Hermann Giesecke
 
"Der Politikunterricht wurde nach dem Kriege vor allem durch die zentralen politischen Konflikte begründet und fundiert"

 In: Kerstin Pohl (Hrsg.): Positionen der Politischen Bildung (1). Ein Interviewbuch zur Politikdidaktik. Wochenschau-Verlag Schwalbach 2004,  S. 64-75

© Hermann Giesecke


(Vormerkung:  Die Herausgeberin Kerstin Pohl  hat 17 Autorinnen und Autoren für diesen Band gewonnen und ihnen  zum Zweck der Vergleichbarkeit der Argumentation Fragen gestellt. Sie stehen in dieser Edition zu Beginn der einzelnen Antworten. H.G.)

1. Werdegang

(Bitte schildern Sie zunächst Ihren Werdegang: Wie und warum sind Sie zur Politikdidaktik gekommen? Welche politikwissenschaftlichen Schulen und politikdidaktischen Konzeptionen haben Sie beeinflusst? Hatten Sie Vorbilder?)

 Nach dem Abitur 1953 und einem Jahr Industriearbeit Lehramtsstudium von 1954 bis 1960 in Münster (Geschichte, Latein, Philosophie, Pädagogik); von 1960 bis 1963 Dozent bzw. Leiter des Jugendhof Steinkimmen bei Bremen; danach bis 1967 Wissenschaftlicher Assistent bei Theodor Wilhelm am Institut für Pädagogik der Universität Kiel; 1964 Promotion mit der Arbeit "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung"; von 1967 bis zur Emeritierung 1997 Prof. für Pädagogik und Sozialpädagogik zunächst an der PH Göttingen, nach deren Integration an der Univ. Göttingen (Einzelheiten in meiner Autobiographie "Mein Leben ist lernen", Weinheim 2000).

Schon während des Studiums bin ich in Kontakt gekommen mit den Jugendhöfen in Vlotho und Steinkimmen. Dort wurden unter anderem Lehrgänge zur politischen Bildung für Schüler und Lehrlinge veranstaltet. Als Student habe ich daran bereits ebenamtlich, hauptamtlich von 1960 bis 1963 in Steinkimmen mitgewirkt. Mein didaktisches Interesse entstand aus den pädagogischen und politischen Schwierigkeiten dieser Arbeit, für deren Lösung es damals noch kaum Vorbilder gab; meine "Didaktik der politischen Bildung" (1965) - wieder zugänglich auf meiner Homepage - war das Ergebnis dieser Überlegungen. Weniger durch die Politikwissenschaft als vielmehr durch die Soziologie, insbesondere durch die Arbeiten von Helmut Schelsky und seiner Schüler, bin ich damals beeinflusst worden. Später kamen Auseinan-
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dersetzungen mit der "Kritischen Theorie" hinzu, die sich in einer Neubearbeitung der "Didaktik" (1972) niedergeschlagen haben. Auch diese Fassung befindet sich auf meiner Homepage.
 
Politikwissenschaft habe ich nicht formell studiert, vielmehr mich mit denjenigen ihrer Autoren beschäftigt, die sich damals zur politischen Bildung geäußert haben; unter den pädagogischen Autoren habe ich vor allem bei Theodor Wilhelm Überlegungen gefunden, die mir für eine didaktische Theorie brauchbar erschienen.

Da "Politische Bildung" nicht zu meinem Lehrauftrag in Göttingen gehörte, habe ich mich seit den 70er Jahren auf grundsätzliche Stellungnahmen und Einmischungen zu diesem Thema beschränkt, allerdings u.a. auch ein Schulbuch ("Einführung in die Politik", Stuttgart 1976) und eine Neufassung meiner didaktischen Überlegungen ("Politische Bildung", 2. Aufl., Weinheim 2000) verfasst.
 
