Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 7: 1968

© Hermann Giesecke

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Zu dieser Edition

Dieser 7. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahre 1968. In diesem Jahr war ich (seit 1967)  als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag  2000.Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit.  Aufgenommen wurden nur  bereits gedruckte Texte.Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags.  Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind  durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von  "1"  an numeriert, die  vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.


 
 

Inhalt von Band 7

57. Allgemeinbildung, Berufsbildung, politische Bildung - ihre Einheit und ihr Zusammenhang  (1968)
58. Didaktische Probleme der Freizeiterziehung (1968)
59. Was heißt: studentische Mitbestimmung? (1968)
60. Pädagogische Konsequenzen (1968)
61. Freiwillige soziale Dienste (1968)
62. Politische Bildung - Rechenschaft und Ausblick (1968)

57. Allgemeinbildung, Berufsbildung, politische Bildung - ihre Einheit und ihr Zusammenhang (1968)


(In: Neue Sammlung, H. 3/1968, S. 210-221)
 

(Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 14. 6. 1967 auf der zentralen Arbeitstagung "Arbeit und Leben" in Recklinghausen)
 
 

Das Thema, über das ich heute zu Ihnen sprechen soll, beinhaltet alle wesentlichen Probleme der Erziehungswissenschaft, zumindest aber das, was wir "allgemeine Didaktik" nennen. Es übersteigt also bei weitem das, was im Rahmen eines Vortrags abgehandelt werden kann. Ich muß mich daher darauf beschränken, einige grundsätzliche Perspektiven des Themas im Zusammenhang zur Diskussion zu stellen, und zwar in der Form von kommentierten Thesen und unter Weglassung an sich wichtiger Details.

1. Zunächst ist eine kurze geschichtliche Überlegung nötig. Pädagogisches Denken steht immer in einem bestimmten historischen Kontext. Modernes pädagogisches Denken, zur Wissenschaft sich hin entwickelndes Denken, ist eine Begleiterscheinung der modernen Demokratisierung, so wie das allgemeine Wahlrecht, die Entstehung von Parteien und Gewerkschaften, aber auch wie die Verirrungen der modernen Totalitarismen. Nur in diesem allgemeinen geschichtlichen Kontext kann es verstanden werden (1). Deshalb ist notwendig im modernen pädagogischen Denken eine Vorstellung von Demokratisierung und Emanzipation wenigstens unreflektiert impliziert. Pädagogische Leitvorstellungen, wie "Mündigkeit", "Autonomie" oder "Ich-Stärke", sind - jedenfalls als Forderungen, die für alle bildungsfähigen Menschen erhoben werden - nur vorstellbar auf dem Hintergrund der politisch-gesellschaftlichen Demokratisierung und wären früheren Epochen ganz unverständlich geblieben.

Dies bedeutet nicht, daß tatsächlich die Geschichte der modernen Erziehungspraxis ein kontinuierlicher Fortschritt an Demokratisierung gewesen wäre. Für die deutsche Volksschule z. B., vor allem für die preußische, muß man das bis etwa 1918 ganz entschieden bestreiten. Zur Geschichte der modernen Demokratisierung gehören ja auch die Gegenströmungen, die demokratische Fortschritte zu verhindern bestrebt waren, und insbesondere die Volksschule wurde von diesen Kräften bis weit in unser Jahrhundert hinein nahezu vollständig beherrscht.

Aber die mit derlei pädagogischen Realitäten verbundenen pädagogischen Vorstellungen waren bei Strafe ihrer Existenz darauf angewiesen, ihre eigene Verwissenschaftlichung abzuwehren. Sie konnten nur als vor-wissenschaftliche durch nichts als die Macht aufrechterhaltene Vorstellungen so lange überleben. Sobald die wissenschaftliche Reflexion des pädagogischen Geschäfts sich mehr und mehr durchzusetzen begann, war deren Schicksal auf lange Sicht besiegelt. Als um die Jahrhundertwende die wissenschaftliche Betrachtung und Kritik der Schule immer mehr Raum gewannen, wandten sie sich notwendigerweise gegen die

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der preußischen Schule zugrundeliegenden Vorstellungen; darüber hinaus kam es damals auch zu einem höchst charakteristischen Bündnis zwischen Sozialdemokratie und pädagogischer Wissenschaft über die ökonomischen Klassen hinweg - was für die damaligen politischen Verhältnisse in Deutschland einigermaßen ungewöhnlich war. Nicht zu Unrecht hielten die Sozialdemokraten die junge pädagogische Wissenschaft für ihren kulturpolitischen Verbündeten (2).

Unsere These über den prinzipiellen Zusammenhang von wissenschaftlicher Pädagogik und Demokratisierung bedeutet ferner nicht, daß die Geschichte des neuzeitlichen erziehungswissenschaftlichen Denkens einen kontinuierlichen Fortschritt an demokratischem Bewußtsein darstelle. Manche erziehungswissenschaftliche Position war - von heute aus gesehen - ein Irrweg, vieles erwies sich später als Spekulation im schlechten Sinne, ja sogar als die Aufrechterhaltung vordemokratischer Einstellungen mit Hilfe eines anspruchsvollen wissenschaftlichen Vokabulars (3). Aber entscheidend an wissenschaftlichen Verfahren sind nicht die Aussagen selbst - diese gelten vielmehr als vorläufige, der Revision unterworfene - , entscheidend ist vielmehr der Anspruch, die jeweils vorfindbaren pädagogischen Realitäten und Gedanken ohne Einschränkung der methodisch exakten Nachprüfung zu unterwerfen. In dem Augenblick, wo dieser Anspruch erhoben und allgemein anerkannt wird, wird die Erziehungswissenschaft zur Kritik der jeweils vorfindbaren Praxis im Namen von Maßstäben, die aus dem geschichtlichen Prozeß der Demokratisierung gewonnen werden.

Hier taucht ein wissenschaftstheoretisches Problem auf, das ich im Rahmen dieses Vortrags nur streifen kann: Man hat insbesondere den modernen funktionalen und kybernetischen Sozialwissenschaften den Vorwurf gemacht, sie hätten die ursprüngliche emanzipatorische Kraft der Wissenschaft gleichsam "verraten", indem sie sich als Instrumente der jeweiligen gesellschaftlichen Herrschaft in Dienst nehmen ließen (4). Hierzu nur soviel: Dies ist nur dann möglich, wenn der obengenannte Grundsatz, Vorstellungen und Realitäten ohne Einschränkung der Überprüfung zu unterwerfen, aufgegeben wird; wenn z. B. lediglich die quantifizierenden Verfahren der positiven Wissenschaften als "Wissenschaft" gelten, nicht dagegen auch die Methoden des Philosophierens und der historischen Kritik; oder wenn sich das wissenschaftliche Denken nicht an den fortgeschrittensten Methoden und Erkenntnissen orientiert, sondern an geschichtlich überwundenen - wie das etwa in der Erziehungswissenschaft dort geschieht, wo man glaubt, noch an der sogenannten "Kulturpädagogik" der zwanziger Jahre festhalten zu können.

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Der von uns behauptete historische Zusammenhang von Erziehungswissenschaft und Demokratisierung erlaubt folgenden Schluß: Eine pädagogische Praxis, die sich nicht vorbehaltlos der wissenschaftlichen Überprüfung unterwirft, und eine pädagogische Ausbildung, die diesen Maßstab - mit welchen Argumenten immer - verweigert, können höchstens zufällig einer emanzipatorischen Erziehung dienen. Solange z. B. die sozialpädagogische Ausbildung nicht verwissenschaftlicht ist, nützen ihrer Praxis keine noch so gutgemeinten Informationen über "demokratische Erziehungsstile"; die Inhalte demokratischen, emanzipatorischen Lernens sind nicht ein für allemal festsetzbar, etwa im Unterschied zu den Inhalten totalitärer Erziehung; sie sind überhaupt eigentlich keine Summe von bestimmten Lerninhalten oder Erziehungszielen, die sich in Schulprogrammen oder ministeriellen Richtlinien ausdrücken ließen, sondern sie sind das, was jeweils von ihnen übrigbleibt, nachdem sie der uneingeschränkten wissenschaftlichen Kritik unterworfen wurden. Auf eine Formel gebracht: Demokratische Erziehung ist Autonomisierung der Menschen plus wissenschaftlicher Kritik an deren Realisierung, und die Inhalte der Realisierungen sind Aufgaben, keine Gewißheiten.

2. Daraus ergibt sich, daß allgemeine Bildung nur als politische Bildung konzipierbar ist. Der Gebrauch des Begriffes "Allgemeinbildung" enthält zwei Aspekte, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben müssen: Einmal ist damit die für alle Bildungsfähigen gültige Bildung gemeint. In dieser Wortbedeutung handelt es sich ganz zweifellos um eine politische These, und zwar um eine demokratische, die sich gegen alle tatsächlichen Bildungsprivilegien wendet, die nicht in der Bildbarkeit der einzelnen Menschen ihren Grund haben.

In einer Zeit, in der die klassische deutsche Bildungsidee in der Öffentlichkeit restlos liquidiert zu werden droht, ist es nicht unnütz, daran zu erinnern, daß z. B. Humboldt genau dies gemeint hat, und daß die Aristokratisierung dieser Idee eine spätere Entwicklung ist, als es nämlich einer bestimmten sozialen Schicht um nichts anderes mehr ging als um die Reproduktion ihres sozialen Status mit dem Mittel einer immer mehr verkommenden Bildungsidee (5). Inwieweit die inhaltliche Fixierung der für alle gemeinten Bildungsidee durch die deutsche Klassik heute noch aufrechterhalten werden kann, ist natürlich eine ganz andere Frage. Immerhin ist der aus dieser Konzeption von Allgemeinbildung folgerichtig erwachsende Gedanke der Einheitsschule keine Erfindung der Kommunisten, sondern eben dieser deutschen Klassik selbst.

Wie sehr indes diese Idee wieder verkommt, zeigt die zweite Wortbedeutung. "Allgemeinbildung" meinte damals zugleich auch die für alle Lebensaufgaben gemeinsame Bildungsgrundlage. Aber diese Wortbedeutung beginnt sich sehr bald von der ersten zu lösen im Sinne einer erneuten ständischen Separierung, insofern verschiedenen Schichten der Gesellschaft qualitativ verschiedene Bildungsaufgaben zugeordnet werden.

Diese Vorstellung hat tatsächlich gerade in den letzten Jahrzehnten bei uns eine große Rolle gespielt, und noch in der Gegenwart sprechen wir reichlich ungeniert von "spezifischen Bildungsaufträgen", z. B. der Volksschule, der

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Berufsschule und des Gymnasiums. Etwa: "Wissenschaftliche Bildung" fürs Gymnasium, "volkstümliche Bildung" für die Volksschule. Man meinte, bei den Abgängern der Volksschule eine spezifische Begabung ("praktische Begabung") oder ein spezifisches "Erleben" ein und derselben Welt oder sogar einen spezifischen "Lebensraum" entdeckt zu haben, der eine spezifische Bildungsidee nicht nur rechtfertigte, sondern sogar verlangte (6). Der letzte Teil dieser Behauptung ist am wenigsten zutreffend. Die vergesellschafteten Systeme der Kultur und der Politik, ja sogar auch der Arbeitswelt werden für alle Menschen immer mehr die gleichen und verlangen dementsprechend gleichartige Lernleistungen. Die These von der spezifischen Begabung ist höchst fragwürdig geworden (7). Lediglich für ein schichtenspezifisches Verhaltens- und Erlebensmuster gegenüber der modernen Welt lassen sich empirische Befunde bringen (8).Dennoch wäre zu fragen, ob diese spezifischen Muster nicht wenigstens zu einem guten Teil gerade soziale Defizite kennzeichnen, die durch Lernen überwunden werden müssen.

Jedenfalls gibt es kein zwingendes Argument mehr dafür, an inhaltlich spezifischen "Bildungsaufträgen" festzuhalten. Was davon übrigbleibt, ist das didaktische Problem, in welcher stofflichen Reihenfolge und mit welcher Unterrichtsorganisation Mitglieder einer bestimmten sozialen Schicht auf die Bahn jener für alle prinzipiell gleichen Bildung gebracht werden können (9).Die "differenzierte Einheitsschule", nach Leistungsstufen auf der Grundlage ein und derselben - im Kern politisch motivierten - Bildungsvorstellung gestuft und durchaus mit verschiedenen Schwerpunkten ("Differenzierung") ausgestattet, ist unausweichlich. Indem wir sie fordern und indem wir den ursprünglichen politisch-demokratischen Ansatz von "Allgemeinbildung" wieder freilegen, haben wir wieder den Bewußtseinsstand des frühen 19. Jahrhunderts erreicht - ein Beweis dafür, daß "Fortschritt" und die zeitliche Kontinuität der Realgeschichte keineswegs unbedingt synchron laufen müssen. Gerade dies ist historische Kritik: Ein geschichtliches Ergebnis an der ursprünglichen Intention zu messen und - wenn nötig - zu verwerfen.

3. Auf der Grundlage einer solchen, hier nur angedeuteten historisch-kritischen Reflexion ist also wissenschaftliche Pädagogik nur als politische Pädagogik, politische Pädagogik nur als demokratische Pädagogik und demnach Allgemeinbildung nur als politische Bildung, d. h. als politisch motivierte Bil-

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dung denkbar. Wer Freude an einprägsamen Formeln hat, mag also sagen: Allgemeine Didaktik ist politische Didaktik.

Aber diese Formel ist gefährlich, weil sie das Problem der Lerninhalte zu einfach sieht. Wer aus ihr etwa den Schluß zieht, es komme auf die unmittelbare und naive Politisierung aller Lerninhalte an, wie die DDR es uns vorführt, verfährt offenbar nicht demokratisch. Wir können dies durchaus verallgemeinern: Wo immer heute alle Lernaufgaben auf einen einzigen inhaltlichen Generalnenner gebracht werden - was bei einem unreflektierten Gebrauch des Begriffes "Bildung" nahe liegt - handelt es sich mit Sicherheit nicht um demokratische Vorstellungen. Hier ist ein Punkt erreicht, wo wir die Vorstellungen der deutschen Klassik korrigieren müssen. Eine bestimmte Inhaltlichkeit von Bildung im Sinne eines Kanons der bildenden Fächer und Wissenschaften, eine apriorische Aufteilung der Welt in "bildungswirksame" und "bildungsfeindliche" Partien ist nicht mehr möglich - wenn man dieses Verfahren wirklich der uneingeschränkten wissenschaftlichen Kritik unterwirft. Dies hängt damit zusammen, daß - was man zu Beginn des 19. Jahrhunderts allenfalls ahnen konnte - zum modernen demokratischen Emanzipationsvorgang auch die relative Autonomisierung bestimmter kultureller und gesellschaftlicher Bereiche gehört. So dokumentiert etwa die "Freiheit der Forschung und Lehre" die relative Autonomie der Wissenschaften, das Zensurverbot für die Künste die relative Autonomie der Kunst usw.. "Relativ" ist diese Autonomie, weil sie natürlich nicht total von ihren gesellschaftlichen Bedingungen sich emanzipieren kann - was sie wohl auch im wörtlichen Sinne "gegenstandslos" machen würde (10).

Nun ist es charakteristisch für die allermeisten unserer gegenwärtigen didaktischen Theorien, daß sie diese Autonomie gar nicht zur Kenntnis nehmen, daß sie vielmehr mit ihrem Begriff von "Bildung" unseren verschiedenen Lebensdimensionen gerade das abluchsen wollen, was die Verschiedenheiten wieder auf den Generalnenner bringt. Die Welt wird auf das hin "abgemolken", was "bildungswirksam" ist. Aber als "bildungswirksam" gilt nicht etwa die Struktur der Sache selbst, um die es sich da handelt (11). Wenn aber, wie wir meinen, die relative Autonomisierung kultureller Bereiche ein konstitutiver Teil des modernen Demokratisierungsprozesses ist, dann folgt daraus: Wo z. B. Literaturunterricht gemacht wird mit dem Ziel, "aus Anlaß von Literatur" allgemeine (oft "anthropologisch" genannte) Lebensmaximen zu produzieren, die genausogut ohne den Umweg über die Literatur gelehrt werden könnten, handelt es sich nicht um eine demokratische Pädagogik, d. h. um eine solche, die den politisch-emanzipatorischen Sinn der Beschäftigung mit Literatur als Literatur - nämlich im Rahmen der ihr eigentümlichen Strukturen und Kategorien - begriffen hätte. Eine solche Pädagogik mag noch so viel politische Erziehung im engeren Sinne betreiben, sie kann auch davon im Grunde keine richtige Vorstellung

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haben. Sie bewegt sich dann vielmehr im selben Mechanismus wie die DDR-Pädagogik, die erklärtermaßen durch die Behandlung von Lyrik die Arbeitsfreude steigern will.

Wenn wir einmal davon ausgehen, daß sich die wichtigsten Lernaufgaben heute in den drei folgenden zusammenfassen lassen:

1. Teilnahme am politischen Leben (= Beteiligung an der Produktion und Reproduktion politisch-gesellschaftlicher Herrschaft),

2. Teilnahme am Produktionsprozeß,

3. Teilnahme am kulturellen Leben,

- so kommt alles darauf an, die spezifischen Kategorien und Strukturen dieser drei Aufgaben didaktisch nicht zu unterschlagen. Der "Zusammenhang", von dem unser Thema spricht, besteht nicht in der Identität aller einzelnen Lernaufgaben, sondern nur darin, daß die Begründung für sie ein und dieselbe ist, nämlich eine politische. Aber aus der allgemeinen Begründung lassen sich die Inhalte der einzelnen Lernaufgaben nicht deduzieren. Literarische Kategorien z. B. sind keine politischen oder solche des Produktionsprozesses, politisches Lernen ist keine Anwendung beruflichen Lernens und umgekehrt (12). Wo diese Unterschiede nicht ernst genommen werden, können "Erfahrungen" im Grunde gar nicht mehr zustande kommen.

Nun meint diese These natürlich nicht, diese drei Lernaufgaben und die Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, hätten nichts miteinander zu tun. Ich kann ein Gedicht politisch befragen, etwa danach, für wen und gegen wen es in einer bestimmten Situation plädiert; ich kann einen Film ideologiekritisch befragen; ich kann einen Industriebetrieb politisch befragen, indem ich den Blick auf Herrschaftsverhältnisse richte, die mit den Notwendigkeiten des gemeinsamen optimalen Produzierens nichts zu tun haben und folglich funktional überflüssig sind, usw. Worauf es ankommt, ist, in unseren pädagogischen Einrichtungen ein Bewußtsein vom Perspektivenwechsel zu erzeugen, der in einem solchen Verfahren beschlossen liegt, ein Bewußtsein von dem, wonach da eigentlich gefragt wird.

Dafür noch ein Beispiel: Es ist herrschende Meinung geworden, daß man bei jungen Arbeitern kulturelle und politische Lerninhalte an die beruflichen Erfahrungen anknüpfen müsse, weil man sonst dafür kein Interesse mobilisieren könne. Diese Prämisse führt zu einer entsprechenden didaktischen Organisation des politischen Unterrichts. Abgesehen davon, daß ich diese Vorannahme für falsch halte (13), genügt ein Blick in irgendein didaktisches Buch, sagen wir: der Berufsschule, um die verheerenden Wirkungen einer solchen Konzeption zu entdecken. Indem nämlich die berufliche Erfahrung - oder was immer man dafür hält - schon von vornherein die didaktische Priorität hat und das andere bloß als Hinzugefügtes erscheint, verstärkt sich die Vorstellung, Politik sei so etwas wie ein vergrößerter Industriebetrieb. Die emanzipatorische Bedeutung des kulturellen und politischen Lernens bestünde aber nicht zuletzt darin, die Borniertheit der sogenannten beruflichen "Erfahrungen" einsichtig zu machen. Dies kann nur gelingen, wenn Klarheit über die Verschiedenartigkeit der kategorialen Struktur herrscht.

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Noch ein weiteres Beispiel: Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, daß für die Zukunft "Mobilität" die entscheidende persönliche Disposition im Hinblick auf das Berufsleben sein muß, um sich den zu erwartenden Veränderungen in diesem Bereich jeweils produktiv anpassen zu können. Ich weiß nicht, ob das generell und für alle Arbeitstätigkeiten wirklich stimmt (14). Aber selbst wenn wir das unterstellen, bleibt die Frage, ob "Mobilität" auch für die politische und kulturelle Beteiligung die gleiche Bedeutung hat. Soll "Mobilität" im kulturellen Leben heißen, daß man jeweils nur die neuesten Bücher liest und die neuesten Schallplatten hört? Soll "Mobilität" im politischen Leben heißen, daß man sich an den Dimensionen eines geschichtslos verstandenen funktionalen Systems orientiert und auf eine historische Kritik dieses Systems verzichtet? In welchem Zusammenhang soll Mobilität zur Tradition stehen?

Diese Fragen sollen nur andeuten, wie gefährlich es ist, einen Begriff, der für die spezielle Problematik der Berufsausbildung und der Arbeitswelt viel zu leisten vermag, unkontrolliert auszudehnen. Das kann dazu führen, daß wir uns neben den vielen alten noch eine weitere Leerformel gegenseitig um die Ohren schlagen. Außerdem könnte es sein, daß wir von den Menschen, so wie wir sie heute kennen, das erforderliche Maß an beruflicher Mobilität nur dann erwarten können, wenn wir ihnen erlauben, in anderen Bereichen ihres Lebens nicht sonderlich mobil zu sein. Auch darüber müßte sorgfältig nachgedacht werden.

4. Nur wo die drei genannten Lernaufgaben als gleichrangig, aber nicht identisch betrachtet werden und streng im Rahmen der ihnen jeweils eigentümlichen Kategorien realisiert werden, kann man von emanzipatorischem, demokratischem Lernen sprechen. Nicht allein die politische Erziehung im engeren Sinne macht also eine demokratische Pädagogik aus. Wo eine dieser Lernaufgaben das Übergewicht erhält oder wo von einer aus die anderen einfach inhaltlich bestimmt werden (15), kann es sich also gar nicht um eine der Emanzipation dienende Bildung handeln. Genau dieser Fehler wird aber heute zunehmend von einem großen Teil der Öffentlichkeit, auch der wissenschaftlichen, begangen. Wir befinden uns in einer Diskussion, die nichts anderes als die totale Professionalisierung unseres Bildungswesens anzustreben scheint. Die neuen Reformdiskussionen, -maßnahmen und -vorschläge, ob sie nun die Universität oder die Volksschule betreffen, beziehen sich nahezu vollständig auf die Optimalisierung des beruflichen Lernens. In der Volksschule wird didaktisch fast nur über die "Arbeitslehre" diskutiert, von einer Verbesserung der politischen und kulturellen Bildung ist kaum noch die Rede. Die skandalösen sogenannten "Berliner Vorgänge" haben überdeutlich gemacht, daß die Versuche der totalen Professionalisierung zumindest unbewußt das Motiv haben, das kritische Potential, das gerade in der Beschäftigung mit relativ berufsfernen Gegenständen steckt, zu

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liquidieren. Damit droht der universitären Ausbildung ein Schicksal, dem die Volksschule und Berufsschule bis auf unsere Tage ausgeliefert waren. Alles, was man hier lernte, diente zu wenig mehr als der bloßen ökonomischen Nutzbarmachung der unteren Schichten für fremde Rechnung und Interessen. Sogar dem didaktischen Selbstverständnis dieser Schultypen ist das nahezu unverhüllt zu entnehmen.

Nun kann aufgrund unserer historischen Reflexionen nicht zweifelhaft sein, daß diese Tendenzen zur totalen Professionalisierung unseres gesamten Bildungswesens ein politisches Phänomen ersten Ranges sind, und ein fraglos antidemokratisches. Während es heute an der Zeit wäre, durch sinnvolle Verwendung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums endlich das ursprünglich im Begriff der "Allgemeinbildung" als Anspruch Gemeinte für die unteren Sozialschichten einzulösen, wird umgekehrt deren bisheriges Bildungsschicksal nach oben sozialisiert. So wird der "Bedarf" an Akademikern auf die Rolle im Produktionsprozeß eingeengt; kaum jemand scheint sich dafür zu interessieren, ob nicht im gleichen Maß unser "Bedarf" an politischen Kritikern und an solchen Menschen wächst, die verständnisvoll und kritisch über kulturelle Probleme und Produktionen kommunizieren können. Die gesellschaftliche Funktion des Jugendalters wird reduziert auf die Produktionsfunktion und die aus ihr abgeleitete Konsumfunktion (16). Die Tendenzen zur einseitigen Professionalisierung unseres Bildungswesens richten faktisch Lernverbote für politisches und kulturelles Lernen auf, deren Wirkungen aufgrund ihres Massencharakters nicht abzusehen sind. Die einseitige Optimalisierung des beruflichen Lernens, wie sie heute in der Öffentlichkeit gefordert wird, ist der massivste Angriff auf den demokratisch-emanzipatorischen Charakter unseres Bildungswesens seit dem Ende der reaktionären preußischen Volksschule. Sie ist allein nichts, was eine demokratische Gesellschaft von einer faschistischen oder kommunistischen zu unterscheiden vermag.

"Fortschrittlich" ist heute nicht mehr schon der, der eine Verbesserung der beruflichen Ausbildung fordert. Ohne Frage ist unser Berufsausbildungssystem ebenso unzulänglich wie die ihm zugrundeliegende didaktische Theorie (17). Aber diese Teilaufgabe der Erziehung hat wegen des dahinterstehenden gesellschaftlichen Drucks noch die größten Aussichten, in absehbarer Zeit realisiert zu werden. "Fortschrittlich" im Sinne des Antizipierens von Problemen und Lösungen ist eher der, der heute eine Anhebung des politischen und kulturellen Lernens fordert und sich leidenschaftlich gegen die totale Professionalisierung unseres Bildungssystems zur Wehr setzt. Fortschrittlich ist der - um es an einem extremen Beispiel zu demonstrieren - , der für das Recht jenes vielbelächelten Mädchens eintritt, das einige Semester studiert, um dann zu heiraten. Die Vorstellung, der Besuch unserer Bildungsanstalten sei gewissermaßen eine Art von Berufstätigkeit, ist eine höchst einseitige Vorstellung, weil sie nicht begriffen hat, daß die vermehrte Freizeit den Besuch von Bildungsanstalten zu einem guten Teil zum erlaubten Luxus gemacht hat.

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Warum soll jene Studentin ihre Zeit mit dem Abhören idiotischer Schallplatten und mit ähnlichen Freizeittätigkeiten verbringen und nicht mit einigen Semestern Studium, auch wenn ihre berufliche Produktivität dadurch nicht nennenswert wächst, sondern ihr diese Zeit sozusagen ganz allein gehört? Der Haupteinwand liegt natürlich auf der Hand: Wer soll das bezahlen, wenn man nicht den Massenbetrieb noch vermehren will? Aber diese Frage ist nur sinnvoll unter der Voraussetzung, daß man die Verteilung und Investition des gesamtgesellschaftlich erzeugten Reichtums weiterhin planlos wie bisher dem blinden Marktmechanismus überläßt, und nicht einsehen will, daß die Investitionen für öffentliche Dienstleistungen nicht automatisch mit den Investitionen für privatkapitalistisch erzeugbare Güter und Dienstleistungen mitwachsen (18).

5. Die Forderung, die drei verschiedenen Lernaufgaben gleichrangig zu berücksichtigen, hat auch einen anthropologischen Hintergrund, denn natürlich konvergieren diese drei Aufgaben in ein und demselben Menschen, der sie zu bewältigen hat. Die heutige Pädagogik kann aber die Integration dieser Lernaufgaben nicht mehr inhaltlich eindeutig organisieren. Sie muß davon ausgehen, daß die Menschen heute und morgen sich nicht mehr auf traditionelle und andere äußere Steuerungen verlassen können - obwohl sie es in Wirklichkeit noch in hohem Maße tun; daß sie vielmehr ein hohes Maß an Autonomie und Selbstbewußtsein gegenüber den Anforderungen und Erscheinungen ihrer Welt benötigen (Ich-Stärke) (19). Sie muß also die Integrationsleistung der verschiedenen und widersprüchlichen Lebensaspekte als eine je individuelle Leistung ihren Partnern überlassen. Die sogenannte "gebildete Existenz" ist nicht mehr anhand eines Vorbildes massenhaft organisierbar. Ein solches Vorbild ist für viele Generationen des Bildungsbürgertums etwa die Gestalt Goethes gewesen. Organisierter Unterricht - in der Schule wie außerhalb ihrer - muß sich darauf beschränken, die Sachen selbst zum Maßstab zu nehmen: Literatur als Literatur; Politik als Politik; Beruf als Komplex von ganz bestimmten sozialen Beziehungen und technisch-ökonomischen Zusammenhängen. Nur dann, wenn dies wirklich geschieht, kann Unterricht zur Autonomie der Menschen beitragen, sie emanzipieren von vor-wissenschaftlichen Weltvorstellungen, von Vorstellungen, die man ihrer Natur nach nicht selbst methodisch überprüfen kann.

