach meiner
Einschätzung
in Zukunft wieder gebraucht werden; das liegt daran, daß sich die
politische Bildung, wie sie sich nach 1945 entwickelt hat, in einer
Krise
befindet, zu deren Reflexion die Erinnerung an frühere
Irrtümer,
wie sie Hoffmann herausgearbeitet hat, einen wesentlichen Beitrag
leisten
könnte. Etwas vereinfacht könnte man sagen: Ihre Krise
besteht
darin, daß sie zumindest einige Fehler der Vergangenheit
wiederholt,
denen sie vielleicht nicht erliegen würde, wenn die Protagonisten
dieser Fehler, die reformpädagogischen Propagandisten etwa der
Ganzheits-,
Handlungs- und Erlebnisorientierung, Hoffmanns Buch lesen
würden. Nach
1945 ging es erneut darum, politische
Bildung und
Erziehung ohne Vorgabe durch eine selbstverständlich akzeptierte
demokratische
Verfaßtheit zu verankern. Im Unterschied nämlich zu den
entsprechenden
pädagogischen Bestrebungen der anderen westlichen Demokratien, die
sich dafür auf einen Schatz fraglos akzeptierter Traditionen und
normativer
Grundlagen selbst dann berufen konnten, wenn sie von innenpolitischen
Krisen
geschüttelt wurden, war in unserem Falle die politische Bildung
und
Erziehung Ergebnis eines verlorenen Krieges und zudem und vor allem
belastet
durch die politische Kriminalität des besiegten NS-Staates, deren
Ausmaße erst in unseren Tagen hinreichend aufgedeckt worden sind
- wenn wir etwa an die lange verkannte Mitwirkung der "normalen"
Wehrmacht
denken. Aber obwohl führende Vertreter der damaligen
Pädagogik
wie Spranger (1957), Litt (1957) und Weniger (1964) ihre vor 1933
angestellten
Überlegungen zum Komplex der politischen Bildung und Erziehung
auch
nach 1945 wieder zur Geltung zu bringen versuchten, wurden seit Anfang
der 153
fünfziger Jahre die
neu etablierten
Sozialwissenschaften
- insbesondere Soziologie und Politikwissenschaft - zu
Leitwissenschaften,
weil sie viel präziser angeben konnten, was nun in Sachen Politik
zu lehren und zu lernen sei; die junge Politikwissenschaft verstand
sich
sogar ausdrücklich als "Demokratiewissenschaft", nämlich als
wissenschaftliche Begleitung des nun einsetzenden
Demokratisierungsprozesses.
Nach den Erfahrungen der NS-Zeit reichte es nicht mehr, an
grundsätzliche
Überlegungen der Zeit vor 1933 einfach anzuknüpfen. So
entstand
notwendigerweise ein Traditionsbruch. Dieser westdeutsche "Sonderweg"
schlug
sich vor allem in zwei Konsequenzen nieder, die die politische Bildung
bei uns mehr oder weniger bis heute geprägt haben:
1. Sie entstand im
Rahmen der
Umerziehungsbemühungen
der (westlichen) Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg und sah sich
somit
von vornherein unter einer politischen Zielvorgabe: Mit
pädagogischen
Mitteln - Lernen und Bildung - sollte das politische Ziel erreicht
werden,
Denazifizierung, Demilitarisierung und Demokratie in den Köpfen
und
Herzen der Deutschen zu verankern. So konnte sie vielen Zeitgenossen
als
bloße Implikation des Siegerhandelns erscheinen, was ihrer
öffentlichen
Reputation zunächst nicht unbedingt zugute kam. Folgenreicher
jedoch
war die Tatsache, daß sie sich im Unterschied zu den anderen
westlichen
Demokratien nicht auf demokratische Normen und Strukturen als
selbstverständliche
Vorgaben beziehen konnte, vielmehr sollten mit Hilfe der politischen
Bildung
diese demokratischen Rahmenbedingungen erst einmal geschaffen und
gefestigt
werden; dies setzte aber eine Relativierung des üblichen
Generationenverhältnisses
voraus, insofern ja die Erwachsenen selbst noch keine Erfahrung mit
demokratischen
Normen und Strukturen hatten. Deshalb ging von der politischen Bildung,
anders als von den "klassischen" schulischen Aufgaben, von Anfang an
ein
Emanzipationsimpuls aus, der sich in der Achtundsechziger-Bewegung
unüberhörbar
artikulierte und zu neuen Vorstellungen über das Verhältnis
der
Generationen zueinander führte. Weil nun die politische Bildung
erst
mit suchen mußte, worauf sie sich eigentlich hätte
selbstverständlich
beziehen müssen, geriet sie immer wieder in die innenpolitischen
Auseinandersetzungen
hinein, und ihre didaktisch-methodischen Konzeptionen mußten sich
ständig in einem komplizierten politisch-ideologischen
Begründungs-
und Rechtfertigungszwang bewegen, so daß alle wesentlichen
innenpolitischen
Kontroversen dabei ihre Spuren hinterließen: Indem die politische
Bildung gezwungenermaßen die Grundlagen wie die Tatsachen des
neuen
Gemeinwesens reflektierte, war sie immer auch politische Einmischung -
ob ihre Vertreter das nun wollten oder nicht. Ihre extreme
Politisierung
finden wir im Zeitraum Ende der sechziger bis Mitte der siebziger
Jahre.
Die heftigen Auseinandersetzungen über neue Rahmenrichtlinien vor
allem in Hessen und Nordrhein-Westfalen markierten dabei einen
Höhepunkt,
und sie wären ohne diesen politischen Legitimationszwang nicht
verständlich. 2. Die charakterisierten Ausgangsbedingungen
nach 1945
schlugen sich ferner nieder 154 in einer hochgradigen Moralisierung der
Politik. Aufgabe
der Erziehung im allgemeinen und der politischen im besonderen sollte
sein,
die Wiederholung jener politischen Kriminalität ein für
allemal
zu verhindern. Bald jedoch zeigte sich, daß das moralische
Desaster,
das der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, frei flottieren und
für
innenpolitische Auseinandersetzungen eingesetzt werden konnte. Unter
dem
Begriff des "Totalitarismus" wurde z.B. in den fünfziger Jahren
das
nationalsozialistische mit dem DDR-Regime wie mit allen anderen
stalinistischen
wenn nicht gleichgesetzt, so doch auf eine gleiche moralische Ebene
gehoben.
Der aus der Achtundsechziger-Bewegung hervorgegangene westdeutsche
"Anti-Faschismus"
vollzog dann unter Verwendung ideologiekritischer Begründungen
eine
moralische Polarisierung, die sich mit der nun einsetzenden
innenpolitischen
Zuspitzung verband und in der politischen Bildung zu regelrechten
"Lagerdidaktiken"
führte. Die Moralisierung setzte sich dann nach der deutschen
Vereinigung
in einer fast flächendeckenden Stasi-Verdächtigung fort.
Diese eben knapp
skizzierte Nachkriegsphase
geht jedoch
zu Ende. Eine Zukunft wird die politische Bildung nur haben, wenn sie
sich
emanzipiert von den eben genannten Ausgangsbedingungen und ihren
Folgen.
Damit meine ich folgendes: 1. Die ursprüngliche Ausgangssituation,
daß
nämlich die politische Bildung erst die demokratische
Verfaßtheit
mit konstituieren mußte, anstatt sich auf sie berufen zu
können,
hat sich inzwischen normalisiert. Wir können nun so verfahren wie
andere westliche Demokratien auch. Auch die Bundesrepublik verfügt
nun über eine wenn auch noch kurze demokratische Geschichte, und
auf
diese Vorgabe kann sich die politische Bildung nun beziehen, sie kann
in
diesem Sinne "normal" werden. Die Aufgabe der politischen Bildung besteht
nun darin,
sich auf die gegebenen Normen und Strukturen der demokratischen Staats-
und Gesellschaftsverfassung zu beziehen und die Bedingungen der
Möglichkeit
politischen Lernens didaktisch-professionell zu reflektieren, damit
entsprechende
Lernarrangements inszeniert werden können. Das schließt
natürlich
kritische Distanz zu den Realitäten und ihren Begründungen
nicht
aus, aber diese kann sich nun, im Unterschied zur Aufbauphase, auf
grundlegende,
seit Jahrzehnten entfaltete demokratische Prinzipien beziehen. Damit
aber
wird die politische Bildung auch nicht mehr zur Durchsetzung
demokratischer
Prinzipien gebraucht, vielmehr rechtfertigt sie sich nur noch durch den
im Bildungsbegriff gesetzten Zweck der optimalen politischen
Partizipation
- daran aber scheint kaum jemand interessiert zu sein.
Die Realität des
Schulunterrichts -
glaubt man den
veröffentlichten Unterrichtsbeispielen und den Lehrplänen -
sieht
nämlich so aus, daß der ursprüngliche politische Sinn
der
Durchsetzung demokratischer Prinzipien heruntergekommen ist auf
partikulare,
aber als selbstverständlich in der Öffentlichkeit verkaufte
moralische
Absichten, nämlich beispielsweise feministischer, multikultureller
oder ökologischer Provenienz. Da wird nicht aufgeklärt,
sondern
Gesinnung provoziert, oder anders: Erziehung hat Bildung wieder unter
ihr
Joch getrieben. 2. Schwieriger wird die Emanzipation von der
Ausgangslage
in moralischer 155 Hinsicht. Die NS- Verbrechen sind immer noch
gegenwärtig
und bestimmen die aktuelle politische Diskussion nach wie vor mit.
Solange
dies so ist, kann die politische Bildung davon nicht abstrahieren.
Andererseits
muß sie jedoch die Interessen aufdecken, die sich inzwischen
damit
verbunden haben; sie muß Front machen gegen die vorgängige
Moralisierung
des Politischen, die sich weitgehend vom Ausgangspunkt der
NS-Verbrechen
gelöst hat, und sie muß dies tun, wenn sie nicht an den
jungen
Generationen vorbei operieren will. Ihre Aufgabe in einer nun
entfalteten
Demokratie ist nicht, politische Phänomene vorweg durch die Brille
einer bestimmten "erzieherisch wertvollen" Moral zu sehen, sondern
umgekehrt
moralische Begründungen in der Politik zum Thema der Reflexion zu
machen. Vorweg verpflichtet ist sie nur den Werten, die die Verfassung
vorgibt. Abgesehen davon ist die politische Bildung selbst keine
moralische
Instanz und geht nicht vorweg von bestimmten moralischen Positionen
aus,
mögen sie auch im Gewande des "erzieherisch Wertvollen"
daherkommen. Auch in diesem Punkte sieht die Praxis in den
Schulen
teilweise jedoch ganz anders aus. Es geht nicht mehr um
Aufklärung,
sondern eher um eine Moralisierung der politischen Welt, nun allerdings
nicht mehr in Sinne jener moralischen Polarisierung der siebziger
Jahre,
sondern im Sinne banal gewordener Selbstverständlichkeiten: die
Guten
und die Bösen werden geschieden, aber so, daß niemand sich
mehr
zu den Bösen rechnen muß. Ich hatte beim letzten Mal die
These
vertreten, daß Bildung im Sinne der Aufklärung über die
Welt und damit der Selbstaufklärung der Menschen ein Selbstzweck
sein
müsse, der nicht durch erzieherische Zwecke erst legitimiert
werden
müsse und dürfe (Giesecke 1999). Diese Tendenz hat es in der
politischen Bildung nur wenige Jahre gegeben, auf dem Höhepunkt
des
Einflusses der erwähnten Sozialwissenschaften, also etwa Ende der
fünfziger, Anfang der sechziger Jahre - also vor dem Auftreten der
Achtundsechziger-Bewegung; diese war - entgegen ihrer
Selbsteinschätzung
- gegenaufklärerisch und ist es mit den Generationen, die dann als
Lehrer in die Schulen kamen, bis heute geblieben. Jedenfalls haben die
von mir erwähnten Tendenzen der Politisierung und der
Moralisierung
die zarten Pflänzchen der politischen Aufklärung schnell
außer
Kraft gesetzt. 3 Das hängt nicht zuletzt mit der
subjektiven Wende
der Pädagogik seit Ende der siebziger Jahre zusammen. Der Blick
richtete
sich nun auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, Politik wurde
verstanden
als Rohmaterial für das Drama der jeweiligen Subjektivität.
Hatten
die Neomarxisten die politischen Institutionen immerhin noch anerkannt
- wenn auch mit dem Ziel, sie abzuschaffen oder umzukrempeln - so
wurden
diese nun intimisiert, nämlich auf unmittelbare menschliche
Beziehungen
reduziert. Hatten die Neomarxisten mit dem Klassenbegriff das
gesellschaftlich
Böse immerhin dingfest zu machen versucht, so verschwand es nun
ins
ungreifbar Allgemeine. "Irgendwie" liege es immer auch an der
Gesellschaft,
wenn Kinder und Jugendliche Probleme hätten und machten.
In den tonangebenden
schulpädagogischen
Konzepten,
die die Schulfächer am liebsten abschaffen wollen, findet das Fach
Politik nicht nur keine Unterstützung, in ihrem Rahmen ist auch
keine
vernünftige Rekonstruktion dessen mehr möglich, was
politische
Bildung eigentlich zu leisten hat. Im "Haus des Lernens" der
"Rau-Kommission"
(Bildungskommission ... 1995) ebenso wie im neuen
Allgemeinbildungskonzept
von Wolfgang Klafki (1996) verschwindet das Politische in
156
allgemeinen, von
möglichst allen
Fächern zu
bearbeitenden "Lerndimensionen" und "Schlüsselproblemen" (Giesecke
1998). Entgegen
modisch gewordener
subjektorientierter didaktisch-methodischer
Konstruktionen, die nicht zuletzt aus der Moralisierung der Politik
erwachsen
sind, ist darauf zu bestehen, daß Aufklärung sowohl im
historischen
wie auch im didaktisch-systematischen Sinne in erster Linie eine Sache
des Kopfes, des Verstandes ist, und daß von emotionaler
"Betroffenheit"
und bloß vordergründigem Engagement ohne Leitung durch den
Verstand
nach aller Erfahrung nichts Gutes zu erwarten ist.
4. In den vergangenen
Jahrzehnten wurden unter
dem Druck
der politischen und moralischen Legitimation alle nur denkbaren
politischen,
ideologischen und einzelwissenschaftlichen
Begründungszusammenhänge
sowie alle nur denkbaren methodischen Variationen durchgespielt, so
daß
wir uns heute von deren Plausibilität wie von ihrer
Leistungsfähigkeit
ein auf Erfahrung beruhendes Bild machen könnten. Das geschieht
aber
nicht, die didaktisch-methodische Diskussion setzt sich kaum mit diesem
Repertoire auseinander, sondern fängt immer wieder beim Nullpunkt
an, ist in diesem Sinne geschichtslos. Das führt zu neuen, nun
didaktisch-methodischen
Dogmatisierungen wie etwa der "Handlungsorientierung" (Breit/Massing
1998)
- bis in die Oberstufe des Gymnasiums hinein. Die dazu
veröffentlichten
Unterrichtsbeispiele sind an Trivialität kaum noch zu
überbieten.
Das Politische wird hier nicht mehr als ein objektiver, nämlich
außersubjektiver
Zusammenhang von Tatsachen, Strukturen, Institutionen und deren
Wechselwirkungen
begriffen, aus deren Aufklärung sich angemessene politische
Vorstellungen
ergeben könnten, sondern als eine chaotische Realität, aus
der
sich die Schüler per Handeln einen ihnen passende Wirklichkeit
konstruieren
sollen. Die Denunziation des Kognitiven führt zu neuen
Denkverboten. 5. Auch die politische Bildung unterliegt wie
jede andere
Erziehungsaufgabe dem Wechsel der Generationen. Jede neu heranwachsende
Generation findet auf Grund ihrer besonderen Sozialisationsbedingungen
auch einen neuen Zugang zu den Tatbeständen der Politik. Was sie
daran
für bedeutsam hält, ob und in welchem Maße sie sich
dafür
überhaupt interessiert, hängt sehr wesentlich von den
Erfahrungen
ab, die sie sonst in ihrem Leben macht. Die heutigen Schüler haben
z.B. keinen eigenen Bezug mehr zu Krieg und Nachkriegszeit und somit
auch
nicht zu den moralischen Implikationen, die daraus für die
älteren
Generationen hervorgegangen sind. Ähnlich war es bei der deutschen
Vereinigung; während die Älteren im allgemeinen darin schon
deshalb
ein bedeutsames Ereignis sahen, weil sie mit dem anderen Teil
Deutschlands
auf vielfältige persönliche und biographische Weise noch
verbunden
waren, fehlten den Jüngeren solche Bezüge schon
weitgehend. Aus dieser unausweichlichen
Generationendifferenz ergeben
sich eine Reihe von Problemen. Dazu gehört, daß die
inzwischen
geradezu ritualisierte Beschwörung der NS-Vergangenheit die Jungen
auf Dauer immer weniger beeindrucken wird,
157
weil sie daraus für sich selbst
kaum noch
verbindliche
Schlußfolgerungen im Hinblick auf ihr eigenes Leben ziehen
können.