2. Situation und Perspektiven des Politikunterrichts
(a) Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Situation des Politikunterrichts und worin sehen Sie die größten Herausforderungen, mit denen er zur Zeit konfrontiert wird?
(b) Welche Rolle wird der Politikunterricht Ihres Erachtens in der Zukunft voraussichtlich spielen und welche Rolle halten Sie für wün-schenswert?
)

Der Politikunterricht wurde nach dem Kriege vor allem durch die zentralen politischen Konflikte begründet und fundiert: die Bearbeitung der Nazi-Vergangenheit, die kommunistische Bedrohung, die innenpolitischen, nicht zuletzt parteipolitischen und weltanschaulichen Gegensätze in der jungen westdeutschen Republik. Diese Grundlagen und Voraussetzungen sind weitgehend entschwunden, neue Herausforderungen wie Globalisierung, Reform der sozialen Systeme oder Integration von Zuwanderern haben (noch) keine hinreichende innenpolitische Brisanz gewonnen oder werden in der öffentlichen Meinung nicht als wichtige Themen für die politische Bildung identifiziert. Zudem lässt eine konsensorientierte Politik kaum noch ernsthafte Konflikte manifest werden.
 
Geblieben von der ursprünglich politischen Begründung ist eine im Wesentlichen pädagogische Befähigung zur optimalen politischen Beteiligung - die aber offensichtlich politisch wenig mobilisieren kann und von Gesichtspunkten der ökonomischen Verwertbarkeit weitgehend verdrängt wurde. Bildung, die ihren unmittelbaren Nutzen nicht von vornherein ausweist, gilt in der öffentlichen Meinung als unmodern. So ist das Fach alles in allem unbeliebt geworden, wird in hohem Maße fachfremd unterrichtet, mit anderen Fächern zusammengelegt und gilt bei den Schülern vielfach als "Laberfach".
 
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Die Zukunft des Politikunterrichts hängt vor allem von der politischen Entwicklung ab und davon, ob politische Aufklärung wieder als nötig für die innere Stabilisierung der Demokratie erachtet wird. Ferner wird entscheidend sein, ob die allgemeinbildende Schule (wieder) als Ort des systematischen Unterrichts verstanden wird. Nur wenn das Prinzip des Fachunterrichts zur Geltung kommt, wird es möglich sein, die inhaltlichen und kategorialen Besonderheiten der "Sache" Politik, die sie von anderen Fächern unterscheidet, deutlich zu machen; in "fächerübergreifenden" schulpädagogischen Konzepten dagegen wird das Fach immer mehr sein besonderes Profil verlieren und schließlich weitgehend als entbehrlich erscheinen.
 
3. Politikbegriff
(a) Was ist für Sie Politik?
(b) Benötigt der Politikunterricht als Grundlage einen bestimmten Politikbegriff und wenn ja, wie sollte dieser aussehen?


Politik im engeren Sinne ist für mich das Handeln im Rahmen der dafür vorgesehenen staatlichen Institutionen einschließlich aller Aktivitäten, die darauf von außen oder innen Einfluss nehmen wollen. Im weiteren Sinne sind dazu alle diejenigen Tatbestände zu rechnen, die das Gemeinwesen betreffen und in der Öffentlichkeit umstritten sind.
 
Da unterschiedliche Politikbegriffe sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Meinung anzutreffen sind, kann der Politikunterricht nicht einfach einen bestimmten für sich reklamieren. Das ist auch nicht nötig, weil die Frage nach dem richtigen Politikbegriff in erster Linie ein fachwissenschaftliches Interesse zum Ausdruck bringt; die politischen Akteure halten sich daran nicht. Gleichwohl muss Klarheit über den Gegenstand bestehen, also darüber, was warum ein politisches Thema ist und welche Leitfragen (Kategorien) für seine Bearbeitung ihm angemessen sind.
 
Allerdings impliziert jede didaktische Konstruktion eines Unterrichtsthemas einen bestimmten Politikbegriff oder jedenfalls einen bestimmten Zugang zur Sache. So ist es ein Unterschied, ob ein Thema im Sinne einer systematischen Kunde oder einer Problemorientierung bzw. Konfliktorientierung bearbeitet werden soll. Schon aus Gründen der notwendigen didaktisch-methodischen Flexibilität muss deshalb auf einen starren Politikbegriff verzichtet werden. Abgekürzt: Im didaktischen Sinne ist Politik das, was sich mit genuin politischen Kategorien sinnvoll bearbeiten lässt.
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4. Inhalte des Politikunterrichts
 Sind Sie der Meinung, der Politikunterricht sollte ein bestimmtes inhaltliches Grundwissen vermitteln und wenn ja, welches?