Dazu wieder ein Beispiel: Die Doppelrolle der modernen Frau zwischen Familie und Beruf ist inhaltlich nicht mehr in eine eindeutige Vorstellung von "gebildeter Existenz" zu bringen. Es gibt sehr verschiedene, individuell überzeugende Lösungen dieses Widerspruchs. Eine Erziehung, die eine dieser Möglichkeiten als Vorbild nahelegte, würde die anderen Möglichkeiten und damit überhaupt die Möglichkeit selbstbewußter individueller Lösungen unterschlagen (20). Wer "Bildung" im Sinne solch eindeutiger Vorbildhaftigkeit verstehen würde - und wir können sicher sein, daß eben dies noch die in der Praxis

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herrschende Vorstellung ist - , würde schon deshalb gegen die Selbständigkeit seiner Partner anarbeiten, weil außerhalb des pädagogischen Feldes eine solche Vorbildhaftigkeit gar nicht erst in Erscheinung tritt und der Partner dann doch auf die Ermittlung seiner persönlichen Lebensversion verwiesen wäre - die zu ermitteln er aber gerade nicht gelernt hat. Was also kann Erziehung und Unterricht hier leisten? Eine "Aufklärung" des Widerspruchs z. B.; eine exakte Betrachtung der "Familienrolle" einerseits und der "Berufsrolle" andererseits; schließlich kann sie vorliegende Lösungsversuche verschiedener Art dem Nachdenken unterwerfen. Mit anderen Worten: Das Geschäft der Erziehung ist bescheidener geworden, es kann keine bestimmten Lebensversionen mehr planen, sondern "nur" noch Aufklärung über die Voraussetzungen möglicher Lebensversionen anbieten. Dies bedeutet aber auch, daß es sinnlos geworden ist, die "gebildete Existenz" in irgendeinen Teilbereich unseres Lebens zu verlegen. Solche Versuche sind in der jüngeren Geschichte durchgespielt worden: den Beruf, die Freizeit oder die Künste als den "eigentlichen" Bereich des Menschseins anzusehen. Alle diese Lösungen haben sich als schlechte Ideologie erwiesen.

"Gebildet" kann vielmehr ein Mensch in Zukunft nur dann genannt werden wenn er jede seiner Lebensdimensionen und -aufgaben entsprechend ihrer eigentümlichen Struktur handhabt und den zwischen ihnen beschlossenen Widersprüchen, Konflikten und Entscheidungen eine individuell überzeugende Version gibt. Dies ist eine je einzelne individuelle Leistung, die niemand stellvertretend übernehmen kann - auch der Erzieher nicht. Sie kann durch organisierte Bildung nur vorbereitet werden, im Sinne einer möglichst exakten Aufklärung jener Lebensdimensionen in ihrer Eigentümlichkeit.

6. Wenn diese Wandlung des Bildungsbegriffes richtig gesehen ist, so folgt daraus, daß nicht irgendein Nachdenken, nicht irgendein Wissen, nicht irgendeine Methode der Informationsermittlung der Selbständigkeit der Partner dient, sondern nur wissenschaftsadäquates Nachdenken, Wissen und entsprechende Methoden der Informationsermittlung, wozu schließlich auch die gezielte Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen und Beratungsstellen gehört. "Wissenschaftliches Bewußtsein" äußert sich nicht zuletzt darin, daß wir uns für die richtig erkannten Probleme bei den richtigen Instanzen Informationen und Ratschläge einholen, die wir kritisch nachvollziehen können. Junge Arbeiter zum Beispiel werden aber erst dann ihre Berufspläne freiwillig mit Berufsberatern diskutieren, wenn eine solche Beratung einen Ort in ihrem Bewußtsein hat.

Für die Hochschulausbildung ist die Forderung, wissenschaftlich durchgeformte Vorstellungen zum Ziel der Ausbildung zu machen, nichts Neues. Für das Gymnasium scheinbar auch nicht, obwohl hier - wenigstens in der Theorie - die wissenschaftlichen Fächer dem sogenannten "Bildungswirksamen" unterworfen werden. Im Hinblick auf die Volks- und Berufsschule wird diese Forderung aber auf leidenschaftlichen Protest stoßen. Der Haupteinwand wird lauten: Dieses Ziel sei viel zu hochgestochen und müsse unsere Schüler hoffnungslos überfordern. In der Tat wirft diese Forderung didaktische Probleme größten Ausmaßes auf, Probleme, die bisher kaum angegangen worden sind (21). Allerdings sollten wir uns nicht allzusehr von der sogenannten "Phasengemäßheit" der Schulalterstufen

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beirren lassen, d. h. von der Vorstellung, in bestimmten Altersstufen könnten nur ganz bestimmte Dinge gelernt werden; sie sind höchst fragwürdig geworden (22).

Hier noch einige Hinweise, die eine gründliche didaktische Forschung nicht ersetzen können:

a) Daß man mit 10-12Jährigen Physik, Mathematik und Chemie treiben kann, führen uns die Ostblockstaaten seit einigen Jahren mit unleugbarem Erfolg vor; sie haben dafür auch inzwischen ein beachtliches Maß an didaktischer Forschung entwickelt.

b) In den USA ist man dabei, die Lösung einfacher Sozialforschungsaufgaben in den Schulunterricht einzubauen.

c) In vielen Fällen ist nichts so einfach zu elementarisieren wie wissenschaftliche Modelle, das kybernetische Kommunikationsmodell z. B., das sehr verschiedene Sozialbeziehungen interpretiert, wenn es jeweils mit dem richtigen empirischen Material ausgefüllt wird, ist ohne Zweifel viel leichter zu begreifen als etwa das Modell Sprangers, mit dem Erfahrungen des Familienlebens zum Zwecke der politischen Einsicht auf den Begriff gebrachten werden sollen (23),

d) "Verwissenschaftlichung" würde z. B. heißen, daß in unseren Schullesebüchern Textkürzungen kenntlich gemacht werden, Quellennachweise und den Text erläuternde Anmerkungen aufgenommen werden.

e) Zahlreiche Forschungsmethoden der Gruppenforschung können in jeder Schulklasse reproduziert werden.

Diese Hinweise mögen genügen. Es geht gewiß nicht darum, 12jährige zu lauter kleinen Mini-Soziologen zu machen, sondern darum, sie auf die Kommunikationen außerhalb der Schule vorzubereiten, und diese Kommunikationen werden bis weit in die Terminologie hinein wissenschaftlich durchgeformt sein müssen.

7. Das für die Beteiligung am politischen, kulturellen und beruflichen Leben notwendige Lernen ist auf absehbare Zeit eine lebenslange Bemühung, kein abschließbarer Akt des Kindheits- und Jugendalters mehr. Die überlieferte Vorstellung, man müsse im Kindheits- und Jugendalter lernen, was fürs ganze Leben ausreicht, ist in einer schnell sich wandelnden Welt eine falsche Vorstellung geworden. Dies wurde wiederum zuerst im Bereich der Berufsausbildung bemerkt, wo unzureichende Lernleistungen ja gewissermaßen als finanzieller Verlust zu Buche schlagen.

Die nach- und außerschulischen Lerneinrichtungen sind bei uns noch recht zufällig organisiert. Sie gehören aber in das, was wir "Bildungsplanung" nennen, mit hinein. Der Versuch, "Bildungsplanung" auf das institutionalisierte Schulwesen zu beschränken, ist heute genauso antiquiert wie ein Begriff von "Bedarf", der noch aus ökonomischen Notstandszeiten stammt und die Freizeitentwicklungen ignoriert.

Auch für die allgemeine Didaktik ist der Blick auf diese Einrichtungen wichtig: Wenn lebenslanges neben- und nachschulisches Lernen nötig ist, stellt sich die Frage, was unbedingt in unseren Schulen gelernt werden muß, in einem neuen Licht.

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Aber auch sozialpolitisch stehen wir vor neuen Problemen. Schließlich müssen die Menschen ja auch die Zeit haben, an Fortbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Wir müssen also die gesamtgesellschaftlich erzeugte Freizeit sinnvoller als bisher verteilen.

Damit ist das Stichwort "Bildungsurlaub" gefallen. Die bisherige Diskussion hat auch in dieser Frage leider schon jene Verengung angenommen, die wir vorhin kritisiert haben. Es ist - leider auch von seiten der Gewerkschaften - fast ausschließlich von der beruflichen Fortbildung die Rede. Schon heute jedoch muß das der Fortbildung zugrunde liegende didaktische Modell viel breiter angelegt sein und ebenfalls von der Gleichrangigkeit und prinzipiellen Unaustauschbarkeit jener drei Lernaufgaben - vielleicht sogar noch einiger mehr - ausgehen. Nicht nur die Teilnahme am beruflichen Leben, sondern auch die Teilnahme am politischen und kulturellen Leben bedarf der regelmäßigen Fortbildung, und zwar vom Jugendalter an.

Wir gehen einer Zeit entgegen, in der wir alle lebenslang zwischen Zeiten der Lebensbewältigung und Zeiten schulähnlicher Besinnungen hin und her pendeln werden. Oder anders ausgedrückt: Wir werden lebenslang unmittelbare Lebensbewältigung und - didaktisch organisierte - Planspiele der Lebensbewältigung miteinander verbinden müssen.

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Anmerkungen:

(1) Die einseitige geistesgeschichtliche Perspektive der deutschen Erziehungswissenschaft nach Dilthey hat diese Zusammenhänge ganz ungenügend berücksichtigt. Eine Geschichte der Pädagogik, die real- und vor allem sozial-geschichtliche Dimensionen einschließt, gibt es in Deutschland lediglich in der DDR - dort allerdings mit den charakteristischen ideologischen Verengungen (Geschichte der Erziehung, 7. Aufl. Berlin-Ost 1966). In der Bundesrepublik wurde bahnbrechend Wilhelm Rößler: Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, 1961.

(2) Abgesehen von den in dieser Frage besonders polemischen Darstellungen der DDR-Pädagogik (beispielhaft: Gerd Hohendorf: Die pädagogische Bewegung in den ersten Jahren der Weimarer Republik, Berlin-Ost 1954) ist die Entstehung der sozialdemokratischen Bildungstheorie - Robert Seidel, Clara Zetkin, Heinrich Schulz u. a. - nur am Rande behandelt worden. Vgl. Theo Dietrich: Sozialistische Pädagogik, Bad Heilbrunn 1966; Hildegard Reisig: Die Rolle der Bildung für die Befreiung des Proletariats im politischen Denken der deutschen Arbeiterbewegung von den 40er Jahren bis zum Weltkrieg, Diss. Leipzig 1932. Zum kulturpolitischen Hintergrund vgl. meinen Aufsatz: Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preußen und im Reich 1918/19, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2/1965.

(3) Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt 1964.

(4) Vgl. dazu Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, 3. Aufl. Köln - Berlin 1966, vor allem die Beiträge von Adorno, Albert, Habermas und Popper.

(5) Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, in: Der Monat Nr. 132, Sept. 1959, sowie Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt 1965. Sehr instruktiv dafür auch die Kritik der liberalen Arbeiterbildung zwischen 1860 - 70 bei Hildegard Reisig, o. c.

(6) Zur Geschichte und Kritik der "Volkstümlichen Bildung" vgl. Hans Glöckel: Volkstümliche Bildung? Versuch einer Klärung, 1964.

(7) Es stellt sich immer mehr heraus, daß der Bildungsrückstand der unteren Schichten kein "natürliches" Faktum ist, sondern ein sozio-kulturelles. Aus der umfangreichen Literatur seien genannt: Peter Heintz: Soziologie der Schule, Köln-Opladen 1959, vor allem die Beiträge von Charlotte Lütkens: Die Schule als Mittelklassen-lnstitution, und Basil Bernstein: Sozio-kulturelle Determinanten des Lernens; ferner zahlreiche Beiträge in Franz Weinert (Hrsg.): Pädagogische Psychologie, Köln-Berlin 1967.

(8) So haben die industriesoziologischen Untersuchungen ein spezifisches, "dichotomisches" politisches Weltbild der Arbeiterschaft festgestellt. Vgl. Popitz u. a.: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Tübingen 1957; ähnlich der Erfahrungsbericht von Symanowski/Vilmar: Die Welt des Arbeiters, Frankfurt 1963.

(9) Vgl. dazu Wolfgang Edelstein: Chancengleichheit ohne Schulreform? Kritische Bemerkungen zur Bildungswerbung, in: Neue Sammlung H. 6/1966.

(10) Im Hinblick auf die Schule hat Hartmut von Hentig diese "relative Autonomie" sehr einleuchtend mit dem Modell des Regelkreises dargestellt: Die Schule im Regelkreis. 1965.

(11) Für den Bereich der Politischen Bildung habe ich das in meiner "Didaktik der Politischen Bildung", München 1968, 3. Aufl., zu zeigen versucht; für den Deutschunterricht vgl. Hans Georg Herrlitz: Der Lektüre-Kanon des Deutschunterrichts im Gymnasium. Heidelberg 1964; grundsätzlich Jürgen Henningsen: Die Pädagogik vor dem Anspruch des Objektiven, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, H. 3/1961 - Darüber hinaus würde ein Blick in jede sogenannte "Fachdidaktik" die Berechtigung unserer Kritik erweisen.

(12) Vgl. meine Kritik daran in: Entwurf einer Didaktik der Berufsfähigkeit, in: Pädagogische Rundschau, H. 4/1966.

(13) Vgl. meinen Erfahrungsbericht über politisch-bildende Tagungen mit Lehrlingen: Politische Bildung in der Jugendarbeit. München 1966.

(14) Vermutlich müssen wir in Zukunft sehr viel genauer als bisher zwischen verschiedenen Arten von "Arbeit" und entsprechend verschiedenen Lernleistungen unterscheiden; das scheint nicht nur für das Berufswissen zu gelten, sondern ebenso auch für die emotionalen Dispositionen. Vgl. dazu Hans Paul Bahrdt: Entmythologisierung der Arbeit, in: Zeitschrift für evangelische Ethik H. 1/1965.

(15) Genau dies ist dasjenige Moment an der allgemeinen Didaktik in der DDR, das ihr demokratisches Selbstverständnis unglaubwürdig machen muß. Vgl. meinen Aufsatz: Das Gymnasium im Bildungssystem der DDR, in Theodor Wilhelm (Hrsg.): Die Herausforderung der Schule durch die Wissenschaften, Weinheim 1966.

(16) Vgl. Ludwig von Friedeburg: Zum Verhältnis von Jugend und Gesellschaft, und Alexander Mitscherlich: Pubertät und Tradition, beide Arbeiten jetzt in: Ludwig von Friedeburg (Hrsg.): Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln-Berlin 1965.

(17) Vgl. Herwig Blankertz: Berufsbildungstheorie und berufliche Ausbildungskonzeptionen, in: Die Deutsche Berufs- und Fachschule H. 6/1967; dort auch die neueste Literatur.

(18) Vgl. J. K. Galbraith: Gesellschaft in Überfluß, = Knaur Taschenbücher Nr. 23, besonders S. 111 ff.

(19) Vgl. dazu u. a. Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963.

(20) Vgl. in diesem Zusammenhang die Kritik von Hannelore Gerstein an der Frauenenquete der Bundesregierung: Die Frau - das mysteriöse Wesen, Neue Sammlung H. 3/1967; ähnlich Helmut Kentlers Kritik an den entsprechenden Passagen des Jugendberichtes der Bundesregierung: Plädoyer gegen eine eigene Mädchenbildung, deutsche jugend H. 10/1966; dazu die Diskussion in Heft 12/1966.

(21) Soeben hat Theodor Wilhelm mit seinem Buch "Theorie der Schule. Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften", Stuttgart 1967, den ersten umfangreichen Versuch vorgelegt, die didaktische Problematik prinzipiell an den Wissenschaften zu orientieren. Es bleibt zu hoffen, daß dieser Ansatz keine Episode bleibt.

(22) Vgl. dazu Hans Thomaes kritischen Bericht: Entwicklungsbegriff und Entwicklungstheorie, in: Handbuch der Psychologie Bd. III, 2. Aufl. Göttingen 1959, dort wird den "Entwicklungsphasen" nur noch hypothetischer Sinn zugesprochen.

(23) Eduard Spranger: Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung. Bonn 1957.


 
 
 

58. Didaktische Probleme der Freizeiterziehung (1968)


(In: H. Giesecke (Hrsg.): Freizeit- und Konsumerziehung. Göttingen 1968. S. 219-239)

(Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 27.1.1967 an der Pädagogischen Hochschule Göttingen. - Gegenüber dem Original mußte die Reihenfolge der Anmerkungen verändert werden, weil dort manche lediglich auf das in dem Sammelband vorhandene Literaturverzeichnis verweisen, H. G.).
 

Da in der gegenwärtigen Situation der Erziehungswissenschaft so zentrale Begriffe wie "Didaktik" nicht mehr eindeutig sind, möchte ich zu Beginn einfach definieren, was ich im Rahmen dieses Vortrags darunter verstehen möchte:

Es geht mir um folgende Fragen: Was muß und kann gegenwärtig jeder Mensch mindestens lernen, um in seiner freien Zeit sich am sogenannten System der Freizeit optimal beteiligen zu können? Warum muß er dieses Bestimmte und nicht vielmehr etwas anderes lernen? Wie und in welchen Institutionen ist dieses Lernen optimal zu organisieren?

I.
Zunächst ist eine kurze historisch-kritische Reflexion über den Begriff "sinnvolles Freizeitverhalten" nötig. Freizeit im Sinne einer von Arbeits- und politischen Pflichten freien Zeit hat es in der abendländischen Geschichte für kleine Minderheiten immer schon gegeben. Sie war die Voraussetzung für kulturschöpferische Leistungen. Aber sie wurde erkauft mit der Ausbeutung der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung, die - wenn es hoch kam - gerade so viel arbeitsfreie Zeit erhielt, wie zur biologischen Erholung nötig war.

Die mit der industriellen Revolution einsetzenden neuen Arbeitsmethoden und frei werdenden neuen Produktivkräfte stießen zwar zunächst große Schichten der arbeitenden Bevölkerung in unvorstellbares Elend - was am Beispiel der modernen Kinderarbeit wohl am eindringlichsten zutage tritt (1) - führten aber auch gerade durch die technischen Verbes-

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serungen und durch die Rentabilisierung der Produktion zu einer zunehmenden Menge von arbeitsfreier Zeit. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zeichnete sich die Möglichkeit ab, allen Menschen und gerade auch den handarbeitenden ein weit über die physische Regeneration hinaus reichendes Maß an Freizeit zu gewähren.

Nun verlief die Entwicklung allerdings keineswegs in dem Sinne kontinuierlich, daß die unteren Schichten allmählich auf das Freizeitmaß der oberen Schichten gehoben worden wären. Wenn wir uns vielmehr die Freizeiterfahrungen und Verhaltensweisen der einzelnen sozialen Schichten in Deutschland etwa um die Jahrhundertwende vergegenwärtigen wollen, so können wir grob vereinfacht und gleichsam idealtypisch folgende Unterschiede feststellen:

1. Die führende Schicht der wirtschaftlichen Großbourgeoisie, die etwa im Unterschied zu England, wo auch ein großer Teil des Adels die industrielle Revolution anführte, aus "Emporkömmlingen" bestand, verfügte kaum über feste Freizeittraditionen. Sie erfuhr im täglichen Konkurrenzkampf, daß nur derjenige, der sein ganzes Dasein in seinen Betrieb oder seine Geschäfte steckte, Aussichten hatte, ökonomisch zu überleben. Für diese Schicht gilt insbesondere, was Max Weber über den Zusammenhang von Kapitalismus und protestantischer Ethik sagte (2). Sie gönnte sich zwar einen oft protzigen "demonstrativen Konsum", den wirklich zu genießen sie aber kaum Zeit hatte. Allerdings hatte sich dies um die Jahrhundertwende schon insofern geändert, als die zunehmende Monopolisierung und das Eintreten des Staates von einem großen Teil des früheren Konkurrenzdrucks immer mehr entlastete. Aus diesem Grunde konnten sich auch einige der großen Industrieführer nun stärker mit den sozialen Problemen ihrer Arbeiter beschäftigen. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen neigte diese Schicht dazu, weder sich noch auch ihren Arbeitern ein Freizeitmaß zu gestatten, das über die biologische Rekreation hinausging. Einleuchtend erschien ihr vor allem das gesundheitliche Argument, daß man um der militärischen und um der Arbeitsleistung willen den Arbeitern ein entsprechendes physisch-notwendiges Maß an Freizeit gewähren müsse. "Erholung" im Sinne der Rekreation zum Zwecke der dadurch verbesserten Leistung war hier die herrschende Freizeitvorstellung, und sie blieb eingebettet in eine Werthierarchie, in der "Arbeit" die oberste Position innehatte, unter die alle anderen menschlichen Dimensionen subsumiert wurden.

2. Dieser Position eng verwandt waren die Freizeiterfahrungen des Handwerks und des Kleinhandels, allerdings mit einem gewichtigen Unterschied. Während die industrielle Großbourgeoisie ihre relative Freizeit- und Vergnügungsfeindlichkeit im allgemeinen mit wirtschaftlichen Erfolgen sinnfällig kompensieren konnte, war sie in diesen kleinbürgerlichen Schichten mit permanenten ökonomischen Mißerfolgserlebnis-

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sen verbunden. Der gewerbliche Mittelstand wurde damals zwischen dem organisierten Kapital und der organisierten Arbeit zerrieben. Schon um die Jahrhundertwende war wegen des immer aussichtsloser werdenden Konkurrenzkampfes die Freizeit für diese Selbständigen weniger gesichert als für die Industriearbeiterschaft. Die Folge war, daß die Freizeit- und Vergnügungsfeindlichkeit, zu der man ökonomisch gezwungen war, sich zum aggressiven Ressentiment verdichtete - ein ähnlicher Vorgang, wie er dem von der Antisemitismusforschung rekonstruierten politischen Weltbild dieser Schichten entsprach. Entscheidend ist, daß gerade diese Schichten als Lehrherren und als Volksschullehrer auch im wesentlichen die außerfamiliären Erzieher stellten.

3. Ganz anders war die Position des gebildeten Großbürgertums. Als einzige von allen sozialen Schichten verfügte es über eine weitgehend ungebrochene Freizeittradition. Freizeiterfüllung war Teilnahme an der Kultur, vor allem an der klassischen. Diese Schicht war denn auch im wesentlichen der Träger der "Arbeiterbildung" seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts; sie war genügend frei von den ökonomischen Konkurrenzkämpfen jener Zeit, um sich solchen sozialpolitischen Aufgaben zuwenden zu können. Dabei war sie ihrer eigenen kulturellen Tradition und ihres eigenen kulturellen Selbstverständnisses so sicher, daß sie meinte, sinnvolle Freizeitbeschäftigung für die Arbeiter bestünde im wesentlichen darin, sich die bürgerliche Kultur anzueignen (3).

4. Dieser Auffassung von Kultur stand die Arbeiterschaft sehr viel näher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar hatte sich die Arbeiterbewegung nicht zuletzt deshalb aus den bürgerlich-liberalen Arbeiterbildungsvereinen der sechziger Jahre gelöst, weil sie spürte, daß die Arbeiterfrage eben nicht nur eine Bildungsfrage war, wie die Bürgerlichen meinten, sondern in erster Linie eine politische Frage (4). Aber sie vollzog die Trennung von Politik und Bildung selbst mit und verwies letztere ebenso wie das Bürgertum in jene "schöne Welt", die mit den Ärgernissen der realen Welt nichts zu schaffen habe. Die Arbeiterbewegung ist selbst nicht in dem Sinne schöpferisch gewesen, daß sie die bürgerliche kulturelle Tradition produktiv sich angeeignet und verändert hätte.

Diese, notwendigerweise sehr fragmentarische Skizze mag zeigen, daß eigentlich nur die Arbeiterschaft der große Gewinner der modernen Frei-

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zeit war, und daß andere Schichten, wie das selbständige Kleinbürgertum, durch die Entwicklung der modernen Industrie zunächst unentwegt Freizeit verloren. Diese Tatsache, daß nämlich die einzelnen sozialen Schichten eine sehr spezifische Lage gegenüber der Freizeitentwicklung einnahmen, ist von großer Bedeutung für das gegenwärtige Verständnis von "sinnvoller Freizeit" geworden; denn die sehr verschiedenen Erfahrungen mit der modernen Freizeitentwicklung haben bis heute in mehr oder weniger starken Spuren überlebt: Als Absolutsetzung des Erholungsgesichtspunktes der industriellen Großbourgeoisie zum Beispiel bis hin zu dem Anspruch des Arbeitgebers darauf, daß der Arbeitnehmer seinen Urlaub auch wirklich zur Erholung benutzt; als vergnügungsfeindliches Ressentiment des Kleinbürgertums - gerade unter Lehrern und Sozialpädagogen immer noch weit verbreitet (5); oder als Anspruch, die Freizeit zur Teilnahme an einer ganz bestimmten Kultur zu nützen. Wir sehen also, daß in den gegenwärtigen Begriff vom "sinnvollen Freizeitverhalten" sehr verschiedene geschichtliche Erfahrungen eingegangen sind, die genau rekonstruiert werden müßten.

In einem Punkte allerdings waren sich die drei erstgenannten Schichten einig: in der patriarchalischen, teilweise geradezu neo-feudalistischen Zuwendung zur Freizeit der Arbeiterschaft (6). Als "pädagogisches Problem" wurde die Freizeit von den bürgerlichen Schichten erst entdeckt, als die Arbeiterschaft unübersehbar daran zu partizipieren begann. Sie wurde entdeckt als ein Problem "der anderen".

Bis heute hielt sich hartnäckig die Vorstellung, die moderne Freizeit sei überhaupt nur ein Problem der Arbeiter (7), und man müsse diese materiell und pädagogisch in den Stand setzen, bürgerliche und kleinbürgerliche Weisen der Freizeitverbringung sich anzueignen, da diese ja intakt seien. Dies geht zurück auf die ursprünglich fürsorgerische Einstellung des aufgeklärten Bürgertums zur Arbeiterfrage im ganzen. Diese Fürsorge trug deutliche feudalistische Züge, wie sie dann in der Sozialpolitik des Nationalsozialismus noch einmal zu hoher Blüte kamen, wo der "Betriebsführer" "total verantwortlich" war für seine "Gefolgschaft" - also auch für deren Freizeit. Diese Haltung entsprach durchaus der patriarchalisch-feudalistischen Tradition gerade auch derjenigen Industrieführer, die sich die meisten Gedanken über ihre soziale Verantwortung machten. Man stellte sich die Lösung der sozialen Frage so vor, daß die Herrschenden und Besitzenden wie in der vorindustriellen Zeit sich um alle Probleme ihrer Untergebenen kümmerten. Wie gut der

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nationalsozialistische Feudalismus mit dem der deutschen Wirtschafts-Führer zusammenpaßte, zeigen die Beiträge von Wirtschaftlern auf dem von den Nationalsozialisten einberufenen "Weltkongreß für Freizeit und Erholung" im Jahre 1936 (8). Der feudalistische Ursprung der modernen Freizeitfürsorge für die Arbeiter läßt sich am besten dort rekonstruieren, wo das Freizeitproblem als ein Problem der Arbeitermassen zum ersten Mal von einer größeren Öffentlichkeit bemerkt wurde: aus Anlaß der am 1. April 1892 in Kraft getretenen "Novelle zur Reichsgewerbeordnung", die u. a. die gesetzliche Sonntagsruhe in den Fabriken einführte. Jene bürgerlichen Gruppen, die positiv zu dieser Maßnahme standen - sie wurde von anderen erbittert kritisiert! - organisierten u. a. "Volksunterhaltungsabende", richteten "Volksheime" ein, um den Arbeitern in ihrer freien Zeit Gelegenheit zur kulturellen Teilnahme zu gewähren und führten damit die Arbeiterbildungsbewegung der sechziger Jahre fort. Einer der Initiatoren, Kurt Baecker, schreibt z. B. 1893:

"Wie aber die Eltern dem heranwachsenden Sohne gegenüber, in seiner noch halb kindlichen, aber auch schon halb männlichen Natur, neue Pflichten anerkennen und neue Erziehungsmaßregeln ergreifen müssen, so ist auch für die jetzige Gesellschaft ein vertieftes Pflichtgefühl gegen die unteren Klassen gerechtfertigt. Denn auch die stellen ein heranreifendes Wesen dar und bedürfen zuweilen der leitenden und ordnenden Hand unserer wirklich intelligenten und wohlwollenden Mitbürger und Mitbürgerinnen, mögen auch die sozialdemokratischen Agitatoren noch so hetzerisch eifern gegen die aufdringliche Bevormundung der Volksmassen durch die Bourgeoisie!" (9).

Dafür, daß der zitierte Vorwurf der Sozialdemokratie nicht unberechtigt war, gibt der Autor selbst ein Beispiel:

Es ist "falsch, aus der Hexenküche unserer modernen Dramatik, wo allerhand Tendenzen schnell und wild durcheinander brodeln, dem Volke einen Trank zu brauen, den doch nur ein Mann von vielen Graden ungestraft genießt. So wird Ibsen von nur wenigen unserer sogenannten Gebildeten begriffen. Nichtsdestoweniger tischt man die Werke des düsteren Magus des Nordens aber mit Vorliebe den Arbeitern auf, denn sie schmecken ja aktuell nach revolutionärem Individualismus ... . Das Volk steckt bis jetzt tief in einer Anarchie in künstlerischen Dingen, und unsere Theater und gut geleiteten Unterhaltungsversuche haben daher als geistige, als künstlerische Fortbildungsschulen zu wirken ...

Kunstkämpfe sollen diese nicht in die Reihen des Volkes hineintragen, wohl aber können sie eben von den verschiedenen neuen Kunstrichtungen hier und da eine Probe geben, so lange die Kunstformen noch nebeneinander existieren. Nur aus der Zahl der Kunstkenner und der Künstler werden die Kunstkämpfer zur Klarlegung und endlichen Entscheidung der ästhetischen Fragen berufen sein"( S. 17-19).

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In den letzten Bemerkungen deutet sich schon die politische Position dieser bildungsbürgerlichen Bemühungen um Volksunterhaltung an: sie waren selbstverständlich gegen die seit 1890 wieder zugelassenen Sozialdemokraten gerichtet, die sie allerdings nicht offen bekämpften, sondern mit Hilfe des unpolitischen Begriffes von "nationaler Kultur" gleichsam "unterliefen". Victor Böhmert, damals Vorsitzender der "Centralstelle für Volkswohlfahrt" und Herausgeber deren Schriftenreihe "Volkswohl-Schriften", trat immer wieder dafür ein, jede politisch oder konfessionell umstrittene Frage aus den Volksunterhaltungen herauszuhalten und statt dessen die Begegnung der Klassen auf dem gemeinsamen Boden der nationalen Kultur zu suchen.