Die politische Bildung der Nachkriegszeit war trotz - oder gerade wegen
- des Desasters der NS-Zeit zukunftsorientiert; darin lag ihre
Attraktivität
etwa für meine Generation. Heute scheint sie diesen Zukunftsbezug
verloren zu haben. Verliert sie aber die Zukunft der jetzt
Heranwachsenden
aus dem Blick, kann sie das schlecht mit der Vergangenheit ihrer
Urgroßeltern
rechtfertigen oder gar kompensieren.
Was bleibt also von der
politischen
Bildung? Man
könnte vielleicht sagen, daß
sie ein Produkt
der Nachkriegsgeschichte war und mit deren Ende auch ihre Berechtigung
verloren hat. Dafür spricht, daß weder die Politik noch die
Erziehungswissenschaft bzw. Schulpädagogik an ihr ein nachhaltiges
Interesse mehr zu haben scheinen. Was in den Schulen heute unter diesem
Namen betrieben wird, was in den Richtlinien und Schulbüchern
steht,
könnte in der Tat weitgehend ersatzlos gestrichen werden, weil es
die Mühen des Lernens nicht lohnt. Was gegenwärtig ansteht,
ist
eine Kritik des politischen, besser: entpolitisierten
Selbstverständnisses
der Schulpädagogik überhaupt, und dafür ist der
Rückblick,
wie ihn uns Dietrich Hoffmann vorgelegt hat, wieder von aktuellem
Nutzen. Literaturverzeichnis
Bildungskommission
Nordrhein-Westfalen
(Hrsg.): Zukunft
der Bildung - Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission "Zukunft
der
Bildung - Schule der Zukunft beim Ministerpräsidenten des Landes
Nordrhein-Westfalen.
Neuwied 1995
Blankertz
H./Hoffmann D.: Geschichtsunterricht
und politische
Bildung. In: I. Dahmer/W. Klafki: Geisteswissenschaftliche
Pädagogik
am Ausgang ihrer Epoche - Erich Weniger. Weinheim o. J., S. 175
ff. Breit,
G./Schiele, S. (Hrsg.):
Handlungsorientierung im
Politikunterricht. Schwalbach 1998
Giesecke,
H. : Politische Bildung.
Didaktik und
Methodik
für Schule und Jugendarbeit. Weinheim/München 1993
Giesecke,
H.:
Pädagogische Illusionen.
Lehren aus
30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart 1998
Giesecke,
H.: Rückkehr zur
Bildung? In:
D. Hoffmann
(Hrsg.): Rekonstruktion und Revision des Bildungsbegriffs. Weinheim
1999,
S. 125-131
Hoffmann,
D.: Politische Bildung 1890 - 1933.
Ein Beitrag
zur Geschichte der pädagogischen Theorie. Hannover 1970.
Klafki,
W.: Neue
Studien zur Bildungstheorie
und Didaktik,
5. Aufl. Weinheim 1996
Litt,
Th.: Die politische Selbsterziehung des
deutschen
Volkes. Bonn 1957
Spranger,
E.: Gedanken zur
staatsbürgerlichen Erziehung.
Bonn 1957
Weniger, E.:
Politische Bildung und
staatsbürgerliche
Erziehung. Würzburg 1964
158
209.
Hauptsache happy. Martha und William Pieper erziehen "mit Herz und
Verstand"
– aber scheuen dabei vor Konflikten zurück (2001)
In:
Psychologie heute
H. 6/2001, S. 72-73 Martha
Heineman Pieper/
William J. Pieper: Smart Love. Erziehen mit Herz und Verstand.
Stuttgart:
Klett-Cotta-Verlag 2001, 336 S., DM 29,50
Zentraler Begriff dieses
angeblich "neuen"
Erziehungskonzeptes
ist "Zufriedenheit" (happiness). "Primäre" Zufriedenheit schaffen
die Eltern dadurch, dass sie die jeweils altersspezifischen
Bedürfnisse
des Kindes erfüllen. Das Bewusstsein, auf diese Weise
bedingungslos
von seinen Eltern geliebt zu werden, ja, diese Liebe selbst bewirkt zu
haben, ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind sich im Umgang
mit
der Außenwelt eine "sekundäre" Zufriedenheit erwerben kann,
die es vor Fehlentwicklungen bewahrt. Zunächst schöpft das
Kind
seine sekundäre Zufriedenheit lediglich aus seinen
Allmachtsphantasien.
Die dabei notwendigerweise entstehenden Enttäuschungen kann es nur
überwinden, wenn es lernt, ein "kompetentes Selbst" zu entwickeln,
sich konstruktive Ziele zu setzen und diese konsequent zu verfolgen. In
der Hilfe dazu besteht der von den Eltern anzuleitende Prozess der
Erziehung.
Die dafür erforderliche Strategie setzt nicht auf Nachgiebigkeit
oder
Strenge, sondern auf "einfühlsames Lenken" (loving regulation):
das
Kind von falschem Verhalten ablenken und wegführen, ihm statt
dessen
lohnende Ziele anbieten und vor allem niemals das Gefühl geben,
man
entziehe ihm seine Liebe. Deshalb sind weder Belohnung noch Bestrafung
angemessene Erziehungsmittel, aber auch antiautoritäres
Gewährenlassen
wird - als lediglich bequemes Elternverhalten - entschieden
abgelehnt. Nachdem die ersten drei Kapitel die Grundlagen
des Erziehungskonzeptes
"Smart Love" ausführlich vorgestellt haben, befassen sich die
folgenden
mit den einzelnen Stufen der kindlichen Entwicklung: ein bis drei
Jahre,
drei bis sechs Jahre, sechs bis zwölf Jahre, dreizehn Jahre und
älter.
An Hand einer Fülle von Fallbeispielen wird erläutert, welche
altersspezifischen Bedürfnisse jeweils zu berücksichtigen
sind,
damit die Eltern lernen, die Welt aus der Perspektive ihres Kindes zu
betrachten. Offensichtlich soll "Smart Love" - "Erziehen
mit Herz
und Verstand" - mehr sein als nur ein neuer Elternratgeber,
nämlich
Leitmotiv für eine Art von Erziehungsbewegung. Dafür spricht,
dass der Verlag für die Werbung "ein attraktives Dekopaket ... mit
Smart Love T-Shirts, Poster und Smarties" zur Verfügung stellt,
aber
auch, dass die wenigen Prinzipien in immer neuen Variationen im Text
wiederholt
werden - einschließlich des ständigen Versprechens, dass
"Smart
Love" funktioniere, wenn man sich an dessen Grundsätzen
orientiert.
Sollte das trotzdem einmal auf Dauer nicht erfolgreich sein,
müsste
ein Therapeut zu Rate gezogen werden. Die Autoren - ein Ehepaar mit
fünf
Kindern - leben in Chicago und arbeiten selbst therapeutisch bzw.
psychiatrisch
mit Kindern und Eltern. Sie sind der festen Überzeugung, dass die
Prinzipien von "Smart Love" für alle mit Kindern und Jugendlichen
befassten Berufe Gültigkeit haben, also auch z.B. für
Lehrer. Die
Lektüre hinterlässt einen
zwiespältigen
Eindruck. Liest man das Buch unter pragmatischen Gesichtspunkten,
findet
man eine Fülle in sich vernünf- 72 tiger und plausibler Ratschläge und
Reflexionen,
deren Beachtung Kindern in den verschiedenen Altersstufen gewiss zu
helfen
vermag. Auch das Motiv der "Zufriedenheit" kann als Orientierungspunkt
für das elterliche Handeln und Gewährenlassen sicherlich weit
tragen. Problematisch sind jedoch die mit Eifer verkündeten
Übertreibungen
und Einseitigkeiten. Keine Rolle spielt, dass der Mensch - und eben
auch
ein Kind - einfach böse sein und mit diesem Verhalten durchaus
zufrieden
sein kann. Wie sollen Eltern im Alltag die richtige von der falschen
Zufriedenheit
unterscheiden können? Wie auch in anderen therapeutischen
Konzepten
bleibt den Eltern hier die Verlegenheit, einer Theorie gehorchen zu
sollen,
deren Maßstäbe zwar plausibel klingen, aber tatsächlich
nicht oder nur ungenügend zu verifizieren sind. "Smart Love" ist
eine
jener therapeutischen Erziehungstheorien, die schon von ihrer
Konstruktion
her nicht falsch sein, sondern nur falsch angewandt werden können.
Zudem wehren die Autoren vehement ab, dass wichtige
Persönlichkeitsmerkmale
auch genetisch bedingt, also vererbt sein können, was ihrem
optimistischen
Menschenbild widersprechen würde. Das Konzept ist ausgesprochen
konfliktscheu,
Auseinandersetzungen mit den Kindern sollen möglichst vermieden
oder
ablenkend umgeformt werden, damit die "primäre Zufriedenheit"
nicht
gestört wird. Dadurch kommt in die Eltern-Kind-Beziehung - wie
zahlreiche
Fallbeispiele zeigen - eine übertriebene therapeutische Tendenz,
die
- fortlaufend angewandt - durchaus selbst zum Problem werden kann.
Diese
Strategie soll sogar bis in die Adoleszenz aufrechterhalten werden, wie
überhaupt irritiert, dass vom Umgang mit dem Baby bis zur
Adoleszenz
eigentlich nichts Neues an Erziehungseinwirkungen und Erziehungsmitteln
hinzu kommt. Unrealistisch wird das Konzept aber vor allem
dadurch,
dass es die sozialen Dimensionen nur ungenügend würdigt. Es
setzt
auf die Innerlichkeit des Kindes, auf seine Fähigkeit diese zu
steuern.
Die Außenwelt wird - durchaus in idealistischer Tradition - als
Bewährungsfeld
dieser Innerlichkeit verstanden. Aber schon die Familie selbst ist mehr
als nur die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, sie ist eine
Lebensgemeinschaft.
Es geht nicht nur um die Balance zwischen den ichbezogenen
Ansprüchen
der Eltern und den Bedürfnissen des Kindes, sondern immer auch um
die stabilisierende Reproduktion dieser Gemeinschaft. Das gilt erst
recht
für andere soziale Formationen, in die das Kind bzw. der
Jugendliche
eintritt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass für eine ganze Reihe
von Jahren die Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt zu stehen
haben,
wird das Soziale irgendwann sein Eigenrecht anmelden, und dann geht es
eben doch um Belohnungen für erwünschtes Verhalten und um
Sanktionen
für unerwünschtes. Irgendwann muss also das Kind auch lernen,
dass Liebe und andere positiven Gefühle keine Einbahnstraße
sind, sondern durch eigene soziale Aktivität erhalten und
gestaltet
werden müssen. Fazit: Ein interessantes Buch, von dem man
jedoch erst
dann etwas hat, wenn man es auch gegen den Strich liest. Als
Grundschrift
einer neuen Erziehungsbewegung taugt es allerdings nicht.
73
 210.
Am Ende pädagogischer Illusionen?
(2001) Erwägungen für
ein Bildungskonzept der Zukunft
In: Andrea
Grimm /Hans-Peter Burmeister
(Hrsg.): Bildung neu denken. Aufbrüche zwischen Bildungskanon und
Selbstorganisation. Rehburg-Loccum 2001, S. 51-57 ( = Loccumer
Protokolle
66/99)
Ich halte
"Bildung", wie sie im klassischen
Bildungskonzept
etwa von Humboldt formuliert wurde, für die einzig tragfähige
pädagogische Idee der Moderne - etwa im Unterschied zu den
reformpädagogischen
Axiomen und Maximen, wie sie heute wieder in Mode sind. Dies zu
vergessen,
ist der zentrale Fehler der bildungspolitischen Entwicklung der letzten
dreißig Jahre gewesen. Im Gegensatz dazu erscheint es mir
nötig,
die epochal bedeutsame Substanz dieses Konzeptes wieder in den Blick zu
nehmen. Wenn man
zeitgenössische Einseitigkeiten
bereinigt
(z.B. Fixierung auf die antike Welt), beruht die moderne Bildungsidee
im
wesentlichen auf der Einsicht, daß der Mensch mehr ist, als in
seinem
Alltag von ihm verlangt und erwartet wird, daß seine grundlegende
Bildung also nicht aus der bloßen Zurichtung für diese seine
Alltagsaufgaben bestehen dürfe, ja, daß Bildung sich auch
nicht
aus der Summe des Lernens für die alltäglichen Funktionen
ergibt.
Im Gegenteil: Je allgemeiner jemand gebildet ist, um so mehr kommt dies
auch seinen speziellen Tagesaufgaben, etwa im Beruf, zugute. Die
Leitfrage
ist also: Was muß man lernen, wenn man nicht wissen kann, was man
in Zukunft wissen muß? Gerade
ein Blick in die gegenwärtige
berufspädagogische
Diskussion läßt erkennen, wie vorausschauend diese Einsicht
war: Der überlieferte Versuch, die Arbeitswelt als eine Summe
voneinander
abgrenzbarer Einzelqualifikationen zu verstehen, die in einem je
spezifischen
Berufsbild zusammengefaßt werden können, ist inzwischen
gescheitert,
weil die beruflichen Anforderungen ständig im Fluß sind. Als
beste Berufsausbildung hat sich vielmehr eine optimale Allgemeinbildung
erwiesen. Das Moderne an diesem Konzept besteht vor
allem in folgenden
vier Punkten: -
es nimmt die fundamentale
Demokratisierung der
Gesellschaft vorweg; 51 - es akzeptiert die
faktische und die
normative
Pluralisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse;
- es enthält ein plausibles
Programm
für
die in der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft notwendigen
Individualisierungsprozesse; -es ist auf eine lebenslange Perspektive
gerichtet
und deshalb geeignet zur geistigen Durchdringung horizontaler wie
vertikaler
Mobilität. Demokratisierung Insofern das
Bildungskonzept prinzipiell
für alle
Menschen, nicht nur für eine bestimmte Gruppe, gedacht wurde, war
es ein demokratisches, auch wenn den Erfindern diese Konsequenz nicht
unbedingt
klar war. Faktisch hat es die Demokratisierung der Gesellschaft und
damit
zusammenhängend ihre Mobilität, die Aufweichung von Klassen-
und Standesschranken vorweggenommen. Demokratisierte Bildung erreicht
man
also gerade nicht dadurch, daß man sich an die Lebenswelten der
Kinder
fixiert, sondern umgekehrt dadurch, daß man dazu in Distanz
tritt,
ohne sie zu ignorieren. Insofern halte ich dem widersprechende
schulpädagogische
Konzeptionen der Gegenwart für objektiv, nämlich in einem
ideologiekritischen
Sinne, anti-demokratisch. Pluralisierung Die gesellschaftliche und normative
Pluralisierung ist
eine notwendige Implikation dieser demokratischen Komponente. Das eine
ist nicht ohne das andere zu haben. Parteien, Religionen,
Weltanschauungen,
Lebenskonzepte, Normen diesseits des Strafrechts treten in Wettbewerb
miteinander
und werden deshalb wählbar - das ist die subjektive Seite der
objektiven
Pluralisierung. Den Konsequenzen dieser Tatsache ist die deutsche
Pädagogik
immer wieder entflohen - nicht zuletzt die Reformpädagogik alter
und
neuer Provenienz. Pädagogisch gesehen entsteht daraus die Frage,
wie
ein gemeinsamer Schulunterricht in der Sache - nicht auf der heute so
in
den Vordergrund gerückten Beziehungsebene - aussehen kann, der
solche
Wahlmöglichkeiten nicht dem anything goes
überläßt,
sondern sie einerseits nicht vorwegnimmt, andererseits aber fundierte
sachliche
Einsichten dafür bereitstellt. Ei- 52 ne
der Konsequenzen aus dieser Sachlage ist,
daß
Emotionen, Haltungen, Einstellungen, die im Zuge des Bildungsprozesses
entstehen, den Pädagogen und ihren Auftraggebern nicht mehr
verfügbar
sein dürfen, nicht mehr zur Disposition stehen. Auch in dieser
Hinsicht
gibt es keine Alternative zum Bildungskonzept, alles andere, was
versucht
wurde, hat sich immer bemüht, mit erzieherischen Begründungen
die Optionen wieder auszuschalten oder zumindest zu
verringern. Individualisierung Individualisierung ist nicht das Resultat einer
pädagogischen
Wohltat, sondern eine für den Einzelnen wie für die
Gesellschaft
notwendige Konsequenz aus den Prozessen der Demokratisierung und
Pluralisierung.