Jeder Unterricht, also auch der politische, braucht einen bestimmten Bestand an Grundwissen, von dem aus dann komplexere Sachverhalte erschlossen werden können. Ein solches Kerncurriculum, das durch Wahlbereiche ergänzt werden kann, ist nicht hinreichend theoretisch deduzierbar, sondern kann letzten Endes nur pragmatisch vereinbart werden. In der Schrift "Kleine Didaktik des politischen Unterrichts" habe ich dafür einen Vorschlag gemacht: das Politische aus drei miteinander verbundenen Systemen (Politik, Ökonomie, Kommunikation) zu verstehen, von denen aus wichtige Phänomene unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens erklärt werden können. Im einzelnen heißt das:
 
- Politisches System: Volkssouveränität und Wahlrecht; Grundrechte; Rechtsstaatlichkeit; Gewaltenteilung; Sozialstaatlichkeit.
- Ökonomisches System: Arbeitsverhältnis; Berufsausbildung; Tarifpartnerschaft; privater Konsum; Wirtschaftspolitik.
- Kommunikationssystem: Presse; Fernsehen; Werbung; Datennetze.
 
Vorstellbar sind selbstverständlich auch andere Konzepte, sofern sie den Schülern in einem einsichtigen Zusammenhang angeboten werden; bloß additive Stofflisten sind dagegen didaktisch wertlos. Deshalb kann sich ein Kerncurriculum auch nicht als Summe einzelwissenschaftlicher Vorschläge ergeben, sondern nur als Resultat eines eigenständigen didaktischen Zugriffs, der die Perspektive des "Normalbürgers" einnimmt.
 
5. Ziele des Politikunterrichts
(a) Welche Ziele sollten mit dem Politikunterricht heute angestrebt werden? 
(b) Wie würden Sie diese Ziele legitimieren?
(c)  Würden Sie zustimmen, dass die politische Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler eins der zentralen Ziele des Politikunterrichts ist? Und in welchem Verhältnis steht die politische Urteilsfähigkeit zur moralischen Urteilsfähigkeit und zur demokratischen Handlungsbe-reitschaft?
(d)  Führen neue Entwicklungen wie die Herausforderung politischer Bildung durch den Rechtsextremismus, die Diskussion um die Werteerziehung und die Debatte um den Konstruktivismus dazu, dass sich die Frage nach der Offenheit politischer Lernprozesse heute neu stellt? Sehen Sie Grenzen für diese Offenheit und wenn ja, welche?

Es geht im Kern um den Aufbau einer grundlegenden Vorstellung über politische Zusammenhänge und um die Fähigkeit, politisches Handeln oder Unterlassen beurteilen zu lernen, das im Wesentlichen jenseits des Erfahrungsraumes der Schüler stattfindet. Von diesem Kern ausgehend - und nicht ihm hinzugefügt - ergeben sich weitere Ziele wie Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Kooperationsfähigkeit, Arbeitsdisziplin und Kritikfähigkeit gegenüber sich selbst und anderen. Sie sind Bedingungen eines gelingenden Unterrichts und keine ihm gegenüber autonomen Ziele.
 
Sie ergeben sich politisch aus dem demokratischen Postulat einer
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optimalen Beteiligung an politischen und gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten, pädagogisch aus dem Postulat einer höchstmöglichen Bildung als Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Da die meisten Menschen keine Karriere als Berufspolitiker vor sich haben - dafür kann eine allgemein bildende Schule auch nicht speziell qualifizieren - wird sich die politische Beteiligung in der Regel auf Wahlen, auf berufliche und wirtschaftliche Interessenvertretung, auf zivilgesellschaftliche Basisaktivitäten und auf die Nutzung der politischen Publizistik beschränken. Diese tatsächlichen Beteiligungsformen muss der politische Unterricht im Blick haben.
 