"Wir müssen versuchen, die brennende soziale Frage zunächst auf persönlichem Wege zu lösen, indem wir vor allem die Beziehungen von Mensch zu Mensch zu verbessern suchen, indem wir, ausgehend von dem Grundsatze der Einfachheit, Mäßigkeit und Menschenliebe, dahin streben, ein neues Vereinsleben zu schaffen und unsere ungünstiger gestellten Nachbarn zum Mitgenusse der höheren Lebensgüter und zur gemeinsamen Freude am Dasein heranzuziehen. Der äußeren gesellschaftlichen Reform muß aber eine innere vorangehen. Die Herzens- und Gemütbildung muß im Volke mehr gepflegt, aller Klassenstolz und Klassenhaß muß überwunden werden. Das gegenseitige Dienen muß als ein Lebensgesetz unseres Daseins anerkannt und eine brüderliche und schwesterliche Gesinnung überall verbreitet werden. Dann wird der im Volke erwachte Drang nach Bildung und würdiger Benutzung der freien Zeit ohne große Schwierigkeit befriedigt werden können (10).

Hinsichtlich der Zurückhaltung gegenüber den Versuchen, der Arbeiterschaft die Produkte der aktuell umstrittenen, also vor allem naturalistischen Gegenwartsliteratur vorzuführen, gab es übrigens eine interessante Übereinstimmung zwischen Männern wie Baecker und der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteiführer. Vor allem die älteren Parteimitglieder wie Wilhelm Liebknecht huldigten der klassischen Literaturtheorie und hielten den modernen Naturalismus für nichts weiter als eine Zersetzungserscheinung der bürgerlichen Gesellschaft. Dies zeigte sich deutlich in der "Naturalismus-Diskussion" auf dem Gothaer Parteitag von 1896, als gegen die sozialdemokratische Familienzeitschrift "Neue Welt" heftige Kritik entbrannte, weil sie naturalistische Romane abgedruckt hatte. Zweifellos repräsentierte die Mehrheit der Kritiker auf dem Parteitag auch die Mehrheit der Parteimitglieder (11).

Von Bedeutung ist ferner, daß die moderne Arbeitsideologie, wie sie Max Weber dargestellt hat, zu Beginn des Jahrhunderts auch die Arbei-

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terbewegung erfaßt hatte. Vielleicht war diese Ideologie sogar das entscheidende Bindemittel zwischen Nation und Sozialismus vor dem Ersten Weltkrieg und später in der "Volksgemeinschaftsideologie" des Nationalsozialismus. An die Stelle der sehr differenzierten philosophischen und ökonomischen Analysen zum Problem der Arbeit bei Karl Marx (12) trat in der jungen deutschen Arbeiterbewegung ein vulgärmarxistischer Arbeitsbegriff, in dem die Arbeit zu einem das Menschsein des Menschen schlechthin konstituierenden Moment wurde (13). Der Grund für diese Entwicklung war vor allem wohl ein sozial-psychologischer: In der ganzen Geschichte der Arbeiterbewegung war die Arbeit - genauer: die körperlich anstrengende Arbeit - das einzige, worauf man stolz sein konnte, was einen von dem bekämpften Bürgertum unterschied, was denen, die ohne Besitz waren, gesellschaftliches und soziales Selbstbewußtsein gewähren konnte. So setzte sich eine gewisse naive Identifizierung von Arbeit und Glück durch - falls die Arbeit nur nach sozialistischen Prinzipien organisiert werden würde.

Dies hatte zur Folge, daß die deutsche Arbeiterbewegung - jedenfalls ihre Führungsschicht - ebenfalls freizeit- und vergnügungsfeindlich eingestellt war, und zwar um so aggressiver, je mehr die Arbeiter ihre Freizeit außerhalb ihrer Organisationen verbrachten und je weniger sie in ihrer Freizeit die politischen Bestrebungen ihrer Organisationen unterstützen. Diese Freizeit- und Vergnügungsfeindlichkeit scheint spezifisch für die deutsche Arbeiterbewegung gewesen zu sein. Schon in seinem "Arbeiter-Lesebuch" hatte Ferdinand Lassalle den deutschen Arbeitern zornig zugerufen: "Ihr deutsche Arbeiter seid merkwürdige Leute! Vor französischen und englischen Arbeitern, da müßte man plädieren, wie man ihrer traurigen Lage abhelfen könne, Euch aber muß man vorher erst noch beweisen, daß Ihr in einer traurigen Lage seid! Solange ihr nur ein Stück schlechte Wurst habt und ein Glas Bier, merkt ihr das gar nicht, daß euch etwas fehlt. Das kommt aber von eurer verdammten Bedürfnislosigkeit!" (14).

Keine soziale Schicht, das sollte gezeigt werden, hat also von ihrer eigenen Tradition her ein unproblematisches Verhältnis zur modernen Freizeit und zum modernen Konsum. Keine kann sagen, die moderne

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Freizeit sei einfach eine lineare geschichtliche Fortsetzung ihrer kulturellen Tradition unter neuen Bedingungen. Das, was das Bildungsbürgertum noch um die Jahrhundertwende als "Kultur" verstehen konnte, hat seinen Charakter im Zeitalter der uneingeschränkten technischen Reproduzierbarkeit entscheidend verändert; neue Ausdrucksmöglichkeiten wie Film und Fernsehen sind hinzugekommen, und die Dramaturgie des modernen Spielfilms ist nicht einfach eine Anwendung der Theaterdramaturgie, schon gar nicht der klassischen. Die in ökonomischen Notstands-Zeiten geborenen Freizeitvorstellungen, die sich am besten im Begriff der "Erholung" zusammenfassen lassen, sind nicht mehr ausreichend, wenn es darum geht, gerade dasjenige Maß an Freizeit mit Sinn zu versehen, das nach Abzug der für die Erholung nötigen Zeit immer noch übrig bleibt.

Der qualitative Sprung in der modernen Freizeitentwicklung ist dadurch eingetreten, daß Freizeit und Konsum sich zu einem eigentümlichen ökonomischen System verfestigt haben, zu einem System von Anbietern, Organisationen und Kunden. Und dieses System hat sich gewissermaßen von seiner eigenen geschichtlichen Ursprungssituation emanzipiert und tritt heute den verschiedenen kulturellen Traditionen als eine selbständige Größe gegenüber. Das moderne Freizeitsystem ist nicht einfach die Fortsetzung der mittelständischen Kulturtradition auf die ganze Gesellschaft, es hat sich vielmehr gegenüber allen schichtenspezifischen Erfahrungen relativ verselbständigt und diese sogar zu einem guten Teil wertlos gemacht bzw. als rückständig disqualifiziert. Für den Entwurf einer Didaktik der Freizeiterziehung würde das heißen: Die Lage ist nicht mehr die, daß ein seiner kulturellen Tradition selbstgewisser Mittelstand die unter ihm sich emanzipierenden Schichten in eben diese kulturelle Tradition einführt, sondern sie ist so, daß alle Schichten und demgemäß alle spezifischen kulturellen Traditionen gegenüber dem universalistischen System der Freizeit in derselben Verlegenheit sich befinden, im Grunde dasselbe lernen müssen, wenn auch von jeweils anderen Voraussetzungen aus. In diesem Sinne ist "Freizeiterziehung" eine traditionslose Aufgabe.

Tatsächlich jedoch gilt gemeinhin Freizeiterziehung in der pädagogischen Literatur weiterhin als ein besonderes Problem der Arbeitererziehung, worin die neo-feudalistische Ursprungssituation der "Verantwortung für die Freizeit des Arbeiters" nur naiv überlebt hat. Probleme der Freizeiterziehung werden weiterhin nur für die Volksschule und Berufsschule erörtert, nicht für die Gymnasien. Dabei ist doch die prinzipielle Fernsehfeindschaft eines bestimmten, theaterengagierten Bildungsbürgertums nicht weniger reaktionär als die entsprechende Theaterfeindschaft einer bestimmten fernsehbeflissenen Arbeiterschicht. Beide Haltungen charakterisieren jeweils spezifische Lerndefizite gegenüber ein und demselben System.

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II.
Wenn wir eben sagten, das gegenwärtige System der Freizeit sei "geschichtslos", so liegt die didaktische Konsequenz einer bloßen Anpassung an dieses System sehr nahe (15). Freizeiterziehung könnte dann darin ihre Beschränkung finden, daß sie unter Verzicht auf jedwede kulturelle Tradition zum Gebrauch des jeweils zufällig Angebotenen animiert. Es muß aber gerade einer didaktischen Konzeption darum gehen, dieses System wieder mit seinem ursprünglichen Entstehungszusammenhang in eine neue, kritische Verbindung zu bringen. Dazu ist es nötig, die Geschichte der Freizeit aus ihrer bloß chronologischen Tatsächlichkeit auf die Ebene ihres inhaltlichen Generalthemas zu bringen. Das Generalthema der neueren Geschichte heißt "Emanzipation". Unter diesem Leitbegriff ließe sich die neuere Geschichte sinnvoll schreiben und erzählen: als die Geschichte der Emanzipation des 3. Standes, des 4. Standes, der Frauen, der Kinder und Jugendlichen, der armen Kolonialvölker usw.. Dazu würde dann auch eine Geschichte des Widerstandes gegen diese Emanzipationsbestrebungen gehören.

Mit diesem Leitbegriff ist nicht nur die im engeren Sinne politische Emanzipation gemeint, der Kampf um das gleiche Wahlrecht z. B.. Der Anspruch auf Emanzipation ist seinem Sinne nach vielmehr ein totaler, der sich gegen alle Herrschaftsansprüche wendet und auf "Fundamentaldemokratisierung" (Karl Mannheim) hinzielt. Emanzipation fordern heißt maximale Befreiung von den Naturnotwendigkeiten und von jeder Form von Herrschaft über Menschen zu fordern. Dies bedeutet nicht notwendig auch, die Utopie herrschaftsloser politischer Verhältnisse ins Auge zu fassen, sondern nur, jede jeweils reale Form von Herrschaft auf ihre Notwendigkeit zu befragen.

Der Begriff der Emanzipation impliziert nämlich nicht notwendig auch den Entwurf vollkommen emanzipierter Zustände. Zwar haben Autoren, die Emanzipation propagiert haben, derartige Utopien meist auch entworfen, aber die Forderung, das Bestreben nach Emanzipation in diesem Sinne teleologisch zu Ende zu denken, ist in gewisser Weise eine geschickte Maßnahme der konservativen Ideologie, konkrete Emanzipationen zurückzuweisen; denn alle Entwürfe von "vollkommenen Zuständen" können leicht unter Anrufen des "gesunden Menschenverstandes" als Phantastereien denunziert werden. Emanzipation im Sinne ein-

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es geschichtlichen Prozesses kann sich also durchaus mit einer "Freiheit wovon" begnügen und auf den ständigen Hinweis auf die "Freiheit wozu" verzichten, ohne damit theoretisch defizient zu werden. Man kann z. B. unter dem Leitgedanken der Emanzipation die Prügelstrafe abschaffen, weil sie eine für das Lernen junger Menschen unnötige Herrschaftsform ist, ohne daß es zwingend wäre, diese Maßnahme teleologisch auf einen Zustand allgemeiner Mündigkeit hin zu projizieren und von daher zu rechtfertigen. Unter diesem Aspekt der fortschreitenden Emanzipation der Menschen von unnötiger, d. h. real überwindbar gewordener Herrschaft durch die Natur bzw. durch andere Menschen lassen sich nun Freizeit und Konsum näher befragen.

1. Die Emanzipation von der Totalität der Berufsrolle. Daß die totale Subsumierung des Menschen unter seine Arbeit ein defizienter menschlicher Status ist, wissen wir spätestens, seit mit dem Begriff von allgemeiner Menschenbildung gegen eine zu frühe berufliche Bornierung zu Felde gezogen wurde. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein mußte diese Borniertheit schon aus ökonomischen Gründen als unabänderliches Schicksal der meisten Menschen gelten. Dieser Bann beginnt zu brechen. Was jemand in der Hierarchie der Berufe ist, ist er wohl oft faktisch, aber nicht mehr notwendig auch als Staatsbürger oder als Bücherleser oder als geselliger Mensch usw.. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die das System der Berufe hervorbringt, bestimmt nicht länger mehr notwendig die Art und Weise der politischen und kulturellen Beziehungen der Menschen. Diese Emanzipation kommt allmählich auch denjenigen Schichten zugute, die zunächst durch die industrielle Entwicklung eher Freizeit eingebüßt hatten (z. B. Handwerk und Landwirtschaft).

2. Die Emanzipation vom Existenzminimum. Der "frei disponiblen Freizeit" entspricht auch immer eine "frei disponible Geldsumme", d. h. eine Summe, die nicht für alltägliche Lebensnotwendigkeiten ausgegeben werden muß, also für luxuriöse Projekte zur Verfügung stehen kann. Damit wird der von kulturell produktiven Minderheiten immer schon gewußte positive Zusammenhang von Wohlstand und Kultur zu einer Chance für tendenziell alle Menschen. Damit kann eine Beschränktheit der Existenz aufgehoben werden, der bisher nur erreichbar war, was bezahlt werden konnte - und das war wenig genug. An dieser Stelle verschränken sich also Freizeit und Konsum. Die Möglichkeiten des vermehrten Konsums sind untrennbares Moment des emanzipatorischen Charakters der Freizeit selbst - was natürlich nicht heißt, daß tatsächlich der Konsum auch entsprechend genützt wird.

3. Die Emanzipation vom Milieu als lebenslangem sozialen Schicksal. Freie Zeit und Wohlstand können uns vom Milieu emanzipieren, d. h. von der sozialen Borniertheit des zufälligen Wohnortes und zufälligen Status unserer Vorfahren. Ob jemand in der Stadt oder auf dem Lande wohnt, in einer Arbeiterfamilie oder Professorenfamilie geboren wird,

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wird tendenziell immer bedeutungsloser für die Bedingungen und Möglichkeiten seiner menschlichen Existenz. Diese Emanzipation ist besonders offensichtlich geworden im modernen Tourismus.

Diese Emanzipationen ermöglichen eine Bereicherung der menschlichen Existenz - auch im Hinblick auf die menschliche Erfahrungsfähigkeit, die man in der bisherigen Geschichte für unmöglich halten mußte. Und vergleicht man sie mit dem, was gemeinhin als Ziel der Freizeiterziehung gilt, so kann nicht verschwiegen werden, daß deren Intentionen und Praktiken diesen Emanzipationen eher im Wege stehen, als daß sie sie fördern. Es genügt also nicht, verbal für "Mündigkeit" als Leitgesichtspunkt des erzieherischen Handelns zu plädieren, wenn man nicht zugleich konkret ermittelt, inwiefern die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen einen Fortschritt an Mündigkeit ermöglichen.

Nun ist mit Recht wiederholt darauf hingewiesen worden, daß die emanzipatorischen Momente, die im modernen Freizeitsystem enthalten sind, gerade durch das Maß ihrer Organisiertheit wieder zum Verschwinden gebracht werden. Dieser Einwand kennzeichnet in der Tat eine unübersehbare Gefahr. Er zeigt uns außerdem deutlich, daß die Humanisierung der Freizeit nicht allein eine pädagogische, sondern vor allem auch eine politische Aufgabe ist. Solange die Gesellschaft als Ganze nicht der Kontrolle der mündigen Menschen unterworfen ist, wird die Freiheit eines ihrer Teilbereiche (wie der Freizeit) nur eine partikulare sein können. An dieser Stelle verzahnt sich übrigens die didaktische Problematik der politischen Bildung mit der der Freizeiterziehung: Eine mündige, aufgeklärte menschliche Existenz ist auch nur als Ganze möglich, nicht als partikulare (z. B. nicht nur in der Freizeit).

Nun können wir die These von der Traditionslosigkeit der Freizeitpädagogik präziser fassen: Sie trifft nur zu, wenn wir an die positiven, "empirischen" Traditionen denken, so wie sie uns tatsächlich überkommen sind. Diese sind, wie wir gezeigt haben, in der Tat weitgehend unbrauchbar. Aber die Aufgabe besteht darin, uns für die pädagogische Lösung der Freizeitproblematik gleichsam eine neue Tradition zu schaffen, indem wir auf noch nicht realisierte humane Ideen und neben den Realitäten der Geschichte auch auf das noch nicht Realisierte uns zu beziehen lernen.

III.



Erst auf diesem Hintergrund kann die didaktische Problematik, von der wir ausgingen, sinnvoll formuliert werden. Was muß, so haben wir gefragt, gegenwärtig jeder Mensch mindestens lernen, um in seiner freien Zeit am sogenannten System der Freizeit optimal im Sinne zunehmender Mündigkeit partizipieren zu können? Und wie läßt sich in welchen Institutionen dieses Lernen optimal organisieren?

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Diese Fragen locken weitere Fragen hervor: Welche Bedingungen schulpolitischer und bildungspolitischer Art müssen erfüllt sein, damit das als notwendig Erkannte auch realisiert werden kann? Sind die didaktischen Probleme, um die es hier geht, überhaupt unterhalb einer 10jährigen Vollzeitschule ernsthaft diskutierbar? Müssen die Menschen bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten lernen, um in dieser neuen Freizeitwelt emanzipiert leben zu können, oder genügt das, was sie seit eh und je im Rahmen der geplanten und ungeplanten Erziehung lernen? Sind die Phänomene der Freizeit so neuartig, daß sie in eigentümliche Lernleistungen übersetzt werden müssen, die entsprechend in den pädagogischen Feldern zu organisieren wären? Oder reicht das, was man traditionell "Allgemeinbildung" nennt, dafür aus?

Für die Beantwortung dieser Fragen sind die bisher skizzierten Probleme von unmittelbarer Bedeutung, obwohl sie auf den ersten Blick gar nichts mit Pädagogik zu tun zu haben scheinen. Bleibt der tragende Leitgesichtspunkt der Begriff der Emanzipation, so muß die bisherige Geschichte der Freizeit und der Vorstellungen über sie historisch-kritisch daran gemessen werden. Dabei sind die Nuancen wichtig. Als um die Jahrhundertwende der bürgerliche Mittelstand die Arbeiterschaft auf das Niveau seines unpolitischen, zweckfreien und verinnerlichten Begriffes von Kultur bringen wollte, war das eine zweifellos gegen die Emanzipation dieser Schichten gerichtete Maßnahme, weil dadurch gleichsam die Reihenfolge der Probleme verfälscht wurde: Der politische Kampf um das gleiche Wahlrecht (z. B. in Preußen) oder um die gezielt gegen die Arbeiterschaft instrumentalisierte Volksschule mußte unbedingt im Vordergrund bleiben. Heute dagegen muß gefragt werden, ob nicht gerade jene mittelständische "luxuriöse" Auffassung von der politischen und beruflichen Zweckfreiheit der Kultur auch im Hinblick auf die Emanzipation zu neuer Bedeutung kommt (16). Es liegt in der Natur kritischer historischer Analysen, daß das, was vor 50 Jahren falsch war, heute richtig sein kann und umgekehrt.

Von ähnlicher Bedeutung für eine didaktische Theorie der Freizeit wäre die Klärung des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit. Unter der Voraussetzung, daß die moderne Arbeit selbst dann noch "entfremdet" sein wird, wenn sie stärker als jetzt von den Menschen rational kontrolliert wird, muß es - immer unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation - zu einer stärkeren Betonung derjenigen Kommunikationsinhalte kommen, die nicht Arbeit sind, z. B. des kollektiven Konsumierens. Jedenfalls ist Freizeitpädagogik unter diesen Voraussetzungen eine eigenständige, d. h. z. B. gegenüber der Berufserziehung relativ autonome didaktische Aufgabe. Die Arbeit als solche eröffnet nicht automatisch auch Zugänge zum

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kulturellen Dasein, - was immer das heißen mag. Berufserziehung und Freizeiterziehung müssen sich auf sehr verschiedenen Kategorien gründen, die nur durch die gemeinsame Überschrift der Emanzipation zusammengehalten werden können. Berufsausbildung ist in dem Sinne speziell, daß sie trotz der Tendenz zur breiten Grundausbildung auf einen bestimmten Abschnitt der vom technischen Standard diktierten Hierarchie der Berufe zugeschnitten bleibt; Freizeiterziehung dagegen ist universal, nicht mehr determiniert von der tatsächlichen oder wahrscheinlichen Position, ähnlich wie etwa auch die Staatsbürgerrolle und die auf sie zugeschnittene politische Bildung nicht einfach aus der Berufsrolle deduziert werden kann (17). Wenn Arbeits- und Freizeiterziehung aber nicht identisch sind und z. B. nicht einfach mehr unter dem einen Begriff der "Bildung" widerspruchslos zusammengefaßt werden können, dann könnte es sein, daß die Berufserziehung und die Freizeiterziehung Verhaltensweisen lehren müssen, die einander widersprechen, z. B. emotionale Distanz am Arbeitsplatz, aber emotionale Intensität in den Freizeitbeziehungen. Sogar das rationale Verhalten wird vermutlich unterschiedliche Modifizierungen erhalten müssen: im Berufsleben wird die funktionelle Rationalität dominieren, d. h. die rentable Anwendung der Mittel zur Erreichung eines vorgegebenen, vom einzelnen allenfalls durch außerberufliche ("politische") Maßnahmen mit zu bestimmenden Zieles; die Freizeit dagegen erfordert viel stärker substantielle Rationalität, d. h. das Training sinnvoller Zielsetzungen sowie Reflexionen über den Gesamtzusammenhang der je individuellen Lebensplanung, denen die funktionelle Rationalität unterzuordnen wäre (18).

Noch eine weitere didaktische Folgerung ließe sich ziehen: Es wäre nicht mehr überzeugend, die Inhalte der Freizeiterziehung an die Berufserfahrung anzuknüpfen. Aus der Tatsache, daß jemand Oberschüler oder Berufsschüler, Studienrat oder Schreinermeister ist, bzw. werden will, lassen sich didaktisch keine spezifischen Freizeitthemen mehr folgern, sondern höchstens noch spezifische Lernprobleme.

Eine erste Antwort auf die didaktische Problematik der Freizeiterziehung läßt sich also so fassen: Zunächst kommt es offensichtlich darauf an, den historischen Zusammenhang und das ökonomische System der Freizeit unter dem Leitgesichtspunkt der Emanzipation zu begreifen. Dies gehört der Sache nach in den Rahmen der Politischen Bildung. Erst wenn dies - wie elementar immer - begriffen ist, ist das der Pädagogik überhaupt mögliche Maß an Immunisierung gegenüber Manipulationen

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erreicht. Es ist also nichts mit vordergründigen Erziehungsmaßnahmen getan, die etwa irgendwelche für "pädagogisch'' gehaltenen Gegenangebote wie "Musische Bildung" und "Werken" gegen die industriellen Angebote unterbreiten, wie das vielfach offenbar noch geglaubt wird. Am Charakter der Manipulation ändert sich nichts dadurch, daß Pädagogen zu Freizeitanbietern werden. Im Gegenteil: Angesichts der Geschichte der pädagogischen Freizeitvorstellungen (19) muß man den Verdacht haben, daß viele "pädagogisch" firmierten Freizeitangebote objektiv nicht minder manipulativ, d. h. gegen die Emanzipation ihrer Zöglinge gerichtet sind, als die industriellen Angebote auch. Worauf es ankommt ist vielmehr, die Fähigkeiten zur rationalen Durchdringung des Systems der Freizeit zu stärken; erst dies emanzipiert den Lernenden von den Instanzen, die ihn deshalb manipulieren können, weil sie mehr wissen - soweit jedenfalls Emanzipation überhaupt mit pädagogischen Mitteln erreichbar ist und nicht politischer Aktionen bedarf. Bleibt die organisierte Erziehung unterhalb dieser Grenze der rationalen Aufklärung, so leistet sie weniger als die Massenkommunikationsmittel.

IV.

Aus den bisherigen Überlegungen läßt sich nun schließen, daß den modernen Freizeitverhältnissen nicht einfach dadurch didaktisch Rechnung getragen werden kann, daß man in den traditionellen Lehrplan einige neue Freizeitstoffe einfügt, wie "Filmkunde" oder "musische Bildung". Genau dies hat man bisher unter dem Begriff der Freizeiterziehung in der Regel verstanden: Man reflektierte nicht den Gesamtzusammenhang der didaktischen Aufgaben und die Grundlagen des Lehrplanes, sondern verfuhr eher vordergründig empiristisch: Die Soziologie stellte fest, daß junge Leute massenhaft ins Kino gehen, also wurden filmpädagogische Maßnahmen gefordert. Freizeiterziehung im geläufigen Sinne ist der Versuch, den Freizeitverhältnissen didaktisch Rechnung zu tragen, ohne die allgemeine didaktische Problematik im ganzen zu durchdenken.

Tatsächlich jedoch stellt die moderne Freizeit den traditionellen Lehrplan im ganzen infrage, was am Beispiel der Volksschule gezeigt werden soll. Lehrpläne und Bildungsziele der Volksschulen waren bis mindestens 1918 noch ständisch konzipiert. Man ging davon aus, daß die Besucher dieser Schule "praktisch begabt" seien, demnach auch "praktische" Berufe ergreifen würden und im übrigen für über diese praktischen Tätigkeiten hinausgehende theoretische Ambitionen - etwa für die der "Gebildeten-Kultur" - weder interessiert noch auch eigentlich begabt seien. Diese knappe Formulierung gibt zwar nicht die Vielfalt der seitherigen

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Diskussionen um die Volksschule wieder, aber doch das, was dabei tatsächlich bis heute herausgekommen ist. Ob es sich um das Bildungsmodell Kerschensteiners handelt (20) oder um die Konzeption der "volkstümlichen Bildung" (21) - es ging diesen Konzeptionen nicht um die kenntnisreiche Teilnahme an der jeweiligen Gegenwartskultur, sondern allenfalls um eine allgemeine kulturelle Gesinnung. Nach 1918 änderte sich daran nur insofern etwas, als die Schulzugänge sich demokratisierten, die Identität von Volksschule und unterer sozialer Schicht wenigstens im Prinzip, wenn auch kaum tatsächlich aufgehoben wurde. Die Reformpädagogik war fast ausschließlich methodisch interessiert und hat die didaktische Problematik, wie wir sie verstehen, weitgehend ignoriert. So blieb die Vorstellung bestehen, daß der Abgänger der Volksschule - im Unterschied zum Abgänger der Höheren Bildungsanstalten - in einem bestimmten Lebenskreis bleiben würde, der im wesentlichen von Beruf und Familie geprägt sein würde, so wie von den unmittelbar damit zusammenhängenden sozialen Umkreisen. Auf diese Welt wollte man ihn vorbereiten, und dazu bedurfte es zwar einer Kulturkunde, in der folgerichtig Sitten, Gebräuche, gesellige musische Fertigkeiten und erbauliche Geschichten und Erzählungen eine Rolle spielten, nicht aber Literatur, Kunst und Musik und überhaupt intellektuell-ästhetisch strukturierte kulturelle Sachgebiete. In der Konzeption von der "volkstümlichen Bildung" kommt dies am vollkommensten zum Ausdruck. Heute müssen wir diese Konzeption als eine Wertvorstellung betrachten, in der es einen über das Existenzminimum hinausgehenden Wohlstand und eine über die Bedürfnisse der Rekreation hinausreichende Freizeit nicht gab. Und solange es das nicht gab, war diese Lehrplankonzeption auch sinnvoll, denn es wäre wenig einleuchtend gewesen, kulturelle Kenntnisse und Fertigkeiten zu lehren, die schon mangels Zeit und Geld von den Partnern nicht hätten realisiert werden können. Aber der revolutionäre Charakter der modernen Freizeit besteht ja gerade darin, daß sie die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß tendenziell alle Menschen an der Gegenwartskultur im ganzen teilnehmen können, und daß diese Möglichkeit prinzipiell nur durch das individuelle kulturelle Interesse bzw. seine "Bildsamkeit" begrenzt wird und begrenzt sein darf. Und genau diese Tatsache stellt die traditionelle Bildungsidee der Volksschule und die daraus resultierenden Lehrpläne generell in Frage.

Wenn wir "tendenziell" sagen, so meinen wir: Gewiß sind die tatsächlichen Freizeittätigkeiten und Freizeitinteressen keine individuell belie-

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bigen; sie sind vorgeformt, vor allem von den Erfahrungen und Erlebnissen der Arbeitswelt, vom industriellen Charakter der Gegenwartskultur, von vielfältigen sozialen Pflichten, Gewohnheiten und Traditionen. Aber die Möglichkeiten des Freizeitdaseins sind nicht nur die empirisch auffindbaren Gegebenheiten und werden es um so weniger sein, je mehr die Arbeitszeit verkürzt werden kann. Und gewiß werden auch in Zukunft Freizeittätigkeiten keine individuell beliebigen sein, sondern solche, die in irgendwelchen sozialen Kontexten sich vollziehen, vor allem wohl in informellen Gruppen. Aber sicherlich werden die ökonomischen Zwänge des Freizeitsystems einen viel größeren Spielraum des kulturellen Konsums und der kulturellen Aktivität zulassen, als sich heute schon zeigt.

Nimmt man also die Tendenzen der modernen Gesellschaft bereits als ihre Realität vorweg, so kann man überspitzt sagen: Es gibt keine spezifischen "Umwelten" mehr, auf die hin man spezifische Bildungsziele entwickeln könnte, sondern es gibt nur noch die eine universale und ubiquitäre Gesellschaft als Funktionsmechanismus, der gegenüber spezifische Traditionen und spezifische kulturelle Gewohnheiten gerade das Defizit ausmachen, das durch Lernen korrigiert werden muß.

Das läßt sich im Hinblick auf die Volksschule an zwei Beispielen darstellen: Die nahezu unbeschränkte technische Reproduzierbarkeit der kulturellen Objektivationen (z. B. Fernsehen, Schallplatte) hat die "kulturelle Umwelt", die vor 50 Jahren vielleicht wirklich noch spezifisch für Volksschulabgänger war, aufgehoben. Theater erscheint einfach auf dem Bildschirm und wird - mit wie wenig Sachverstand auch immer - gesehen. Und eine kulturelle Bildung, die das nicht berücksichtigt, fördert an dieser Stelle folglich ein Nichtbegreifen des Selbst und der Welt. Das zweite Beispiel ist der Tourismus. Er führt ja gerade die unteren Schichten aus jener "Umwelt" schon im rein räumlichen Sinne heraus. Auch daraus muß unsere Didaktik Konsequenzen ziehen.