Die immer größer gewordenen Optionsspielräume
müssen
ausgefüllt werden, und sie können nur gestaltet werden durch
Entscheidungsleistungen der einzelnen Personen, woher immer diese ihre
Kriterien dafür nehmen. Der Beitrag des Bildungskonzeptes zur
Individualisierung
besteht in seiner eigentümliche Subjekt-Objekt-Beziehung. Es geht
nicht um Stoffhuberei, nicht um die bloße Einverleibung eines
objektiv
vorgegebenen Kanons, sondern um eine je subjektive Auseinandersetzung
damit,
um das ständige Abarbeiten der Differenz zwischen der bisherigen
Erfahrung
und den dazu kontroversen, sich im biographischen Verlauf steigernden
Ansprüchen
der Sache. In diesem Spannungsverhältnis spielt sich der
Bildungsprozeß
ab. Individualisierung meint hier nicht bloße Subjektivität
im Sinne des "ich meine, daß..." oder "ich hab keinen Bock"; sie
gilt nicht als anthropologische Vorgabe, als sei sie eine
herauszukitzelnde
innerpsychische Realität; sie wird vielmehr als Aufgabe
verstanden,
das Nichtsubjektive, nämlich die außersubjektive Welt, in
ihrem
Sosein ernst zu nehmen. Individualisierung erwächst als Resultat
aus
einem spezifischen geistigen Prozeß, nicht aus bloßer
Wahrnehmung
von Wahlfreiheit, von Optionen. Diese Maßgabe ist deshalb so
bedeutsam
für das Verständnis von Individualisierung, weil es diesem je
individuellen Prozeß - im Unterschied zum Methodenkokolores der
gegenwärtigen
Schulpädagogik - die subjektivistische Willkür nimmt, ihn
statt
dessen bindet an objektive Anforderungen und ihn so auch
verschränken
kann etwa mit sozialen und gesellschaftlichen Pflichten.
53 Diese Maßgabe hat natürlich Folgen
für
die Art und Weise eines bildenden Unterrichts, für den etwa die
Schülerfrage
von entscheidender Bedeutung ist. In der ernsthaften Schülerfrage
wird die Verbindung von der bisherigen Erfahrung zum damit
konfrontierten
neuen Stoff hergestellt. Bildungslernen ist also per definitionem
selbsttätiges
Lernen, das nicht als spezielle Methode erst inszeniert oder
hinzugefügt
werden muß. Lebenslänglichkeit
"Lebenslanges Lernen" ist ein
Schlagwort der
Gegenwart,
mit dem auch in der Pädagogik alles mögliche begründet
wird.
Meist wird damit jedoch lediglich Anpassung an wechselnde berufliche
Erfordernisse
gemeint. Aber durch ständiges Lernen gesellschaftliche
Veränderungsprozesse
immer wieder ins Bewußtsein zu nehmen, ist eine viel komplexere
Aufgabe,
weil diese Veränderungen eben nicht nur beruflicher Natur sind,
sondern
alle Seiten des menschlichen Lebens betreffen, also auch alle
gesellschaftlichen
Teilhabemöglichkeiten ebenso wie das personale
Selbstverständnis.
Dieser Tatsache vermag die Bildungsidee, die nicht nur auf die
Schulzeit
beschränkt ist, eher als andere pädagogische Ideen Rechnung
zu
tragen, weil sie einen Standpunkt oberhalb der Anpassungsprozesse
beziehen
kann. Das
demokratische Element der Bildung
läßt
sich konkretisieren in der Forderung, daß alle Bürger die
prinzipiell
gleiche Chance der Partizipation an den gesellschaftlichen
Möglichkeiten
erhalten sollen; Bildung soll sie eben dazu in den Stand setzen. Nun
kann
man diese Teilhabemöglichkeiten genauer differenzieren, indem man
etwa zwischen politischer, kultureller und beruflicher Teilhabe
unterscheidet;
das würde hier aber zu weit führen. Jedenfalls geht es um
grundsätzlich
gleichberechtigte Partizipation an allem, was die Gesellschaft zu
bieten
hat, wobei die aus mancherlei Gründen - zB. schon aus
Zeitgründen
- notwendigen Einschränkungen das Individuum jeweils selbst
vornehmen
muß. Aus
dieser Forderung nach optimaler
gesellschaftlicher
Partizipation prinzipiell aller Gesellschaftsmitglieder ergibt sich
aber
ein historisch neues Problem. Die frühere soziale Begrenzung der
Lebensperspektive
im Hinblick etwa auf das Arbeiter-, Bauern- oder
Bildungsbürgermilieu
ermöglichte auch eine entsprechende didaktische Beschränkung
des Bildungsangebotes und machte dieses sogar sinnvoll. Wenn
54 sich aber erst in der Zukunft entscheidet, in
welchem
beruflichen und kulturellen Rahmen das Kind sich dann als Jugendlicher
oder Erwachsener bewegen wird, entsteht eine eigentümliche
Unschärfe.
Das Bildungsangebot muß dann nämlich relativ abstrakt
konzipiert
werden, zumindest am Anfang gleich für den künftigen
Philosophieprofessor
wie für den ungelernten Arbeiter, für den künftigen
Berufspolitiker
wie für den politisch Uninteressierten, für den Techno-Fan
wie
für den Mozartliebhaber. Das wiederum führt zu der
ständigen
und auch immer wieder zu hörenden Sorge, man müsse vielleicht
etwas lernen, was man künftig nicht gebrauchen könne. Das
kann
im Einzelfall so sein, ist aber grundsätzlich nicht zu vermeiden.
Diese Unsicherheit ist der Preis, der für eine demokratisierte
Bildung
zu zahlen ist. Der Schrei nach "Praxisorientierung" bis hin zur
Hochschule
ist der Versuch, diesen Preis zu verweigern.
Bildung ist also der Versuch, aus der
Distanz zu
den
aktuellen Bedürfnissen und Handlungsinteressen heraus die Welt im
direkten Zugriff dem Denken und damit auch dem Verhalten verfügbar
zu machen. Dazu muß sie - auf der Grundlage wissenschaftlicher
Erkenntnisse
über sie - in bearbeitbare Bereiche, nämlich
Schulfächer,
aufgeteilt werden, die nicht nur je besonderes Wissen, sondern mehr
noch
spezifische Methoden seiner Gewinnung und damit kategoriale
Vorstellungen
vermitteln. Beispiel: Die Physik kennt das Lebendige nicht, kann es
aber
gleichwohl nach ihren Regeln partiell erforschen. Konstitutiv für
Bildung ist also ein Kanon von Fächern, Stoffen und Methoden.
Für
einen solchen Kanon gibt es allerdings keine von irgendwoher
deduzierbare
Gewißheit. Aber es gibt Gesichtspunkte einer vernünftigen
Auswahl
und Begründung: -
die Beschränkung auf Grundlagen, von
denen
aus Weiterbildung möglich ist. Was muß an Grundlagen bekannt
sein, um je nach Interesse oder gesellschaftlicher Notwendigkeit
erfolgreich
an Weiterbildungsmaßnahmen in den Massenmedien oder auf dem
Bildungsmarkt
teilnehmen zu können? Unter diesem Gesichtspunkt kann der
Schulstoff
erheblich zusammengestrichen werden. Außerhalb des Gymnasiums
reicht
Englisch als Fremdsprache aus. - Die Berücksichtigung der modernen
Informationstechnologie.
Diese macht, was leicht übersehen wird, das Lernen nicht nur
leichter,
sondern auch schwieriger, nämlich abstrakter, wie jeder
weiß,
der damit arbeitet. Prinzipien, Regeln, Begriffe, Methoden usw. treten
in den Vordergrund. 55 Bildungslernen
bleibt in seinem Kern an einen
Kanon von
Fächern und Stoffen gebunden, mag es darüber hinaus auch
schon
in der Schule Wahlentscheidungen geben. Zur Bildung gehören auch
solche
Fächer und Stoffe, die man nicht mag; sonst fällt das eben
charakterisierte
eigentümliche Subjekt-Objekt-Konstrukt in sich zusammen.
Die Bildungsgeschichte zeigt,
daß die
aufklärerische
Emanzipation von den Determinanten der unmittelbaren
Lebensvollzüge
- die ja zumindest imaginativ auch immer Distanz von
Herrschaftsansprüchen
war und ist - stets durch erzieherisch formulierte Kanalisierungen
konterkariert
wurde. Bis heute muß sich Bildung dadurch rechtfertigen,
daß
sie auf ihre erzieherischen Vorteile verweist. Sie sollte im
Wilhelminismus
staatstreu sein, im NS völkisch, in der Gegenwart wird von ihr
etwa
solidarische, sozialintegrative und multikulturelle Gesinnung
erwartet. Bildung
wird in diesem Verständnis
gleichsetzt mit
einer bestimmten moralischen Qualität der Person. Aber Bildung ist
keine Garantie für Gutmenschentum. Auch viele SS-Männer waren
gebildet, und nicht wenige der RAF-Terroristen gehörten zu den
Gebildetsten
ihrer Generation. Bildung ist nicht mehr als eine Hoffnung auf
Humanität,
ob diese zum Zuge kommt, hängt nicht vom pädagogischen
Konzept
selbst ab, sondern weitgehend von den Sozialisationsbedingungen, auf
die
der Erwachsene dann trifft. Wer sich bildend mit der Welt beschäftigen
will,
muß sich gewiß bestimmten erzieherisch zu verstehenden
Implikationen
fügen: Er muß eine gewisse Disziplin aufbringen, kooperativ
mit anderen umgehen, sich tolerant gegenüber anderen Meinungen
verhalten,
sonst wird daraus nichts. Aber darüber hinausgehende erzieherische
Ansprüche müssen anders begründet werden, nämlich
mit
der Notwendigkeit sozialer und gesellschaftlicher Normen und Regeln.
Solche
Begründungen haben ihren eigenen Sinn und ihre eigene
Dignität,
aber sie gelten auch ohne die Ansprüche der Bildung. Erziehung ist
immer nötig, Bildung dagegen, insbesondere Bildung für alle,
ist eine Zutat, die sich eine Gesellschaft erst einmal leisten
können
muß und will. Die
demokratischen Tendenzen des Bildungsbegriffs
werden
sich erst dann durchgesetzt haben, wenn die aufklärende Bildung
sich
von erzieherischen Attitüden emanzipiert hat, Bildung also als ein
pädagogischer Selbstzweck verstanden wird, der keiner anderen
Rechtfertigung
mehr bedarf. 56
Literaturhinweis:
Hermann Giesecke:
Pädagogische
Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart
1998
57
211.
Wie führe ich einen neuen Partner in meine Familie ein? (2001)
In:
www.familienhandbuch.de https://www.familienhandbuch.de/teil-und-stieffamilien/teilfamilien/wie-fuhre-ich-einen-neuen-partner-in-meine-familie-ein Auch
alleinerziehende Eltern haben ein Recht auf eine befriedigende
Partnerbeziehung, das grundsätzlich nicht von der Zustimmung der Kinder
abhängig sein darf. Lebt der andere – männliche oder weibliche – Partner
außerhalb der Einelternfamilie, hat er in ihr den Status eines von
den Kindern im allgemeinen akzeptierten Gastes. Soll er jedoch auch in
der Familie als deren Mitglied dauerhaft wohnen, können spezifische
Probleme entstehen, weil er dann von außen kommend auf eine bereits
ausgeprägte sozio-emotionale Struktur trifft, an deren Entstehung er
nicht von Anfang an mitgewirkt hat. Zudem muss er in die
Erziehungsaufgabe produktiv einbezogen werden. Der Artikel gibt Hinweise
für mögliche Lösungen dieser Probleme. Nach dem
Tod eines Partners oder öfter
noch nach
einer Trennung oder Scheidung bleibt in der Regel ein Partner mit den
gemeinsamen
Kindern in einer Alleinerzieherfamilie zurück. In vielen
Fällen
entsteht dann die Absicht, mit einem neuen Partner eine Verbindung
einzugehen.
Dabei entsteht das Problem, wie man im Hinblick auf die Kinder den
neuen
Partner in die Familie einführen soll.
Normalerweise haben die
Mitglieder einer
Familie eine
Reihe von Außenkontakten zu Freunden und Bekannten, die mehr oder
weniger häufig zu Gast sind und manchmal sogar in der Wohnung
übernachten.
Zu diesen Gästen dürfte im allgemeinen auch der in Aussicht
genommene
neue (männliche oder weibliche) Partner des allein mit den Kindern
lebenden Elternteils gehören. Jedenfalls sollte er nicht als eine
Art Überraschungsgast den Kindern plötzlich als neues
Familienmitglied
präsentiert werden. Sein Status als Gast ermöglicht es den
Kindern,
sich ihm mit einer gewissen Distanz offen und beobachtend zu
nähern.
Eine Bedrohung entsteht erst dann, wenn der neue Partner in die Wohnung
einzieht oder wenn umgekehrt seinetwegen ein Umzug bevorsteht. Dieser
Schritt
muss sorgfältig überlegt werden, denn davon sind die Kinder
unmittelbar
in ihrem Alltagsleben betroffen. Er sollte nur dann erfolgen, wenn die
beiden Erwachsenen sich ihrer Beziehung hinreichend sicher sind, wenn
sie
nach ihrer Einschätzung langfristig eine Chance hat.
Möglichst
vermieden werden sollte, dass eine Beziehung nach dem Zusammenziehen
scheitert
und sich dieser Vorgang vielleicht sogar noch mehrmals mit anderen
Personen
wiederholt. Diese Erfahrung könnte das Vertrauen der Kinder in die
soziale Stabilität ihrer Familie erschüttern. In der Regel -
vor allem wenn keine zwingenden finanziellen Gründe vorliegen -
spricht
wenig dafür, das Zusammenziehen mit Eile zu betreiben. Nicht
selten
bestehen glückliche Partnerschaften über mehrere Jahre,
obwohl
mit Rücksicht auf die Kinder - vor allem, wenn beide Erwachsene
mit
eigenen Kindern leben - jeder seine eigene Wohnung behalten
hat. Im
Unterschied zu früheren Zeiten ist
heute weitgehend
unbestritten, dass auch allein erziehende Eltern ein Recht auf eine
befriedigende
Partnerschaft haben. Auch in einer "normalen" Familie ist die Beziehung
der Eltern eine eigenwertige und eigenständige, die nicht von der
Zustimmung der Kinder abgeleitet oder gar davon abhängig sein
darf.
Im Falle der Scheidung oder Trennung wird diese Tatsache oft dadurch
überdeckt,
dass gegenüber den Kindern ein schlechtes Gewissen
zurückbleibt,
weil der andere Elternteil nun abwesend sein muss, wodurch die Neigung
entstehen kann, das eigene Leben um das der Kinder herum zu zentrieren.
Ein schlechtes Gewissen ist aber meist auch ein schlechter
pädagogischer
Ratgeber. Bei nüchterner Betrachtung ist nicht einsichtig, dass
ein
Leben ohne Partner für die Kinder in irgendeiner Hinsicht
nützlich
sein könnte, es ist vielmehr zu erwarten, dass auch das
Wohlergehen
der Kinder auf die Dauer ganz wesentlich davon abhängt, ob der mit
ihnen lebende Elternteil sich in einer befriedigenden Partnerschaft
aufgehoben
fühlt. Dafür
kann es verschiedene Formen geben.
Nicht selten
wird versucht, zumindest in der ersten Phase die Beziehung zum Partner
strikt vom Familienleben zu trennen. Man trifft sich mit ihm
möglichst
außerhalb der eigenen Wohnung, um die Kinder heraus zu halten,
die
unter Umständen von dieser Beziehung gar nichts wissen. Das hat
den
Vorteil, dass die Kinder sich an den Partner gar nicht erst
gewöhnen
müssen und dann vielleicht enttäuscht sind, wenn die
Beziehung
ein Ende hat. Die Frage ist nur, wie befriedigend eine solche Beziehung
auf Dauer sein kann, wenn ein so wesentlicher Teil wie das eigene
Familienleben
ausgeblendet bleiben muss. Zudem können Kinder, wenn sie davon
etwas
bemerken oder vermuten, unnötige Ängste entwickeln.
Eine weitere
Möglichkeit ist, dass der
neue (männliche
oder weibliche) Partner zwar seine eigene Wohnung behält, somit im
Gaststatus verbleibt, den Kindern aber bekannt ist und an ihrem Leben
Anteil
nimmt. In diesem Falle kann er von großem Nutzen für die
Kinder
sein, wenn sie ihn akzeptiert haben. Dass er keinerlei Erziehungsrechte
und auch keine Rechte geltend machen kann, die aus gemeinsamem
familiärem
Zusammenleben erwachsen, kann dabei eine Chance sein: Der Partner kann
den Kindern gegenüber unbefangen bleiben, ein freundschaftliches
Verhältnis
aufbauen, ohne stiefväterliche oder stiefmütterliche
Pflichten
übernehmen zu müssen. Manche Paare sind sicher gut beraten,
wenn
sie es bei dieser Konstellation belassen, in der Überzeugung, dass
dies für sie die richtige Mischung aus Nähe und Distanz
ist. Eine
neue Qualität tritt jedoch ein, wenn
der Partner
zum Mitglied der Familie wird, also mit ihr eine gemeinsame Wohnung
bezieht
und rund um die Uhr mit ihr zusammen lebt - mit oder ohne Trauschein.
Dann
wird er nämlich notwendigerweise zum Stiefelternteil, was schlecht
gegen den Willen der Kinder einfach durchgesetzt werden kann, weil dann
die soziale Stabilität der Familie auf dem Spiel steht.