Die politische Urteilsfähigkeit ist in der Tat das zentrale Ziel. Die moralische Urteilsfähigkeit ausgerechnet an politischen Themen zu schulen ist prekär, weil wir es hier oft mit hochkomplexen Dilemma-Situationen oder komplizierten Abwägungen, aber auch mit ungenierter Interessendurchsetzung zu tun haben; deshalb ist hier die Gefahr vereinfachter Moralisierung besonders groß, die wiederum nicht zu einem angemessenen Urteil führen kann. Die Frage nach der Moral ist daher nur sinnvoll, wenn sie eingebettet bleibt in andere, genuin politische Leitfragen (Kategorien), wenn etwa von der Politik weniger die Durchsetzung einer bestimmten Moral als vielmehr die Herstellung von Bedingungen für moralisch angemessenes Verhalten der Bürger erwartet wird. Moralische Fragen der privaten Lebensführung hingegen gehören in andere Schulfächer und bedürfen auch eigentümlicher Kategorien und Methoden der Bearbeitung.
 
Die Schule ist Ort des Denkens und der Reflexion, nicht des Handelns - außer im Rahmen ihrer eigenen Handlungsmöglichkeiten etwa in Gestalt der Mitbestimmung der Schüler. Deshalb kann der politische Unterricht allgemeine "Handlungsbereitschaft" auch ernsthaft nicht zum Ziel haben - ganz abgesehen davon, wie so etwas überprüft werden soll. Ob, in welchem Rahmen und mit welchen Zielen der Schüler außerhalb der Schule oder nach seiner Schulzeit sich handelnd engagiert, muss ihm überlassen bleiben. "Handlungsbereitschaft" ist auch nur eingeschränkt ein genuin demokratisches Ziel, weil und insofern unser politisches System ein repräsentatives ist. In vielen Fällen ist nicht Aktion, sondern Reaktion angezeigt, zumal wenn Gefährdungen des demokratischen Systems und seiner Werte zu befürchten sind.
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An der Offenheit politischer Lernprozesse hat sich nichts  geändert. Die Herausforderung durch den Rechtsextremismus ist nicht neu, sondern hat die Bundesrepublik von Anfang an begleitet. Deshalb sehe ich keinen Grund, aus diesem Thema nun einen didaktischen Sonderfall abzuleiten. Abzüglich der bloßen Gewaltkriminalität ist Rechtsextremismus ein politisches Thema wie andere auch. Eine allzu betonte und vor allem moralisierende Beschäftigung mit ihm im Unterricht könnte ihn für Schüler eher attraktiv machen. Ein Schüler darf - zumal in der politisch geschützten Atmosphäre der Schule - jede politische Meinung äußern, solange er sie der gemeinsamen Argumentation unterwirft. In der Schule geht es um methodisch geordnetes Denken, nicht um Gesinnungen.

Der Konstruktivismus gehört - unbeschadet seiner Bedeutung in anderen Zusammenhängen - zu den zahlreichen Moden, die das pädagogische Denken immer wieder infiltrieren. Was an ihm didaktisch bedeutsam ist, hat man vorher schon gewusst: dass jede Aneignung in Lernprozessen subjektiv, weil mit Sinn versehen, das Gelernte also nicht in vollem Umfang dem entspricht, was vorher gelehrt wurde; dass das Bewusstsein von Welt nicht abfotografiert, sondern konstruiert wird. Solche Konstruktionen werden als Summe der bisherigen Erfahrungen in jeden Lernprozess eingebracht. Aufgabe des Unterrichts ist aber, sie einer methodisch geordneten Überprüfung und Korrektur unter den Leitmotiven von "Wahrheit" und "Richtigkeit" zu unterziehen, Im Unterschied etwa zum literarischen Produkt, das fertig vorliegt, sind die Gegenstände des politischen Unterrichts wie folgerichtig auch jedes politische Handeln immer unvollendet, also in die Zukunft offen.
 
Das muss sinngemäß auch für den politischen Unterricht gelten, wenn der Schüler durch ihn solches Handeln beurteilen lernen soll. Normativ fundierte Urteile und Entscheidungen kann die Schule dem Schüler grundsätzlich weder aufzwingen noch abnehmen. Über die kollektive Gültigkeit von Werten wird nicht in der Schule, sondern außerhalb ihrer Mauern - in der Gesellschaft - entschieden - es sei denn, es geht um die Werte des Zusammenlebens in der Schule selbst. Was in der Politik umstritten ist, kann die Schule nicht unstrittig machen. Deshalb darf sie auch nicht hinter den Beutelsbacher Konsens zurückgehen.
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6. Methoden des Politikunterrichts
 (a)  Heute werden von vielen Didaktikerinnen und Didaktikern handlungsorientierte Methoden favorisiert. Halten Sie diese speziell auch für den Politikunterricht für sinnvoll?
(b) Welche anderen Methoden eignen sich besonders, um die von Ihnen genannten Ziele des Politikunterrichts zu erreichen?