Die didaktische Herausforderung der modernen Freizeit besteht also darin, daß wir den Lehrplan, das Bildungsziel und die Dauer der allgemeinen Volksschule im ganzen neu durchdenken müssen. Wir müssen fragen, ob in den Schulen das Richtige geschieht, um den Schülern bzw. den späteren Erwachsenen die Teilnahme an der Gegenwartskultur zu ermöglichen, die gerade durch ihre industrielle Reproduzierbarkeit dieselbe geworden ist für alle Menschen. Vor welchen prinzipiellen Schwierigkeiten diese Aufgabe steht, hat Paul Heimann eindrucksvoll geschildert (22).

Es geht also um die Einsicht, daß die Gesamtkultur und Zivilisation Inhalt der Freizeittätigkeiten sein kann, und daß man sich davor hüten muß, lediglich von den vorfindbaren Freizeittätigkeiten auszugehen. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß die didaktische Aufgabe nicht Freizeiterziehung, sondern kulturelle Erziehung heißen muß. Damit aber

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wird das stoffliche Feld so umfangreich, daß es alle kulturellen Phänomene außerhalb der Arbeitswelt umfaßt.

V

Für die Zukunft wird es also vor allem um die Klärung folgender Probleme gehen:

I. Das Problem der Phasengemäßheit. In welcher Weise kann die kulturelle Introduktion unter Berücksichtigung dessen geschehen, was in bestimmten Altersstufen überhaupt verstehbar ist? Wenn wir unter "Phasengemäßheit" das meinen, was wir jeweils empirisch feststellen, also nicht nur die "natürlichen" Determinanten der Altersstufen, die uns genau genommen allein empirisch nie gegeben sind, sondern auch die jeweiligen sozio-kulturellen Ausprägungen, - so werden überzeugende Einsichten hierbei nur durch langdauernde praktische didaktische Experimente zu erzielen sein. Sonst werden wir immer nur das feststellen, was durch den bisherigen Prozeß der Erziehung hergestellt wurde, nicht aber auch das, was möglich gewesen wäre. Hier stehen wir vor ganz neuen Forschungsaufgaben: Noch nie haben wir über die Lernfähigkeit der Altersstufen so wenig gewußt wie heute.

Außerdem scheint uns, was "leichter" und "schwerer" ist, epochalen Wandlungen zu unterliegen. Der Aufbau eines geschichtlichen Vorstellungshorizontes scheint z. B. heute "schwerer" zu sein als noch vor 50 Jahren, während Naturwissenschaften und technologische Weltmodelle "leichter" geworden sind. Man merkt dies besonders am Umgang mit der studierenden Jugend: Die Interpretation "klassischer Texte" ist längst kein guter didaktischer Einstieg in das Studium mehr, sondern so "schwer" geworden, daß man sie in die höheren Stufen des Studiums verweisen muß. Die Frage also, was schwerer und was leichter zu verstehen sei, muß generell neu untersucht werden; es könnte sein, daß viele vereinfachende Erleichterungen, die wir den Schülern im Unterricht gewähren, in Wahrheit ihre Verständnisfähigkeit zusätzlich belasten.

2. Das Problem der Bezugsgruppengemäßheit. Gerade bei den Untersuchungen über die Bildungssituation der Arbeiterkinder hat man festgestellt, daß offenbar die verschiedenen sozialen Schichten spezifische Lernprobleme haben: Die Betrachtungsweise der Phasengemäßheit muß durch die der Bezugsgruppengemäßheit ergänzt werden. Es könnte z. B. sein, daß das erschütternd niedrige kulturelle Niveau unserer Volksschulabgänger nicht zuletzt damit zusammenhängt, daß sie ihre kulturellen Leistungsfähigkeiten an den falschen Gegenständen trainieren mußten, d. h. an solchen, die den kulturellen Normen und Erfahrungen ihrer Bezugsgruppen nicht entsprechen. Literatur ist z. B. etwas, was auch heute in Arbeiterkreisen noch kaum Resonanz findet. Ein Junge, der sich vielleicht in der Schule durchaus für Literatur interessiert, kann

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seine dort gewonnenen Erfahrungen außerhalb der Schule nicht sozial reproduzieren, über sie nicht kommunizieren. Anders stünde es vielleicht, wenn seine kulturelle Introduktion zunächst an den Gegenständen der Massenkommunikation (Film, Fernsehen usw.) erfolgte, an Gegenständen also, die auch in seiner Bezugsgruppe zu den selbstverständlichen Dingen des Alltags gehören. Erfahrungen der außerschulischen Bildungsarbeit (23), sprechen dafür, daß in diesem Falle kulturelle Differenzierungsfähigkeit sich eher und gründlicher entfalten könnte. Mit anderen Worten: Vieles spricht dafür, daß die kulturelle Introduktion - einschließlich der Sprachbildung - eher und gründlicher an Filmen, Fernsehdarbietungen und journalistischen Texten erfolgen könnte und erst relativ spät auch an "anspruchsvollen" Texten. Es könnte also sein, daß ein Lehrgang über Massenmedien einem Lehrgang über Literatur vorausgehen müßte. Ist erst einmal die Freude am ästhetischen Umgang mit kulturellen Produktionen erwacht und durch Erfolgserlebnisse ermutigt, so überträgt sie sich möglicherweise auch leichter auf andere, "schwierigere" kulturelle Produktionen wie Literatur. Zwar ist, wie wir gesehen haben, das moderne System der Freizeit für alle sozialen Schichten dasselbe, gleichwohl aber hat jede soziale Schicht heute noch ihre spezifischen Lernprobleme angesichts desselben Systems. Diese spezifischen Lernprobleme genügend berücksichtigen heißt nicht, neue schichtenspezifische Bildungsideale zu proklamieren.

3. Noch ein anderes Problem muß in diesem Zusammenhang ins Bewußtsein gebracht werden: Das moderne System der Freizeit ist nicht nur schichtenunspezifisch, sondern auch altersunspezifisch. "Sinnvolles Freizeitverhalten" ist nicht etwas, was die erwachsenen Generationen beherrschen und somit den jüngeren beibringen können. Allenfalls bestimmte Aneignungsweisen mögen noch alterspezifisch sein - z. B. die größere Experimentierfreudigkeit jugendlicher Altersgruppen - aber welche Generation sich diesem System gegenüber am angemessensten verhält, ist schwer vorweg zu sagen. Manches spricht dafür, daß die jüngeren Generationen verhältnismäßig müheloser damit fertig werden als die älteren. Es könnte also sein, daß in diesem Punkte das Lerndefizit der älteren Generationen größer ist als das der jüngeren, so daß, wenn man den Generationsabstand weiterhin für pädagogisch konstitutiv hält, eher die Älteren von den Jüngeren lernen müßten als umgekehrt.

Diese Überlegung ist für eine Didaktik der Freizeiterziehung von grundlegender Bedeutung; denn in dem Maße, wie der Vorsprung der älteren Generationen abnimmt, wird das, was sie kulturell tradieren können, immer unwichtiger im Vergleich zu dem, was das gegenwärtige System an Lern- und Anpassungsproblemen verlangt.

Schon Theodor Litt hatte in seiner Schrift "Die politische Selbsterzie-

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hung des deutschen Volkes" (Bonn 1957) für den Sonderfall der politischen Erziehung die relative Unerheblichkeit des Generationsvorsprunges diagnostiziert. Auch aus der Berufserziehung wissen wir, daß die "Erfahrungen" der Älteren angesichts des schnellen Wandels der Realitäten immer bedeutungsloser werden; für den Bereich der Freizeiterziehung haben wir nun ebenfalls auf solche Zusammenhänge aufmerksam gemacht. Nimmt man dies zusammen, so scheint sich für die wissenschaftliche und praktische Pädagogik am Beispiel der Freizeiterziehung eine geradezu revolutionäre Problematik abzuzeichnen: Der Vorgang des Erziehens ist nicht mehr in erster Linie im Gefälle von "Mündigkeit" und "Unmündigkeit" der Generationen zu verankern, sondern eher in der Verlegenheit prinzipiell aller lebenden Generationen im Angesicht derselben abstrakten gesellschaftlichen Systeme. Nur am Rande sei vermerkt, daß das im strengen Wortsinn mit Pädagogik ( = Kindererziehung) Gemeinte dann nur noch ein Spezialfall erziehungswissenschaftlicher Reflexion sein würde. Natürlich gilt die These von der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Generationsgefälles nur cum grano salis. Der Altersvorsprung als ein Vorsprung an Erfahrung ist immer noch von erheblicher Bedeutung, aber er kann nicht einfach mehr das Erziehungsverhältnis konstituieren, und darauf kommt es uns hier an.

4. Was aber soll dann noch der pädagogische Maßstab für die didaktische Bewältigung von Freizeit und Konsum sein, wenn es weder die kulturelle Tradition noch das Generationsgefälle sein kann? Es kann offensichtlich nur noch die an den Wissenschaften kontrollierte pädagogische Erschließung der kulturellen Objektivationen und des menschlichen Verhaltens sein, weil jede unterhalb dieses Anspruchs verbleibende Didaktik wieder hoffnungslos in weltanschauliche, von jedem, der es will, bestreitbare Ressentiments zurückfallen müßte, wovon die moderne Didaktik doch die pädagogische Reflexion gerade befreien möchte und befreien muß. In dieser Konsequenz sind natürlich alle die Probleme wieder aufgeführt die seit jeher die Diskussion des Verhältnisses von Wissenschaft und Didaktik bestimmt haben.

Selbstverständlich kann es nicht um den naiven Transfer von Wissenschaft gehen. Wohl aber müssen die Wissenschaften für das, was in öffentlichen pädagogischen Einrichtungen gelehrt wird, eine konstitutive Kontrollinstanz sein, weil es andere eben gar nicht mehr gibt. Wer z. B. mit jungen Leuten Film- und Fernsehinterpretationen betreibt, kann das sinnvollerweise nur auf der Grundlage der soziologischen und ästhetischen Massenkommunikationsforschung bis hin zu den Fachtermini tun, insofern diese draußen für die Kommunikation über Massenmedien unentbehrlich sind. Wer die Wirkung von Fernsehsendungen erklären will, muß das Grundmodell der Kommunikationsforschung verwenden, anders kann er nichts erklären. Gerade die bisherige Filmpädagogik hat sich aber kaum um die Sache des Films bemüht, sie war gar nicht darauf

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eingestellt, "Filme lesen zu lehren", sondern begnügte sich eher mit der moralischen Diskussion der Stories, - wenn man von der z. T. hervorragenden Arbeit außerschulischer Jugendfilmclubs absieht, die aber leider überwiegend eine Sache der Oberschüler geblieben sind. Eine überzeugende "Didaktik der Filmerziehung" gibt es jedenfalls bis heute nicht (24).

5. Alle diese Einzelaspekte konvergieren im Problem eines kulturellen Lehrplans. Er ist zweifellos nicht mehr dadurch zu gewinnen, daß wir die einzelnen kulturellen Bereiche auf das abhorchen, was "bildungswirksam" an ihnen ist. "Bildungswirksam" - wenn wir bei diesem Wort bleiben wollen - können nur die Strukturen der Sache selbst sein, die aus der Beschäftigung mit kulturellen Objekten gewonnen und auf das Verstehen weiterer Objekte angewendet und somit reproduziert bzw. verändert werden. Mindestens die folgenden vier Bereiche müßten wohl im Unterricht berücksichtigt werden, von denen keiner den anderen ersetzen kann: Literatur; Kunst; Musik; Film und Fernsehen. Einen solchen Lehrplan zu entwerfen ist eine langwierige und schwierige Aufgabe und bedarf der Kooperation zwischen Didaktik und Fachwissenschaften.

Vermieden werden muß dabei allerdings unbedingt, irgendeine Form von vorbildhaftem Freizeit- und Kulturverhalten unterrichtlich zu organisieren. Worauf es ankäme und womit man augenblicklich beginnen könnte, ohne auf den Entwurf eines überzeugenden Lehrplans warten zu müssen, wäre, die verschiedenen heute schon vorliegenden Weisen des Freizeit- und Kulturverhaltens dem gemeinsamen Nachdenken zu unterwerfen. Aber dies kann auf lange Sicht nur die eine Seite einer überzeugenden Didaktik sein. Ohne eine gründliche systematische Introduktion in die verschiedenen kulturellen Bereiche würde jenes Verfahren kaum über ein vordergründiges und plattes Raisonieren hinauskommen.

Daß neben die unterrichtliche Seite das Training geselliger Formen und handwerklicher und kulturtechnischer Fertigkeiten sowie der selbstbewußte Umgang mit öffentlichen Dienstleistungen treten muß, versteht sich am Rande.

Gerade weil in Sachen Freizeit und Konsum das Generationsverhältnis seine konstitutive Bedeutung verloren hat und andererseits allgemein anerkannte Vorbilder für sinnvolles Freizeitverhalten nicht mehr vorliegen und daher auch nicht mehr massenhaft pädagogisch organisiert werden können, fällt die Entscheidung über die je subjektiv überzeugende Version wie nie zuvor auf die einzelnen Individuen selbst zurück. Niemand kann das "stellvertretend" übernehmen - auch der Erzieher nicht. Das gilt für Volksschüler ebenso wie für Studenten. Um sie aber

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zu solchen Entscheidungen zu befähigen, muß man ihnen die aufzuklärenden Sachverhalte in der Weise zumuten, wie sie einzig noch kritisch aufgeklärt werden können: in wissenschaftsadäquaten Modellen. Das bloße Propagieren von Freizeitvorbildern durch die Schule würde dagegen die jungen Leute in dieselbe Hilflosigkeit stürzen, in die sie die Massenmedien ohnehin bringen.

6. Schließlich muß noch bedacht werden, daß nicht alle für die Freizeit wichtigen Lernleistungen in der Schule gelernt werden können. Es hängt also von der "Theorie der Schule" ab, welchen "Part" die Schule im Rahmen der ganzen Freizeiterziehung übernehmen kann und will. Gelernt wird ja auch außerhalb der Schule, z. B. in den Sozialisationsfeldern des tatsächlichen Lebens sowie in den neben- ("Jugendarbeit") und nachschulischen ("Erwachsenenbildung") Einrichtungen. Um zu ermitteln, was unbedingt in der Schule gelernt werden muß, muß die Schule ihrerseits eine klare Vorstellung von den Lernvorgängen in den übrigen lernwirksamen Feldern haben. Vermutlich wird in Zukunft die Schule wieder stärker das übernehmen, was allein durch kontinuierlichen, systematischen Unterricht aufgebaut werden kann. Wo man noch glaubt, die Schule mache allein den jungen Menschen zum Menschen, kann sich eine überzeugende didaktische Theorie nicht entwickeln. Die Schule hat vielmehr eine Teilfunktion im Gesamtzusammenhang des modernen Lernens zu erfüllen, und diese Teilfunktion kann sie nur ermitteln, wenn sie sie auf den Gesamtzusammenhang der Lern- und Sozialisationsfelder hin reflektiert.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß wir im Hinblick auf eine Didaktik der Freizeiterziehung erst am Anfang stehen; umfangreiche didaktische Forschungen und Auseinandersetzungen werden noch nötig sein, bevor wir hier zu überzeugenden Konzepten kommen. Gegenwärtig kommt es erst einmal darauf an, die bisherige Praxis und die ihr zugrundeliegenden Theorien zu kritisieren, damit der Weg für neue Lösungen frei werden kann.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. Jürgen Kuczynski/R. Hoppe: Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland 1750 bis 1939. Berlin-Ost 1958; G. K. Anton: Geschichte der Preußischen Fabrikgesetzgebung bis zu ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung. Leipzig 1891; Konrad Agahd: Die Erwerbstätigkeit Schulpflichtiger Kinder im Deutschen Reich. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 12. 1898, S. 373-428; Konrad Agahd: Kinderarbeit und Gesetze gegen die Ausnutzung kindlicher Arbeitskräfte in Deutschland. Jena 1902; Robert Alt (Hrsg.): Kinderausbeutung und Fabrikschulen in der Frühzeit des industriellen Kapitalismus. Berlin-Ost 1958.

(2) Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: ders.: Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung. München/Hamburg 1965

(3) Zur Geschichte der "bürgerlichen Arbeiterbildungsbemühungen" vgl. Hildegard Reisig: Die Rolle der Bildung für die Befreiung des Proletariats im politischen Denken der deutschen Arbeiterbewegung von den 4oer Jahren bis zum Weltkrieg. Langensalza 1933; Hildegard Feidel-Mertz: Zur Ideologie der Arbeiterbildung. Frankfurt 1964.

(4) Vgl. Anmerkung 2. Ferner Wilhelm Liebknecht: Wissen ist Macht - Macht ist Wissen. Berlin 1894.

(5) Dieses Ressentiment ist in vielen Publikationen des Jugendschutzes greifbar. Als "gefährdend" werden vor allem Freizeit und Konsum angesehen. Als Beispiel sei genannt: Werner Kalb: Der Jugendschutz bei Film und Fernsehen, Neuwied 1962. (Vgl. dazu meine Rezension in Nr. 36 dieser Edition, H. G.)

(6) Vgl. Victor Böhmert: Die Erholungen der Arbeiter außer dem Hause. In: Centralstelle für Arbeiterwohlfahrt (Hrsg.): Die zweckmäßige Verwendung der Sonntags- und Feierzeit. Vorbereichte und Verhandlungen der Konferenz vom 25. und 26. April 1892. Berlin 1893; Kurt Baecker: Die Volksunterhaltung vom sozial-politischen Standpunkt. Berlin 1893; Victor Böhmert: Volksbildung und Volkserholung. Leipzig 1893.

(7) Vgl. Johannes Zielinski: Freizeit und Erziehung. München/Düsseldorf 1954; Leonhard Froese: Zur Freizeitkunde und -erziehung. In: Ders.: Schule und Gesellschaft. Weinheim 1962, S. 123-126.

(8) Vgl. Bericht über den Weltkongreß für Freizeit und Erholung Hamburg 1936. Hamburg 1937

(9) Baecker, a.a.O., S. 4f.

(10) Böhmert: Volksbildung ... S. 18

(11) Vgl. Parteitagsprotokoll 1896, S. 78-85 und 103-110. Dazu Günther Roth: Die kulturellen Bestrebungen der Sozialdemokratie im kaiserlichen Deutschland. In : Hans-Urich Wehler (Hrsg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte. Köln/Berlin 1966, S. 342 ff.

(12) Vgl. Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Frankfurt 1962.

(13) Dieser Wandel ist besonders in den frühen pädagogischen Theorien der deutschen Sozialdemokratie zu finden, in denen die Arbeit zum Grundphänomen aller Erziehung erklärt wird. Vgl. u. a. das Grundsatzreferat "Sozialdemokratie und Erziehung" von Heinrich Schulz auf dem Mannheimer Parteitag von 1906: Parteitagsprotokoll 1906, S. 223 ff.; ferner Heinrich Schulz: Die Schulreform der Sozialdemokratie. Dresden I911.

(14) Lassalle: Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. von Eduard Bernstein. Berlin 19I9, 3. Bd., S. 227.

(15) Dieser Gefahr scheint mir Wolfgang Schulz zu erliegen, obwohl er in seinem Begriff der "Anpassung" als Leitmotiv des Freizeitlernens den "Widerstand" ausdrücklich mit aufnimmt. Nur bleibt die Frage offen, woher denn die Gesichtspunkte und Kriterien für einen möglichen Widerstand gewonnen werden sollen, wenn nicht aus dem Bestand einer historisch-kritischen Reflexion. (Vgl. Wolfgang Schulz: Freizeitverhalten als pädagogisches Problem. In: Bildungsfragen im Zeitalter der Automation. Weinheim 1965, S. 71-95).

(16) Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. In: Der Monat Nr. 132, Sept. 1959, S. 30 ff.; Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt 1965.

(17) Vgl. meinen Aufsatz: Entwurf einer Didaktik der Berufsfähigkeit. In: Pädagogische Rundschau, 4/1966, S. 362-373.

(18) Über den Unterschied von "funktioneller,' und "substantieller'' Rationalität vgl. Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958, S. 68 f.

(19) Vgl. das Kapitel: "Kritik pädagogischer Freizeittheorien". In: Giesecke/Keil/ Perle: Pädagogik des Jugendreisens. München 1967, S. 20 ff.

(20) Vgl. Theodor Wilhelm: Die Pädagogik Kerschensteiners. Verhängnis und Vermächtnis. Stuttgart 1957.

(21) Vgl. Hans Glöckel: Volkstümliche Bildung? Versuch einer Klärung, I964. Ferner: Theodor Wilhelm: Theorie der Schule. Stuttgart I967, S. I23 ff.

(22) Paul Heimann: Erziehung zu einem sinnvollen Kulturverhalten. In: ders.: Zur Bildungssituation der Volksschuloberstufe in der Kultur und Gesellschaft der Gegenwart. Hannover 1963, S. 21-25

(23) Vgl. Hermann Giesecke: Politische Bildung in der Jugendarbeit. München 1966; Helmut Kentler: Jugendarbeit in der Industriewelt. 2. Aufl. München 1962; Wolfgang Müller u.a.: Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie. 3. Aufl. München 1967.

(24) Am nächsten kommt diesem Anspruch noch das Buch von Jan Marie Peters: Grundlagen der Filmerziehung. München 1965. 

 

 

59. Was heißt: studentische Mitbestimmung? (1968)


(In: deutsche jugend, Heft 2/1968, S. 69-74)
 

Die studentischen Revolten im vergangenen Jahr haben einer größeren Öffentlichkeit gezeigt, daß unsere Hochschulen nicht demokratisch organisiert sind. Dieses Merkmal teilen sie - was leicht übersehen wird - mit fast allen anderen gesellschaftlichen Institutionen: mit den Kirchen, den Betrieben, den Schulen, um nur die wichtigsten zu nennen. Das Problem der Demokratisierung der Hochschulen hat viele Aspekte, die hier ausgeklammert werden müssen: zum Beispiel das Problem der Hierarchie vom Ordinarius bis zum Assistenten, die unzweckmäßige Selbstherrlichkeit der einzelnen Institute, der feudalistische Charakter des Promotions- und Habilitationsverfahrens und anderes mehr. Dieser Beitrag konzentriert sich auf das Problem der studentischen Mitbestimmung und läßt dabei die zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen Universitäten und anderen wissenschaftlichen Hochschulen außer Betracht.

Die studentischen Vertretungskörperschaften, allen voran der VDS, fordern eine Mitbestimmung der Studenten in allen entscheidenden Gremien der Hochschulen. Die Hochschulen sollen eine neue innere Organisation erhalten, nach der alle Entscheidungsgremien zu je einem Drittel aus Professoren, aus dem sogenannten "Mittelbau" (Assistenten, Akademische Räte usw.) und der Studentenschaft zusammengesetzt sein sollen.

Die Begründung erscheint logisch-zwingend: Wenn die Hochschule demokratisiert sein soll, dann müssen alle ihre Mitglieder auch mitbestimmen. Diese "Logik" übersieht aber, daß es mehrere konkrete Möglichkeiten der Mitbestimmung gibt und daß es wenig Sinn hat, ein formales Prinzip zu Tode zu reiten, bevor man sich nicht über die Inhalte klargeworden ist. Zunächst ist anzumerken, daß die Forderung der genannten Studentenvertreter eine starke Schlagseite zu "ständischen" Vorstellungen hat: Vorausgesetzt wird, daß die Mitglieder der Hochschule in den drei "Ständen" der Professoren, des Mittelbaus und der Studenten aufgeteilt sind und danach eine Art von "Ständeparlament" zu wählen wäre. Warum ist man

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dann nicht konsequenter und fordert für die Besetzung der Gremien das allgemeine und gleiche Wahlrecht? Jede Professorenstimme sei soviel wert wie eine Studentenstimme! Dagegen gäbe es, so könnte man einwenden, ein taktisches Argument: diese "radikale" Demokratisierung ist zur Zeit nicht erreichbar, also verlegen wir uns auf die Drittel-Parität. Sie würde die Chance eröffnen, daß in allen entscheidenden Gremien die Studenten plus "Mittelbau" die Professoren überstimmen - damit hätte man ein Instrument zur Veränderung der Hochschulen in der Hand.

Hier nun muß man eine zweite Prämisse der studentischen Forderung ins Bewußtsein heben: Sie hält unkritisch am überlieferten Selbstverwaltungsprinzip unserer Hochschulen fest. Sie glaubt, daß, wenn in den Selbstverwaltungsgremien der Hochschulen andere Leute sitzen, die notwendigen Reformen durchgeführt werden könnten. Darin liegt aber ein fundamentaler Irrtum. Die Annahme, die innere Reform der Hochschulen scheitere an den "reaktionären" Professoren, ist zu einfach, um wahr zu sein. Der Anteil der "Reaktionäre" dürfte unter den Professoren nicht sehr viel größer sein als in anderen Berufen auch. Die Wahrheit, die kaum jemand hören will, ist vielmehr: Die Selbstverwaltungsgremien sind schlechterdings unfähig geworden, ein so kompliziertes Gebilde wie eine Hochschule noch zu übersehen und zweckmäßig zu führen. Für Betriebe ähnlicher Größenordnung in der Wirtschaft würde man ein Management brauchen, das sich auf einen arbeitsteilig arbeitenden Mitarbeiterstab zum Zwecke der Vorbereitung von Entscheidungen stützen kann. Die Selbstverwaltung unserer Hochschulen dagegen arbeitet zwar auch mit "Ausschüssen" und "Kommissionen", aber trotzdem nicht spezialisiert arbeitsteilig. So lebt man, was die zu lösenden Probleme angeht, von der Hand in den Mund, vertut einen großen Teil der Zeit mit Sitzungen, Konferenzen und Ausschüssen, und das Ergebnis bleibt - gemessen am Aufwand - dürftig und dilettantisch. In kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich dürfte es soviel hochbezahlte Menschen geben, die soviel Zeit für Aufgaben verwenden, von denen sie so wenig verstehen. Wenn die Forderungen der Studenten durchgesetzt werden, wird der Dilettantismus der Selbstverwaltung sich nur potenzieren, werden die Entscheidungswege noch komplizierter, die Möglichkeiten zur Veränderung noch geringer werden. Der Eindruck, die gegenwärtige Selbstverwaltung der Hochschulen diene nur noch dazu, die Privilegien der Professoren zu verteidigen, ist sicher in vielen Fällen richtig, aber man muß zugleich sehen, daß dies weniger am "bösen Willen" der einzelnen Professoren liegt, als vielmehr an der strukturellen Krise des Systems selbst. Allgemeiner ausgedrückt: Eine Demokratisierung der Hochschulen, die nicht zugleich zu einer optimalen Ökonomisierung der Führung und ihrer Kontrolle führt, bringt gerade für das Ziel, überflüssige Herrschaft abzubauen und die notwendige Herrschaft zu kontrollieren, gar nichts ein. Unsere Hochschulen brauchen im Grunde genommen dringend ein sachverständiges Management, das nicht wie jetzt in amateurhafter Nebentätigkeit, sondern hauptberuflich arbeitet. Gegenüber dieser "Expertokratie" wäre ein Widerstandsrecht, sowohl der Professoren wie der Studenten, gesetzlich zu verankern und in praktikable Formen zu fassen - so ungefähr könnte die notwendige Kombination von Ökonomisierung und Demokratisierung aussehen. In diesem Falle würden die einzelnen Gruppen an der Hochschule in eine Art von "gewerkschaftlicher" Position gegenüber dem leitenden Management stehen, und dann hätte es auch Sinn,

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daß die verschiedenen Gruppen ihre jeweils eigentümlichen Interessen organisieren und - teils getrennt, teils gemeinsam - zur Geltung bringen.

Die eben angedeutete radikale Aufhebung der Selbstverwaltung herkömmlicher Art dürfte allerdings einstweilen kaum zu realisieren sein und wäre vielleicht auch gar nicht einmal die optimale Regelung, weil sie eine Fülle schwer kalkulierbarer neuer Probleme heraufbeschwören würde. Aber zumindest ist es an der Zeit, das Tabu über der Selbstverwaltung zu brechen und sie wenigstens so zu verbessern, daß sie nicht nur effektiver, sondern auch durchschaubarer und damit kontrollierbarer wird. Es ist einfach unrichtig oder zumindest nur halbwahr, daß "Selbstverwaltung" an sich schon ein Ausweis für demokratische Verhältnisse sei. Im Falle der Hochschulen fehlt vielmehr ein entscheidendes demokratisches Indiz: die kritische und kontrollierende Instanz. Diejenigen, die Entscheidungen fällen, sind auch diejenigen, die sie ausführen, und niemand kann eine solche Einheit von "Legislative" und "Exekutive" überprüfen, es sei denn, man verlangte, jeder solle sich selbst kontrollieren. Damit hängt aufs engste die charakteristische "Nichtöffentlichkeit" der Selbstverwaltung zusammen, das heißt die Tatsache, daß die Entscheidungen und die ihnen zugrunde liegenden Diskussionen und Argumente nur dann über den Kreis derjenigen hinausgelangen, die sie beschließen und formulieren, wenn diese es so wollen.

Wenn man schon nicht die Selbstverwaltung durch Professionalisierung abschaffen will, so muß man ihre Nachteile wenigstens durch Spezialisierung soweit wie möglich korrigieren, das heißt die Mitglieder der Selbstverwaltung müssen in Zukunft für lange Zeit sich in einen einzelnen Fachausschuß (zum Beispiel Finanzen, Studienfragen, Hochschulpolitik usw.) einarbeiten, wodurch ihnen ein erheblicher Einfluß gegenüber der Gesamtheit zuwächst. Im Falle einer solchen Spezialisierung wären aber die Studenten gegenüber den "Hauptamtlichen" an der Hochschule benachteiligt, denn sie könnten sich - neben ihrem Studium! - nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit in eine so spezielle Sachaufgabe einarbeiten.