Vorausgehen
sollte einem solchen Schritt deshalb eine längere Bekanntschaft,
innerhalb
derer der Mann bzw. die Frau die Kinder auch kennen lernt und mit ihnen
eine beiderseits zufrieden stellende Beziehung aufbauen kann. In dieser
Zeit können zum Beispiel Ängste von Kindern abgebaut werden,
ob sie nun berechtigt sind oder nicht. Niemand kann sich seine
Ängste
aussuchen. Ein Kind kann zum Beispiel Angst davor haben, dass durch den
neuen Partner die soziale Stabilität der Familie bedroht wird,
oder
dass es gezwungen werden soll, eine bestimmte Art von Beziehung zu ihm
einzugehen, oder dass dem Kind etwas verloren geht, auf das es wirklich
einen Anspruch hat, wie die Zeit der Mutter bzw. des Vaters oder
genügend
Aufmerksamkeit für seine Pläne und Probleme. Ist eine
Trennung
oder Scheidung vorausgegangen, befürchten Kinder zudem oft, dass
sie
auch noch den zweiten Elternteil verlieren könnten, dass also der
neue Partner sie ihnen wegnimmt und die Kinder allein
zurückbleiben
könnten. Die
eigentlichen Probleme entstehen aber durch
die notwendige
Neuordnung der inneren Sozialstruktur. Jede Familie entwickelt eine
bestimmte
Beziehungsstruktur sowie Rollenpositionen ihrer Mitglieder, die durch
jeden
Neuzugang - ob Kind oder Erwachsener - in Frage gestellt wird und
umorganisiert
werden muss. So ist es ein erheblicher Unterschied, ob ein einziger
Erwachsener
vorhanden ist, oder ob zwei Erwachsene nun gemeinsam agieren.
Alltägliche
Routinen wie Fragen des Tagesablaufs, der Ästhetik der
Wohnungseinrichtung,
der Ordnung und der Arbeitsteilung müssen nun neu geregelt, neue
Formen
der Beratung und Entscheidung müssen gefunden werden.
Der Stiefelternteil
kennt zudem - im
Unterschied zu einer
Erstfamilie - nicht die frühere Geschichte der Familie und vor
allem
der Kinder aus eigener Erfahrung, weil er nicht von Anfang an dabei
gewesen,
sondern später hinzugekommen ist. Diese Differenz lässt sich
zwar bis zu einem gewissen Grade durch Erzählungen kompensieren,
aber
nie wirklich ganz beseitigen. Im Falle der Scheidung oder Trennung
tritt
der Stiefelternteil zudem an die Stelle des abwesenden leiblichen
Elternteils,
was bei den Kindern Loyalitätskonflikte und
Identitätsstörungen
auslösen kann - je nachdem, wie intensiv deren Bindungen an den
abwesenden
Elternteil sind. Deshalb ist es nützlich, derartige
Schwierigkeiten
vorweg zu bedenken, wenn ein neuer Partner in die Familie
eingeführt
wird. Zu empfehlen ist dem Stiefelternteil, zu Beginn eine eher
defensive
und zurückhaltende Position einzunehmen, die sich im weiteren
Verlauf
des Zusammenlebens im wechselseitigen Einverständnis weiter
ausbauen
kann. Sie könnte etwa so aussehen: Für grundsätzliche Erziehungsfragen
bleibt der
leibliche Elternteil möglichst in Kooperation mit dem abwesenden
Elternteil
("Gemeinsames Sorgerecht") zuständig; der Stiefelternteil steht
dafür
lediglich beratend zur Verfügung. Im Rahmen des familiären
Zusammenlebens
ist seine Position jedoch auch in unmittelbaren Erziehungsfragen
gleichrangig;
gemeinsam mit dem leiblichen Elternteil trifft er Entscheidungen
über
die Organisation des Familienlebens und bestimmt Ton und Stil des
Umgangs
mit. Er trachtet nicht danach, den abwesenden Elternteil zu "ersetzen",
sondern bemüht sich um eine davon unabhängige,
eigenständige
Beziehung zu den Kindern. Über den abwesenden Elternteil
äußert
er sich in Gegenwart der Kinder - unabhängig von seiner
tatsächliche
Meinung - höflich, respektvoll und ohne Diskriminierung.
Trotz aller
sorgfältigen Vorbereitung und
Einführung
des neuen Partners in die Familie kann es vorkommen, dass die Kinder
gegen
ihn heftigen Widerstand entwickeln und seine Aufnahme verhindern
wollen.
Dann muss der leibliche Elternteil die Gründe dafür in
Gesprächen
mit den Kindern sorgsam ermitteln. Sind die Einwände im Kern
unberechtigt,
beruhen sie vor allem auf Eifersucht und Egoismus, sollte ihnen nicht
einfach
nachgegeben werden, weil sie unabhängig von ihrem Anlass und je
nach
Alter auf mehr oder weniger massive Fehlentwicklungen hindeuten. Wenn
das
erwachsene Paar von der Bedeutung seiner Beziehung überzeugt ist,
sollte es ebenso einfühlsam wie entschieden sein Recht darauf
geltend
machen. Zur Debatte stehen kann dann allenfalls, in welcher Form - ob
z.B.
im Rahmen einer gemeinsamen Familie - diese Beziehung gelebt werden
soll.
Ein Verzicht darauf "der Kinder wegen" brächte diesen keinerlei
pädagogischen
Nutzen. Literatur
Bliersbach,
G.:
Halbschwestern,
Stiefväter, und wer
sonst noch dazu gehört. Leben in einer Patchwork-Familie.
Düsseldorf
2000 Deutsches
Jugendinstitut (Hrsg.): Beratung von
Stieffamilien.
Weinheim-München 1993
Giesecke,
H.: Wenn Familien wieder heiraten.
Neue Beziehungen
für Eltern und Kinder. Stuttgart 1997
Krähenbühl,
V. u. a.: Meine
Kinder,
deine Kinder,
unsere Familie. Wie Stieffamilien zusammenfinden. Reinbek 2000
Ritzenfeld,
S.:
Kinder mit Stiefvätern.
Familienbeziehungen
und Familienstruktur in Stiefvaterfamilien. Weinheim-München
1998 Visher,
E./Visher, J. F.: Stiefeltern,
Stiefkinder und
ihre Familie. München 1987
212.
"Meine Stiefkinder lehnen mich ab!" (2001) In:
www.familienhandbuch.de https://www.familienhandbuch.de/teil-und-stieffamilien/stieffamilien/meine-stiefkinder-lehnen-mich-ab
Entweder
kommen Stiefkinder in eine Familie nur ‘zu Besuch’, weil sich ihr
Lebensmittelpunkt grundsätzlich z.B. beim anderen leiblichen Elternteil
befindet. Dann nehmen sie durchaus Zeit und Aufmerksamkeit zumindest
des leiblichen Elternteils in Anspruch und sind vielleicht ein stets
einzuplanender Teil seines familiären Terminkalenders. Oder der
Stiefelternteil lebt mit Partner und dessen leiblichen Kindern als
Familie in einer gemeinsamen Wohnung und kann sich den daraus
resultierenden Ansprüchen und Vorbehalten z.B. auch erzieherischer Art
nicht entziehen. Stiefkinder und Stiefeltern können also aus mancherlei
Gründen in eine für beide Seiten problematische Beziehung geraten, von
der dann auch die Partnerschaft bzw. Familie allgemein betroffen ist. Zu
empfehlen ist, die besondere sozio-emotionale Struktur dieser
Familienformen zu akzeptieren, dabei aber auch das Eigenrecht der
Partnerschaft zur Geltung zu bringen. Der Stiefelternteil kann sich z.B.
nicht einfach als Vater bzw. Mutter präsentieren – schon gar nicht,
wenn der betreffende leibliche Elternteil noch lebt – sondern muss seine
besondere Rolle gegenüber den Stiefkindern finden und im Alttag
entwickeln. Dafür gibt der Beitrag Hinweise. Im
Unterschied zu früheren Zeiten
entstehen Stieffamilien
heute weniger durch den Tod des Ehepartners und Wiederverheiratung des
zurückbleibenden Partners, als vielmehr durch Trennung oder
Scheidung
und die anschließende Aufnahme eines neuen Partners in die
Restfamilie.
Immer noch sind derart getrennte Familien überwiegend
Mutterfamilien,
weil die Kinder in der Regel bei der Mutter bleiben. Das Hinzutreten
eines
neuen Partners, also eines Stiefelternteils für die Kinder, wird
von
diesen nicht selten mit mehr oder weniger massiver Abwehr beantwortet.
Deshalb ist es wichtig, diesen Schritt im Hinblick auf die Kinder gut
vorzubereiten. Ausmaß und Motive der
Abwehr
können je nach Alter unterschiedlich sein. Jüngere Kinder
machen
im allgemeinen wenig Schwierigkeiten, ältere, vor allem
pubertierende,
die sich ohnehin mit den für sie zuständigen Erwachsenen
auseinander
setzen müssen, können in diesem Alter sogar dann wieder gegen
den Stiefelternteil aggressiv werden, wenn sie ihn in den
zurückliegenden
Jahren eigentlich akzeptiert haben. Deshalb muss man zwischen einer
Ablehnung,
die tatsächlich der Person gilt, und einer anderen unterscheiden,
für die die betreffende Person eher ein Anlass oder ein Vehikel
ist.
Nun gibt es derartige Schwierigkeiten im Prinzip in jeder Familie, in
einer
Stieffamilie jedoch können sie eine zusätzliche Bedeutung
gewinnen,
wenn man einige Besonderheiten dieser Familienform nicht ins Auge
fasst. Ein
leiblicher Elternteil ist entweder
verstorben oder
- wovon wir hier ausgehen - lebt nicht mehr mit seiner
ursprünglichen
Familie zusammen, bleibt aber im allgemeinen weiterhin seinen Kindern
verbunden
und ist vielleicht sogar gemeinsam mit dem anderen Elternteil
sorgeberechtigt.
Ferner beruht eine Stieffamilie von vorneherein auf einer Ungleichheit,
weil es einen bereits bestehenden Familienkern gibt, zu dem eine
weitere
Person, der Stiefelternteil, hinzu tritt. Diese Ungleichheit muss
akzeptiert
und produktiv gestaltet werden, auch wenn sie auf die Dauer im
Bewusstsein
der Beteiligten und in Familienalltag immer bedeutungsloser werden
sollte.
Der Stiefelternteil kann deshalb die Position des abwesenden
Elternteils
nicht ersetzen, sondern muss eine andere, eigentümliche Beziehung
zu seinen Stiefkindern aufbauen. Er ist nicht Vater bzw. Mutter. Ferner
haben der leibliche Elternteil und der Stiefelternteils zwar gleiche
Rechte
und Pflichten im Hinblick auf das Zusammenleben in der Familie, aber
die
generelle Erziehungskompetenz bleibt beim leiblichen Elternteil. Nur
wenn
diese Unterschiede nicht kurzsichtig oder idealisierend ignoriert
werden,
lassen sich unnötige Schwierigkeiten mit den Stiefkindern
vermeiden. Zu unterscheiden ist zwischen unmittelbaren
Stiefeltern,
die mit den Stiefkindern in einer Familiengemeinschaft leben, und
solchen,
die nur mittelbar mit ihnen zu tun haben, weil sie Partner bzw.
Partnerin
des abwesende Elternteils sind. Mittelbare Stiefeltern sind primär nicht
den Stiefkindern,
sondern ihrem Partner verbunden und haben nur über ihn auch mit
dessen
Kindern zu tun, wenn diese zum Beispiel zu Besuch kommen.
Schwierigkeiten
können dadurch entstehen, dass der leibliche Elternteil, obwohl er
nicht mit seinen Kindern zusammenlebt, seine Loyalität und seine
Gefühle
in irgendeiner Weise auf sie und seinen Partner aufteilen muss. Das
kann
leicht zur Eifersucht führen, zumal auch der eigene Zeitplan davon
berührt ist. Wenn die Kinder zu Besuch kommen, stehen sie im
Mittelpunkt,
die Besuchszeiten werden teilweise von außen bestimmt, über
die Kinder ist der ehemalige Ehepartner stets gegenwärtig. Oft
entsteht
auch der Eindruck, die Kinder würden wechselseitig als "Spione"
benutzt.
Jedenfalls müssen sie sich zunächst einmal daran
gewöhnen,
dass ihre Eltern, die vorher mit ihnen zusammen gelebt haben, nun
getrennte
Wege gehen - sogar mit einem neuen Partner. Der Stiefelternteil sollte
diese Probleme verstehen und den Kindern gegenüber
zurückhaltend,
offen und ohne weiter gehende emotionale und erzieherische
Ansprüche
gegenübertreten. Wer einen Partner wählt, der bereits eigene
Kinder hat, sollte sich darüber im Klaren sein, dass deren
Existenz
innerhalb der Beziehung zwischen den beiden Erwachsenen nicht
ausgeblendet
werden kann; es gibt den anderen nicht ohne seine Kinder - wie intensiv
oder distanziert die Beziehung auch sein bzw. sich entwickeln mag. Wenn
die Kinder den mittelbaren Stiefelternteil ablehnen, muss es zu
gemeinsamen
Gesprächen darüber zunächst unter den Erwachsenen, dann
auch mit den Kinder kommen. Dabei sind je nach Alter der Kinder die
unterschiedlichen
Bedürfnisse aufzugreifen: In welchen Punkten fühlen sich die
Kinder durch die neue Situation benachteiligt, in welcher Hinsicht
fühlt
sich das erwachsene Paar durch sie gestört? Bei allem
Verständnis
für die Kinder muss auch klar werden, dass das erwachsene Paar ein
eigenes Recht auf die Gestaltung seines Lebens hat - grundsätzlich
unabhängig von den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder.
Auf diesem Hintergrund sind vielerlei zu vereinbarende Regelungen
für
die Gestaltung des Alltags möglich. Dabei muss der leibliche
Elternteil
die erzieherische Führung übernehmen, der Stiefelternteil
kann
nur Regeln geltend machen, die aus dem unmittelbaren gemeinsamen Umgang
etwa in der Wohnung resultieren. Dort sind die Kinder zu Gast und haben
sich entsprechend zu verhalten. Emotionale Zurückhaltung zu Beginn
lässt intensivere Beziehungen für die Zukunft offen. Die
Beziehungen
des mittelbaren Stiefelternteils zu den Kindern des Partners sind von
eigener
Art, jedenfalls keine väterlichen bzw. mütterlichen, auch
keine
Ersatzbeziehungen, vielmehr kommen sie so in einer normalen Familie
nicht
vor und müssen deshalb von allen Beteiligten entdeckt und
gestaltet
werden. Für
den unmittelbaren Stiefelternteils
stellt sich
die Lage teilweise anders dar. Er bzw. sie lebt mit den Stiefkindern
rund
um die Uhr in einer gemeinsamen Wohnung, kann sich also den daraus
resultierenden
Ansprüchen und Problemen nicht entziehen. Entscheidend ist, wie
die
eigene Person sich den Kindern im Haushalt und in Erziehungsfragen
darstellt.
Auch hier gilt zunächst einmal, dass das erwachsene Paar ein
eigenes
Recht auf sein gemeinsames Leben hat, das unabhängig von den
Kindern
existiert und sich nicht aus deren Willen und Bedürfnissen einfach
herleitet. Erziehungsansprüche kann der Stiefelternteil nur im
Rahmen
des gemeinsamen Haushaltes und des Zusammenlebens als
gleichberechtigter
Partner des leiblichen Elternteils geltend machen. Verfehlt wäre
eine
Familienvorstellung, die durch die Tatsachen nicht gedeckt sein kann.
Der
Stiefelternteil ist nicht Vater oder Mutter, zumal dann nicht, wenn der
andere leibliche Elternteil noch lebt. Er ist im rechtlichen Sinne
nicht
erziehungsberechtigt, kennt die Kinder nicht seit deren Geburt, sondern
ist erst später in deren Leben eingetreten. Der oft von
Stiefkindern
zu hörende Satz: "Du bist nicht meine Mutter!", oder: "Du bist
nicht
mein Vater!" ist in der Sache berechtigt, woraus allerdings nicht
gefolgert
werden kann, dass aus dem gemeinsamen Leben sich ergebende
erzieherische
Weisungen nicht erfolgen dürften. Diese feinen Unterschiede
müssen
von Anfang an den Kindern gegenüber als gemeinsame Ansicht des
erwachsenen
Paares klargestellt werden, weil sonst der eine Erwachsene gegen den
anderen
ausgespielt werden kann. Insbesondere Stiefmüttern fällt es
oft schwer,
die nötige emotionale Zurückhaltung aufzubringen. Das
traditionelle
mütterliche Rollenverständnis verführt sie leicht dazu,
das Heft als Mutter und Hausfrau sofort in die Hand zu nehmen, anstatt
sich gegenüber den Kindern abwartend und freundlich zu verhalten
und
ihnen zu überlassen, wie viel Nähe sie wünschen. Zudem
steht
sie unter dem Druck der sozialen Umgebung, sich möglichst schnell
als perfekte, von den Kindern geliebte Mutter zu präsentieren. In
weit höherem Maße als der Stiefvater mit dem leiblichen
Vater
konkurriert die Stiefmutter mit der Mutter der Kinder. Lässt sie
sich
auf diese Konkurrenz ein, anstatt zu signalisieren, dass sie nur so
viel
Mütterlichkeit zu zeigen bereit ist, wie die Kinder von sich aus
erwarten,
sind Beziehungskrisen mit den Kindern wahrscheinlich. Väter neigen
zudem eher als Mütter dazu, ihren Partnerinnen die Verantwortung
für
die Kindererziehung und den Haushalt zu überlassen, sie also in
die
traditionelle Rolle zu drängen. Andererseits neigen
Stiefmütter
dazu, übertriebene Zuwendung zu den Kindern als Liebesbeweis
für
den Vater als ihren Partner zu verstehen.