Für einen politischen Unterricht, wie ich ihn verstehe, sind handlungs-orientierte Methoden nur sehr begrenzt zweckmäßig. Ihre Reichweite ist relativ gering, sie sind sehr zeitaufwändig und führen nur mühsam zu systematischen Einsichten. Wer im Alltag politisches Handeln beurteilen will, kann das im allgemeinen auch nicht "handlungsorientiert" tun. Denken wird durch Handeln nicht immer gefördert, oft sogar eher behindert. Außerdem ist "Handlungsorientierung" kaum mehr als eine wohlklingende Metapher, weil nach wie vor unklar ist, was (warum) alles darunter verstanden werden soll und was (warum) nicht.
 
Es gibt keine Methode, die grundsätzlich zu bevorzugen wäre, jede ist für sich genommen vernünftig. Weil Unterrichtsmethodik die Art und Weise der Verzeitlichung eines gleichzeitig gegebenen didaktischen Entwurfes ist, kommt es in der Praxis auf die optimale Kombination von Methoden angesichts eines bestimmten Themas an, um bestimmte Inhalte überhaupt dem Lernen zugänglich zu machen. Methodenvielfalt ist im Übrigen nicht nur eine Tugend, sondern auch eine Not. Je jünger die Schüler sind und je geringer ihre Vorbildung ist, umso mehr muss die Distanz zu dem, was sie eigentlich lernen und verstehen sollen, durch methodische Einfalle gemildert und ihre Bereitschaft, die Mühen des Lernens auf sich zu nehmen, auf diese Weise erhöht werden. Erwachsene kommen im allgemeinen mit Vortrag und Diskussion aus.
 
7. Politikdidaktische Prinzipien
 In der aktuellen politikdidaktischen Diskussion werden eine Vielzahl didaktischer Prinzipien genannt - von A wie Alltagsorientierung bis Z wie Zukunftsorientierung.
(a) Welchen dieser Prinzipien sollte heute eine besondere Bedeutung zukommen?
(b) Welche Funktion können didaktische Prinzipien für die politikdidaktische Theorie erfüllen?
(c) Welche Funktion können didaktische Prinzipien für die Praxis des Politikunterrichts haben?


Die Diskussion über derartige Prinzipien ist ähnlich zu beurteilen wie die Favorisierung bestimmter Methoden: nur ihre optimale Kombination angesichts eines bestimmten Themas könnte sinnvoll sein. Wo allerdings die Sachverhalte und Strukturen selbst nicht mehr im Mittelpunkt stehen, können derartige "Prinzipien" fast beliebig wuchern. Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass die Vielzahl dieser Prinzipien einerseits der Legitimierung und Abgrenzung fachdidaktischer Positionen dient, andererseits sich auch der Verunsicherung verdankt, die durch den Abschied von der klassischen Vorstellung des Unterrichts entstanden ist. Wenn nicht "Lehren", sondern "Lernen" zum Ausgangspunkt aller didaktischen Überlegungen genommen wird, ergeben sich viele
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für sich genommen plausible Möglichkeiten von didaktischen Prinzipien, die teilweise nur eingeschmuggelte Erziehungsziele ("Bereitschaft zu ...") zum Ausdruck bringen.
 
Insofern diese Prinzipien nicht vom "Lehren" her ihren Ausgangspunk nehmen, sind sie kaum noch in einer politikdidaktischen Theorie zu bündeln und drohen diese zu verdrängen und sogar zu ersetzen. Übrig bleiben dann sog. "didaktische Ansätze", die ohne Rekurs auf und Legitimation durch eine fachdidaktische Theorie je nach pädagogischem Gutdünken gewählt werden. Dieses Verfahren scheint mir in der Schulen bereits verbreitet zu sein.
 