Selbst wenn also die Drittel-Parität unter den jetzigen oder sogar verbesserten Bedingungen der Selbstverwaltung der Hochschulen erreichbar wäre, brächte sie mit Sicherheit nicht den erhofften Gewinn an studentischem Einfluß; auch dann blieben vielmehr die Studenten "das schwächste Glied der Kette". Das "ständische Repräsentationssystem", das dem Vorschlag der Drittel-Parität zugrunde liegt, würde zwar einen Zuwachs an formaler Demokratisierung bringen, die Ökonomie der Führung und Kontrolle aber nur verschlechtern.

Eine weitere Folge wäre vielleicht sogar noch schwerwiegender. Wenn die Studentenschaften in alle Selbstverwaltungsgremien - also auch in die Ausschüsse - Vertreter entsenden, dann kann sie sich die Probleme, die sie für wichtig hält und diskutieren möchte, nicht mehr aussuchen; sie muß dann ihre ohnehin sehr kleine Gruppe der Aktiven den Sachzwängen der komplizierten Institution Hochschule unterwerfen. Ein sogenannter "reaktionärer" Hochschullehrer, der einen letzten Rest von politischem Verstand besitzt, müßte genau das fordern, was der VDS verlangt: die Drittel-Parität. Es gäbe keine bessere Möglichkeit, die besten und aktivsten Köpfe der Studenten im Alltag der Selbstverwaltungsgeschäfte langsam, aber sicher zu "verheizen" und ihnen damit schon physisch und zeitlich jede Möglichkeit zur Rebellion zu nehmen.

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Aber nicht nur die Selbstverwaltung der Universitäten und ihre möglichen Modalitäten sind bisher nicht ausreichend diskutiert worden, gleiches gilt vielmehr auch von der Frage, welche Vorstellung von "Jugend" im allgemeinen und von "studentischer Jugend" im besonderen den bisherigen Hochschuldiskussionen zugrunde liegt. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, diesen Vorstellungen einmal systematisch nachzugehen. Für den Pädagogen sind die rebellierenden Studenten - und die anderen unruhig gewordenen Gruppen, zum Beispiel der Oberschüler - nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie gewissermaßen gegen die Gesellschaft eine Verlängerung ihrer Pubertät erzwingen. Sie wollen die charakteristische Nichtfestgelegtheit - wenn man so will: die spezifische "Freiheit" des Jugendalters - länger behaupten, als ihnen von einem immer stärker berufsbezogenen Studium freiwillig gewährt wird. Diese rebellierenden Minderheiten nehmen damit einen Anspruch für die ganze junge Generation vorweg, der weder von den Studienreformplänen noch auch von den Mitbestimmungsplänen der Mehrheit der Studenten ernsthaft gewürdigt wird. In dem Verhalten dieser aktiven Minderheiten steckt - mehr oder weniger bewußt - eine Theorie über die kritische Funktion des Studentendaseins im Hinblick auf die ganze Gesellschaft. Es dürfte in der Tat kaum eine andere Gruppe in unserer Gesellschaft geben, die so wie die Studenten für eine kritische Rolle prädestiniert ist: sie sind volljährig, also nicht mehr im juristischen Sinne abhängig von anderen Menschen; sie sind sozial noch nicht "festgelegt", also in hohem Maße "pflichtenfrei"; sie können sich in einem Maße der Wissenschaft widmen - und gerade auch deren kritischen Aspekten! - , wie es selbst die meisten ihrer Professoren schon aus zeitlichen Gründen nicht mehr vermögen.

Diese spezifische politische Chance und Funktion der Studentenschaft wird heute von mehreren Seiten bedroht. So zum Beispiel von den Reformplänen des Wissenschaftsrates, die kaum auf hochschuldidaktischen Überlegungen basieren, dafür aber um so mehr auf ökonomischen Überlegungen mit dem Ziel, den möglichen kritischen Spielraum des Studiums zugunsten einer größeren Berufsbezogenheit einzuschränken; in diesen Überlegungen treffen sich übrigens die Reformer zweifellos mit dem augenblicklichen Interesse der Mehrzahl der Studenten selbst. Ebenso wird diese kritische Funktion aber verleugnet von den bloß quantitativ gedachten Mitbestimmungsvorstellungen eines großen Teils der Studenten selbst.

Zieht man nun aus der Kritik der Selbstverwaltung und aus der Überlegung über die spezifische politisch-kritische Funktion der Studenten die Folgerungen im Hinblick auf die studentische Mitbestimmung, so kann man sagen: Auch im Rahmen der Hochschule haben die Studenten - und nur sie! - die Chance, das vorwärtstreibende, unruhige, rebellische Moment zu sein. Sie können, wenn es sein muß, Kampfmethoden anwenden, die den "Hauptberuflichen" nicht mehr zur Verfügung stehen. Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, daß die notwendigen Hochschulreformen nur dann erfolgen, wenn die Studentenschaft sie erzwingt. Die Macht der Studenten ist heute in vieler Hinsicht schon größer als die der Professoren. Wenn ein Lehrkörper "auf dem Dienstwege" seinem Minister Reformvorschläge unterbreitet, ist nicht einmal sicher, daß er sie überhaupt liest. Ein geschickt initiierter und sachlich fundierter Vorschlag der Studenten hingegen wird heute sehr genau zur Kenntnis genommen, weil er notfalls durch unangenehme Aktionen durchgesetzt werden kann.

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Diese hochschulpolitische Chance der Studenten wird aber in dem Augenblick verspielt, wo die Studenten "in die Verantwortung" im Rahmen der Selbstverwaltungsgremien eintreten. Dann werden sie nämlich nicht nur für die Professoren, sondern auch für die Gesellschaft "kalkulierbar"; sie könnten sich die Probleme, die sie diskutieren und lösen wollen, nicht mehr aussuchen; sie müßten "Rücksichten" auf die anderen Partner der "gemeinsamen Verantwortung" nehmen und könnten zum Beispiel nicht einfach bei einer Abstimmungsniederlage in diesen Gremien "außerparlamentarisch" agieren. So paradox es klingen mag: "Mitbestimmung" in einer demokratischen Gesellschaff kann auch heißen, das Ansinnen, "Verantwortung zu übernehmen", zurückzuweisen.

Wenn man den Prozeß der gesellschaftlichen Demokratisierung - in deren Rahmen die Demokratisierung der Hochschule gehört - als einen langen Prozeß versteht, der nicht durch einen einmaligen "Handstreich" zu Ende gebracht werden kann, sondern ein mühsamer Kampf um viele Details sein wird, dann muß es eine soziale Gruppe geben, die objektiv in der Lage ist, diesen Prozeß immer wieder voranzutreiben, indem sie nicht selbst sich an der Ausübung von institutioneller Herrschaft beteiligt, sondern diese Herrschaft unentwegt in die Defensive, in die Diskussion, in die Öffentlichkeit, in die Rechtfertigung zwingt. Dies ist die politische Funktion der Studenten als sozialer Gruppe.

Ich plädiere also gegen die "Große Koalition" in unseren Hochschulen und für eine verstärkte Autonomie der Studentenschaft. Dafür einige Beispiele:

1. Die Studenten sollten Beteiligung am Hausrecht fordern. Es ist zum Beispiel Sache der - volljährigen! - Studenten und nicht des Rektors, zu befinden, welche Hochschulgruppen zugelassen und welche Redner von den Studenten zu Vorträgen eingeladen werden. Daß ein Rektor in solchen und ähnlichen Fragen ständig um Erlaubnis gebeten werden muß, ist für beide Seiten gleich unwürdig.

2. Man sollte den vernünftigen Kern der sogenannten "kritischen Gegen-Universität" ernst nehmen. Ich sehe nicht ein, warum ein Teil der prüfungsfähigen Lehrveranstaltungen nicht von der Studentenschaft angeboten werden sollte - selbstverständlich mit Dozenten, die die Voraussetzungen für die Prüfungsfähigkeit mitbringen. Für den Anfang würde es genügen, ein solches Lehrprogramm mit Angehörigen des eigenen Lehrkörpers zu vereinbaren. Auf längere Sicht könnte man daran denken, den Studenten die Entscheidung über einen Teil der Lehraufträge zu übertragen. Ein solches "Gegenprogramm" würde der didaktischen Verbesserung des Studiums mehr nützen, als wenn Studentenvertreter in einem "Ausschuß für Studienfragen" säßen.

3. Zu denken wäre ferner an Vorlesungs- und Seminarkritiken. Sie wären ebenfalls ein wichtiges Instrument für die dringend notwendige didaktische Diskussion, die - soweit sich das jetzt absehen läßt - nur dann Fortschritte machen wird, wenn die Studenten sie vorantreiben. Allerdings können die hierin liegenden Chancen durch bloße Aggressivität gegen einzelne Hochschullehrer verspielt werden. Für eine solche Kritik müssen erst noch Maßstäbe entwickelt werden; es reicht nicht, sich bloß seinen Ärger vom Leibe zu schreiben. Solange es nicht überall hochschuldidaktische Forschungen gibt, bleiben solche didaktisch orientierten Kritiken das einzige didaktische Korrektiv.

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4. Die Studentenschaft könnte über Fragen, die sie für besonders wichtig hält, eigene Forschungen durchführen und sich dabei - wenn sie will - der Beratung von Hochschullehrern bedienen. Der Probleme, die in erster Linie von Studenten erfolgreich angepackt werden könnten, gäbe es mehr als genug (zum Beispiel Studienfragen, Demokratisierung des Prüfungswesens usw.).

Die praktischen Perspektiven einer verstärkten studentischen Autonomie ließen sich sicher weiter ausmalen. Jedenfalls könnte die Studentenschaft ihre verhältnismäßig geringen Kräfte auf diese Weise viel konzentrierter und unbefangener einsetzen, weil sie sich die Gesetze des Handelns nicht diktieren lassen müßte. Damit plädiere ich nicht für einen prinzipiellen "Klassenkampf" zwischen Studenten und Dozenten. Im Gegenteil: Die Interessensolidarität zwischen beiden wird in Zukunft viel größer sein, als es heute scheint. Solange nämlich keine grundsätzliche Umverteilung der öffentlichen Ausgaben (etwa vom Wehretat auf den Bildungsetat hin) stattfindet, wird sich die materielle Situation der Hochschulen unentwegt verschärfen und zu immer härteren Restriktionsmaßnahmen im Hinblick auf die Studienzugänge und die Studiengestaltung führen. Dann werden die Hochschullehrer froh sein, wenn eine durch "Mitverwaltungsaufgaben" nicht verbrauchte Studentenschaft "Gewehr bei Fuß" steht und sich, ohne Rücksichten nehmen zu müssen, in die dann fällig werdenden Auseinandersetzungen einschaltet Wenn schon die meisten Hochschullehrer diesen Zusammenhang heute noch nicht sehen, so sollte es wenigstens den Studenten gelingen, sich unter ihren potentiellen Verbündeten nicht mehr Feinde zu machen, als unbedingt nötig ist.

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Nachtrag: Erfahrungen nach fünf Jahren

(In: H. Giesecke: Bildungsreform und Emanzipation. Ideologiekritische Skizzen. München 1973, S. 145-149)
 

Das hier vertretene "gewerkschaftliche" Konzept einer studentischen Mitbestimmung und Interessenorganisation hat bisher keine politische Chance erhalten. Meine 1968 geäußerten Befürchtungen sind jedoch weit übertroffen worden. Die Mitbestimmungsfrage wurde formalisiert auf Paritätenfragen, ohne daß inhaltlich-demokratische Zwecke solcher formalen Regelungen nennenswert ins Bewußtsein genommen worden wären. Vom ursprünglichen Impetus der um Mitbestimmung kämpfenden Studenten, von ihren inhaltlich-qualitativen Intentionen ist so gut wie nichts übrig geblieben. Die Selbstverwaltungsorgane sind weitgehend lahmgelegt, und der einzige Gewinner der Reformentwicklung ist die Kultusbürokratie, deren Stellung gegenüber der Hochschule entweder - wie in einigen Bundesländern - bereits offiziell gestärkt wurde oder auf die zumindest faktisch die Entscheidungskompetenz von bisher der Selbstverwaltung überlassenen Fragen - um Beispiel die Studienordnungen und sonstige Regelungen des Lehrbetriebs - zukommen wird. Nicht zuletzt deshalb scheint es nützlich, den Gründen für das Scheitern der in die studentische Mitbestimmung gesetzten Hoffnungen nachzugehen, soweit sie nicht einfach als Fortschreibung der eben genannten Gründe angesehen werden müssen.

1. Die unterschiedliche Interessenlage und partikulare Funktion von Dozenten und Studenten wurde nicht genügend analysiert. Eine Interessensolidarität zwischen beiden kann es nur im Hinblick auf für beide Interessenlagen gemeinsame allgemeine politisch-gesellschaftliche Be-

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dingungen geben, aber auch das ist nicht selbstverständlich. Gerade im Binnenverhältnis jedoch sind die Interessen- und Funktionsunterschiede unübersehbar. Im Unterschied nämlich zum Industriebetrieb, wo einzelne über die Arbeit aller verfügen und wo Mitbestimmung die Verfügung aller über ihre Arbeit anstrebt, geht es in der Hochschule jedenfalls im wesentlichen nicht um die Ausbeutung fremder Arbeitskraft, sondern um Qualifizierungen für einen gesellschaftlich privilegierten Status, dessen Privilegiertheit unter demokratischen Vorzeichen nur durch eben jene Qualifikationen legitimierbar ist. Die hier in Frage kommende Qualifikation, nämlich der erfolgreiche Abschluß eines wissenschaftlichen Studiums, kann niemals hinsichtlich seines Anspruches selbst zur Debatte stehen, sondern nur hinsichtlich seiner didaktischen und technischen Modalitäten. Die Funktion der Hochschullehrer ist also, diesen Anspruch einzufordern, das Interesse der Studenten jedoch geht folgerichtig und verständlicherweise dahin, im Hinblick auf ihre künftigen Sozialchancen diesen Anspruch möglichst zu minimieren. Daher unter anderem mag es kommen, daß Studenten immer seltener Vorschläge für neue Studienordnungen entwerfen, als vielmehr solche Regelungen überhaupt zu verhindern trachten, da ja eine unstrukturierte Studiensituation für die Minimierung des Anspruches gute Rationalisierungen abgibt. Man darf sich hierbei nicht durch Ideologisierungen - auch nicht durch "links-radikale" - täuschen lassen; diese sind weitgehend eine Funktion jenes sozialen Interesses. Für die unmittelbare Kommunikation zwischen Dozenten und Studenten folgt aus diesem Widerspruch eine funktional bedingte Distanz etwa von der Art, daß der Dozent nicht nur ein prinzipieller Gegner jenes studentischen Interesses ist, sondern konkret die Studenten auch immer als Menschen mit falschem Bewußtsein behandeln muß. Im Binnenverhältnis kann Solidarität eigentlich nur darin bestehen, daß auch der Dozent sein Bewußtsein als falsch, d. h. der weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung bedürftig ansieht und sich gemeinsam mit den Studenten

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den Regeln wissenschaftlichen Arbeitens fügt. Dieser Interessen- bzw. Funktionswiderspruch ist nicht nur nicht in die Reformmodelle eingearbeitet worden, diese gehen vielmehr von der mittelständisch-ideologischen Fiktion aus, daß alle Hochschulangehörigen sich weitgehend den Aufgaben des Gemeinwohls zuwenden würden. Aber das Gemeinwohl - was immer das sein mag - zur Geltung zu bringen, kann nur die Aufgabe einer Instanz sein, die selber nicht unmittelbar in die Interessen- und Funktionswidersprüche einer partikularen Institution verwickelt ist: einer staatlichen Instanz. Die Studenten greifen auf ihre Weise nur die Fiktion vom Gemeinwohl auf, wenn sie ihre partikularen Interessen an der Hochschule auf radikale Totalkonzepte wie "Gesellschaftsänderung" oder "Anti-Kapitalismus" verlängern. Hier hätte das "gewerkschaftliche" Modell der von vornherein partikularen Interessenvertretung die Widersprüche deutlicher und die Positionen klarer gemacht und wäre somit sicher auch dem Gemeinwohl eher zugute gekommen.

2. Der Zwang zur Mitbestimmung in den Hochschulorganen hat gerade dort, wo das Quorum besonders hoch ist (Drittelparität), die Hochschullehrer faktisch aus der Verantwortung für die studentischen Bedürfnisse und Interessen entlassen. Wenn die Studenten unzufrieden sind, können sie ja nun durch eigene Macht den Gremien Vorschläge unterbreiten und sie durchsetzen lassen, zumal man ihnen - angesichts des partikularen Interesses widersinnigerweise - gerade für Studienkommissionen die höchsten Quoren zugebilligt hat. Damit jedoch sind die studentischen Vertreter in ihrer Mehrheit überfordert. Denn vom Formulieren eines Unbehagens bis zur Vorlage von plausiblen, zweckmäßigen, rechtlich haltbaren und für große Zahlen von Studenten und Dozenten organisierbaren Vorschlägen ist ein weiter Weg, der notwendig durch Phasen mühsamer und disziplinierter intellektueller Arbeit auch von einzelnen führt. Viele Studentenvertreter neigen deshalb dazu, ständig zwischen der Rolle eines Gewerkschaftlers und eines mitbestimmend Verantwortlichen zu wech-

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seln. Vor allem aber erklärt sich unter anderem so die Tendenz zu steigender Sitzungsdauer in fast allen Gremien. Es herrscht - auch bei vielen Hochschullehrern - die fast magische Hoffnung, die Erleuchtung werde kommen, wenn nur genügend viele Leute genügend lange beieinander sind und reden, was ihnen gerade in den Sinn kommt.

3. In dem Maße, wie die Studenten, anstatt ihre wirklichen Interessen zu reflektieren und zu organisieren, nun einer Vielzahl von zum Teil in sich widersprüchlichen Kompetenzanforderungen, Gesichtspunkten und Leistungserwartungen in den Selbstverwaltungsgremien ausgesetzt sind, stellt sich ein Syndrom massiver Überforderung ein. Überhaupt haben die Reformmaßnahmen nicht etwa neue Kompetenzen, persönliche Verantwortungen, institutionelle Regelungen oder Rollendefinitionen geschaffen, sondern nur die vorher vorhandenen außer Kraft gesetzt. Die härteste Folge der daraus resultierenden unstrukturierten, aber totalen Kommunikation aller gegen alle ist eine Art von vor-vergesellschaftetem Sozialzustand mit allen Zügen einer pathologischen Gruppendynamik. Immer wieder muß vom Nullpunkt aus angefangen werden, kaum also gibt es eine Kontinuität von Willensbildungen und Beschlüssen. Unmittelbar nach einem Beschluß steht das Beschlossene erneut zur Disposition. Jeder ist ständig neu gezwungen, sich in den Gremien selbst zu inszenieren, seine Position zu bestimmen, sich den radikalisierten Konkurrenzansprüchen aller anderen zu widersetzen. Wer die anthropologische Funktion außersubjektiver gesellschaftlicher Regelungen studieren will, hat an unseren Hochschulen heute eine einmalige Gelegenheit dazu. Diese barbarisierte Sozialsituation zwingt alle Beteiligten zu Abwehrmechanismen, wobei es gleichgültig ist, daß die Professoren dabei im allgemeinen andere bevorzugen als die Studenten. Was bleibt unter diesen Umständen zum Beispiel Studenten in einer Berufungskommission anderes übrig, als in ideologische Ressentiments auszuweichen - wenn dadurch gegen die sachlich ja meist kompetenteren Professoren ein Konkurrenzausgleich geschaffen werden kann - und von

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den Kandidaten bestimmte Phrasen zu erwarten, die diese übrigens in der Regel taktisch bereits souverän zu nutzen wissen. Wo solche Vorgänge rationaler und reflektierter ablaufen, hängt das meist an einigen Personen auf beiden Seiten und steht mit diesen ebenfalls jederzeit zur Disposition. Jede Art von Planung und Kontinuität ist in diesem System unmöglich geworden, und zum Nachdenken und zur Reflexion kommt nur noch der, der sich ihm weitgehend entzieht. Vermutlich kumuliert die sozialpsychologische Radikalisierung in den Gremien mit bestimmten bürgerlich-kleinbürgerlichen Dispositionen der Hochschullehrer und Studenten, die im Rahmen ihrer bisherigen Sozialisation erworben wurden. In ihrem Sozialisationstypus spielen ja bekanntlich individuelle Konkurrenz und persönliche Selbstdarstellung eine große Rolle. Wie dem auch sei, eine Verbesserung der Misere ist nur zu erreichen, wenn die Hochschulverfassungen die simpelsten politischen Erfahrungen zur Kenntnis nehmen und dafür sorgen,

a) daß sich Macht bilden kann, die von den gewählten Machtträgern persönlich gegenüber den Wählern verantwortet werden muß;

b) daß wie in Parlamenten zwischen Machtträgern und Kontrolleuren der Macht personell wie institutionell unterschieden wird;

c) daß klare Parteibildungen im Kampf um die Macht möglich werden. Das viel umstrittene niedersächsische Vorschaltgesetz hat dies durch die Vorschrift der Listenwahl zu erleichtern versucht. Aber da es die Punkte a) und b) vernachlässigte, schaffte es auch wenig Anreiz für einen Kampf um die Macht; wirklich etwas zu sagen hätte ja sowieso niemand. Außerdem ist die Frage, ob die reale Interessenlage wirklich für unterschiedliche Parteiungen und für alternative Konzepte ausreichen kann. Zudem stehen Professoren wie Studenten dem Anspruch der Politisierung im praktischen Sinne immer noch gleich fassungslos gegenüber.

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60. Pädagogische Konsequenzen (1968)

(In: Veränderte Jugend - gewandelte Erziehung. Bericht über die Tagung des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages in Kiel vom 15. bis 17. Mai 1968 = Neue Schriftenreihe des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages Heft 19/1968, S. 47-59)
 
 

Wir haben heute zum Problem der modernen Jugend zwei Fachwissenschaftler gehört, die uns aus ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Sicht den Stand der Forschung vorgetragen haben. Mühelos hätten wir die Zahl der Redner und damit die Zahl der wissenschaftlichen Perspektiven noch erweitern können: Soziologen, Mediziner, Biologen, Historiker, Psychoanalytiker, Anthropologen, kurz: alle Humanwissenschaften haben uns Pädagogen heute eine Reihe von wichtigen Daten und Perspektiven mitzuteilen; und da die Forschung unablässig weiter fortschreitet, werden sie uns morgen und übermorgen wiederum Neues und Wichtiges zu sagen haben.

Damit ist auf uns Pädagogen ein Problem zugekommen, das sicher nicht nur mir, sondern Ihnen allen seit geraumer Zeit Unbehagen bereitet: Wie können wir das, was jene Wissenschaften uns an Material immer neu bereitstellen, noch zur Kenntnis nehmen, intellektuell verarbeiten, und auf die Probleme unserer Praxis übersetzen? Leben wir nicht ständig in der Besorgnis, das, was wir praktisch tun, mit einem rückständigen Bewußtsein zu tun?

Und selbst wenn wir uns Mühe geben, auf dem laufenden zu bleiben: wie können wir sicher gehen, daß das, was wir uns aneignen, nicht zufällig ist, gar nicht das Wichtige sondern das Nebensächliche? Selbst für jemanden, der hauptberuflich Wissenschaftler ist, ist es nicht mehr möglich, die Entwicklung der Jugendforschung auf mehr als einem oder zwei Spezialgebieten noch zuverlässig zu verfolgen. Um wieviel weniger vermag dies jemand, der Tag für Tag an der vielberufenen "pädagogischen Front" steht und kaum Zeit hat, sich weiter zu informieren. Kann man es den vielen unter uns übelnehmen, die angesichts dieser Lage ihre alten pädagogischen Vorstellungen zur Ideologie verhärten, um beruflich weiterhin vor sich selbst bestehen zu können?

Ich möchte aus dieser Verlegenheit drei Probleme ableiten und im folgenden kurz darstellen.

1 Wir benötigen offenbar ein neues pädagogisches Orientierungsmodell, eine Theorie des Jugendalters; dieses Modell muß offenbar dynamisch, offen sein, und kann nicht mehr aus einer Summe ein für alle mal gelernter Daten und Zusammenhänge bestehen. Präziser formuliert: Wir können keine Theorie mehr brauchen, die uns sagt, was das Jugendalter ist, sondern nur eine solche, die uns ermöglicht, neue Forschungen und ihre Ergebnisse im Hinblick auf unsere pädagogische Praxis produktiv zu organisieren.

2. Wir müssen den ständigen Transfer der Forschungsergebnisse auf unsere Praxis hin systematisch organisieren, und können ihn nicht mehr dem Zufall überlassen. In den letzten Jahren ist mit Recht immer wieder betont worden, daß die Erziehungswissenschaft empirisch werden müsse; mindestens eben so wichtig - nach meiner Meinung sogar noch wichtiger - wäre

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aber, das, was andere Wissenschaften längst erforscht haben, für die pädagogische Praxis nutzbar zu machen, auf pädagogische Handlungsfelder hin zu übersetzen. Ich gehe so weit, zu behaupten, daß gerade dies letztere die primäre Aufgabe einer modernen Erziehungswissenschaft geworden ist.

3. Wir müssen offenbar die Fortbildung unserer pädagogischen Mitarbeiter in ganz anderer Weise als bisher organisieren, und zwar auch in didaktischer Hinsicht, wenn wir diese Fortbildung nicht dem bloßen Zufall überlassen wollen.

Ich könnte mir vorstellen, daß Sie inzwischen den bösen Verdacht haben, ich sei drauf und dran, mein Thema zu verfehlen: statt von einer Pädagogik des Jugendalters ist immer mehr von den Problemen moderner Wissenschaftskommunikation die Rede. Aber ich hoffe zeigen zu können, daß beides heute aufs engste zusammenhängt.

Nun zum ersten Problemkreis, zum Problem einer pädagogischen Theorie des Jugendalters. Das erste, was wir tun müssen, ist, daß wir uns auf unseren zentralen Leitgesichtspunkt wieder besinnen, um uns von der falschen Eifersucht zu befreien, daß die genannten modernen Humanwissenschaften uns dauernd ins Handwerk pfuschen. Dabei müssen wir, so schmerzlich es uns ankommen mag, uns von der überlieferten Vorstellung lösen, der Pädagoge habe sich um das totale Heil des Kindes bzw. Jugendlichen zu kümmern, Pädagogik sei eine Lehre vom richtigen Kind- und Jugendlichsein. Zwar waren es geschichtlich gesehen gerade die Lehrer und Sozialpädagogen, die nicht nur für eine Modernisierung der Erziehung eintraten, sondern auch für die wirtschaftliche und politische Emanzipation des Kindes und Jugendlichen und gegen seine wirtschaftliche Ausbeutung und sonstige Vernachlässigung. Der Kampf gegen die Kinderarbeit ist dafür ein besonderes illustratives Beispiel. In der bekannten Verpflichtungsformel - gewissermaßen dem hippokratischen Eid der Pädagogik -, daß der Erzieher für das ganze Wohl des Kindes verantwortlich sei und für dieses Wohl nach außen stellvertretend einzutreten habe, steckt eine imponierende geschichtliche Leistung der Pädagogen: der Gesellschaft und dem Staat das Recht des Kindes und Jugendlichen nicht nur auf Erziehung, sondern auf ein menschenwürdiges Dasein im Ganzen aufgezwungen zu haben. Dieser lange Zeit von Pädagogen allein oder hauptsächlich geführte Kampf hat inzwischen insofern zu einem prinzipiellen Erfolg geführt, als diese Rechte des Kindes und Jugendlichen von unserer Gesellschaft und unserem Staat, der seine Grundrechte auch den Kindern gewährt, im ganzen anerkannt wurden.

Natürlich ist dieser Kampf noch keineswegs abgeschlossen; gerade die Praxis, die Sie zu vertreten haben, beweist leider noch allzu häufig, wie desinteressiert Staat und Gesellschaft immer noch gerade an denjenigen jungen Menschen sind, die Hilfe am meisten nötig hätten. Aber in einer demokratischen Gesellschaft kämpfen wir für die Rechte dieser Kinder und Jugendlichen nicht als Pädagogen , sondern als Staatsbürger - wenn

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auch als solche Staatsbürger, die aufgrund ihrer besonderen Berufserfahrungen hier über besonders gute Informationen verfügen. Diese Unterscheidung von Pädagoge und Staatsbürger erfolgt nicht aus Spitzfindigkeit, sondern weil sie sozialpolitische Konsequenzen hat: Unsere Gesellschaft hat nämlich offensichtlich die Tendenz, die Sorge um Schwererziehbare, Kriminelle oder heilpädagogischer Maßnahmen Bedürftige dadurch zu verdrängen, daß sie sie einem bestimmten Berufsstand überträgt. Dies dürfen wir durch unser eigenes pädagogisches Selbstverständnis nicht auch noch unterstützen!

Unter den Bedingungen unserer demokratischen Gesellschaft sind wir Pädagogen ein spezieller Dienstleistungsberuf geworden, der sich um eine partikulare menschliche Problematik zu kümmern hat, nämlich Lernhilfen zu geben; daß wir politisch, als Staatsbürger für die Rechte der Zukurzgekommenen in unserer Gesellschaft eintreten - keineswegs nur für unsere Kinder - dies ist nichts für uns Spezifisches mehr, sondern verbindet uns mit Ärzten, Journalisten, Politikern, Studenten, kurz: mit allen anderen Staatsbürgern.