Aber auch Stiefväter übertreiben
oft
ihre Rolle,
wenn sie den Kindern gegenüber ein falsches Verständnis von
Väterlichkeit
präsentieren. Das zeigt sich oft daran, welche Anrede von den
Kindern
erwartet wird. Die Kinder sollten jedoch selbst entscheiden, wie sie
den
Stiefelternteil anreden wollen - am häufigsten ist wohl die Anrede
mit dem Vornamen. Charakteristisch für eine Stieffamilie
ist, dass
ein leiblicher Elternteil - wenn er nicht verstorben ist -
außerhalb
lebt, aber zumindest über die Kinder weiter in eigentümlicher
Weise mit der Stieffamilie verbunden bleibt. Mit dieser Tatsache ist
nicht
immer leicht umzugehen, zumal wenn die früheren Partner noch
emotional
nicht ausgeräumte Probleme miteinander haben. Für die
Akzeptanz
des Stiefelternteils seitens der Kinder ist jedoch von großer
Bedeutung,
wie mit diesem abwesenden Elternteil in der Familie umgegangen wird.
Gerade
der Stiefelternteil sollte mit dafür sorgen, dass über den
Abwesenden
respektvoll und nicht diskriminierend in Gegenwart der Kinder
gesprochen
wird. Sonst würden sich die Kinder wohl gekränkt fühlen,
zumal sie in diesen Fällen entweder den abwesenden Elternteil
verraten
oder zu seiner Verteidigung in Opposition zu ihrer Familie treten
müssten.
Ein entsprechendes Verhalten ist selbstverständlich umgekehrt auch
vom abwesenden Elternteil zu erwarten, aber darauf hat die Stieffamilie
wenig Einfluss. Gerade der Stiefelternteil sollte
unmissverständlich
zu erkennen geben, dass er die frühere Rolle des nun abwesenden
Elternteils
nicht zu übernehmen gedenkt, dass er den Kindern vielmehr den Weg
zu ihm nicht verbaut, sondern ihnen überlässt, welche Art von
Beziehung mit welcher Intensität sie weiterhin zu ihrem abwesenden
Elternteil pflegen wollen. Darauf haben sie schon deshalb ein Recht,
weil
die Scheidung oder Trennung nicht von ihnen ausgegangen ist.
Andererseits
muss aber auch klar bleiben, dass davon die Rechte und Pflichten der
Kinder
im Rahmen ihrer Familie als ihrem sozialen Lebensmittelpunkt nicht
außer
Kraft gesetzt werden dürfen. Eine realistische Einschätzung der
besonderen Situation
von Stieffamilien und ein daraus resultierender Umgang mit den Kindern
in Verbindung mit einem hohen Maß an Verständnis für
sie
können gewiss unnötige Schwierigkeiten mit dem
Stiefelternteil
verhindern, sie jedoch keineswegs ganz ausschließen. Deshalb ist
als strategischer Gesichtspunkt wichtig, dass das Zentrum einer Familie
die Partnerschaft der Erwachsenen sein muss. Die beiden Erwachsenen
müssen
sich klar darüber sein, was sie miteinander wollen, auch wenn die
Kinder nicht bei ihnen leben würden. Für die Kinder ist die
Familie
lediglich ein Durchgangsstadium, sie werden sie in absehbarer Zeit
verlassen;
das erwachsene Paar hingegen wird - jedenfalls der Idee nach -
weiterhin
zusammen bleiben. Werden jedoch die Kinder zum Ausgangspunkt und
Mittelpunkt
der Partnerschaft erhoben, dann verblassen die Maßstäbe, an
denen sich die Partner im Umgang miteinander und in ihrem Verhalten zu
den Kindern orientieren können. Den Kindern geht es umso besser,
je
mehr sich die Partner in ihrer Beziehung wohlfühlen.
Literatur
- Bien, W. u.a. (2002): Stieffamilien in Deutschland. Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt. Wiesbaden.
- Bliersbach, G.(2000): Halbschwestern, Stiefväter, und wer sonst noch dazu gehört. Leben in einer Patchwork-Familie. Düsseldorf.
- Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (1993): Beratung von Stieffamilien. Weinheim-München.
- Giesecke, H.(1997): Wenn Familien wieder heiraten. Neue Beziehungen für Eltern und Kinder. Stuttgart.
- Krähenbühl, V. u. a. (2000): Meine Kinder, deine Kinder, unsere Familie. Wie Stieffamilien zusammenfinden. Reinbek.

213.
Warum "Wirtschaft" in der Geschichte der Politischen Bildung marginal
geblieben
ist (2001) In:
www.sowi-onlinejournal.de
/H.1/2001
Wer einen
Mangel an wirtschaftlichen
Kenntnissen bei den
Absolventen allgemeinbildender Schulen zu erkennen glaubt, hat sicher
Recht.
Diese Feststellung wird auch nicht dadurch relativiert, dass es in
anderen
Wissensbereichen nicht besser aussieht. Die Forderung, deswegen an den
Gymnasien ein spezifisches Schulfach einzuführen, ist jedoch nicht
nur politisch unrealistisch, sondern verspricht auch nicht unbedingt
eine
Lösung des Problems, wie das Schicksal des Faches "Politische
Bildung"
- unter welchem Namen es auch geführt wird - zeigt. Obwohl seit
Jahrzehnten
dafür fachlich-didaktisch ausgebildet wird, ist es über weite
Strecken zu einem "Laberfach" verkommen.
Wenn es Sinn der Allgemeinbildung
ist, zur
optimalem Partizipation
an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu befähigen, dann
gehören
wirtschaftliche Grundkenntnisse zweifellos dazu. Der fachliche Ort zum
Erwerb solcher Kenntnisse ist in erster Linie die Politische Bildung.
Tatsächlich
jedoch haben ökonomische Probleme und Themen in der bisherigen
politischen
Bildung eine eher randständige Bedeutung gehabt. Die Gründe
dafür
sollen im folgenden durch eine knappe historischen Skizze angedeutet
werden. 1.
Dominanz der traditionellen
Bildungsidee Bis etwa 1960 dominierte den Kanon der
Schulfächer,
die Ausbildung der Lehrer und deren Bewusstsein eine
bildungsbürgerliche
Tradition und Vorstellungswelt, in der Politik, Wirtschaft und Technik
keinen rechten Ort hatten. Demnach konnte der Bildung des Menschen nur
dienen, was in hinreichender Distanz zur Unmittelbarkeit des Lebens
stand
und deshalb der sittlichen Entfaltung der individuell gedachten, von
den
konkreten sozialen Kontexten abstrahierten Persönlichkeit zugute
kommen
konnte. Schon die seit Beginn des 20. Jahrhunderts geführte
umfangreiche
Diskussion darüber, ob den Naturwissenschaften überhaupt ein
Bildungswert zugesprochen werden könne, ist dafür ein
deutliches
Zeugnis. Das heißt nicht, dass die Probleme von Wirtschaft und
Technik
ignoriert worden wären, aber man ging davon aus, dass der sittlich
Gebildete sein Verhältnis zu diesen Aspekten seines realen Lebens
in rechter Weise gestalten könnte, wenn er sich vom Standpunkt
seiner
erworbenen (allgemeinen) Bildung aus damit beschäftigte.
Wirtschaft
und Technik galten als Thema einer spezifischen Berufsausbildung, nicht
der Allgemeinbildung. Selbst als eine besondere politische Bildung
wegen
der "sozialen Frage", also der Eingliederung der Arbeiterschaft in den
bürgerlichen Staat, auch für Volks- und Berufsschüler
unübersehbar
zur Debatte stand und in Georg Kerschensteiner 1901 ihren ersten
Didaktiker
fand, diente als didaktisches Zentrum lediglich die "Arbeit",
während
das Wirtschaftsleben ausgeklammert blieb; es gehörte nach der
damals
herrschenden Auffassung der Sphäre der privaten Verträge und
ihrer gesetzlichen Rahmenbedingungen an, wurde nicht der lediglich auf
das staatliche Handeln bezogenen Politik zugerechnet. Das führte
zum
Beispiel zu der paradoxen Situation, dass vor dem Ersten Weltkrieg
Lehrlinge
nicht an Versammlungen politischer Parteien teilnehmen, wohl aber ihre
Meister öffentlich angreifen durften, wenn sie sich von diesen
ausgebeutet
glaubten. Spätestens seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts empfand
das Bildungsbürgertum die durch Naturwissenschaft, Technik und
Wirtschaft
bestimmte Moderne als Bedrohung seines sozialen Status und seiner
kulturellen
Führerschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die
bildungsbürgerliche
Vorstellungswelt noch einmal von ihrer Unterdrückung durch den
Nationalsozialismus
erholen und bis etwa Mitte der fünfziger Jahre wieder tonangebend
werden. Das zeigte sich im Widerstand gegen die Phänomene der
technisch
bedingten und ermöglichten "Massengesellschaft" und vor allem
gegen
die aufkommende "Freizeit- und Konsumgesellschaft". Deren
ökonomische
Propagandisten erklärten den möglichst hohen privaten Konsum
zu einer Art von wirtschaftlicher Bürgerpflicht, was
ökonomische
Argumente und Sachverhalte vollends als per se bildungsfeindlich
verdächtig
machte. In den fünfziger Jahren gab es vor allem in
Pädagogenkreisen
einen regelrechten Kulturkampf zu den Stichworten "Freizeit" und
"Konsum".
Die Kernfrage war nicht, wie Wirtschaft funktioniert, sondern wie der
Gebildete
seine sittliche Innerlichkeit gegen ihre Auswirkungen verteidigen
könnte.
Wegen dieser Grundeinstellung konnte "Wirtschaft" kaum in den Kanon des
Gymnasiums eindringen. Die kulturelle Dominanz des
Bildungsbürgertums
zerbrach zwar gegen Ende der fünfziger Jahre, aber zumindest die
nachfolgende
Lehrergeneration war davon noch stark geprägt.
Für die Volksschule bzw.
Hauptschule war
schon eher
Verständnis dafür aufzubringen, dass deren Absolventen auf
den
Eintritt in den Beruf nicht zuletzt auch durch grundlegende
Wirtschaftskenntnisse
vorbereitet werden müssten. Das sollte 1969 durch die
Einführung
des Faches "Arbeitslehre" geschehen - dessen wechselnde Bezeichnung
jedoch
schon inhaltliche Unsicherheit verrät und dessen Konturen zwischen
Handwerkelei, politischer Kritik und sachlicher Information
schwankten. 2. Dominanz des Politischen
Eigentlich sollte man
annehmen, dass nach dem
Ende des
Zweiten Weltkrieges und angesichts der ökonomischen
Verwüstung,
die er auch in Deutschland hinterlassen hatte, gerade wirtschaftliche
Probleme
in der politischen Bildung jener Zeit besondere Beachtung erfahren
hätten.
Das war jedoch nur in einem vordergründigen Sinne der Fall,
insofern
jedem klar war, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau enorme
Kräfte
beanspruchen werde. Ein Defizit an wirtschaftlicher Bildung in der
Bevölkerung
schien dabei kein nennenswertes Problem zu sein; gefragt waren eine
ordentliche
Berufsausbildung und die Verinnerlichung der benötigten
Arbeitstugenden
- und dafür sollte die mit der erforderlichen Autorität
ausgestattete
Volksschule sorgen. Überhaupt war die überlieferte Struktur
des
Bildungswesens und der Kanon der Schulfächer wenig strittig, so
dass
Versuche der Alliierten, vor allem der Amerikaner, scheiterten, das
deutsche
Schulsystem etwa in Richtung auf eine Gesamtschule hin zu
reformieren. Die Entstehung und Entwicklung der politischen
Bildung
nach 1945 verdankte sich denn auch einem nachdrücklichen
politischen
Impuls: Sie war eine Reaktion auf die NS-Verbrechen und den verlorenen
Krieg. Ihre ersten Anschübe erhielt sie vom Umerziehungskonzept
("re-education")
der alliierten Sieger. Sie stand also von vornherein unter einer
politischen
Zielvorgabe: Mit pädagogischen Mitteln - Lernen und Bildung -
sollte
das politische Ziel erreicht werden, Denazifizierung, Demilitarisierung
und Demokratisierung in den Köpfen und Herzen der Deutschen - vor
allem der jungen - zu verankern. Von diesem Ausgangspunkt her erschien
sie nicht wenigen Deutschen damals als Teil des Siegerhandelns - im
Zusammenhang
mit anderen, zweifellos als repressiv gedachten Maßnahmen wie
Entnazifizierung,
Kriegsverbrecherprozesse und Demontage. Die politische Bildung begann
also
bei uns unter der Voraussetzung, dass es demokratische Strukturen und
Normen
noch gar nicht bzw. erst in Anfängen gab, deren Existenz sie
eigentlich
hätte voraussetzen müssen. Daraus ergab sich die
pädagogische
Paradoxie, dass die Erwachsenen, die traditionell für die Bildung
und Erziehung der Jungen zuständig sind und dabei diesen
gegenüber
die normativen Prinzipien der Gesellschaft zur Geltung zu bringen
haben,
selbst erst einmal einer demokratischen Erziehung bedurften: die
potentiellen
Erzieher waren selbst zu Erziehende; denn schließlich waren sie
in
das undemokratische und dazu noch hochgradig kriminelle System des
Nationalsozialismus
irgendwie verwickelt gewesen, das sich in einem hohen Maße auf
anti-demokratische
deutsche Traditionen stützen konnte. Es ging darum, diese
Traditionen
aufzuklären, Fundamente für eine demokratische Erneuerung zu
legen und vor allem darüber nachzudenken, warum die
Nationalsozialisten
überhaupt die Macht erringen konnten und wie eine Wiederholung
dieses
Schreckens zu vermeiden sei. Von daher waren auch die grundlegenden
Themen
der politischen Bildung bestimmt. Eine Folge dieses politischen Ausgangspunktes
war, dass
die politische Bildung von vornherein in die innenpolitische Diskussion
über die Werte und Strukturen der neuen demokratischen Staats- und
Gesellschaftsverfassung involviert wurde bzw. diese mit veranlasste. In
diesem Sinne war sie von Anfang an notwendigerweise parteilich und
konnte
keineswegs wie in anderen westlichen Demokratien
selbstverständlich
von einem breiten Konsens ausgehen. In dem Bemühen, ihre
pädagogischen
Maximen und Praktiken zu finden, geriet sie unausweichlich in die
innenpolitischen
Debatten, die sich nach dem Krieg etwa über bestimmte Aspekte der
Verfassung, über das ihr entsprechende Menschenbild und über
die politische Kultur angesichts der unmittelbar zurückliegenden
NS-Vergangenheit
folgerichtig ergaben. Eine solche Grundsatzfrage war z.B.: Ist unsere
demokratische
Verfassung lediglich als ein formelles Regelsystem anzusehen, das
Mehrheiten
und Minderheiten auf der Grundlage von Wahlen zustande bringen soll, um
so Regierungen zu legitimieren? Oder müssen mit dem Begriff
"Demokratie"
inhaltliche Entscheidungen verbunden werden, die dieser Staats- und
Gesellschaftsverfassung
erst ihren spezifischen Sinn im Unterschied zu den totalitären
politischen
Systemen des Nationalsozialismus und des Stalinismus geben? Und: Sollen
außer dem Staat nur die Parteien und Verbände demokratisch
verfasst
sein oder auch die Kirchen, Familien, Schulen? Hat Demokratie also auch
etwas mit einer bestimmten Kultur des öffentlichen Umgangs zu tun,
ist sie so etwas wie eine Lebensform?
Das etwa waren die beherrschenden
Themen, als
in einigen
Bundesländern das Fach politische Bildung eingeführt wurde -
1946 in Berlin, Schleswig-Holstein und Hessen, 1948 in
Württemberg-Hohenzollern,
1950 in Württemberg-Baden, 1953 in Bayern und Rheinland-Pfalz. Die
Kultusministerkonferenz beschloss 1950, Politische Bildung an den
Schulen
einzurichten, überließ den einzelnen Ländern aber, ob
dies
in einem besonderen Fach erfolgen sollte.
In Westdeutschland spielten dabei
wirtschaftliche Fragen
im fachlichen Sinne keine besondere Rolle, auch die Wirtschaft wurde
vielmehr
unter politischen Gesichtspunkten gesehen, was sich etwa in den
Auseinandersetzungen
um die Mitbestimmung zeigte. Abgesehen davon gingen die westlichen
Alliierten
nicht davon aus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem zu den
Ursachen
der Naziverbrechen zu rechnen sei. In der SBZ wurde jedoch gerade darin
der eigentliche Grund für die Machtergreifung der
Nationalsozialisten
und ihrer kriminellen Politik gesehen. Der Primat des ökonomischen
Denkens im Rahmen des Marxismus-Leninismus führte trotz aller
ideologischer
Einschränkungen in der SBZ bzw. DDR zu einem durch das Schulwesen
vermittelten breiten Verständnis ökonomischer Grundbegriffe
in
der Bevölkerung, wenn dies auch auf das eigene Wirtschaftssystem
beschränkt
blieb. Seit 1990 ist aber auch diese Tradition versiegt.