Wenn man wie ich vom Unterricht ausgeht und ihn versteht als eine Konfrontation bereits vorliegender Vorstellungen und Erfahrungen mit neuen, methodisch geordneten, dann entstehen aus der Differenz zwischen subjektiven und objektiven Aspekten eine Reihe von Problemen des unterrichtlichen Handelns, die man mit bestimmten Methoden oder vielleicht auch Prinzipien mildern, jedoch im allgemeinen wohl nicht gänzlich auflösen kann. Die grundlegenden didaktischen Probleme sind also der Handlungsform "Unterrichten" immanent, und Aufgabe der Didaktik wäre, sie im Rahmen dieser Handlungsstruktur - und nicht nur wissenschaftssystematisch - aufzuklären. Daran gemessen sind die "Prinzipien" nicht eindeutig einem bestimmten Problemaspekt zuzuordnen. Wer eine andere Vorstellung vom Unterricht hat und z.B. den Lehrer lediglich als "Moderator von Lernprozessen" versteht, wird entsprechend andere Prinzipien favorisieren. Der Streitpunkt liegt dann nicht in den Prinzipien, sondern in dem, was sie bewirken sollen.
 
Die Vielzahl dieser Prinzipien und ihre weitgehende Beliebigkeit könnten dazu verführen, systematische didaktische Reflexionen bei gutem Gewissen aufzugeben. Allerdings fürchte ich, dass die Praktiker des politischen Unterrichts von diesen internen fachdidaktischen Debatten kaum noch erreicht werden; es ist auch schwer einzusehen, inwiefern sie ihnen von Nutzen sein könnten.
 
8. Fachdidaktische Kontroversen
 Welche Kontroversen halten Sie in der aktuellen fachdidaktischen Diskussion für zentral? Welche Position haben Sie selbst in diesen Kontroversen?

Gegenwärtig scheinen vor allem die Kontroversen über den Konstruktivismus und über die Differenz zwischen sozialem und politischem
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Engagement im Mittelpunkt zu stehen. Die erstere ordne ich eher den Auseinandersetzungen über das interne Wissenschaftsverständnis der Fachdidaktik und über ihre Position in Bezug auf die Nachbarwissenschaften zu. Es gibt schon seit längerem die Tendenz, aus der eilfertigen, aber oft auch unkritischen Übernahme sozialwissenschaftlicher Novitäten - etwa Systemtheorie, Neurolinguistik oder Konstruktivismus - sich im Rahmen der Pädagogik oder Didaktik zu profilieren. Dieser Ausgangspunkt ist für die Praxis des Unterrichts weitgehend irrelevant und verhältnismäßig jungen Datums. Die früheren Kontroversen etwa seit den fünfziger Jahren waren alle anders, nämlich politisch bedingt - selbst dort, wo sie sich scheinbar als pädagogische artikulierten. Sie beruhten auf dem Verdacht, der politische Unterricht könnte parteilich gegen eine bestimmte politische Position wirken oder dies gar beabsichtigen - was auf dem Höhepunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung dann zum "Beutelsbacher Konsens" führte. Zu diesen Kontroversen gehörten z.B.: die Rolle des Lehrers zwischen Expertentum und politischer Parteilichkeit; politisches Handeln vs. Denken und Urteilen; die Spannung zwischen Inhalts- und Beziehungsebene; politische Bildung als Affirmation oder Kritik; politisches vs. soziales Lernen.
   
Inzwischen, nach dem Abklingen dieser heftigen Politisierung, scheint (endlich) die Möglichkeit zu bestehen, die aus dem unterrichtlichen Handeln selbst resultierenden Probleme als intern pädagogische zu beschreiben und zum Thema von Kontroversen zu machen, die wiederum als Handlungsvarianten in die Praxis zurückwirken könnten. Tatsächlich jedoch geht es vielfach nicht um das Aufzeigen produktiver Varianten, sondern um das Durchhalten von verfestigten "Positionen" und um kulturkampfähnliche Konflikte innerhalb der pädagogischen Profession und ihrer Organisationen selbst, die allerdings inzwischen immer weniger durch parteipolitische Richtungsunterschiede gedeckt sind - was die gegenwärtige Diskussion über die Ergebnisse von PISA 2000 eindrucksvoll zeigt. In dieser Lage sehe ich keinen Sinn darin, mich innerhalb der Kontroversen einer bestimmten Position einfach anzuschließen, vielmehr kommt es darauf an, deren Hintergründe fachpolitisch, bildungspolitisch, ideologiekritisch und pädagogisch aufzuklären - wobei übrigens das erneute Studium der früheren    Kontroversen von Nutzen sein könnte.
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9. Politikdidaktik als Wissenschaft
 (a) Auf welchen Gebieten der Politikdidaktik liegt der Schwerpunkt Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?
(b)  Mit welchen wissenschaftlichen Fragen sollte sich die Politikdidaktik in den nächsten Jahren vorrangig beschäftigen? Womit werden Sie selbst sich befassen?


Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt nicht mehr bei der Politikdidaktik im engeren Sinne, sondern betrifft allgemeine Bildungstheorie, Schultheorie, Unterrichtstheorie, Allgemeine Didaktik. Resultate dieser Arbeit finden sich etwa in den Büchern "Wozu ist die Schule da?" (Stuttgart 1996) und "Was Lehrer leisten" (Weinheim 2001).
 
Die Politikdidaktik muss stärker unterscheiden, was wissenschaftslogisch geboten ist und was sich lediglich als modisches Marktphänomen aufdrängt. Didaktik ist primär eine Wissenschaft vom Lehren und erst sekundär und darauf bezogen auch eine vom Lernen. Weitgehend vernachlässigt wurden in der Vergangenheit die Fragen des Kanons, des Lehrplans und des Lehrgangs. Eine Fachdidaktik, die keinen begründeten Kanon von Stoffen (oder Problemen), keinen daraus abzuleitenden sich über Jahre erstreckenden Lehrplan, keine einleuchtenden Sequenzen von aufeinander bezogenen Lehrgängen entwickeln und keine an diesen Maßstäben orientierten Lehrbücher (Schulbücher) vorlegen kann, wird über kurz oder lang ihre öffentliche wie auch ihre wissenschaftliche Reputation und Legitimation verlieren.
 
Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Hoffnung, man könne durch empirische Unterrichtsforschung und Lernforschung neue Grundlagen für didaktische Argumentationen und Konstruktionen finden, bisher nicht erfüllt hat. Je präziser im handwerklichen Sinne diese Forschungen werden und je näher sie an die Unterrichtswirklichkeit herankommen, umso weniger lässt sich aus ihren Ergebnissen didaktisch-methodisch zwingend ableiten und somit "auf Serie legen".
 
Zudem droht der Politikdidaktik ein Paradox, das nachgerade für die Erziehungswissenschaft im ganzen gilt: Je mehr sie sich als Wissenschaft entfaltet und dabei ausdifferenziert hat, um so dringlicher stellt sich die Frage, ob sie in dieser Form noch zu einer Berufswissenschaft für pädagogische Berufe taugt - aber Alternativen sind auch nicht in Sicht.
 
10. Theorie-/Praxisverhältnis
 Politiklehrerinnen und -lehrer erwarten oft „Rezepte" von der Politikdidaktik. Wie reagieren Sie auf diese Erwartung?

Ich glaube nicht, dass die Lehrer wirklich "Rezepte" von der Politikdidaktik verlangen, aber sie erwarten von den Erziehungswissenschaften zu Recht eine Art von "Zwischenhandel", nämlich eine Bündelung der
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wesentlichen Forschungsergebnisse im Hinblick auf ihren (real existierenden, nicht nur wünschbaren) Handlungsraum sowie auf dessen wesentliche Faktoren und Dimensionen: Schüler, Familie/Eltern, Schule/Schulverwaltung, Unterricht, Lernen, Sozialisation, Delinquenz, Lehrerprofessionalität. Von der Politikdidaktik sollten sie Entsprechendes erwarten dürfen, nämlich einerseits knappe, zusammenfassende Informationen und kritische Reflexionen über die Entwicklung der fachdidaktischen Diskussion, andererseits lehrgangsorientierte Konstruktionen für einen angemessenen Politikunterricht. "Rezepte" im Sinne von wiederholbaren gelungenen Unterrichtseinheiten können die Lehrer einander (auch über das Internet) oft besser selbst mitteilen. Nicht zuletzt um diesen Zwischenhandel zwischen Wissenschaft und Schule zu organisieren, sind die Fachdidaktiken ursprünglich ins Leben gerufen worden.
 