Welches ist nun der partikulare Leitgesichtspunkt unseres Dienstleistungsberufes? Es handelt sich darum, daß wir für unsere Kinder und Jugendlichen Lernen optimal zu organisieren haben. Wir sind Lernhelfer, das ist unser Beruf. Ich vermeide bewußt den Begriff "Erziehung" als obersten pädagogischen Leitbegriff, weil er im deutschen Sprachgebrauch mit einer Reihe sehr problematischer Assoziationen verbunden ist. Auch der Begriff "Lernen" ist nicht unproblematisch; entweder denkt man dabei an das Pauken von Wissensstoffen in der Schule oder an Lernmaschinen. Ich gebrauche den Begriff in einem weiten Sinne, etwa so, wie ihn die moderne pädagogische Psychologie verwendet, wenn sie statt von "Begabung" von "Lernfähigkeit" spricht. Unter Lernen soll verstanden sein die produktive und auf Förderung angewiesene Kraft des Menschen, Vorstellungen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten aufbauen bzw. verändern zu können. Die weite Auslegung des Begriffs rechtfertigt sich dadurch, daß bekanntlich die eben genannten verschiedenen Lernleistungen eng miteinander verflochten sind und einander bedingen.

Nun ist Lernen als Gegenstand der Forschung ja keineswegs nur eine Sache der Pädagogik, sondern auch anderer Wissenschaften; unsere Spezialität ist - wie schon gesagt - , daß wir von berufswegen Lernen zu organisieren und wissenschaftlich zu überprüfen haben.

Ferner wird gelernt ja nicht nur in den von uns eigens dafür eingerichteten Institutionen wie Schule oder Heim, sondern auch in den sogenannten Sozialisationsfeldern wie Familie, Gruppe der Gleichaltrigen, Freizeitsystem einschließlich Massenkommunikation, Betrieb usw. - oder, wie man früher sagte: nicht nur intentional, sondern auch funktional. Diese Tatsache ist für uns von größter Bedeutung. Wir können nämlich in unseren Schulen oder Heimen nur dann Lernen vernünftig organisieren, wenn wir über die Lernwirkungen der Sozialisationsfelder genügend informiert sind. Leider ist die Sozialisationsforschung - von der frühen Kindheit vielleicht abgesehen -

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noch äußerst mangelhaft. Aber soviel läßt sich heute doch mit einiger Sicherheit sagen: die einzelnen Lernfelder scheinen heute weitgehend unaustauschbar zu sein. Alle für das Heranwachsen wichtigen Lernleistungen sind nicht mehr an einer einzigen Stelle in unserer Gesellschaft organisierbar. Das bedeutet z. B. für unsere Heimerziehung, daß sie sich weit nach außen öffnen und sich hüten muß, an ihrer eigenen Unzulänglichkeit steril zu werden. Schon Kinder und erst recht Jugendliche brauchen zu ihrer Entwicklung die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im weitesten Sinne des Wortes. Weder die Schule noch das Heim dürfen diese Leben ersetzen wollen, die Aufgabe des Heimes besteht z. B. sehr viel mehr darin, die Erlebnisse und Erfahrungen der Teilnahme am wirklichen Leben zu ordnen, zu deuten, zu interpretieren. Das gilt selbst für Schwererziehbare und Kriminelle; auch ihnen ist nicht damit geholfen, daß man sie einfach in Heime steckt, wie aufopfernd auch immer sich das pädagogische Personal dort einsetzen mag. Lediglich für eine gewisse Zeit mag die Geborgenheit des Heimes sinnvoll sein, z. B. dann, wenn es darum geht, jungen Menschen eine Entlastung von dem Druck der Lebensanforderungen zu gewähren, denen sie noch nicht gewachsen sind.

Um es also noch einmal zu betonen: Wir Pädagogen haben keine säkularisierten Heilslehren des optimalen Kind- und Jugendlichseins anzubieten, sondern die Aufgabe, diejenigen für Kinder und Jugendliche notwendigen Lernleistungen zu organisieren und zu ermöglichen, die nicht von selbst, also durch Teilnahme am gesellschaftlichen und familiären Leben, zustande kommen.

Nun bleibt der bisher verwendete Begriff von Lernen noch sehr formal und inhaltsleer, solange wir ihn inhaltlich nicht näher bestimmen. Lernen kann man schließlich sehr vieles, auch Kriminelle lernen etwas dazu, wenn sie erfolgreich agieren. Wir brauchen also kritische Gesichtspunkte, von denen her wir die tatsächlichen und die von uns beabsichtigten Lernwirkungen überprüfen können. Ich möchte deren drei vorschlagen: Den historisch- politischen, den gesellschaftlich-aktuellen und den biographischen Gesichtspunkt.

Der historisch-politische Gesichtspunkt zielt auf Leitvorstellungen wie "Mündigkeit", "Autonomie", "Personalität", "Ich-Stärke" und andere ähnliche Begriffe, die als Leitvorstellungen überhaupt nur historisch zur verstehen sind, nämlich als Widerspiegelungen des Demokratisierungsprozesses bzw. gar als seine subjektive Seite. Daß der Mensch lernen solle, sich von der Herrschaft von Menschen über Menschen sowie von der Herrschaft durch die Natur soweit wie möglich zu emanzipieren - dies ist die pädagogische Begleitmusik zu den politischen Vorgängen der Emanzipation in der neueren Geschichte. Die Würde der Person, von der unser Grundgesetz spricht, wäre bloße, jederzeit widerrufliche Willkür, wenn wir sie nicht als einen geschichtlichen Auftrag verstehen würden, der jederzeit politisch wie pädagogisch aktualisiert werden muß. Es scheint mir dringend nötig, den historisch-politischen Kern jener pädagogischen Begriffe wieder ins Bewußtsein

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zu heben, weil sie in den letzten Jahrzehnten allzuoft zum Inhalt eines geschichtslos verstandenen pädagogischen Ethos zu werden drohten. Um diesen zunächst abstrakten Gedankengang am Beispiel der Heimerziehung zu konkretisieren: Was von dem, was wir als erzieherische Gewalt in unseren Heimen anwenden, ist nötig, um unseren Partnern Ich-Stärke und Souveränität zu ermöglichen, und was davon ist überflüssig, entspringt irgendwelchen Vorstellungen darüber, wie unsere Partner zu sein oder zu werden hätten? Nicht nur für das Heim, sondern auch für die Schule könnten wir unter diesem kritischen Gesichtspunkt heute eine Reihe sehr unangenehmer Fragen stellen. Oder ein anderes Beispiel: Immer noch gilt weithin in der Fürsorgeerziehung als Erfolgskriterium, ob der junge Mensch anschließend betriebstreu bleibt, also seinen Arbeitsplatz möglichst nicht wechselt. Anderseits aber ist gerade berufliche Mobilität zu einem wichtigen demokratischen Recht geworden. Die rebellischen Gruppen der Schüler und Studenten berufen sich nicht zufällig auf diesen historischen Anspruch, und das Unverständnis, das ihnen entgegentritt, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, daß die Älteren diese geschichtliche Dimension der Demokratisierung vergessen haben.

Der zweite kritische Gesichtspunkt, unter dem wir die Lernleistung junger Menschen zu überprüfen haben, ist der gesellschaftlich-aktuelle. Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit ihren künftigen Tendenzen verlangt von Jugendlichen ganz bestimmte Lernleistungen ( = Anpassungsleistungen). Denken wir nur an die Anforderungen, die heute und morgen aus dem Berufs- und Freizeitbereich erwachsen! Diese kritische Perspektive ist in den letzten Jahren in den Vordergrund getreten, und zwar unter dem Eindruck und Einfluß funktionaler soziologischer Modelle. Hier lautet die Frage: Was ist für unser modernes gesellschaftliches System systemgerecht? Ist es systemgerecht, wenn in unseren Lesebüchern von Pferden statt von Traktoren die Rede ist? Wenn wir handwerkliche Ausbildung für die Industrie betreiben? Wenn wir klassische Literatur statt Fernsehsendungen analysieren usw. Fast alle Vorwürfe gegen den Modernitätsrückstand unserer Erziehung werden von dieser Perspektive her formuliert. So wichtig sie auch ist, sie darf nicht verabsolutiert werden.

Der dritte Gesichtspunkt schließlich ist der biographische oder der der je einzelnen Lebensgeschichte. Seit jeher spielte er im Bereich der Fürsorgeerziehung eine große Rolle, hat aber keineswegs nur hier seinen Ort. In Ergänzung zu den beiden anderen Gesichtspunkten erinnert er uns daran, daß Lernen ein je individuelles Phänomen bleibt, eine je individuelle Leistung; daß wir es nicht mit abstrakten Jugendlichen zu tun haben, sondern mit je konkreten, die ihre je eigenen Probleme haben, mit denen sie fertig werden müssen und die niemand für sie stellvertretend lösen kann. In die Reichweite dieser Kategorie gehört auch die schwerwiegende und bisher wissenschaftlich noch weitgehend offene Frage, welche Lernleistungen im Laufe einer Biographie irreversibel sind, z. B welche frühkindlichen Dispositionen später noch durch neue Erfahrungen umgestoßen werden können.

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Diese drei Beurteilungskriterien müssen nicht miteinander übereinstimmen, sie können sich vielmehr widersprechen und werden sich in der Regel sogar widersprechen. Ich will das hier im einzelnen nicht durchspielen. Angemerkt sei nur noch, daß diese drei Kategorien nicht nur das kritisch ermitteln müssen, was tatsächlich gelernt wurde, sondern auch das, was nicht gelernt wurde, aber eigentlich hätte gelernt werden müssen. Bekanntlich hat man gerade in den jüngsten Definitionen zur Verwahrlosung zu solchen Negativ-Bestimmungen gegriffen. Man hat Verwahrlosung z. B. als ein Syndrom von Lerndefiziten bestimmt: etwa als das Nichtgelernthaben von Autonomie und Initiative (Mollenhauer), oder als das Nichtgelernthaben, Mißerfolgserlebnisse erfolgreich zu kompensieren (Thiersch).

Nach diesen Vorüberlegungen können wir die Lernaufgaben des gegenwärtigen Jugendalters etwas weiter konkretisieren. Ich möchte im Rahmen dieses Vortrages darauf verzichten, diesen Katalog mit den voraufgegangenen Überlegungen systematisch zu verschränken und Sie vielmehr bitten, diesen Katalog als einen pragmatisch begründeten zu verstehen. Selbstverständlich müßten diese Lernleistungen auch sehr viel ausführlicher charakterisiert werden, als das hier aus Zeitgründen geschehen kann. Jede von ihnen läßt sich nämlich eigens didaktisch thematisieren.

1. Die Loslösung aus der Abhängigkeit von der Elternfamilie, bzw. aus deren Ersatzgebilde (z. B. Heim).

Wenn ich recht sehe, ist die moderne Jugendforschung sich einig darin, daß der entscheidende, durch bestimmte Lernleistungen bedingte Sprung in der menschlichen Entwicklung nicht zwischen Jugend- und Erwachsenenwelt liegt, sondern zwischen Kindheit und Jugend. In anderer Hinsicht differiert die Jugendforschung noch sehr, z. B. in der Frage, ob die Jugend charakteristische Subkulturen entwickelt, oder gar in toto eine solche darstellt oder nicht. Diese Frage können wir offenlassen. Entscheidend ist, daß, wie Eisenstadt sagt, die partikularistischen Lebensmuster der Familie ergänzt werden müßten durch die universalistischen der modernen Leistungsgesellschaft. Wer diese Leistung nicht erbringt, bleibt in einem präzisen Sinne des Wortes sozial unreif. Nun erfolgt diese Loslösung von der Elternfamilie nicht ins Blaue hinein, als ein nur negativ zu kennzeichnender Vorgang, sondern sie setzt die Möglichkeiten frei, nicht-familienähnliche Beziehungen stabil eingehen zu können.

Hier machen wir in der Erziehung immer noch schwere Fehler, weil uns oft nicht bewußt ist, daß die uns überlieferten Modelle des pädagogischen Bezugs im Grunde alle mehr oder weniger modifizierte Familienmodelle sind. So sprechen wir nicht zufällig von "Heimeltern" oder vom "Herbergsvater", und sogar die handwerkliche Berufsausbildung ist bis weit in unser Jahrhundert hinein als Vater-Sohn-Verhältnis verstanden worden. Und selbst im heute immer noch vorherrschenden Selbstanspruch des Lehrers, er sei für das ganze Wohl des Schülers verantwortlich, spielt dieser Gedanke unaufgeklärt noch eine Rolle. Dem Heranwachsenden erweist man damit

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einen schlechten Dienst, weil man ihn nicht die heute gebotene Rollendifferenzierung lernen läßt: daß der Lehrer kein Vater, der Lehrmeister kein Lehrer, die Freundin keine Schwester, und der Heimerzieher kein Freund ist usw. Nichts von dem, was wir heute pädagogisch organisieren, kann einfach die Fortsetzung der elterlichen Erziehung mit anderen Mitteln sein.

2. Die Aufnahme von Beziehungen zum anderen Geschlecht in einer Skala von "sehr intim" bis "sehr distanziert".

Das Lernen differenzierter sozialer Beziehungen ist sehr viel schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Selbst wir Erwachsenen haben gelegentlich nicht unerhebliche Mühe damit. Vor allem ist es sehr schwer, solche Lernleistungen zu organisieren; daher unsere Vorliebe für familienähnliche oder kleingruppenhafte Sozialformen. Sie lassen sich z. B. in Heimen herstellen, aber ihr Ertrag an sozialem Lernen kann nicht über den Rahmen der Sozialsituation hinauszielen, für den er gilt: informell-distanzierte Verhaltensweisen kann man nicht in formell-intimen Situationen lernen. Ich sehe keine andere Möglichkeit für unsere Heimerziehung, als mit der Tatsache ernst zu machen, daß ein Heim nicht nur ein erzieherisch konstruierter Binnenraum ist, sondern auch eine öffentliche, gesellschaftliche Institution, die als solche auch von den Erziehern repräsentiert werden muß. Die Heimleitung muß die damit vorgegebenen Rollen auch gegenüber den Jugendlichen klar ausspielen (z. B. die Tatsache, daß der Heiminsasse immer auch einer komplizierten Bürokratie gegenübersteht, darf nicht schamhaft verschwiegen werden; besser wäre, ihn lernen zu lassen, wie man auf dem Klavier einer solchen Bürokratie heute erfolgreich spielt). Wir sollten dem Heiminsassen auch nicht vorgaukeln, sein Heim sei aus purer pädagogischer Humanität für ihn errichtet worden; wenn er seine fünf Sinne auch nur einigermaßen beisammen hat, weiß er, daß dabei ganz handfeste Interessen mit im Spiel sind, sei es seiner Eltern, des Heimträgers oder der Gesellschaft im ganzen. Ich plädiere damit nicht nur für die sogenannte Mitverwaltung der Heiminsassen, die vielleicht Sprecher wählen, um mit der Heimleitung bestimmte Dinge zu verhandeln. Ich meine vielmehr die klare Interessenvertretung nach außen, gegenüber der Gesellschaft. Es wäre unendlich viel gewonnen, wenn es uns gelänge, das oft anzutreffende diffuse, aggressive Ressentiment gegenüber der Umwelt in die Kanäle einer nüchternen, zielbewußten Interessenvertretung zu leiten, ja, überhaupt erst standfeste Interessen ins Bewußtsein dringen zu lassen. Mit diesen Hinweisen will ich folgendes andeuten: Wo immer wir Pädagogen in der Praxis zu tun haben - immer sollten wir unseren jugendlichen Partnern gegenüber jeweils diejenige Rolle auch spielen, die der tatsächlichen Sachlage entspricht. Das setzt natürlich voraus, daß wir selbst ein solches Rollenbewußtsein besitzen.

Differenziertes Rollenbewußtsein und als dessen Folge sorgfältig dosierte Emotionalität ist insbesondere wichtig für die Aufnahme von Beziehungen zum anderen Geschlecht. Ohne daß ich mich hier auf sexualpädagogische Probleme im einzelnen einlassen kann, möchte ich doch betonen, daß wir

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bisher in der Pädagogik noch keine überzeugende Möglichkeit gefunden haben, junge Menschen die differenzierten und gleichwohl erotisch durchtönten Beziehungen der Geschlechter lernen zu lassen. Natürlich ist so etwas nicht leicht zu organisieren. Traditionell neigen wir dazu, jungen Menschen anzuraten, das andere Geschlecht als potentiellen Ehepartner zu betrachten; dieser Gesichtspunkt ist aber völlig unzureichend geworden. Frei nach Tucholsky könnte man das Problem eher in die Frage kleiden: Man heiratet im allgemeinen nur eine Frau in seinem Leben; wozu sind eigentlich all die anderen da? Ich habe zu wenig Erfahrung in der Heimerziehung, um ermessen zu können, ob und unter welchen Bedingungen geselliges Leben in einem Heim möglich wäre. Ich kann nur sagen, daß ich es für eminent wichtig hielte, daß geselliger, ja gesellschaftlicher Kontakt mit Menschen außerhalb des Heimes selbstverständlich würde.

3. Das Erlernen eines Berufes, einschließlich der damit implizierten sozialen Verhaltensweisen.

Auch das Erlernen einer beruflichen Tätigkeit gehört zu den charakteristischen Lernleistungen des Jugendalters. Das hat man in der Fürsorgeerziehung immer schon gewußt, man hat sogar die Berufsarbeit als eine zentrale Möglichkeit verstanden, eine fehlgelaufene Erziehung zu korrigieren. Als einer unter anderen Gesichtspunkten bleibt er auch weiterhin gültig; aber eben nur als einer. Ich deutete schon an, daß sich gerade in der Fürsorgeerziehung noch veraltete Berufsvorstellungen halten, die sonst langsam abgebaut werden. Das trifft sowohl für die allgemeine Entideologisierung des Berufes zu, wie für die Legitimität des Berufs- und Arbeitsplatzwechsels sowie für die Abkehr von der pädagogischen Priorität der Handwerks- oder landwirtschaftlichen Berufe. Hier haben wir übrigens ein gutes Beispiel für die Inkongruenz der vorhin genannten drei kritischen Kategorien: unter dem historisch-kritischen Gesichtspunkt ist häufiger Berufs- und Arbeitsplatzwechsel durchaus sinnvoll und vertretbar; fraglich ist aber in jedem Falle, ob dies auch für den biographischen Gesichtspunkt gilt. Dieser Gesichtspunkt könnte z. B. erbringen, daß im konkreten Falle der Arbeitsplatzwechsel nicht aus einer souveränen Verfügung über die beruflichen Chancen der modernen Gesellschaft entspringt, sondern eben gerade aus innerer Ruhelosigkeit, aus in-stabilen Beweggründen. Außerdem kann die industrielle Entwicklung eine berufliche Umorientierung erzwingen (gesellschaftlich-aktueller Aspekt), für den im Einzelfall die biografischen Voraussetzungen fehlen.

4. Die Orientierung im System von Angebot und Nachfrage in der Freizeit.

Von Anfang an hat sich die Jugendpflege und Jugendfürsorge der Freizeit der Jugendlichen angenommen. Insbesondere von den Einflüssen aus Freizeit und Konsum erwartet man erziehungsfeindliche Wirkungen, und man kann durchaus einen großen Teil des jugendpflegerischen Angebots mit Resten bis in die Gegenwart hinein als ein Gegenangebot gegen das kommerzielle Freizeit- und Konsumangebot verstehen. Es gab und gibt eine Reihe von

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pädagogisch motivierten Freizeitangeboten im Unterschied zu den übrigen Konsumangeboten (z. B. musische Bildung).

Die prinzipielle Feindschaft gerade der deutschen Pädagogik gegen das System von Freizeit und Konsum, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, beginnt sich zu ändern. Welche Einstellung man immer zu den einzelnen Angeboten dieses Systems einnehmen mag, sicher scheint mir zweierlei zu sein: erstens, daß Freizeit und Konsum in Zukunft in unserem Leben schon quantitativ eine Bedeutung haben werden, die sich kaum erahnen läßt, und daß sie ganz erhebliche Lernleistungen von uns und den nachwachsenden Generationen verlangen wird; und zweitens, daß diese Lernleistungen ebenfalls nicht innerhalb der vier Wände der klassischen pädagogischen Intimsituationen wie Familie, Schule, Heim usw. erbracht werden können.

Die weitverbreitete Annahme - die z. B. auch bei der Ganztagsschule eine Rolle spielt - daß die hier nötigen Lernleistungen im Rahmen einer pädagogischen Provinz mehr oder weniger vollständig durchorganisiert werden könnten, erscheint mir geradezu als absurd. Dies muß schon daran scheitern, daß es dafür gar keine eindeutigen Vorbilder mehr geben kann. Beim Problem der Freizeiterziehung wird vielmehr besonders deutlich, was für alle anderen in Frage kommenden Lernleistungen ebenfalls gilt: daß nämlich die genuin pädagogischen Einrichtungen immer stärker zu lebensbegleitenden Einrichtungen werden müssen, in denen interpretiert werden kann, darf und muß, was außerhalb ihrer an Erlebnissen und Erfahrungen gewonnen wird. Ein Heim z. B., das den Bewegungsspielraum seiner Insassen im Hinblick auf Freizeit und Konsum derart rigoros beschneidet, wie das noch häufiger der Fall ist, muß notwendig eine Art von Hospitalismus züchten. Das, was wir selbst an Freizeitangeboten zu machen haben, hält auch qualitativ den Vergleich mit dem nicht aus, was draußen geschieht.

5. Das Erlernen der Rolle des politischen Bürgers.

Auch diese Lernaufgabe ist so evident, daß ich sie hier nur aufzuzählen brauche. Darüber ist genug gesagt und geschrieben worden. Betonen möchte ich an dieser Stelle nur, daß die politische Rolle sich nicht nur auf Ereignisse außerhalb unserer pädagogischen vier Wände bezieht, sondern wesentlich auch auf Ereignisse in ihnen. Ich deutete dies schon an, als ich von der Rolle sprach und davon, daß ein Heim auch eine öffentliche Institution ist und daß diese Tatsache Konsequenzen für die Beziehungen der darin lebenden Menschen haben muß.

6. Das Erlernen der Ich-Identität (Selbstrolle)

Alle diese Lernleistungen konvergieren in einem Problem, das sich schwer rational beschreiben läßt, weshalb man es auch mit verschiedenen Bezeichnungen belegt. Die Antwort auf die Frage: wer bin ich, die Selbstvergewisserung des Individuums, seine Ich-Identität - dies scheint eine Lernleistung zu sein, die nicht einfach als mechanisches Ergebnis der gelernten Rollen erwächst. Mit Klaus Mollenhauer könnte man hier von Selbstrolle sprechen, als derjenigen je individuellen Potenz, die einerseits das Erlernen

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der verschiedenen Rollen erst ermöglicht, andererseits aber nicht ohne Rest in sie aufgeht, bzw. in sie aufgehen darf.

Damit möchte ich den Überblick über die primär im Jugendalter heute notwendigen Lernaufgaben abbrechen. Ich bitte um Ihre Nachsicht dafür, daß dieser Überblick so oberflächlich bleiben mußte, aber es kam mir eben darauf an, den theoretischen Zusammenhang anzudeuten. Die genannten Aufgaben sind mannigfach miteinander verflochten und stellen in Wahrheit jede für sich komplexe didaktische Probleme dar. Aber wenn wir uns solche Lernperspektiven zu eigen machen, dann verfügen wir über einen Zusammenhang von Fragen, die wir sinnvoll an die anderen Humanwissenschaften und ihre Ergebnisse richten können. Außerdem könnten diese Fragen fürs erste Fortbildung sinnvoll thematisieren, die mir bisher nicht ohne Grund so wenig systematisch und zufällig erscheint. Vielleicht haben Sie den Eindruck, daß dafür das Ganze doch zu theoretisch angelegt sei.

Aber ich meine, die pädagogischen Konsequenzen, die im Wandel der Jugend und ihrer Erforschung beschlossen liegen, betreffen nicht nur unser Wissen und unser Bild von der Jugend, sondern in noch viel stärkerem Maße unsere Selbstvorstellung als Erzieher eben dieser Jugend. Und gerade im Hinblick darauf scheinen mir zwei Konsequenzen unausweichlich:

1. Unsere Beziehungen zu den jungen Menschen als ihre Erzieher sind vielschichtig und differenziert und nicht mehr im Sinne einer totalen Rolle zu verstehen, wie es in der klassischen Formulierung vom pädagogischen Bezug gemeint war. Selbst im günstigsten Falle müssen wir unseren Einfluß mit vielen anderen Instanzen teilen (z. B. mit den Sozialisationsinstitutionen).

2. Wir werden unsere Arbeit viel stärker als bisher intellektualisieren müssen. Wenn es nämlich zutrifft, daß die eben genannten Lernleistungen zur unabdingbaren Voraussetzung die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben haben, dann ist unsere Aufgabe nicht mehr, das Heranwachsen, das Mündigwerden, das richtige Jugendlichsein voll inhaltlich zu planen und in unseren pädagogischen Feldern entsprechend durchzuorganisieren, sondern vielmehr die, jungen Menschen die verschiedenartigsten Möglichkeiten des zeitweiligen Schutzes, der Geborgenheit, der Besinnung, der Reflexion, des Nachdenkens anzubieten. Die Geborgenheit unserer Heime ohne dieses didaktisch organisierte und von der Person des Erziehers dadurch distanzierte Nachdenken ist pädagogisch sinnlos und sogar gefährlich, so wie es ein nur negativer Jugendschutz wäre. Es geht nicht darum, daß wir in toto Vorbilder zu sein haben für junge Menschen - dazu verführt uns unser Ethos allzuleicht! - sondern Versionen vernünftigen Lebens mit jungen Menschen teils zu erleben und zu erfahren, in jedem Falle aber zu bedenken. Wir haben keine Legitimation mehr, junge Menschen zu Objekten unserer mehr oder weniger willkürlichen Erziehungsinhalte zu machen, sondern nur noch die Pflicht, sie zu Subjekten notwendiger Lernprozesse zu machen. Das ist kein Spiel mit Worten, sondern die Umkehrung dessen, was

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gemeinhin immer noch in der Praxis als konstitutiv für das Erziehungsverhältnis gilt.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Ich glaube, daß eine pädagogische Theorie des gegenwärtigen Jugendalters als offene, unabgeschlossene Theorie charakteristischer Lernaufgaben dieses Alters möglich ist und daß sie für unsere praktische Arbeit auch nötig ist. Man kann eine solche Theorie umfangreicher und komplizierter und weniger kompliziert formulieren, das ist nicht zuletzt auch eine praktische Frage. Ich verstehe meinen Vorschlag als ein Minimalprogramm, das sich weiter differenzieren ließe, aber wohl kaum unterschritten werden kann: sechs verschiedene Lernaufgaben wären zu korrelieren mit drei Kategorien kritischer Gesichtspunkte: dem historisch-kritischen, dem gesellschaftlich-aktuellen, und dem biographischen.

In meinem Vorschlag steckt ferner die These, daß man heute eine pädagogische Theorie des Jugendalters nicht mehr als einen Zusammenhang von definiten, abgeschlossenen Aussagen über das Jugendalter formulieren kann, sondern nur noch als eine Methode, die Fülle des wissenschaftlich Erschlossenen und noch zu Erschließenden auf die jeweilige Praxis hin zu ordnen.

Darin liegt nun, wie ich schon eingangs erwähnte, die Notwendigkeit einer permanenten Fortbildung beschlossen. Das hört sich selbstverständlich an und wird auch von niemandem bestritten. Gleichwohl wird über die didaktischen, technischen und organisatorischen Bedingungen einer solchen Fortbildung noch kaum nachgedacht. Dabei liegt es doch auf der Hand, daß die Optimalisierung der Fortbildung für alle pädagogischen Berufe heute schon wichtiger ist als die Optimalisierung der Ausbildung, um die wir uns immer noch streiten.

Ebensowenig haben wir darüber nachgedacht, auf welchem Wege wir möglichst ökonomisch an den Fortschritten der wissenschaftlichen Forschung partizipieren können. Eine unübersehbare Fülle von Literatur erscheint Jahr für Jahr, aber die für unsere Praktiker gedachten Zeitschriften wählen ohne jedes erkennbare Konzept ihre Besprechungen aus. Jahr für Jahr erscheinen - vor allem auch im Ausland - umfangreiche empirische Untersuchungen, von denen uns weder die methodologischen Finessen noch die zahllosen Tabellen und Statistiken interessieren, sondern in erster Linie die Ergebnisse; aber es gibt keine pädagogischen abstracts oder etwas ähnliches, in denen die Ergebnisse solcher Forschungen nachzulesen wären. Ich wünschte, es wäre etwas weniger von pädagogischer Empirie bei uns die Rede und etwas mehr davon, wie man das, was man längst wissen kann, für die pädagogische Praxis nutzbar machen könnte. Was nützt es uns denn, wenn wir immer mehr empirisch erforschen, was immer weniger Leute zur Kenntnis nehmen können? So gesehen, betreffen die pädagogischen Konsequenzen, von denen in diesem Vortrag die Rede ist, nicht nur die Jugendlichen und Erzieher, sondern auch die Erziehungswissenschaft selbst. Sie sollte sich nicht zu fein dafür sein, als eine Art von Zwischenhändler zu fungieren, als Transferstation, die das Wißbare umsetzt für die, die es wissen müssen. Sie sehen,

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die pädagogischen Konsequenzen, die sich aus der gewandelten Jugend in einer gewandelten Gesellschaft ergeben, werden uns alle so oder so unser Leben lang zu beschäftigen haben.

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61. Freiwillige soziale Dienste (1968)


(In: deutsche jugend, Heft 10/1968, S.443-452)
 

Vor einigen Wochen entdeckte ich während eines Urlaubs an einer neugebauten österreichischen Volksschule folgenden in Stein gemeißelten Spruch: "Mein lieber Bub, mein liebes Mädel, bleib fröhlich, fromm und treu, so wird durch gute Kinder die Welt noch einmal neu." In diesem Spruch kommt ein pädagogischer Optimismus zum Ausdruck, der - wenn auch in weniger naiven Formulierungen - immer noch unser Verhältnis zum Kindheits- und Jugendalter erheblich beeinflußt. Wir neigen dazu, Fehler und Unzulänglichkeiten unseres Lebens, die zu meistern wir längst selbst resigniert haben, als Hoffnung auf die nachwachsende Generation zu übertragen.