3. Die Moralisierung
der Politik und der
Wirtschaft Wegen der NS-Verbrechen war eine bloß
sachlich-nüchterne
Fundierung der Politischen Bildung in der Bundesrepublik von Anfang an
nicht möglich. Diejenigen Lehrer, die wie beschädigt auch
immer
die NS-Zeit überstanden hatten und nun nach einem geistigen
Neuanfang
suchten, flüchteten sich meist in eine bildungsbürgerliche
Innerlichkeit
- das hatten sie gelernt - und versuchten das moralische Desaster durch
mehr oder weniger allgemeine normative Reflexionen darüber zu
überwinden,
wie man generell den Menschen vorm Bösen bewahren und zum Guten
führen
könne. Die Lehrer, die den neuen Unterricht erteilen sollten,
waren
dafür nicht ausgebildet und erledigten diese Aufgabe
überwiegend
eher unwillig, verunsichert oder im Rahmen der erwähnten
traditionellen
bildungsbürgerlichen Vorstellungen. Hinzu kam, dass nach dem Kriege im
wesentlichen dieselben
Eliten wieder die Führung in Politik, Wirtschaft und Kultur
übernommen
hatten, die auch während der Zeit des Nationalsozialismus
maßgeblich
waren. Alternativen dazu waren nicht vorhanden. Die Emigranten, die den
Nationalsozialisten entkommen waren und nun zurückkehrten, waren
nicht
zahlreich genug und fanden in den etablierten Führungsschichten
meist
wenig Resonanz. Die alten Eliten hatten sich nun zwar überwiegend
moralisch vom Nationalsozialismus distanziert und erkannten wohl auch
das
neue parlamentarische System zumindest formell an, aber ihre
grundlegenden
politisch-kulturellen Einstellungen und Haltungen blieben - was
biographisch
gesehen nicht verwundern kann - oft bewusst oder unbewusst noch jenen
konservativen,
autoritären, antiwestlichen und antipluralistischen Maximen
verhaftet,
die die nationalsozialistische Bewegung für ihre Zwecke hatte
mobilisieren
können. Dieser geistige Zusammenhang war damals kaum bewusst, er
prägte
aber gerade die Erziehungseinrichtungen nachhaltig und führte
später
zur massiven Konfrontation mit der studentischen Protestbewegung.
Jedenfalls
blieb das öffentliche Interesse an einer sachbezogenen Politischen
Bildung verständlicherweise in den fünfziger Jahren eher
gering,
nachdem die westlichen Alliierten sich von dieser Aufgabe
zurückgezogen
hatten. Es stieg erst wieder, als Ende der 50er Jahre antisemitische
Schmierereien
das Ansehen der Bundesrepublik und damit auch ihrer Führungseliten
im Ausland beschädigten, und als eine massive Propagandakampagne
der
DDR gegenüber westdeutschen Jugendlichen einsetzte, die z.B. zu
preiswerten
Ferienlagern eingeladen und dort in ideologische Debatten verwickelt
wurden,
denen sie nicht gewachsen und auf die sie nicht vorbereitet waren.
Ähnlich
erging es westdeutschen Studenten und Oberschülern bei
entsprechenden
Einladungen. Das Gespenst einer unkontrollierbaren kommunistischen
Infiltration
tauchte auf und sorgte für Aufregung bei der politischen
Administration.
Nun war der Boden dafür bereitet, die politische Bildung besser
als
vorher zu fördern, und davon profitierte nun neben der Schule auch
die außerschulische Jugendbildung; in deren Einrichtungen wurde
politische
Bildung fortan verhältnismäßig großzügig vor
allem durch den Bundesjugendplan finanziert.
Auf diesem Hintergrund bekam in
den
fünfziger Jahren
der moralische Impetus, der von den NS-Verbrechen ausging, auf dem
Vehikel
des "kalten Krieges" unter dem Stichwort des "Totalitarismus" einen
neuen
Akzent, der sich gegen den östlichen Kommunismus richtete - der
auf
diese Weise dem Nationalsozialismus moralisch-politisch gleichgestellt
wurde. Diese moralische Umdefinition kam verständlicherweise den
eben
erwähnten alten - und wieder neuen - Eliten entgegen, die zum
großen
Teil selbst Grund genug hatten, ihre NS-Vergangenheit unter die Lupe zu
nehmen, was ihnen weitgehend erspart blieb durch die Blickwendung nach
Osten. Die
Auseinandersetzung mit den kommunistischen
Staaten
des Ostens, vor allem natürlich mit der DDR, forderte nun zu
Systemvergleichen
heraus. Dabei spielten die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme eine
herausragende
Rolle. Man konnte die DDR nicht ohne ihr Wirtschaftssystem verstehen,
und
dieses nicht, ohne über das eigene nicht wenigstens grundlegende
Kenntnisse
zu erwerben. Abgesehen davon jedoch, dass in den fünfziger und den
frühen sechziger Jahren vor allem die außerschulische
Bildungsarbeit
hier Vorreiter war, hat diese Auseinandersetzung allenfalls an den
Gymnasien
und Realschulen, kaum an den Hauptschulen stattgefunden. Zudem ging es
dabei wiederum mehr um politisch-moralische, weniger um im fachlichen
Sinne
wirtschaftliche Aspekte: Im Mittelpunkt standen vielmehr Leitmotive wie
"Freiheit" und "Demokratie", allenfalls sekundär wirtschaftliche
Grundbegriffe
wie "Markt", "Haushalt" oder "Investition".
Eine neue politisch-ideologische
Qualität
erreichte
die Moralisierung der Politik durch den "anti-kapitalistischen" Affekt
der Achtundsechziger und ihrer diversen Folgeorganisationen. Die
Wirtschaft
wurde nun zum innenpolitischen Hauptfeind, wirtschaftliche Einzelheiten
oder spezifisches Fachwissen waren dabei nicht mehr von Belang,
vielmehr
genügte eine grundsätzliche ideologiekritische
Positionierung.
Dieser Zeitgeist hat die Einstellung der gegenwärtigen
älteren
Lehrergeneration zu wirtschaftlichen Themen und Problemen nachhaltig
geprägt.
Er hat auch schon die seinerzeitige pädagogische Diskussion um die
Einführung der Arbeitslehre mit bestimmt und mit dazu beigetragen,
dass dieses Fach sich in der Schulpraxis nur schwer entfalten
konnte. 4.
Die Subjektwendung der
Schulpädagogik Der moralistische Tenor hat nicht nur die
öffentliche
politische Diskussion in Westdeutschland nachhaltig bestimmt, sondern
auch
die politische Bildung. Sie hat dieser eine "erzieherische"
Attitüde
angeheftet, die der Aufklärung, die Bildung eigentlich erstreben
soll,
von Anfang an immer wieder im Wege stand. Die Schüler sollen
demnach
z.B. nicht nur etwas erkennen und Einsichten gewinnen, sondern
darüber
hinaus auch ein erwünschtes Verhalten daraus erwerben, z.B.
bestimmte
politische Gruppen oder Ziele für moralisch verwerflich halten und
andere für gut befinden. Sie sollen nicht nur begreifen, warum die
Nazis an die Macht gekommen sind, sondern diese Erkenntnis auch mit dem
gebührenden Widerwillen gewinnen, so dass sie zeitlebens einen
großen
Bogen um Neonazis machen oder wen sie dafür halten (sollen). Einer
Aufklärung ohne erzieherische Direktion wird immer noch zutiefst
misstraut,
weil ihr keine eigenständige pädagogische Wirkung zugestanden
wird, so dass nicht wenige Schüler die politische Bildung in den
Schulen
als ein "Laberfach" erleben. Zudem vollzog die Schulpädagogik schon
Ende der siebziger
und verstärkt in den achtziger Jahren eine subjektive Wende; der
Blick
richtete sich nun auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, Politik
wurde verstanden als Rohmaterial für das Drama der jeweiligen
Subjektivität.
Hatten die Neomarxisten die politischen Institutionen immerhin noch
anerkannt
- wenn auch mit dem Ziel, sie abzuschaffen oder umzukrempeln - so
wurden
diese nun intimisiert, nämlich auf unmittelbare menschliche
Beziehungen
reduziert. Hatten die Neomarxisten mit dem Klassenbegriff das
gesellschaftlich
Böse immerhin dingfest zu machen versucht, so verschwand es nun
ins
ungreifbar Allgemeine. "Irgendwie" liege es immer auch an der
Gesellschaft,
wenn Kinder und Jugendliche Probleme hätten und machten.
Der politischen
Bildung ist im Verlaufe dieser
Entwicklung
das Politische als etwas Objektives, in das durch Lernen einzudringen
ist,
weitgehend abhanden gekommen. Eine Kultivierung des Ich machte sich
breit,
ins Zentrum der didaktisch-methodischen Reflexion drängte sich die
Frage, was ein politisches Thema mit diesem Ich zu tun habe; die
gegenwärtig
immer wieder meist positiv zitierte Politikverdrossenheit der Jugend,
die
in der Regel vor allem auf sachlicher Ignoranz beruht, ist eine
Konsequenz
dieser Tendenz. Die menschlichen Beziehungen, gerade auch zwischen
Lehrern
und Schülern, wurden wichtiger als die Inhalte; menschliche
Nähe
wurde zum Kult und Selbstzweck. Die objektiven, nämlich
außersubjektiven
Strukturen von Gesellschaft und Politik verflüchtigten sich und
alles
Kognitive wurde entwertet oder zumindest als nachrangig angesehen. In
dieser
Form ist die politische Bildung durch fast beliebige andere Fächer
substituierbar geworden, haben auch spezifische wirtschaftliche
Kenntnisse
keinen pädagogischen Ort mehr. 5. Fachliche Qualifikation der Lehrer
Lehrer können nur
unterrichten, was sie
selbst verstehen.
Die eben beschriebene Verlagerung von der inhaltlichen Kompetenz zur
kommunikativen
wertet auch deren fachliche Qualifikation ab. Diese war von Anfang an
ein
zentrales Problem für die politische Bildung. Nach dem Kriege
fehlten
die von den Nazis weitgehend verdrängten Politik- und
Sozialwissenschaften,
die der politischen Bildung einen realistischen
wissenschaftsorientierten
Bezug und damit eine eigentümliche fachliche Professionalität
hätten verschaffen können; deren emigrierte Vertreter kamen
erst
zögernd im Laufe der fünfziger Jahre zurück. Sie vor
allem
schufen dann die wissenschaftlichen Grundlagen für einen an den
politisch-gesellschaftlichen
Realitäten orientierten politischen Unterricht in den Schulen, der
sich vor allem an den Gymnasien im Laufe der sechziger Jahre langsam
durchzusetzen
begann. Publizistischer Mittelpunkt der darum kreisenden Debatten war
die
Zeitschrift "Gesellschaft-Staat-Erziehung", deren grundlegende
Beiträge
zur politischen Bildung in den Schulen in der Regel ebenso praxisnah
wie
theoretisch durchdacht waren; es lohnt sich auch heute noch, sie zu
studieren. Die sachbezogenen Bezugswissenschaften
Soziologie und
Politikwissenschaft konnten aber das Terrain der politischen Bildung
keineswegs
kampflos übernehmen, weil im überlieferten deutschen
Bildungsdenken
ein hinreichendes Verständnis für soziale und politische
Strukturen
gar nicht vorgesehen war. Mit dem Perspektivenwechsel auf die
soziopolitischen
Realitäten verband sich also zwangsläufig eine kritische
Distanz
zum Bildungsverständnis der bisherigen politischen Bildung, wie
sich
überhaupt die Erziehungswissenschaft hinsichtlich ihres
Weltverständnisses
wie ihrer anthropologischen Grundannahmen einer grundsätzlichen
Kritik
durch diese Wissenschaften ausgesetzt sah; ich erinnere nur an ihre
einschlägigen
Auseinandersetzungen mit Helmut Schelsky. Volkswirtschaft oder
Betriebswirtschaft
spielten als mögliche Bezugswissenshaften bei der Konstituierung
des
Schulfaches politische Bildung keine Rolle, weshalb wirtschaftliche
Themen
jedenfalls in der Lehrerbildung auch nur marginal blieben.
Die weitere
Entwicklung lässt sich
vereinfachend
auf den Nenner bringen, dass die Erziehungswissenschaft - vor allem in
Gestalt der allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktik - sich gegen die
beiden Realwissenschaften wieder durchsetzte und zum wichtigsten
Legitimator
und Transporteur der moralisierenden und subjektorientierten Wende
geworden
ist. Sie expandierte zudem Anfang der siebziger Jahre - im Gefolge der
Bildungsreformbewegung - an den Hochschulen und Universitäten,
wovon
nicht zuletzt auch die Fachdidaktiken profitierten. Nun gab es an den
Universitäten
neben der Professur für Politikwissenschaft eine solche für
Didaktik
der Politik, an den Pädagogischen Hochschulen in der Regel
kombiniert
und in Personalunion als "Politik und ihre Didaktik" oder in
ähnlichen
Formulierungen. Insbesondere die Politikwissenschaft übernahm die
fachliche und didaktische Ausbildung der Lehrer für das neue Fach.
Aber obwohl es inzwischen wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen -
und meistens mit anderen Fächern zu einem "Lernbereich"
zusammengelegt
- an den Schulen fest etabliert ist, wird ein großer Teil des
Unterrichts
vor allem in den Haupt- und Realschulen immer noch fachfremd erteilt.
In
diesen Fällen unterrichtet ein Lehrer das, was er auch zu
verstehen
glaubt, oder er agiert nur noch als Moderator für das, was die
Schüler
sich selbst ausdenken. Auf einem solchen Hintergrund ergäbe die
Forderung
nach der Vermittlung wirtschaftlicher Grundkenntnisse keinen
Sinn. 6.
Didaktische Überanstrengung Die Fachdidaktiken als Vermittler zwischen
Wissenschaft
und Schule entstanden als eigenständige Disziplinen überhaupt
erst in den fünfziger und sechziger Jahren. An den Volksschulen,
die
erst seit 1964 in Hauptschulen umgewandelt wurden, gab es keine
Fächer
im heutigen Sinne. Im Unterschied zu den seit langem fest etablierten
wissenschaftlichen
Disziplinen konnten also die Fachdidaktiker auf keine vergleichbare
akademische
Tradition zurückblicken. Eine Folge davon war, dass in vielen
Fällen
die Didaktik, vor allem wenn sie sich gegenüber der
Bezugswissenschaft
verselbständigte, ihre Profilierung dadurch betrieb, dass sie die
Pädagogisierung der Fächer forcierte und somit auch zum
bedeutsamen
Träger des erwähnten Wechsels von der fachbezogenen zur
kommunikativen
Kompetenz avancierte. Hinzu kam gerade für die Politische
Bildung ein weiteres
Problem. Die ersten didaktisch-methodischen Entwürfe Anfang der
sechziger
Jahre, die sich auf die politischen und sozialen Wissenschaften
stützten,
wurden von Praktikern aus der Schule, Jugendarbeit und
Erwachsenenbildung
vorgelegt, also von solchen Personen, die selbst politischen Unterricht
erteilten und die Probleme, auf die sie dabei stießen, den
anderen
Kollegen in gleicher Lage mit dem Ziel präsentierten wollten, von
ihnen Rückmeldungen zur Verbesserung ihrer eigenen Praxis zu
erhalten.
Hatten also zunächst die Didaktiker als Praktiker ihre Texte
für
andere Praktiker geschrieben, so mussten sie nun als
Hochschulangehörige
Rücksicht nehmen auf die wissenschaftlichen Erwartungen, die dem
neuen
Fach entgegen traten. Immer weniger für die pädagogische
Praxis
und immer mehr für die Akzeptanz an den Hochschulen wurden nun
didaktische
Konzepte entworfen. Diese Tendenz führte nicht nur zu einer
Überproduktion
didaktischer Entwürfe und Gegenentwürfe, sondern auch zu
immer
praxisferneren Konstruktionen. Hochschullehrer präsentieren ja ihr
Fach und damit auch sich selbst nicht zuletzt dadurch, dass sie
für
andere Professoren darüber schreiben. Hinzu kommt die
Notwendigkeit
für den wissenschaftlichen Nachwuchs, sich durch einschlägige
Veröffentlichungen zu profilieren. Wenn nun aber der Gegenstand -
Didaktik - dafür nur einen begrenzten Stoff hergibt, muss er eben
immer weiter ausgedehnt werden, z.B. in historische, empirische,
soziologische,
psychologische bzw. psychoanalytische Dimensionen oder sich gar auf
modische
gesellschaftliche Trends berufen. Anstatt die pädagogische Praxis
als Handlungszusammenhang aufzuklären, wurden ihr
überdimensionierte
Postulate gegenübergestellt. Diese Tendenz ist auch in den
gegenwärtig
vorgetragenen fachdidaktische Entwürfen und Begründungen
für
ein Fach "Wirtschaft" zu erkennen, wenn man bedenkt, dass es sich dabei
im besten Falle um ein bis zwei Stunden Unterricht pro Woche handeln
kann.