Die "Differenz von Theorie und Praxis" ist grundsätzlich nicht aufzulösen. An der Universität kann man nicht lernen, wie man mit Kindern umgeht; aus systematischen didaktischen Büchern kann man nicht Unterrichten lernen. Ausbildung und Praxis der Lehrer sind an unterschiedliche Lernorte und unterschiedliche Handlungskulturen gebunden, die einander befruchten sollten, aber nicht miteinander identisch sein können.
 
11. Politikdidaktik und Lehramtsausbildung
 (a) Was sollten „gute" Politiklehrerinnen und -lehrer wissen und können?
 (b) Welche Bedeutung sollte die Politikdidaktik im Rahmen der Lehr-amtsausbildung spielen? Wie sollte das Politikdidaktikstudium innerhalb des Lehramtsstudiums organisiert sein?
(c) Welche Schwerpunkte setzen Sie selbst in ihrer universitären Lehre?

"Gute" Politiklehrerinnen und -lehrer sollten sich in erster Linie ein profundes Fachwissen aneignen, weitgehend ohne Rücksicht auf künftige Verwertbarkeit. Nur wer selbst wissenschaftlich gebildet ist - möglichst über den Fachhorizont hinaus - kann auch angemessene didaktische und methodische Transfers vornehmen. Ferner kommt es auf den Erwerb pädagogischer Grundkenntnisse etwa über Kindheit, Jugend, Erziehung, Bildung, Sozialisation, Lehren und Lernen im Rahmen des erziehungswissenschaftlichen Studiums an - wiederum zunächst in systematischer Absicht und ohne vorschnelle Spekulation auf künftige Praxis. Alles Weitere muss die schulorientierte Ausbildung und vor allem die Weiterbildung gerade in den ersten Berufsjahren bringen.
 
Die Politikdidaktik sollte grundlegende Modelle der didaktischen Analyse und Strukturierung in Kombination von Sachanalyse einerseits und Lernanalyse andererseits entwickeln, ordnen und während des Studiums in sie einführen. Ähnlich wären methodische Variationen unter dem Gesichtspunkt des Lehrens zu sammeln, zu ordnen und im Studium zu vermitteln. Dazu gehört eine methodisch-systematisch angelegte Kritik dieser Modelle und Variationen unter dem Gesichtspunkt ihrer Reichweite (Was kann man mit ihnen erreichen, was nicht?). Hüten muss sich die Politikdidaktik vor ideologischen Einseitigkeiten und Moden des Zeitgeistes. Gegenwärtig ist noch offen, ob das Projekt einer Fachdidaktik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin als gescheitert zu betrachten ist.

Man sollte sich endlich damit abfinden, dass die Berufsausbildung     der Lehrer an verschiedenen Lernorten mit jeweils eigener "Lernkultur" und eigentümlicher Dignität stattfinden muss: An der Universität lernt man, Fächer und Sachverhalte systematisch, d.h. noch ohne konkreten Verwendungszweck zu studieren; in der schulpädagogischen Ausbildung lernt man Grundkenntnisse und Grunderfahrungen des Unterrichtens und überhaupt des Umgangs mit Schülern; in den ersten Berufsjahren lernt man pädagogisches Handeln systematisch zu reflektieren und zu standardisieren. "Integrieren" kann das alles nur der einzelne Kopf.


   
12. "Guter" Politikunterricht
 Zum Abschluss: Können Sie in einem Absatz formulieren, was für Sie „guter" Politikunterricht ist?

Ein guter Politikunterricht findet in einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts statt; vermittelt wichtige Kenntnisse und Einsichten, die das was der Schüler ohne diesen Unterricht bereits weiß, für sie erkennbar transzendieren; verbindet die Einzelstunden zu sinnvollen Lehrgängen; hält sich an die Regeln des Beutelsbacher Konsenses; verbindet Argumentationszwang mit Meinungsfreiheit; verlangt die erforderlich geistige Mühe, Anstrengung und Disziplin.
 

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