Auch bei den vielfältigen Begründungen für die freiwilligen sozialen Dienste spielen diese Motive eine - wenn auch meist unbewußte - Rolle: Wir leben in einer durch die Gesetze des Marktes und das heißt durch das seelenlose Phänomen des Geldes konstituierten kapitalistischen Erwerbsgesellschaft; aber diese Gesellschaft erzeugt in uns Schuldgefühle, weil wir insgeheim wissen, daß die Marx'sche Polemik, alle zwischenmenschlichen Verhältnisse seien in Geldverhältnissen ausdrückbar, nach wie vor zutrifft. Und wir wissen, daß wir ohnmächtig dagegen sind, hoffen aber, die Nachwachsenden könnten dies ändern: Sie sollen dem Nächsten dienen - ohne Entgelt. Genaugenommen wendet sich diese Illusion dann aber doch in ein Alibi: In Wahrheit nämlich wollen wir gar nicht, daß die Jugendlichen, denen wir freiwillige soziale Dienste ansinnen, dieses Ethos als Erwachsene auch durchhalten, sondern wir erwarten, daß sie danach die drei Grundsäulen unserer industriellen Leistungsgesellschaft, nämlich "Arbeit", "Eigentum" und " Triebverzicht" bzw. "Triebaufschub", möglichst undiskutiert anerkennen, ja, unsere ganze Erziehung ist schließlich doch auf dieses Endziel ausgerichtet. Wie wäre sonst der blanke kollektive Haß gegen die Gammler zu erklären, die doch niemandem etwas zuleide tun, die nur jene drei Grundsäulen unserer Gesellschaft für sich nicht anerkennen, und dies vermutlich auch nur auf Zeit? Sie leisten keine Arbeit oder höch-

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stens soviel, daß sie gerade zu leben haben; sie verzichten auf privates Eigentum und sie wollen, was mit jenen beiden Faktoren zusammenhängt, heute glücklich leben und ihren Anspruch auf Glück nicht auf unabsehbare Zeit vertagen, wozu sie fremdbestimmte Arbeit und der Erwerb eines möglichst großen privaten Eigentums zwingen würden. Wer den großartigen Fernsehfilm "Herbst der Gammler" gesehen hat, dem mußte es eiskalt den Rücken herunterlaufen angesichts der unverhüllten Haßreaktionen des spontan gefilmten und interviewten Publikums. Aber hätte man dieselben Menschen gefragt, ob sie freiwillige soziale Dienste befürworten, die meisten von ihnen hätten diese Frage sicher bejaht. Einige der Interviewten forderten spontan, die Gammler in Zwangsarbeitslager zu stecken. Zwischen dem Bild von einer humaneren Gesellschaft, wo der Mensch des Menschen Freund ist, und den Ersatzgötzen eines solchen Bildes gibt es offenbar nur einen schmalen Grat.

Dazu kommt ein weiterer Aspekt, der die Problematik freiwilliger sozialer Dienste in unserer Gesellschaft kennzeichnet. In unserer hochorganisierten Gesellschaft ist Hilfe für den notleidenden Nächsten, wenn wir ihn nicht persönlich kennen, im allgemeinen nur durch die abstrakten Vermittlungen dieser Gesellschaft möglich, durch Organisation, Geld und "Profis". Wir zahlen Geld auf das Konto einer Organisation, die Hilfsbedürftige ermittelt und deren Not durch professionelle Mitarbeiter lösen läßt, denen sich von Fall zu Fall freiwillige Helfer anschließen Dies ist eine "Entfremdung" der Nächstenliebe, die wir auch als solche erfahren In unserem durch Jahrhunderte der Tradition geprägten Gewissen empfinden wir diesen Ersatz als Schuld - wiederum als eine Schuld, die wir gleichsam stellvertretend durch junge Menschen tilgen lassen wollen: wenigstens diese sollen noch direkt dem Nächsten in der Not gegenübertreten, wenn man sie auch zu diesem Zwecke durch die Trägerorganisationen erst an die richtige Adresse vermitteln muß.

Meine Skepsis gegen die freiwilligen sozialen Dienste richtet sich also nicht dagegen, daß wir von der nachwachsenden Generation eine Humanisierung der menschlichen Beziehungen erhoffen - dies bleibt in der Tat fast unsere einzige weltliche Hoffnung in dieser Sache - , sie wendet sich vielmehr dagegen, daß wir von der jungen Generation insgeheim eine stellvertretende Schuldtilgung erwarten, weil wir nicht bereit sind, die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen zu ziehen, die im Gedanken der freiwilligen sozialen Dienste impliziert sind. Überspitzt aus gedrückt: Wir begnügen uns damit. einer kleinen Minderheit unserer Jugend "auf Zeit" eine humane Gesinnung und Praxis zu erlauben, damit wir die für eine allgemeine Verbreiterung der Humanität in der Welt nötigen politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen nicht zu ziehen brauchen. Solange das so bleibt, solange wir zum Beispiel einerseits soziale Dienste sogar für die Entwicklungsländer fordern, andererseits aber Demonstrationen für das Ende des Völkermords in Vietnam von der Polizei zusammenschlagen lassen, solange einige der Politiker, die freiwillige soziale Dienste empfehlen, sich auf der Haßwelle gegen die Gammler fort tragen lassen - so lange muß der Verdacht bestehen bleiben, bei der Empfehlung zu freiwilligen sozialen Diensten handele es sich nicht nur um Heuchelei, sondern auch um einen Versuch, den kritischen Anfragen der jungen Generation an unsere Gesellschaft ein Feld zuzuweisen, bei dem folgenlose Gesinnung wichtiger ist als folgenreiches Nachdenken.

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Niemand kann im Ernst etwas dagegen haben, wenn Menschen Menschen helfen. Aber ich finde, wir sollten eine solche Erwartung an uns alle richten und nicht nur oder auch nur bevorzugt an die junge Generation. Es ist schwer einzusehen, daß junge Menschen ein Jahr ohne Lohn arbeiten sollen, wenn in derselben Zeit jeder Erwachsene seinen privaten Reichtum zu vermehren trachtet.

Aber wenden wir uns nun den einzelnen Aspekten des Themas zu. Da geht es zunächst darum, die wichtigsten Begründungsebenen zu unterscheiden und gesondert zu prüfen. Sie lassen sich als die soziale, die sozialpolitische, die berufspolitische und die pädagogische unterscheiden. Dabei brauche ich nicht eigens zu betonen, daß diese verschiedenen Ebenen tatsächlich natürlich zusammenhängen und nur aus analytischen Gründen getrennt werden können. (Ich konzentriere mich im folgenden auf die inländischen sozialen Dienste und klammere die Dienste in Entwicklungsländern aus, weil für diese eine Reihe anderer Gesichtspunkte maßgebend waren.)

Die soziale und die sozialpolitische Begründung

In der sozialen Begründung geht es darum, in Not befindlichen Menschen unmittelbar zu helfen. Man geht mit Recht davon aus, daß selbst die beste Sozialgesetzgebung und die beste Praxis der sozialen Hilfe nicht lückenlos alle Fälle der Not erreichen kann, zumal es sich nicht nur um materielle Not handelt, sondern auch um die Befriedigung von Kontaktbedürfnissen und um Bedürfnisse der mitmenschlichen Kommunikation überhaupt.

Es scheint mir richtig, diese Probleme zu sehen und für sie Lösungen zu finden. Aber ich sehe nicht recht ein, warum hier nur Jugendliche angesprochen werden sollen. Außerdem taucht hier bereits ein Problem auf, das bei den übrigen Gesichtspunkten ebenfalls eine Rolle spielt: Freiwillige Mitarbeiter, die Laien sind, können mangelhafte Ausgaben auf diesem Gebiet ebensowenig ersetzen wie einen Mangel an hauptberuflichem, optimal ausgebildetem Personal. Wir müssen sehr genau die Grenzen dessen markieren, was von der Sache her eine Aufgabe speziell ausgebildeter und mit hinreichenden Mitteln ausgestatteter "Profis" ist, und was unausgebildete, zu sozialen Laiendiensten bereite Menschen leisten können. Soziale Hilfe ist eine zu ernste und wichtige Sache, als daß sie dilettantisch betrieben werden dürfte. Die Begründung zudem, junge Menschen müßten durch solche Dienste erfahren, daß unmittelbare persönliche Hilfeleistung auch heute noch nötig sei - so argumentierte der erste Jugendbericht der Bundesregierung - , scheint mir so lange nicht einleuchtend zu sein, wie die Erwachsenen sich selbst davon ausnehmen. Die müßten es offenbar genauso lernen.

Neben der sozialen findet sich die sozialpolitische Begründung: solche freiwillige Dienste seien notwendig, um den katastrophalen Mangel an Personal in sozialpädagogischen und pflegerischen Berufen auszugleichen. Diese Begründung ist uns ja auch aus den Zeiten des Pflichtjahres im Nationalsozialismus nicht unbekannt. Allerdings habe ich den Eindruck, daß sie immer weniger Anhänger findet. Es hat sich einfach herausgestellt, daß nicht einmal im Sinne einer zwischenzeitlichen Notlösung junge, berufsunerfahrene Menschen in diesen Bereichen von wirklichem Wert sind. Im allgemeinen vermögen sie allenfalls durch die Erledigung einfacher

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technischer oder auch administrativer Arbeiten das Fachpersonal zu entlasten. Abgesehen von den pädagogischen Bedenklichkeiten eines solchen Verfahrens scheint diese sozialpolitische Begründung also schon aus sachlichen Gründen nicht mehr zwingend für freiwillige soziale Dienste zu sein.

Der berufspolitische Aspekt

Wesentlich wichtiger scheint mir denn auch der berufspolitische Gesichtspunkt zu sein: jungen Menschen Gelegenheit zu einer Art von "Berufsfindungsjahr" für sozialpädagogische und pflegerische Berufe zu geben, so wie man dies für andere Berufszweige auch schon ausprobiert hat. Ich möchte den Vorschlag machen, für die längerfristigen sozialen Dienste sich auf diesen beruflichen Gesichtspunkt zu konzentrieren und die anderen falschen emotionalen Töne aus dem Spiel zu lassen.

Allerdings hätte dies Konsequenzen, und zwar zunächst die: den Terminus "freiwilliger sozialer Dienst" für diesen Bereich als unzutreffend fallen zu lassen. Es handelt sich dann um eine Art von Vorpraktikum, das entsprechend didaktisch zu gestalten wäre und auf das die spätere schulische und praktische Berufsausbildung aufbauen könnte. Selbst wenn nicht alle, die dieses Praktikum absolvieren, später auch einen entsprechenden Beruf ergreifen, wäre das kein Fehler; es bliebe ein Erfahrungshorizont und die Gewißheit, für eine bestimmte Gruppe von Berufen nicht geeignet oder nicht bereit zu sein. Die Entdeckung, einen falschen Beruf gewählt zu haben, ist auch bei anderen Berufsarten anzutreffen. Hier wie dort käme es darauf an, das Bildungssystem so zu gliedern und seine einzelnen Züge so differenziert aufeinander abzustimmen, daß solche unter Umständen für den einzelnen sehr produktiven Umwege nicht als "verlorene Zeit" gebucht werden müssen.

Selbstverständlich gehört mehr dazu, die sozialen und pflegerischen Berufe attraktiver zu machen, als die Einführung eines solchen Berufsfindungsjahres; verbesserte Ausbildung, Vermehrung und Zusammenlegung der Ausbildungsstätten, bessere Besoldung, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten in Verbindung mit großzügigen Fortbildungsmöglichkeiten und anderes mehr. Sich zu diesem Komplex etwas Besseres als bisher einfallen zu lassen, würde dem chronischen Mangel an Personal in diesen Berufsbereichen sicher mehr nützen als eine allzu ideologische Aufladung der sozialen Dienste.

Die pädagogische Begründung

Mit dem vierten vorher genannten, dem pädagogischen Aspekt, werden wir uns etwas intensiver befassen müssen. Hier gibt es nämlich die meisten Unklarheiten. Der erste Jugendbericht der Bundesregierung widmet zwar den freiwilligen sozialen Diensten einen erheblichen Raum, aber nach einer klaren pädagogischen Begründung sucht man darin vergeblich. Zwei Begründungsgesichtspunkte lassen sich herauslösen:

Erstens wird die These vertreten, junge Menschen fänden zuwenig Ernstfelder in dieser Gesellschaft vor, an denen sie sich erproben können und in denen ernsthafte, in ihrer Nützlichkeit unmittelbar evidente Leistungen erwartet werden. So-

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wohl die moderne Gesellschaft wie die moderne Kleinfamilie forderten keine "Rücksichtnahme" mehr, "Verzicht auf eigene Wünsche und Interessen, Hilfsbereitschaft und Solidarität" (1. Jugendbericht, Seite 80). Zweitens böten die freiwilligen sozialen Dienste zudem ein Erfahrungsfeld, das dem jungen Menschen heute normalerweise nicht mehr zur Verfügung stehe: die Erfahrung von unverschuldeter oder verschuldeter Not, von Krankheit, von jeglicher Form des menschlichen Elends.

Beides zusammen, die Erfahrung einer sonst unerfahrbaren sozialen Wirklichkeit unseres Lebens und die praktische Bewährung in ihr werden als geradezu ideales Mittel der Selbstbildung proklamiert. Da zudem noch meist zum Abschluß der längerfristigen Dienste eine pädagogische Auswertung des Erlebten und Erlernten erfolgt, scheint der Charakter einer idealen Bildungssituation unabweisbar.

Trotzdem sollten wir uns nicht unkritisch diesem Gedankengang anschließen! Ich will nicht mit einer oft schlechten Praxis, die zu beobachten ich ein wenig Gelegenheit hatte, gegen eine vielleicht bessere Theorie argumentieren, zumal wenn eine solche Maßnahme noch jungen Datums ist und Startschwierigkeiten unvermeidlich sind. Jeder Eingeweihte aber kennt die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten: geeignete Einsatzstellen zu finden, die diesen idealen Ansprüchen genügen und in denen es Menschen gibt, die Zeit und Lust haben, sich um die Helfer zu kümmern; oder Menschen für die sozialpädagogische Auswertung am Schluß des Einsatzes zu gewinnen, die für die Interpretation der jugendlichen Erlebnisse und Erfahrungen mehr zur Verfügung haben als eine bescheiden-moralische Lesebuchmentalität.

Von diesen praktischen Schwierigkeiten abgesehen, scheint mir die erwähnte pädagogische Argumentation auch im Prinzip wenig stichhaltig. Zunächst: Es ist einfach nicht wahr, daß die jungen Menschen in der modernen Gesellschaft keine befriedigenden Tätigkeitsfelder finden können. Das ganze Freizeitsystem ist voll von solchen Möglichkeiten, vom Berufsleben, in das schon 14jährige eintreten, ganz zu schweigen. Noch nie zuvor haben junge Menschen so viele Möglichkeiten der Ernstbewährung zur Verfügung gehabt. Wir brauchen diese nicht eigens in künstlichen pädagogischen Situationen zu arrangieren. Zudem: Was nützt ein Tätigkeitsfeld, von dem offenbar niemand erwartet, daß es später im Erwachsenenleben noch zur Verfügung stehen wird? Gerechtfertigt wird dies mit einer sehr problematischen formalen Theorie der Gesinnungs- und Charakterbildung: Das "Eigentliche" sind demnach gar nicht die Hilfeleistungen selbst, sondern die Tugenden (Rücksichtnahme, Altruismus, Hilfsbereitschaft, Solidarität usw.), die dabei "von selbst" herausspringen sollen. Die Hilfeleistung wird somit mediatisiert, auf abstrakte Charakterbildung hin abgetastet: Wer in den sozialen Diensten jene Tugenden lernt, behält sie demnach für sein Leben. Im Lichte moderner Lerntheorien ist diese Vorstellung - gelinde ausgedrückt - reichlich naiv.

Bedeutsamer scheint mir denn auch der zweite Gesichtspunkt zu sein: die Chance der Erfahrung eines der Öffentlichkeit im allgemeinen kaum noch zugänglichen sozialen Bereiches. Aber auch hier geht es nicht um die Übertragbarkeit von Tugenden, sondern um die durch Tätigkeit und Reflexion erschlossene, unübertragbare Wirklichkeit: zum Beispiel darum, daß es lebenslang kranke Kinder gibt, daß und wie für sie gesorgt wird, welche Probleme dabei auftreten, wie der Alltag der Berufe aussieht, die sich mit ihnen befassen, wie miserabel die Gesellschaft für diese

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Kinder in materieller Hinsicht und im Hinblick auf die Besoldung der damit befaßten Berufe sorgt, wie desinteressiert die Gesellschaft - und vielleicht sogar der Träger sozialer Einrichtungen - an einer qualifizierten Ausbildung ist und anderes mehr. Wer ein Jahr in einer solchen Umgebung gearbeitet hat, dem wird vermutlich ein solches Stück Wirklichkeit erschlossen, aber auch das kann begrenzt sein auf eben diesen einen erlebten Fall. Nicht "das Soziale schlechthin" wird erlebt oder das Problem sozialer Notfälle schlechthin, sondern diejenige konkrete Problematik, die man selbst gesehen hat. Es ist zum Beispiel sehr die Frage, ob bei einer Arbeit in einer Einrichtung für behinderte Kinder auch das Verständnis für die Lage von Krankenhäusern wächst. Ja, es ist nicht einmal sicher und auch nicht einmal wahrscheinlich, daß sich in der Regel "Erfahrungen" ereignen, die von nachhaltigem Einfluß auf das Welt- und Selbstverständnis im ganzen sind. Die seelischen Mechanismen, die neue Erfahrungen verhindern, überlisten uns immer wieder. Was man sieht, erlebt und erfährt, wird mühelos eingegliedert in das bereits mitgebrachte Weltbild. Dazugelernt wird in den meisten Fällen nichts Substantielles, nichts, was das Prädikat einer Erfahrung verdiente.

Hinzu kommt noch, daß wir über die Motivation einer Entscheidung für die Ableistung eines sozialen Dienstes so gut wie nichts wissen. Wenn der Jugendbericht sagt: "Längerdauernde soziale Dienste werden zwar wegen ihrer Anforderungen notwendigerweise immer zuerst eine Sache der ohnehin aufgeschlossenen, gesund entwickelten und charakterlich starken Jugend sein", so möchte ich dagegen heftige Zweifel anmelden. Abgesehen davon, daß es bedenklich ist, die sozialen Dienste mit dem Mythos des Elitären zu umgeben, möchte ich diese Aussage bis zum Beweis des Gegenteils auch sachlich in Zweifel ziehen. Vieles spricht jedenfalls dafür, daß für die Selbstselektion eine vorwiegend negative Motivation typisch ist: Unzufriedenheit mit der bereits getroffenen Berufswahl, Unsicherheit gegenüber der eigenen Berufswahl und der Wunsch, die dabei fällige Entscheidung aufzuschieben, oder auch die gesuchte Kompensation für familiäre und andere private Probleme. Wenn dabei von "negativer" Motivation gesprochen wird, so ist damit kein Werturteil verbunden, sondern es soll nur darauf verwiesen werden, daß möglicherweise der Entschluß, an einem sozialen Dienst mitzuwirken, nicht das Ergebnis einer bewußten Entscheidung dafür, sondern eher das Ergebnis einer Entscheidung gegen etwas anderes ist. Es wäre nützlich, darüber einmal Untersuchungen anzustellen.

Was kann man lernen und unter welchen Bedingungen?

Die pädagogische Anfrage an die sozialen Dienste muß also lauten: Was lernen die daran beteiligten jungen Menschen wirklich, beziehungsweise was können sie nach didaktischer Optimalisierung dieser Maßnahmen tatsächlich lernen? Grundsätzlich kann man diese Frage wohl nicht einschränken; die sozialen Dienste können zu allen charakteristischen Lernproblemen des Jugendalters beitragen: zu der überlegten Wahl eines Berufs; zum Erlernen der staatsbürgerlichen Rolle (nicht durch Einüben einer abstrakten sozialen Gesinnung, sondern durch die reflektierte politische Solidarisierung mit denen, mit denen man zu tun hat); zur souveränen Orientierung im System von Freizeit und Konsum und zu anderem mehr. Inwie-

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weit dies auch praktisch stattfindet, ist natürlich eine ganz andere Frage. Für ihre Beantwortung läßt sich eine Reihe von Bedingungen angeben:

1. Es muß eine gründliche Einführung in das Arbeitsgebiet gewährleistet sein.

2. In regelmäßigen Abständen - etwa einmal in der Woche - müssen die Teilnehmer in Gruppen die Möglichkeit zur Aussprache haben, die von einem für den Sachbereich kompetenten Leiter durchgeführt wird. Das muß nicht unbedingt ein Pädagoge im Sinne einer speziellen Ausbildung sein; vor allem dann, wenn der Pädagoge von der Sache, die da zu betreiben ist, keine Ahnung hat und deshalb in allgemeines Gerede ausweichen müßte, wäre es besser, ein Sachverständiger mit einiger Kontaktfähigkeit stellte sich dafür zur Verfügung.

3. Den Abschluß sollte eine Tagung von mindestens acht Tagen bilden, deren Programm auf der Grundlage der in der Praxis gewonnenen Gesichtspunkte die Probleme zu vertiefen hätte.

4. Damit ist eine grundsätzliche Forderung ins Spiel gebracht, nämlich die nach Intellektualisierung der Erlebnisse. Im Unterschied nämlich zu "Erlebnissen", deren Bewußtheit diffus bleibt, verlangen "Erfahrungen" eine verhältnismäßig hohe Reflexionsstufe. Wird diese Forderung nicht erfüllt, so bleibt der Lernertrag sehr gering. Wir sollten nicht zulassen, daß die sozialen Dienste zum Feld derer werden, die es mehr mit dem Gemüt als mit dem Verstand haben. Gelernt wird letztlich nur das, was sich im Kopfe, also im Bewußtsein in richtige Vorstellung umsetzt. Es kommt entscheidend darauf an, die Erlebnisse zu objektivieren und sie von verschiedenen Perspektiven her zu befragen. Wer etwa in einem Krankenhaus gearbeitet hat, der muß am Ende auch eine Vorstellung von der Problematik unseres Krankenversicherungssystems haben (und wie sich dies in der Praxis auswirkt), von den finanziellen Problemen einer Krankenhausverwaltung, von der beruflichen Hierarchie, den Problemen dieser Berufe und den Problemen der Trägerschaft - um nur einiges zu nennen. Nur wenn die intellektuellen Ansprüche mindestens so hoch sind wie die praktischen, lohnt sich ein solches Jahr unter pädagogischem Aspekt. Aber ich habe den Verdacht, nicht zuletzt auf Grund der Lektüre des Jugendberichtes, daß man dies alles nicht will, daß man soziale Dienste nicht mit gesellschaftspolitischer Kritik gekoppelt sehen möchte. Und ich habe schließlich auch die allergrößten Zweifel, ob man, selbst wenn man es wollte, längerfristige soziale Dienste wirklich mit einem solchen Anspruch organisieren könnte.

Angesichts all der bisher genannten Schwierigkeiten und Bedenken möchte ich dafür plädieren, den Begriff "soziale Dienste" als Bezeichnung für eine besondere pädagogische Maßnahmen fallenzulassen. Den vernünftigen Kern dessen, was damit bisher erstrebt wurde, sollte man in zweifacher Hinsicht ausbauen, einerseits durch die Einbeziehung der längerfristigen Dienste in die Vorbereitung auf soziale Berufe, andererseits durch eine Neuorientierung der Hilfeleistungen auf lokaler Ebene.

Soziale Dienste als Weg zu sozialen Berufen

Die bisher als "längerfristige soziale Dienste" bezeichneten Maßnahmen sollten zu einem Vorpraktikum für soziale oder pflegerische Berufe ausgebaut und entsprechend didaktisch durchdacht werden. Entsprechende Änderungen im bisherigen

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System der Ausbildung wären anzufügen. Zum Beispiel müßten Maßnahmen getroffen werden, um die Spanne zwischen dem Volks- bzw. Mittelschulabschluß und dem Eintritt in eine Fachschule zu überbrücken, so daß junge Menschen nicht das Gefühl haben müssen, sie vertrödelten ihre besten Lernjahre, bevor sie Aufnahme in eine solche Ausbildungsstätte finden können. Ich kenne Fälle, wo Mädchen, die Krankenschwester werden wollten, ein bis zwei Jahre in einem Krankenhaus als Putzmädchen gearbeitet haben, weil sie noch nicht alt genug für die Ausbildung waren; anschließend, als sie alt genug waren, eröffnete man ihnen, aus Gründen des sozialen Ansehens - da sie bisher Putzmädchen waren - könne man sie nicht an der gleichen Stelle zur Ausbildung als Krankenschwestern annehmen. Daß dies nicht ermutigend wirkt, liegt auf der Hand. Wenn man dem Problem der unterbesetzten Dienstleistungsberufe am Menschen wirklich gerecht werden will - und das ist in der Tat eine Aufgabe, die uns alle angeht - , dann brauchen wir dafür konkrete berufspolitische Maßnahmen, und dazu gehört es, auch Volksschulabgängern durch Vorpraktika, Vorschulen oder ähnliche Einrichtungen für solche Berufe zu interessieren und "bei der Stange zu halten". Ohne Zweifel werden wir in Zukunft mehr und qualifiziertere Berufstätige in diesen beruflichen Feldern brauchen, und dies nicht deshalb, weil - wie der Jugendbericht durchscheinen läßt - die Opferbereitschaft der nächsten Angehörigen nachgelassen hat, sondern weil die Aufgaben schwerer geworden sind. Es kommt bei diesen Dienstleistungsberufen am Menschen nicht in erster Linie auf die neue Gesinnung an - auch von diesem Mythos sollten wir uns langsam lösen - , sondern auf den Erfolg bei der Lösung eines Problems. Und dieser Erfolg hängt in hohem Maße von der beruflichen Qualifizierung ab. Wir wissen doch alle, daß Liebe, Opferbereitschaft und ähnliche Tugenden allein die Probleme unmittelbarer sozialer Hilfe nicht mehr zu lösen vermögen, solange nicht dazu ein fachlich geschultes, wissenschaftlich durchgeformtes Verständnis solcher Probleme tritt.

Ähnlich mythisch verdunkelt ist auch das Verhältnis zum Geld. Bei der Begründung der sozialen Dienste spielt das Argument, der Helfer arbeite nur für ein Taschengeld, eine dominierende Rolle: "Eine Entlohnung würde dem inneren Sinn der Dienste widersprechen", meint der Jugendbericht. Mir leuchtet das nicht ein, ich verstehe nicht, wieso der sonst übliche Grundsatz unserer Gesellschaft, daß jede Arbeit ihres Lohnes wert sei, gerade hier nicht gelten soll und wieso gerade hier die Ausnahme auch noch besondere Gesinnung konstituieren soll. Außerdem wird, rechnet man alle Ausgaben für einen Helfer zusammen, eine Bruttosumme von monatlich 350 bis 400 DM erreicht. Dies entspricht ungefähr dem tatsächlichen Arbeitswert; aber warum wird dies ideologisch überspielt? Auch Praktikanten sollten angemessen entlohnt werden, das heißt so, wie es ihre Arbeitsleistung verdient, und vor allem sollten die zahlreichen Praktika daraufhin überprüft werden, inwiefern sie wirklich pädagogisch begründet sind, als dringend notwendige Teile der Ausbildung, oder inwiefern sie den Trägern bloß ökonomischen Nutzen bringen. Ich habe in meiner Praxis so viele Fälle klarer Ausbeutung von Praktikanten erlebt, daß ich in diesem Punkte für eine Überprüfung plädiere.

Unsere Gesellschaft wird in Zukunft jedenfalls sehr viel Geld in soziale und pflegerische Berufe stecken müssen, und wir sollten uns nicht zieren, wenn in diesem Zusammenhang von Geld die Rede ist. Würde man das Geld, das jetzt den sozialen Diensten zugute kommt, einer planmäßig betriebenen Berufswerbung und Berufsausbildung zukommen lassen, wäre es zweifellos besser angewandt.

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Eine umfangreiche Professionalisierung der sozialen Dienstleistungsberufe wird also nicht zu vermeiden sein. Dennoch wird dadurch die freiwillige, unentgeltliche (weil sonst zu teuere) materielle und persönliche Mithilfe der Bürger nicht überflüssig. Im Gegenteil: Mit zunehmendem Wohlstand und zunehmender Freizeit könnte persönliche Hilfeleistung auf lohaler Ebene zu einer wichtigen Freizeitbeschäftigung aller Bürger, nicht nur der Jugendlichen, werden.

Soziale Hilfe als Aufgabe für alle Bürger

Ebenso wie in früheren Zeiten soziale Dienste von den Muße-Klassen - vor allem von den Frauen - wahrgenommen wurden, gehört zu einer sich zunehmend demokratisierenden Gesellschaft, daß auch diese Funktionen grundsätzlich von allen Mitgliedern der Gesellschaft übernommen werden. In einer demokratischen Gesellschaft gehört die Übernahme solcher sozialer Aufgaben zu den politischen Aufgaben der Bürger: beides gehört zusammen. Die Solidarisierung mit den Armen, Zukurzgekommenen, Einsamen, an einem schweren Schicksal Leidenden ist einerseits ein politischer Kampf um die Verbesserung der Bedingungen, aus denen heraus die Not entsteht oder verschärft wird; andererseits wird dieser politische Kampf moralisch und sachlich unglaubwürdig, wenn er nicht gekoppelt wird mit einem persönlichen Hilfsangebot. Nur im Rahmen einer solchen Politisierung der sozialen Dienste, und nur dann, wenn sie als eine Pflicht aller Bürger verstanden werden, ist der Appell an die Jugend frei von Heuchelei und von sozialromantischem Pathos.