Diese Texte sind offensichtlich nicht an Lehrer, die das Fach
unterrichten
sollen, sondern an universitäre Fachkollegen gerichtet, oder sie
sollen
mit dem Schwergewicht der vorgebrachten Argumentationen der Politik und
der Öffentlichkeit imponieren. Insofern die Fachdidaktik sich mit der
einseitig schülerzentrierten
neuen Reformpädagogik in den Schulen verbündet hat, hat sie
der
politischen Bildung eher geschadet. In den tonangebenden
schulpädagogischen
Konzepten, die die Schulfächer am liebsten abschaffen wollen,
findet
weder das Fach Politische Bildung noch eines, das sich besonders auf
wirtschaftliche
Themen konzentrieren würde, eine nennenswerte Unterstützung.
Das Politische verschwindet hier in allgemeinen, von möglichst
allen
Fächern zu bearbeitenden "Lerndimensionen", "Lernbereichen" und
"Schlüsselproblemen". 7. Fazit: Chancen einer auch ökonomisch
fundierten
Allgemeinbildung Die hier nur kurz skizzierten Aspekte der
Entwicklung
der politischen Bildung sind einer Vertiefung der ökonomischen
Bildung
im Rahmen der Allgemeinbildung nicht gerade förderlich. Dass ein
eigenständiges
Schulfach keine Patentlösung ist, zeigt das Schicksal der
politischen
Bildung und auch der Arbeitslehre. Vielmehr kommt es darauf an, was
dort
eigentlich unterrichtet wird. Wenn es Ziel des allgemeinbildenden
schulischen
Unterrichts ist, die Partizipationschancen der Schüler an den
gesellschaftlichen
Möglichkeiten zu optimieren, dann gehören wirtschaftliche
Grundkenntnisse
zweifellos dazu. Nach meinem Eindruck gibt es eigentlich nur zwei
pragmatische
Möglichkeiten, in dieser Frage zügig voran zu kommen:
Weil Lehrer nur
lehren können, was sie
selbst auch
wissen, und weil sie im allgemeinen auch lehren, wessen sie sich in der
Sache sicher sind, ist eine spezifische Lehrerfortbildung zu diesem
Komplex
angesagt, die zumindest zunächst einmal auf das ganze
fachdidaktische
Brimborium verzichtet und möglichst von den einschlägigen
Einrichtungen
der Wirtschaft selbst nach ihren eigenen Einschätzungen angeboten
wird. Es kommt zunächst einmal darauf an, die Lehrer fachlich
weiterzubilden,
wie sie das im Unterricht ihres jeweiligen Faches umsetzen können,
werden sie selbst herausfinden, wenn sie über genügend
Unterrichtserfahrungen
verfügen. Partizipation heißt in diesem Falle,
sich am öffentlichen
Diskurs über wirtschaftliche Fragen beteiligen zu können. Der
findet in den Medien statt. Folglich ließe sich zweitens eine
didaktische
Struktur des Unterrichts dadurch gewinnen, dass man ermittelt, was man
zum Verständnis einschlägiger Texte oder anderer medialer
Darstellungsformen
wissen und deshalb lernen muss. Das ist nicht wenig, selbst wenn man
sich
zunächst auf relativ einfach strukturierte Beiträge etwa in
der
Boulevardpresse beschränken würde. Da solche Beiträge
sich
auf aktuell bedeutsame Probleme beziehen, die nicht für ein
Schulbuch
verfasst und nicht von Pädagogen erfunden wurden, dürfte die
Arbeit daran auch eine gewisse Motivation auslösen. Aus derartigen
Sachanalysen ließen sich gewiss grundlegende
Verständnismodelle
herausbilden, die - auch für die Schüler einsichtig - relativ
abstrakt und systematisch gelernt werden müssen.

214.
Ökonomische Implikationen des pädagogischen Handelns (2001)
In: Dietrich Hoffmann
/Kathrin Maack-Rheinländer
(Hrsg.): Ökonomisierung der Bildung. Die Pädagogik unter den
Zwängen des "Marktes". Weinheim 2001, S. 15-21
Im
allgemeinen werden unter Pädagogen
ökonomische
Tatsachen und Dimensionen lediglich als Randbedingungen verstanden, die
das pädagogische Handeln mehr oder weniger beeinflussen, begrenzen
oder auch unterstützen. Höhere Finanzmittel und personelle
Ressourcen
fördern demnach die pädagogische Arbeit, Streichungen
erschweren
sie. Oder aber Forderungen an die Pädagogik, sie solle die
wirtschaftliche
Brauchbarkeit ihrer Absolventen im Blick haben, werden als
unberechtigte
Einmischung in die Substanz des pädagogischen Handelns abgewehrt.
Die gegenwärtige Diskussion ist voll sowohl von entsprechenden
Ansinnen
wie auch Argumenten der Abwehr. Aus dem Blick gerät dabei leicht, dass
das pädagogische
Handeln selbst ohne ökonomische Implikationen gar nicht denkbar
ist.
Diese sind nicht bloß hinzugefügt, sondern Bestandteil
dessen,
was man mit Fug und Recht Pädagogik überhaupt nennen kann.
Wenn
man diese Implikationen nicht sieht, droht das pädagogische
Selbstverständnis
illusionär zu werden. Ich will das an einigen Beispielen
erläutern. I Das Generationenverhältnis, auf dem
letztlich jedes
pädagogische Selbstverständnis beruht, ist im Kern ein
ökonomisch
fundiertes. Es resultiert bekanntlich aus der biologisch bedingten
Tatsache,
dass die nachwachsende Generation von sich aus über Jahre hinweg
nicht
nur physisch nicht überlebensfähig ist, sondern auch ihren
Unterhalt
nicht erwirtschaften kann. Nicht nur die Entwicklungstatsache
konstituiert
eine eigentümliche Beziehung der Generationen, sondern auch die
daraus
resultierende ökonomische Abhängigkeit; in armen Ländern
ist dieser Zusammenhang - wie bei uns früher auch - mit
Händen
zu greifen. Deshalb hat das Generationenverhältnis
die Form eines
Kredits, der zurückgezahlt werden muss. Zum einen haben Kinder
zwar
Anspruch darauf, dass Erwachsene - in der Regel die Eltern - sich um
sie
kümmern, sie versorgen, ihnen Ausbildungsmöglichkeiten
verschaffen,
so dass sie als Herangewachsene eine ihren Fähigkeiten
entsprechende
und subjektiv befriedigende Position in der Gesellschaft einnehmen
können.
Aber dieses moralische Recht hat die Form eines Kredits. Indem die
zuständigen
Erwachsenen eine immense Arbeit sowie die damit verbundenen Verzichte
in
das Aufwachsen ihrer Kinder investieren, zahlen sie gleichsam einen
Kredit
zurück, der ihnen in ihrer Kindheit durch diejenigen Erwachsenen
gewährt
wurde, die damals für sie gesorgt haben. Der jeweils
heranwachsenden
Generation steht dieser Kredit jedoch nur so lange und nur insoweit zu,
wie dies für den Abschluss einer Berufsausbildung bzw.
überhaupt
für die Führung eines selbständigen Lebens erforderlich
ist. Die Eltern haben z.B. einen Anspruch darauf, dass ihre
15
Kinder zu einem
angemessenen Zeitpunkt aus
ihrer finanziellen
Bilanz wieder verschwinden. Aus dem Generationenvertrag und seinen
ökonomischen
Implikationen erwachsen also für die Kinder auch Pflichten. Dazu
gehört
zum Beispiel, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten so gut wie
möglich
entwickeln, um einerseits die Fürsorge durch ihre Eltern
überflüssig
zu machen und andererseits den als Kind erhaltenen Kredit wiederum an
die
nächste Generation weitergeben zu können - und sei es nur in
Form von Steuerzahlungen. Wer also in der Schule wie in der
Berufsausbildung
seine Fähigkeiten nicht optimal zu entwickeln versucht, handelt
gegen
die Regeln des Generationenvertrags, dem er andererseits sein meist
recht
gutes Leben verdankt, und dagegen kann man nicht mit inneren
Gestimmtheiten
oder mit pädagogischen Klauseln argumentieren. Ob also Kinder in
der
Schule lernwillig sind oder nicht, steht ihnen grundsätzlich nicht
frei, wenn man ihnen nicht gestatten will, auf anderer Leute Kosten auf
Dauer dahinzuleben. Die pädagogischen Wunschbilder - nicht zuletzt
auch schulpädagogischer Art - die diese fundamentale Tatsache
nicht
zur Kenntnis nehmen, beruhen also auf ökonomischer Ignoranz.
Dem widerspricht auch
nicht der Hinweis auf
Kants oft
zitierte These, dass Eltern die Kinder nicht gefragt haben, ob sie denn
überhaupt gezeugt werden wollten, und dass aus diesem Eingriff in
deren Freiheit eine besondere Verpflichtung zur Erziehung erwachse;
denn
diese - im Prinzip akzeptierbare - Begründung schließt ein,
als so Erzogener wiederum für die alt gewordenen Eltern zu sorgen
- was bis in die Neuzeit hinein die einzig realistische Form der
Altersversorgung
war und in vielen Ländern immer noch ist. - Ein weiteres Beispiel
ist die Schule. Auch sie ist Bestandteil des Generationenvertrages,
aber
auch sie beruht auf dem Grundsatz einer wechselseitigen Ökonomie.
Sie ist nämlich primär keine Veranstaltung zum Wohle des
Kindes
- dafür kann im Prinzip auch ohne Schule gesorgt werden - ,
sondern
des Staates bzw. der Gesellschaft, und dies nicht zuletzt in
ökonomischer
Hinsicht, nämlich zur Sicherung der wirtschaftlichen Produktion
und
Reproduktion aller Mitglieder der Gesellschaft. Wenn dabei in der
Moderne
der Persönlichkeit und der Individualität des Kindes
nachdrücklich
Rechnung getragen wird, dann nicht aus romantischer
Sentimentalität,
sondern weil moderne Gesellschaften eines hohen Maßes an
Individualisierung
möglichst aller Menschen bedürfen. Was Pädagogen
gelegentlich
für ihren großen humanitären historischen Sieg halten,
war im Kern ökonomische Notwendigkeit. Damit soll die
mobilisierende
Bedeutung der modernen Individualitäts- und Freiheitsideen nicht
geleugnet
werden, aber ohne eine entsprechende ökonomische Basis hätten
sie sich nicht durchsetzen können. Und schließlich ein Beispiel aus der
Bildungspolitik.
In den 60er und 70er Jahren war man euphorisch der Meinung, eine
höchstmögliche
Bildung für möglichst alle zahle sich auch
volkswirtschaftlich
aus, schaffe Innovationen und Arbeitsplätze. Die damit verbundenen
Reformpläne von der Universität bis zum Kindergarten und zur
Jugendhilfe erwiesen sich jedoch schon Anfang der 70er Jahre als nicht
finanzierbar - oder genauer gesagt: der Wille zur expansiven
Finanzierung
- der ja immer Verzicht auf andere Vorhaben einschließt -
erlahmte.
Inzwischen war aber dem Bildungswesen gegenüber eine
sozialpolitisch
motivierte Anspruchshaltung 16 entstanden, die die Balance von Leistung und
Gegenleistung
- eine zentrale ökonomische Denkfigur - zerstört hat: Der
Andrang
auf die höheren Bildungseinrichtungen - Gymnasium wie
Universität
- wurde verbunden mit der Einstellung, dies alles stünde einem zu,
sei als ein Recht ohne entsprechende Gegenleistung zu verstehen. Selbst
der offenkundig lernunwillige Schüler oder auch Student habe das
Recht,
optimal gefördert zu werden: Wer nicht begabt sei, müsse eben
begabt werden - nicht etwa zumindest auch sich selbst zu begaben
versuchen.
Ökonomisch gesehen ist unser Bildungswesen deshalb in einen Trend
der Verschwendung geraten, wenn man etwa an die Ergebnisse der
TIMSS-Studien
denkt. Die höheren Bildungsstufen Universitäten und Gymnasien
sind teilweise besetzt mit Schülern bzw. Studenten, die im Grunde
dort nicht hingehören, bzw. nur dann dort einen Platz beanspruchen
dürften, wenn sie das Ihre zu einer effektiven Nutzung dieser
Einrichtungen
beitragen würden - im Sinne der Rückzahlung des
erwähnten
Kredits. Inzwischen
hat sich wieder herausgestellt,
dass Bildung
auch bei uns ein teures und deshalb knappes Gut bleibt.
Volkswirtschaftlich
gesehen gibt es in einer Zeit hoher struktureller Arbeitslosigkeit und
einer Zweidrittelgesellschaft kein ökonomisches Interesse mehr
daran,
möglichst alle möglichst hoch zu qualifizieren, sondern nur
noch
daran, die wirklich Begabten optimal zu fördern, denn diese, und
nicht
die anderen, sichern die ökonomische Zukunft der Gesellschaft.
Diese
unangenehme Einsicht wird unter Hinweis auf andere vergleichbare
Länder
mit ihren hohen Absolventenquoten und mit der Sportmetapher vom
Zusammenhang
zwischen Breitensport und Leistungssport immer wieder abgewehrt. Gerade
die Pädagogik sollte sich jedoch in diesem Punkte keine Illusionen
machen; denn der eigentliche politische Durchbruch für die
Bildungsreformen
der 60er und 70er Jahre resultierte aus der erwähnten
ökonomischen
Hoffnung. Wer nun auch künftig an Chancengerechtigkeit im
Bildungswesen
festhalten will, braucht dafür andere Begründungen als
ökonomische.
Aber welche? Am naheliegendsten ist noch die demokratisch-politische
Begründung
der Chancengerechtigkeit, aber die ist manipulierbar, weil sich ihre
Wirkung
kaum beweisen lässt. Hat die Bildungsreform der letzten Jahrzehnte
wirklich für mehr Chancengerechtigkeit gesorgt oder nicht eher -
wie
auch früher schon - die ohnehin Privilegierten weiterhin
bevorzugt?
Auch vollmundige Reformpädagogik kann ein solches Ergebnis haben.
Die pädagogische Begründung der höchstmöglichen
Bildung
für alle - ökonomisch gesehen eine Art Luxus, den wir uns
leisten
könnten - interessiert in der Öffentlichkeit ohnehin kaum
noch
jemanden. Wie immer auch solche Begründungen lauten könnten:
Wie sollen sich diese auf Dauer gegen die ökonomischen
Prioritäten
behaupten, wenn das Prinzip des zurückzuzahlenden Kredits hier
nicht
mehr greift? Eine Schulpädagogik jedoch, die immer
noch Schule
als eine Zumutung des Staates an das Kind denunziert, verkennt diesen
Zusammenhang
gründlich. Wenn nämlich das Kind die knappen Ressourcen der
Bildung
für sich nicht nutzt, schadet es ökonomisch gesehen in erster
Linie sich selbst, nicht dem Staat und der Gesellschaft, solange deren
ökonomische Reproduktion gewährleistet bleibt. Für die
Erziehung
der Kinder und Jugendlichen wäre es nützlich, solche
ökonomischen
Ge- 17
sichtspunkte wieder
ins Feld zu führen
und deutlich
zu machen, dass Ökonomie die Verwaltung eines Mangels ist und dass
deshalb die Inanspruchnahme einer gesellschaftlichen Ressource wie der
Bildung einer Gegenleistung bedarf. II Nun bedeutet die Anerkennung der Tatsache,
dass das pädagogische
Handeln und die pädagogischen Institutionen ohne Rücksicht
auf
die Ökonomie der Gesellschaft gar nicht zu denken sind,
keineswegs,
dass die Pädagogik von daher determiniert, im wesentlichen ein
ausführendes
Organ wirtschaftlicher Interessen sei oder zu sein habe. Dagegen
spricht
schon die Entwicklung von Erziehung und Bildung in der Moderne. Sie
beruht
ja gerade bewusst auf der Freisetzung des Kindes- und Jugendalters von
unmittelbaren ökonomischen Zwängen, was die
Ausdifferenzierung
eines hochkomplexen Bildungs- und Erziehungssystems überhaupt erst
möglich machte. Kinder und Jugendliche - heißt das - konnten
dem Markt für eine Reihe von Jahren entzogen werden. Einerseits
war
dies nur möglich auf dem Hintergrund entsprechend gestiegener
volkswirtschaftlicher
Ressourcen; die ökonomischen Implikationen und Zwecke wurden nur
auf
eine höhere, nämlich effektivere Ebene transponiert.
Auf der anderen Seite
war dieser Prozess
jedoch auch die
ökonomische Voraussetzung für die Emanzipation der
professionellen
Pädagogik von unmittelbaren ökonomischen Abhängigkeiten;
sie musste immer weniger gleichsam "von der Hand in den Mund leben".
Die
Gesellschaft konnte sich zunehmend den "Luxus" relativ autonomer
pädagogischer
Einrichtungen und darauf bezogener Konzepte und Theorien leisten. Und
erst
in diesem Prozess entfalten sich auch die "einheimischen"
pädagogischen
Konzepte und Begriffe. Die Pädagogik erhält nun einen relativ
unabhängigen eigenen professionellen Kern, von dem aus sie
Erwartungen
der gesellschaftlichen Interessenten - auch der Wirtschaft -
überprüfen
und sortieren kann. Um diesen Kern zu finden, ist eine wichtige
Unterscheidung
notwendig. Die bisher erwähnten ökonomischen Implikationen
des
pädagogischen Handelns waren auf volkswirtschaftliche
Zusammenhänge
bezogen, die gegenwärtige Diskussion zwischen Pädagogik und
Wirtschaft
ist aber primär betriebswirtschaftlich bestimmt. Das ist ein
erheblicher
Unterschied. Dafür einige Beispiele:
Das gegenwärtig viel verwendete
Schlagwort "Modernisierung"
legt die Vorstellung nahe, dass alles, was bisher gegolten hat,
überholt,
neuen Anforderungen nicht gewachsen sei. Modernisierung erscheint als
ein
Prozess, der ohnehin abläuft und in den man sich bloß
einklinken
muss. Auch die Schulen und sogar Hochschulen sind von dieser Debatte
erfasst
worden: Ihre Lehre müsse praxisnäher werden, sie müsse
im
Hinblick auf ihre Effizienz regelmäßig evaluiert werden; die
Bildungseinrichtungen müssten zu lernenden Organisationen werden,
sie brauchten wie ein florierender Industriebetrieb ein gut
funktionierendes
Management, die Professoren müssten nach Leistung bezahlt und
ihres
Beamtenstatus entkleidet werden usw. Das einzig Moderne in diesem
Zusammenhang
scheinen die Studenten zu sein, die von faulen oder rück-
18
ständigen Professoren
an der Entfaltung
ihrer wirklichen
Fähigkeiten gehindert werden. Dies anders zu sehen, wäre
politisch
nicht opportun, weil die Studenten ja zur "neuen Mitte" gehören,
von
der man schließlich gewählt werden will.
Charakteristisch für solche
Argumentationstrends
ist zweierlei: Geschichtslosigkeit und Expansion
betriebswirtschaftlicher
Verstehensmuster Die Geschichtslosigkeit ist darin zu sehen,
dass nicht
real existierende Verhältnisse und Strukturen in ihrem
Entstehungszusammenhang
analysiert und hinsichtlich ihrer künftigen Tragfähigkeit
überprüft
werden, so dass man überzeugende Argumente erhielte, was warum und
wie zu verbessern sei. Vielmehr wird die nicht aufgeklärte
Wirklichkeit
lediglich konfrontiert mit Postulaten, die irgendwie und ohne weitere
Begründung
für "modern" gehalten werden (ein Verfahren, das sich
übrigens
auch im Rahmen von inneren Schulreformen beobachten lässt). Diese
geschichtslose Argumentationsfigur hat zur Folge, dass der
Modernisierungszauber
daherkommen kann mit der Aura des historisch Unausweichlichen, zu dem
es
ernsthaft keine Alternative geben könne. Hier kommt eine typisch
betriebswirtschaftliche
Sichtweise zum Tragen. Sie vermag mit Kategorien wie Erinnerung und
Tradition
wenig anzufangen. Ihre Maßstäbe sind Veränderung,
Innovation
und Flexibilität. Von daher kommt auch der permanente Hinweis,
dass
Wissen schnell veralte, während doch nur seine
betriebswirtschaftliche
Verwertbarkeit veraltet - was ja nicht dasselbe ist. Die Informatiker,
die die Wirtschaft heute braucht, hat sie in betriebswirtschaftlicher
Blindheit
Mitte der neunziger Jahre selbst gefeuert, was marktgerecht Studierende
dann vom Studium dieses Faches über Jahre abgehalten hat.
Mit der
Geschichtslosigkeit in Verbindung
steht die Vorstellung,
dass allein ökonomische Maßstäbe und
Organisationsformen
als fortschrittlich zu gelten hätten und deshalb auf alle
gesellschaftlichen
Institutionen zu übertragen wären. Ein Beispiel dafür
ist
die Diskussion über die Hochschulreform. Es mag ja sein, dass
moderne
Managementmethoden diesen Einrichtungen gut täten. Aber um das
herauszufinden,
wäre es doch wohl zweckmäßig zu analysieren, warum die
vor fast 35 Jahren mit soviel Enthusiasmus ins Werk gesetzte
Organisation
der Hochschule nach den Regeln eines ständepolitischen Parlamentes
jämmerlich Schiffbruch erlitten hat. Das wird jedoch so gut wie
gar
nicht reflektiert, vielmehr soll jetzt das Heil durch einen ebenso
wenig
aufgeklärten neuen Transfer - diesmal aus betriebswirtschaftlichen
Zusammenhängen - gefunden werden. Der Gedanke, dass auch diese
Übertragung
unter hohen menschlichen und materiellen Verlusten scheitern
könnte,
weil man erneut den Eigen-Sinn dieser Institution nicht zur Kenntnis
nimmt,
kommt gar nicht erst auf. Wir tun also gut daran, die ökonomischen
Implikationen
der Pädagogik zwar zu akzeptieren, aber auch einzusehen, dass
"Ökonomie"
mehr und anderes ist, als "die Wirtschaft" uns in den Medien
vorträgt.
Dann eröffnet sich ein Argumentations- und Deutungsspielraum der
Pädagogik,
den ich hier nur noch kurz andeuten kann.
19
III
Die Pädagogik hat in dem
erwähnten
historischen
Prozess ihrer relativen Autonomisierung drei Säulen ihrer
Professionalität
entwickeln können, die sie in eine notwendige Distanz zu
gesellschaftlichen
Anforderungen - auch und gerade zu wirtschaftlichen - treten
lässt.
"Notwendig" soll heißen: Ohne diese Distanz könnte sie ihre
Aufgabe nicht erfüllen, den Nachwuchs per Erziehung in die
Gesellschaft
zu integrieren und dabei auch wirtschaftlich brauchbar zu machen. Ich
meine
die Kategorie der Bildung als sinnstiftendes Leitmotiv des Lehrens und
Unterrichtens, das didaktisch-methodische Handwerk und die
eigentümliche
professionelle pädagogische Beziehung.
1. Mit der Kategorie der Bildung
ist ein
Leitmotiv gegeben,
das den individuellen menschlichen Entwicklungsprozess an die
Auseinandersetzung
mit der objektiven Kultur bindet. Dieses Arrangement ist mit
betriebswirtschaftlichen
Kategorien schon deshalb nicht zu beschreiben, weil unmittelbare
Nützlichkeit
ihm von vornherein fremd ist. Aber paradoxerweise ist gerade das
Unnütze
der Bildung ein unverzichtbares Fundament für daran
anknüpfende
vielfältige - auch wirtschaftliche - Brauchbarkeit. Der Kanon der
Bildung, wenn er denn vernünftig gefasst wird, enthält gerade
diejenigen Wissensstoffe, die nicht schnell veralten, gleichwohl aber
der
benötigten wirtschaftlichen Flexibilität zugute kommen
können,
geradezu deren Voraussetzung sind. Damit ist gesagt, dass auch die
Bildungsidee
sich nicht von ihren ökonomischen Implikationen gänzlich
lossagen
kann; bestünde ihr Ergebnis in Scharen nutzloser
Bücherwürmer,
würde sie vermutlich niemand finanzieren. Aber die Prozesse der je
subjektiven Aneignung z.B. haben eine eigene Logik, sie folgen nicht
den
Regeln des Marktes oder der betriebswirtschaftlichen Effizienz. Der
Mensch
lernt nicht auf dieselbe Weise, wie er produziert oder überhaupt
einen
Arbeitsplatz ausfüllt. Die bloße betriebswirtschaftliche
Perspektive
weiß nicht, welche Qualifikationen die Arbeitswelt wirklich
braucht
und wie sie gelernt werden können. Das jämmerliche Schicksal
der sogenannten "Schlüsselqualifikationen" hat das nur erneut
bewiesen.
Die Wirtschaft fordert ein eigenes Schulfach, weiß von sich aus
aber
nicht, was da eigentlich in welcher Reihenfolge warum gelehrt und
gelernt
werden soll. Sie zeigt überhaupt nicht selten bei ihren
Forderungen
pädagogische Unkenntnis, wenn sie z.B. nicht bemerkt, dass manche
reformpädagogischen Schulkonzepte sich lediglich per Jargon in den
betriebswirtschaftlichen Sprachgebrauch einschmeicheln,
tatsächlich
jedoch die der Wirtschaft nützlichen Bildungsanforderungen
unterminieren. 2. Mit der Bildungskompetenz zusammen
hängt die didaktisch-methodische.
Auch sie ist ein Kernstück pädagogischer
Professionalität.
Allerdings braucht die Wirtschaft sie auch - vermutlich aber eher beim
Verkaufen als bei der Instruktion für die Nutzung der Produkte,
wenn
man jedenfalls an die Unverständlichkeit vieler
Gebrauchsanweisungen
denkt. Das
didaktisch-methodische Handwerk hat
ebenfalls eine
ökonomische Implikation, die nicht übersehen werden darf. Der
Schulunterricht z.B. ist nicht zuletzt dadurch
charakterisiert, 20 dass er zumindest auch den Regeln der
Effizienz gehorchen
muss: nämlich im Rahmen einer vorgegebenen Zeit ein bestimmtes
Pensum
zu erreichen; das unterscheidet ihn von außerunterrichtlichten
Lernprozessen,
die etwa das Leben selbst mannigfach anbietet. Das Arrangement
erfolgreicher
Lernprozesse ist das eigentliche pädagogische Handwerk, und das
unterscheidet
sich grundlegend etwa von der Organisation von Produktionsprozessen.
Lernen
hat eine andere Logik als Produzieren, darüber können wir
auch
nachträglich noch viel von den Erfahrungen der DDR mit der
Polytechnik
lernen. 3.
Schließlich ist der für das
Arrangement
von Lernprozessen nötige personale Beziehungsrahmen zu nennen: der
"pädagogische Bezug". Nur in seinem spezifischen personalen
Kontext
können geplante Lehr- und Lernprozesse als intendierte
Bildungsprozesse
ablaufen, weil sie der dialogischen Form der Wechselseitigkeit
bedürfen.
Auch der pädagogische Bezug hat eine ökonomische Grundlage,
weil
er erfolgreich nur im wechselseitigen Geben und Nehmen sein kann; auch
der Schüler muss darin etwas investieren. Wird das vergessen,
bricht
diese eigentümliche Kommunikation in sich zusammen. Gleichwohl
gilt
für diese Art der menschlichen Beziehung ein eigentümliches
professionelles
Ethos, das von anderer Art ist, als eine noch so modern verstandene
Management-Beziehung
im Betrieb. Zusammenfassend lässt sich also
festhalten: Das Verhältnis
von Ökonomie und Pädagogik ist offensichtlich sehr komplex.
Einerseits
spielen ökonomische Implikationen in allen professionellen
Dimensionen
des pädagogischen Handelns eine Rolle. Andererseits muss das
pädagogische
Handwerk bei Strafe seines Erfolges auch nach anderen als
ökonomischen
Kriterien geordnet sein. Welche das sind, woher sie eigentlich stammen,
wie sie zu begründen sind und unter welchen Voraussetzungen sie
auf
Akzeptanz hoffen können - das sind Fragen, die einer genaueren
Überlegung
bedürfen. 21
215.
Jugendarbeit als Kulturpädagogik (2001)
In:
Bundesvereinigung
kulturelle Jugendbildung (Hrsg.): Kultur Jugend Bildung.
Kulturpädagogische
Schlüsseltexte 1970 – 2000. Remscheid 2001, S.193-200
(Nachdruck, identisch
mit: Gesammelte
Schriften Bd. 19,
Nr. 148)  216. Rezension zu: Ewald Terhart:
Lehrerberuf und
Lehrerbildung (2001) In:
Die Deutsche Schule, H.
1/2001, S. 118-119 Ewald Terhart: Lehrerberuf und
Lehrerbildung
Forschungsbefunde,
Problemanalysen, Reformkonzepte. Weinheim/Basel: Beltz, 2001, 246 S., €
34,-
Der Autor, Professor für Schulpädagogik an der
Universität Bochum, war Vorsitzender der von der
Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission, die über die
Neuordnung der Lehrerbildung nachdenken sollte; ihren Abschlussbericht
hat er im Namen dieser Kommission inzwischen unter dem Titel
"Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland" veröffentlicht
(Weinheim: Beltz, 2000).
Für das Thema seines neuen Buches "Lehrerberuf und Lehrerbildung"
ist Terhart also bestens ausgewiesen. Hier präsentiert er 11
zwischen 1990 und 2001 bereits gedruckte Beiträge, die er in zwei
Kapiteln ("Lehrerberuf"; "Lehrerbildung") ordnet. Eine solche
nachträgliche und nicht weiter redigierte, lediglich um ein
Vorwort ergänzte Zusammenstellung ermüdet oft wegen
zahlreicher Wiederholungen - davon kann in diesem Fall jedoch keine
Rede sein.
Terhart weist im 1. Kapitel einerseits auf neue Aufgaben für die
Lehrer hin, die durch gesellschaftliche Veränderungen und nicht
zuletzt auch im Verhalten und in den Einstellungen von Kindern und
Jugendlichen begründet sind, plädiert andererseits aber auch
für Augenmaß und für ein Grenzenbewusstsein des
beruflichen Selbstverständnisses. "Die Schule und die Lehrerschaft
sind keineswegs dazu in der Lage, gesellschaftlich erzeugte
Problemlagen abzuarbeiten; eine systematische Überforderung und
damit auch eine Gefährdung der Zentralfunktion kann die Folge
sein. Pädagogisierung sozialer Probleme bedeutet immer auch deren
118
Entpolitisierung" ... (S. 182 f.). Eher skeptisch im Vergleich zur
allgemeinen Euphorie beurteilt Terhart auch die Tendenz zur
"Schulautonomie". "Erweiterte Selbständigkeit ist bei den guten
Lehrern gar nicht nötig. Bei den schlechten Lehrern wiederum
bringt sie nichts, da diese nichts damit anzufangen wissen bzw. bei
falsch verstandener Autonomie ihre schlechte Arbeitsqualität noch
besser als bisher verbergen können" (S. 158). Zudem vermindere die
nun angestrebte größere Autonomie des Kollegiums vermutlich
die bisherige individuelle des einzelnen Lehrers - abgesehen davon,
dass die Lerninteressen der Schüler in dieser ganzen Debatte
bisher nur am Rande vorkämen. Von nicht zu unterschätzender
Bedeutung sei jedoch die Kooperation im Kollegium, die allerdings nicht
verordnet werden könne und nicht mit zu hohen Erwartungen begonnen
werden sollte. Vielmehr sollte sich "die Einübung von Kooperation
zunächst auf ganz elementare, arbeitsbezogene wechselseitige
Hilfestellungen konzentrieren".
Ähnlich pragmatisch argumentieren die Beiträge des 2.
Kapitels zum Stichwort ,Lehrerbildung", die ebenfalls ein erhebliches
Forschungsmaterial verarbeiten. Von "revolutionären" Konzepten zu
deren Neuorganisation hält der Autor wenig. Stattdessen
plädiert er für eine Verbesserung der vorhandenen Strukturen
und gegen idealisierende Hoffnungen auf eine deutlich zu verbessernde
berufsbezogene Wirkung des Hochschulstudiums, von dem man nicht
erwarten dürfe, was es unter den Bedingungen der
Massenuniversität nicht leisten könne. Zudem sei die Rolle
der Erziehungswissenschaft in diesem Zusammenhang problematisch
geworden, Sie folge immer mehr ihren eigenen
wissenschaftlich-systematischen Regeln und vergrößere so
ihre Distanz zu den praktischen Bedürfnissen des
pädagogischen Handelns. Auf diese Weise verliere sie ihre Funktion
als Betreuungswissenschaft für die pädagogischen Berufe.
Werde die Kluft zwischen den "zwei Kulturen" von Theorie und Praxis
nicht durch eine "klinische" Komponente gemildert, wären die
Folgen für beide gravierend. Trotzdem gebe es keine
vernünftige Alternative zur universitären Ausbildung in der
ersten Phase. Aber diese und die zweite Phase müssten besser
miteinander verknüpft, die zweite unter professionelle
Qualitätsansprüche gestellt, vor allem aber müssten die
ersten Berufsjahre unter dem Aspekt der professionellen Profilierung
als eine dritte Phase der Ausbildung neu gesehen und gestaltet werden
-wofür sich schon die erwähnte KMK-Kommission eingesetzt
hatte.
Die Texte sind durchweg gut lesbar, klar gegliedert, verraten
präzise Argumentation und vermeiden die übliche
Begriffsscholastik. Da Terhart fast immer auch wesentliche andere
Positionen vorträgt bevor er seine eigene entwickelt, ist ein
sachkundiges, nicht zuletzt auch empirisch fundiertes Buch entstanden,
dem man nur weite Verbreitung - gerade auch unter Lehrern -
wünschen kann, Leider dürfte dem der mir unverständlich
hohe Preis nicht gerade förderlich sein.
119  URL
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