Den lokalen Trägern der Wohlfahrtseinrichtungen sollten sich möglichst viele Menschen zur Verfügung stellen, die bereit sind, einen Teil ihrer freien Zeit zu opfern. Ich weiß, daß dies einigermaßen utopisch klingt und mit sehr vielen organisatorischen Schwierigkeiten - zum Beispiel im Hinblick auf die Kontinuität der Arbeit - verbunden wäre. Viele psychologische Barrieren wären zu überwinden. Katastrophenfälle haben uns aber immer wieder gezeigt, wie sehr spontane Hilfsbereitschaft zur Verfügung steht. Unter Einsatz moderner Kommunikationsmittel, vor allem der Werbung, könnte es vielleicht gelingen, den sozialen Diensten einen ähnlichen Prestigewert als Freizeitbeschäftigung einzuräumen, wie ihn andere Tätigkeiten auch haben.

Der Aufgaben gäbe es mehr als genug, auch und gerade für die lokalen Jugendorganisationen: Vom Babysitten bei kinderreichen Familien über regelmäßige Besuche bei einsamen alten Menschen bis hin zur Übernahme einer Erziehungsbeistandsschaft gibt es eine differenzierte Skala von Aufgaben, die für jedes Lebensalter und für jedes psychische und körperliche Leistungsvermögen einen sinnvollen Einsatz ermöglicht. Halten wir aber dies für eine uneinlösbare Utopie, dann sollten wir auch nicht die Opferbereitschaft junger Menschen zur Tarnung dieses Versagens benutzen und diese Ausflucht gar noch mit pädagogischen Gemeinplätzen drapieren.

Ich plädiere also dafür, die bisher sogenannten kurzfristigen sozialen Dienste unter Leitung der Wohlfahrtsorganisationen auf lokaler Ebene auszubauen zu einer sozialen Aufgabe aller Bürger aus allen Schichten und aller Altersgruppen, vom Jugendalter an. Mit anderen Worten: Soziale Hilfe muß zu einer kontinuierlichen Freizeitbeschäftigung prinzipiell aller Bürger werden. Dann kann man Ehrenamtlichkeit - und

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damit Unentgeltlichkeit - aus zwei unmittelbar einleuchtenden Gründen verlangen, die - im Unterschied zu den bisherigen Begründungen - nichts mit falschem Pathos zu tun haben: In seiner Freizeit kann man es sich leisten, unentgeltlich zu arbeiten, dies gehört gewissermaßen zur Definition von Freizeit mit dazu. Zweitens ist unmittelbar einleuchtend, daß es für die gesamte Gesellschaft viel zu teuer würde, wollte man jeden notwendigen oder auch nur erwünschten sozialen Hilfsdienst angemessen bezahlen.

Ferner plädiere ich dafür, die sogenannten längerfristigen sozialen Dienste überlegt in die Berufsausbildung für soziale Dienstleistungsberufe einzubeziehen und sie den entsprechenden Trägern zu übertragen. Sie als selbständige pädagogische Maßnahme der Jugendarbeit beizubehalten oder gar auszubauen, dazu erscheinen mir die pädagogischen Begründungen nicht ausreichend. Natürlich wäre es theoretisch denkbar, solche Dienste pädagogisch zu optimalisieren. Aber dazu wäre eine derart hohe Investition an Geld und eine so große Zahl von hauptberuflich tätigen und gut ausgebildeten Mitarbeitern nötig, daß man sich ernsthaft fragen muß, ob solche Investitionen dann noch in einem vertretbaren Verhältnis zum Ergebnis stehen würden.

Soziale Dienste und politisches Engagement

Ich komme zum politischen Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen zurück. Die Zahl derjenigen jungen Menschen, die sich für längerfristige soziale Dienste zur Verfügung stellen, stagniert seit Jahren zwischen 1000 bis 2000 - zum Glück für die Träger, denn schon jetzt fällt es schwer, geeignete Einsatzstellen zu finden. Diese längerfristigen Dienste entsprangen einer jugendpolitischen Feh- bzw. Wunschentscheidung der Bundesregierung, des Parlaments und einiger Träger. Es besteht nun die Gefahr, daß öffentliche Mittel für eine Maßnahme ohne Zukunft und ohne schlüssige Begründung ausgegeben und damit die ohnehin geringen Mittel zersplittert werden. Die immer umfangreicher werdende Unruhe unter der jungen Generation zeigt, daß es heute und morgen auf ganz andere Maßnahmen ankommt, darauf nämlich, die Einrichtungen der politischen Bildung in den Stand zu setzen, den in der jungen Generation aufbrechenden kritischen Energien vernünftige, in der Kontinuität unseres demokratischen Erbes liegende Ziele und Methoden anzubieten. Dazu gehört gewiß auch das tätige Engagement für die, die in Not sind. Aber das Angebot der "sozialen Dienste" geht - obwohl es auch ein Beitrag zur politischen Bildung sein soll - über den Status quo der sozialpolitischen Misere nicht hinaus. Wäre es da nicht ergiebiger, unsere rebellischen Jugendlichen würden mit demselben Nachdruck, mit dem sie gegen die Notstandsgesetze agitiert haben, gegen den Notstand unserer Heimkinder und der sonderschulbedürftigen Kinder und Jugendlichen kämpfen? Wenn sie es nicht tun, so wird es, muß man fürchten, niemand tun. Auch hier wäre es an der Zeit, nach dem Bankrott der Resolutionen und Sonntagsreden provokativere Maßnahmen in Erwägung zu ziehen.

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62. Politische Bildung - Rechenschaft und Ausblick (1968)


(In: Gesellschaft - Staat - Erziehung, H. 5/1968, S. 277-286)
 

Nachdem wir in Heft 4/68 mit der Wiedergabe der Referate begonnen haben, die auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für politische Bildung im Oktober 1967 in Göttingen gehalten wurden, setzen wir den Abdruck nun mit den Beiträgen von Prof. Giesecke und Prof. Seidel fort. (Vorbemerkung. d. Redaktion, H. G.)
 

Die Politische Bildung ist in letzter Zeit in das Kreuzfeuer der Kritik geraten. Ein Unbehagen hat sich eingeschlichen, das sich weniger in öffentlicher Kritik als vielmehr indirekt äußert. Es hat sogar ein wenig den Anschein, als ob das Interesse an der Politischen Bildung nachlasse - auch das Interesse der staatlichen Stellen. Andere pädagogische Probleme haben sich in den Vordergrund geschoben: der erneute Konfessionsschulstreit in einigen Ländern; das Problem der Berufsausbildung und damit der Arbeitslehre; und schließlich das Problem, wie wir dem zu erwartenden Ansturm auf die Hochschulen Herr werden können.

Staatssekretär Prof. Ernst hat in einer viel beachteten Rede in Loccum die bisherigen Bemühungen zur Politischen Bildung rundweg als unbefriedigend bezeichnet. Er meinte u. a., der einseitige rationale Ansatz der Politischen Bildung werde dem Menschen nicht gerecht, der auch ein emotionales Wesen sei und auch bei seinem Gefühl angesprochen werden wolle; man müsse daher Methoden der Werbung auch für die Politische Bildung einsetzen. Daß diese Spekulation nicht zufällig erfolgt, zeigt die Gleichzeitigkeit des radikalen und konservativ-gemäßigten Nationalismus. Im Familienministerium zeigt sich eine zunehmende Neigung, solche Formen der Politischen Bildung zu fördern, die die emotionale Seite stärker berücksichtigen: Internationale Jugendbegegnung, Soziale Dienste, Kurzschulen. Wenn wir dies und noch einiges andere im Zusammenhang sehen, so kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß die Politische Bildung vor einer Krise steht, vor der Aufgabe also, ihr bisheriges Selbstverständnis zu überprüfen. Der Ausdruck "Rechenschaft" ist von den Veranstaltern dieser Tagung durchaus zu Recht gewählt worden. Versuchen wir, diese Rechenschaft in einigen wesentlichen Punkten abzulegen. Ich möchte bewußt solche Aspekte auswählen, die in der bisherigen Diskussion gar nicht oder nicht genügend zur Geltung gekommen sind. Dabei läßt sich leider nicht vermeiden, daß sie ein wenig überbelichtet erscheinen.

1. Zunächst ist festzustellen, daß die Politische Bildung erst zu einem Zeitpunkt einsetzte, als nach 1945 sich die Herrschaftsverhältnisse wieder verfestigt hatten. Als Theorie und Praxis hat sie also den Beginn unseres demokratischen Staatswesens nicht von Anfang an mitgemacht. Sie ist später dazugekommen, etwa ab I951, wo Theodor Wilhelms Buch "Partnerschaft" erschien, die erste umfangreiche Darstellung der Politischen Bildung nach 1945 überhaupt. Dieser Tatbestand der Verspätung ist deshalb so wichtig, weil als dessen Folge die Politische Bildung die Chance zur politischen Kritik oder wenigstens zur politischen Diskussion der nach dem Zusammenbruch gegebenen verschiedenen Möglichkeiten verpaßt hatte. Die Politische Pädagogik war bei der Diskussion um die Neuordnung unseres Staats-

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wesens nicht beteiligt. In der pädagogischen Zeitschrift "Sammlung" findet sich bis 1951 - wenn mir bei der Durchsicht nichts entgangen ist - kein einziger Beitrag zum Problem der Politischen Bildung. Der erste Beitrag war ein Aufsatz von Max Buchheim (1951) und dann 1952 die bekannte Kritik von Erich Weniger an der "Partnerschaft". Die Politische Bildung ist also entstanden als ein Reflex des "Wiederaufbaus" und das heißt: der innenpolitischen Restauration. Ihre Aufgabe bestand darin, die neue Ordnung mit pädagogischen Mitteln zu rechtfertigen und zu verteidigen. Darauf hat Reinhard Dufner im Septemberheft 1967 der "deutschen jugend" zu Recht hingewiesen. Der gewaltige ökonomische Erfolg der fünfziger Jahre war so handgreiflich, daß die Politische Bildung gar keine Resonanz gefunden hätte, wenn sie damals kritisch nach Sinn oder anderen Möglichkeiten dieser Ordnung gefragt hätte. Ihre Aufgabe war, die neue bürgerlich-demokratische Ordnung der jungen Generation schmackhaft zu machen und vor den Gegnern dieser neuen Ordnung zu warnen: vor dem Faschismus und dem Kommunismus. Da der Faschismus durch das Ende des 3. Reiches für überwunden galt - die im Bewußtsein und Unterbewußtsein nachwirkenden Potenzen wurden verkannt oder verdrängt - blieb der Kommunismus übrig. Der Antikommunismus blieb in den ganzen 50er Jahren der wesentliche Inhalt der Politischen Bildung, teils in sehr direkter Form, teils sehr viel subtiler, wie es etwa in den antithetischen didaktischen Modellen von Demokratie und Diktatur oder in der Verwendung des abstrakten Totalitarismusmodells zum Ausdruck kam. In all diesen Jahren stand die Inhaltlichkeit dessen, was Demokratie heißt, so gut wie nie zur Debatte. Die Ziele der Politischen Bildung beschränkten sich aufs Mitmachen, auf den Appell, "Verantwortung" zu übernehmen, Kompromisse zu schließen, in die Parteien einzutreten usw. Diese Appelle und das ist für das gegenwärtige Verständnis der Politischen Bildung von größter Wichtigkeit - erfolgten zu einem Zeitpunkt, als an den tatsächlichen Verhältnissen nichts mehr zu ändern war, ja, wo der Versuch, die bestehenden Verhältnisse wenigstens zu diskutieren, sofort in den Verdacht kommunistischer Parteinahme geriet. Auf eine Formel gebracht: die Politische Bildung wurde Teil des politischen Establishments selbst. Der Ausschluß des SDS aus der SPD war ein deutlicher Hinweis dafür, daß das Establishment nicht gewillt war, sich über die Inhalte unseres demokratischen Lebens in große Diskussionen einzulassen. Diese Identität von Establishment und Politischer Bildung erklärt zu einem guten Teil die Wut, mit der gegenwärtig vor allem studentische Minderheiten die Auseinandersetzung mit eben diesem Establishment aufnehmen. In dieser Wut steckt, so meine ich, etwas von der Erfahrung, daß die ständigen Appelle zur Mitverantwortung umgekehrt proportional den tatsächlichen Möglichkeiten der Mitbestimmung waren, und von der Schule an immer bloß zu Nutzen derer erfolgten, die sie aussprachen. Der Aufruf zur "Verantwortung" war faktisch eine Aufforderung, die etablierten Mächte nicht zur Diskussion zu stellen, sondern ihren Interessen unter Einhaltung bestimmter Spielregeln zu dienen. Dies konnte um so einleuchtender erscheinen, als ja auch die Bemühungen der Reeducation nach dem Kriege mit verständlicher Naivität sich auf die Änderung des Verhaltens und weniger auf die Änderung des Denkens einließen, wobei meist übersehen wurde, daß in einer langen demokratischen Tradition wie bei den westlichen Alliierten die Bedeutung der Spielregeln eine ganz andere sein

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mußte als in einem Land, das mit erheblicher geschichtlicher Verspätung Demokratie überhaupt erst installieren wollte.

In jedem Falle hängen natürlich Politik und politische Pädagogik eng mit einander zusammen. Aber bei uns war die Politische Bildung weitgehend Magd des Establishments geworden.

Das begann sich gegen Ende der 50er Jahre zu ändern. Die Hakenkreuzschmierereien von I959, die neu anlaufenden NS-Prozesse, die Berliner Mauer und der fühlbare Rückgang der Konjunktur ließen langsam aber zunehmend nun doch die Inhalte und Ziele unserer Politik zum Thema werden. Die Politische Bildung wurde zunehmend kritisch gegenüber den Regierenden und begann sich langsam vom Establishment zu distanzieren. Dieser Prozeß dauert heute noch an, und er ist ein wesentlicher Grund dafür, daß die zuvor selbstsichere konservativ-restaurative Herrschaft bei uns skeptisch gegenüber der Politischen Bildung zu werden beginnt. Die entsprechenden Passagen des ersten Jugendberichtes der Bundesregierung sind dafür ein deutlicher Beleg. Ich messe bei diesem Prozeß der langsamen Distanzierung vom Establishment der Spiegelaffäre von 1962 eine große Bedeutung zu. Zwei Aspekte dieser Affäre erwiesen sich nämlich als sehr folgenschwer:

1) daß die politische Berichterstattung, insbesondere des Fernsehens, zu einer eigenständigen außerparlamentarischen kritischen Institution geworden war;

2) daß die Politische Bildung, sofern sie kritisch werden wollte, insbesondere bei den Magazinsendungen des Fernsehens einen Rückhalt finden konnte: die sonst isolierte Einstellung des einzelnen Erziehers oder Lehrers konnte nun von diesen Publikationsmedien eine psychologisch nicht zu unterschätzende Verstärkung erfahren. Seit der Spiegel-Affäre ist das Verhältnis von Politik und Pädagogik in ein neues Stadium getreten.
 

2. Zur Rechenschaft gehört neben die politische die soziologische Bilanz. Ich meine die Tatsache, daß die Erzieher in der Regel dem Mittelstand angehören und deshalb auch jene oft charakterisierte mittelständische Ideologie aufweisen. Sie kommt in den Untersuchungen zum Ausdruck, die bisher über die Politische Bildung in den Schulen angestellt worden sind. Ich denke dabei vor allem an die große, im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung angestellte Untersuchung. Ihr Ergebnis ist ja u. a. die Feststellung, daß das politische Weltbild der Lehrer durchweg unpolitisch ist. Konflikte gelten nicht als konstitutiv für das politische Leben, sondern als die möglichst schnell zu bereinigende Ausnahme. Die Lehrer haben offenbar in ihrer überwältigenden Mehrheit kein Verhältnis zu den pluralistischen Interessen und zu den daraus resultierenden Auseinandersetzungen. Die Möglichkeit des Kompromisses erscheint abhängig lediglich vom guten oder bösen Willen der Individuen. Natürlich ist diese Einstellung nicht allein der mittelständischen Herkunft zuzurechnen. Sie wird sicher ebenso begründet durch die vor allem in den Volksschulen immer noch anzutreffende Priorität der Gesinnungsbildung sowie sicher auch durch die humanistische Bildungstradition. Auch die Furcht, man müsse bei der Beschäftigung mit den konkreten Interessen und Konflikten in der Gesellschaft Partei ergreifen - was nicht Sache der Schule sein dürfe - mag eine Rolle spielen. Vielleicht am bedeutsamsten aber ist wohl die Tatsache, daß die Soziologie und die Politik-

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wissenschaft nach wie vor in der Lehrerbildung eine gänzlich untergeordnete Rolle spielen. Mir ist sowohl an der Universität wie an der Pädagogischen Hochschule aufgefallen, wie schwer sich Studenten tun, selbst einen gut geschriebenen soziologischen Text zu verstehen. Offenbar bleibt in unseren Gymnasien das Verständnis für sozialwissenschaftliche Perspektiven und Denkmodelle völlig unterentwickelt, von der Volksschule ganz zu schweigen. Auch an unseren Hochschulen wird das offenbar nicht in genügendem Maße nachgeholt, und es ist nicht zu sehen, daß sich in diesem Punkte ein Wandel vollzieht.

Das "mittelständische Verhältnis" zur Politik, das die Mehrzahl der Erzieher in der Schule wie in der außerschulischen Bildung offensichtlich charakterisiert, korrespondiert nun mit dem eben beschriebenen Verhältnis von Politik und politischer Bildung in unserem Lande. Politische Bildung als bewußte oder unbewußte Verteidigung des Establishments konnte sich auf diese mittelständische Mentalität stützen. Das eine ergänzte das andere.

3. Zur Rechenschaft gehört drittens die pädagogische Bilanz. Ich wies schon darauf hin, daß unsere Pädagogik nach 1945 an der politischen Diskussion um die neue Demokratie so gut wie keinen Anteil hatte. Daß es zwischen einer politisch-gesellschaftlichen Demokratie und den Inhalten der in ihr erfolgenden Bildung und Erziehung eine Korrelation geben müsse, wurde von der westdeutschen Pädagogik damals überhaupt nicht begriffen. Es wäre eine Dissertation wert, die politischen Implikationen der pädagogischen Veröffentlichungen von 1946-1952 einmal zu untersuchen. Wenn wir uns daran erinnern, was damals alles diskutiert worden ist, in welchem Maße gedanklich die Neuordnung unseres Staates durchexperimentiert wurde in Zeitschriften, Zeitungen und Broschüren - unter den miserabelsten äußeren Bedingungen - dann bleibt der Beitrag der Pädagogik ausgesprochen dürftig. Man muß dies heute aus der Rückschau mit allem Nachdruck sagen, weil sonst die gegenwärtige pädagogische Situation der Politischen Bildung unverständlich bliebe. Die führende Generation der Erziehungswissenschaftler, die das 3. Reich überlebt hatte, war politisch konservativ in dem Sinne, daß sie - wie der deutsche politische Nachkriegskonservativismus überhaupt - an die 1933 unterbrochene Tradition anknüpfen wollte. Die Zeit von 1933-1945 galt im wesentlichen als eine Pervertierung konservativer Ideen, der Zusammenhang der Entstehung des Nazismus mit der Vorgeschichte des deutschen Konservativismus wurde nicht gesehen bzw. verdrängt. Erst sehr viel später sorgten die Zeitgeschichte und die Soziologie dafür, diesen Zusammenhang wahrzunehmen. Nun ist für den deutschen Konservativismus charakteristisch, daß er ein Konservativismus ohne demokratische Tradition ist. Der deutsche Konservativismus vor 1933 war - aufs ganze gesehen - antidemokratisch. Diese Tatsache ist von großer Bedeutung für unseren Staat und markiert seine empfindlichste Stelle. Im Unterschied zu anderen westlichen Demokratien mit langer Tradition, wo der Konservativismus eine demokratische Spielart in der innenpolitischen Landschaft darstellt, ist bis heute in der Bundesrepublik der Konservativismus immer noch geprägt von antidemokratischen Schlagseiten, ohne daß er sich dessen immer bewußt wäre. Und die Zahl derjenigen, die die konservative deutsche Tradition bewußt mit demokratischen Inhalten und Ideen verbinden wollen, ist relativ klein, wenn sie auch mit dem Nachwachsen jüngerer Gene-

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rationen steigt. Die hohe Empfindlichkeit gegen die "Linke" bei uns, die von sich mit nicht schlechten Argumenten behaupten kann, "demokratisch" und "links" seien in Deutschland immer identisch gewesen, und andererseits der antidemokratische Verdacht gegen alles, was konservativ ist, tragen zu einem guten Teil zu der gegenwärtigen innenpolitischen Unruhe bei. Charakteristisch für den traditionellen Konservativismus ist u. a. sein Formalismus gegenüber den demokratischen Rechten des Bürgers. Demokratie erscheint einseitig als das Recht (und die moralische Pflicht) zur Wahlbeteiligung und zur Wahrnehmung ähnlicher Verantwortungen. Charakteristisch ist ferner die völlige Verständnislosigkeit gegenüber der Behauptung, Demokratie sei eine inhaltliche Aufgabe zu einer bestimmten Gestaltung unseres Gemeinwesens, - etwa im Sinne des kontinuierlichen Abbaus überflüssiger Herrschaft, wo immer in Staat und Gesellschaft sie auftritt, was Karl Mannheim mit dem Begrifl der "Fundamentaldemokratisierung" belegt hat. Ein Beispiel für diese Einstellung ist etwa die nicht geringe Zahl von Hochschullehrern, die sich einerseits bis zur Selbstaufopferung für ihre Studenten einsetzen, auch bereit sind, mit ihnen über ihre Forderungen zu diskutieren, aber den Vorwurf, an unseren Hochschulen gäbe es überflüssige Herrschaft, schlechterdings nicht verstehen. Sie sind subjektiv nicht undemokratisch, aber sie verstehen nicht, daß über das formale Wahl- und Koalitionsrecht hinaus überall - also auch an den Hochschulen - Demokratie zum konkretisierten Thema werden muß.

Die in den 50iger Jahren das Feld beherrschenden Erziehungswissenschaftler der älteren Generation, die schon die pädagogische Diskussion der Zwanziger Jahre entscheidend geprägt hatten, gehörten ideologiekritisch gesehen in den Rahmen des eben skizzierten politischen Konservativismus. Auch sie knüpften an die Diskussion der Zeit vor 1933 an, und weder die Jahre der Hitlerzeit noch die neue Aufgabe, den neuen demokratischen Ansatz politisch-pädagogisch zu reflektieren, hinterließen theoretisch relevante Spuren in ihren Nachkriegsarbeiten, - wohl allerdings moralische Spuren. So blieb die theoretische Fundierung der Politischen Bildung bis heute unbefriedigendes Stückwerk. Sowohl in der Schule, wie auch in den außerschulischen Bildungseinrichtungen ist die Lage immer noch die, daß einige begabte Praktiker sich gleichsam ihre eigene Theorie machen, die vielfach zu einem Unterricht führt, der sehr viel besser ist als sein Ruf, d. h. als seine formulierte Theorie. Die wichtigsten Impulse für eine brauchbare Theorie der Politischen Bildung sind nicht von der zünftigen Erziehungswissenschaft gekommen, sondern von den Soziologen bzw. von der gesellschaftskritischen Philosophie.

Daraus könnte man folgern, daß eine befriedigende, d. h. pädagogisch wie politisch haltbare oder doch wenigstens diskutierbare Theorie der Politischen Bildung im Rahmen der traditionellen geisteswissenschaftlichen Pädagogik, der "Nach-Dilthey-Pädagogik", gar nicht formuliert werden kann, es sei denn, man hielte die Politische Bildung für ein Spezialgebiet, das den übrigen Bildungsinhalten angefügt werden könne, ohne diese zu verändern. Genau dies hat sich aber inzwischen als unmöglich erwiesen. Um es in einem Bild zu sagen: Die Idee einer demokratischen Politischen Bildung, einmal in die Welt gesetzt und im Prinzip akzeptiert, breitet sich wie ein Krebsgeschwür auf alle pädagogischen Sachverhalte aus. Man kann sie nicht mehr isolieren. Sie läßt die Frage entstehen, die schon Theodor Wilhelm in

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seiner "Partnerschaft" aufgeworfen hat, ob Politische Bildung in der Umklammerung durch eine sich unpolitisch und klassisch-zeitlos verstehende Bildungsidee und eine sich betont unpolitisch gebärdende - und deshalb nicht minder politisch wirksame! - Erziehungswissenschaft überhaupt entfalten könne. Müssen die übrigen Bildungsgehalte nicht ihre Qualität ändern, wenn mit der Politischen Bildung wirklich ernst gemacht wird? Und weiter: Kann sie gedeihen in einem autoritär strukturierten organisatorischen Rahmen, wie es die Schule herkömmlich war und zweifellos in vielen Fällen noch ist ? Welche Veränderungen impliziert ihre Idee für das Lehrer-Schüler-Verhältnis? Welche für die Methoden des Unterrichts? Außerdem hat uns die politische Psychologie darauf aufmerksam gemacht, daß psychische Dispositionen für demokratisches Verhalten bereits im Elternhaus mehr oder weniger festgelegt werden, z. B. durch eine richtige bzw. falsche Gehorsamserziehung. Die Psychoanalyse zeigt uns, daß Ich-Stärke nicht auf einen bestimmten Lebensbereich - etwa die Politik - beschränkt werden kann: es gibt sie entweder überhaupt oder gar nicht.

So zeichnet sich immer stärker ab, daß die Aufgabe, die Probleme einer demokratischen Politischen Bildung zu durchdenken, Rückwirkungen auf die Erziehungswissenschaft und die pädagogische Praxis im ganzen hat. Und genau hier liegen immer noch die Widerstände, die sich den pädagogischen Bemühungen in den Weg stellen. Es sind zu viele Überlieferungen, die in Frage gestellt werden müssen. Genauso wie unser politisches Selbstverständnis die allergrößten Schwierigkeiten hat, sich eine Tradition in der deutschen Geschichte zu schaffen, ebenso ergeht es der deutschen Pädagogik. Anläßlich einer Kritik des pädagogischen Arbeitsbegriffes hat Johannes Schwerdtfeger darauf hingewiesen, "daß sich in Deutschland die Schule und die Pädagogik ... nicht mit jenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften des Liberalismus verbündete, die sich, wenngleich in Deutschland aus verschiedenen Gründen nur schwach entwickelt, dem merkantilistischen Dirigismus widersetzten." Man darf wohl zumindest im Sinne einer begründeten Hypothese diese Feststellung erweitern: Die großen Bewegungen des Liberalismus und des Sozialismus sind in der deutschen Pädagogik - soweit sie sich geschichtlich durchgesetzt hat - ohne nachhaltige Wirkung geblieben; allenfalls im negativen Sinne könnte man von einer Wirkung sprechen, in dem Sinne nämlich, daß die Ideen und Impulse dieser beiden großen Bewegungen der Neuzeit die deutsche Pädagogik eher in eine Abwehrstellung brachten und sie noch stärker auf vorindustrielle Sozialformen und Leitbilder zurückgehen ließen. Ohne die auch heute noch der kritischen Reflexion standhaltenden Momente des Liberalismus und Sozialismus aber kann weder in der Politik noch in der Pädagogik Demokratie zum Thema werden. Sozialistische Pädagogen der Zeit zwischen 1900 und 1933 wie Otto Rühle, Paul Oestreich, Kurt Löwenstein, Anna Siemsen, Heinrich Schulz, Edwin Hoernle - um nur einige zu nennen -, wurden schon in der Weimarer Zeit von den tonangebenden deutschen Pädagogen so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen, und in unseren heutigen Geschichten der Pädagogik sucht man ihre Namen ebenfalls fast vergebens. Gewiß, keiner von ihnen hat eine überragende Bedeutung erreicht, aber das kann man von den meisten "Reformpädagogen" auch nicht sagen, obwohl sie keineswegs der Vergessenheit anheimgefallen sind.

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Man kann bekanntlich komplizierte Prozesse an kleinen Details deutlich machen. Als Th. Litt seine Schrift über das klassische Bildungsideal und die moderne Arbeitswelt veröffentlichte und darin die Bedeutung der klassischen Bildungsidee für die Gegenwart relativierte, erregte er großes Aufsehen in der Pädagogik. Ähnliche Gedanken aber hatte in den zwanziger Jahren der Soziologe Karl Mannheim in vielen seiner Arbeiten zum Ausdruck gebracht, - zuletzt noch in seiner Rede auf dem Soziologentag von 1932, und zwar mit einer historisch und philosophisch viel gründlicheren Argumentation als später Th. Litt. Aber Mannheim, der sich mit dem Zusammenhang von Fundamentaldemokratisierung und Erziehungsreform in immer neuen Variationen beschäftigte, wurde von der zünftigen Erziehungswissenschaft damals gar nicht zur Kenntnis genommen. Diese Verspätung ist offenbar nicht zufällig. Sie scheint vielmehr zu zeigen, daß - unbeschadet der politischen Lauterkeit ihrer Autoren - die traditionelle deutsche geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht in der Lage war, die Phänomene und Probleme der Demokratisierung von der Seite der Erziehung zu reflektieren, - was übrigens Litt in seiner genannten Schrift auch nicht getan hat.

Wenn ich das Bild vom Krebsgeschwür noch einmal aufnehmen darf, so möchte ich sagen: Politische Bildung in einer Demokratie greift nicht nur auf alle übrigen Erziehungsinhalte über, sondern im Falle der deutschen erziehungswissenschaftlichen Tradition auch auf die Fundamente des überlieferten Selbstverständnisses der Erziehungswissenschaft selbst. Sie stellt diese Fundamente in einer Weise in Frage, die wir heute erst nur erahnen können. Ich halte es für möglich - und ich wundere mich, daß dies die Ideologiekritiker noch nicht getan haben - , daß bei einer sorgfältigen ideologiekritischen Überprüfung die sogenannte "Nach-Dilthey-Pädagogik" sich im wesentlichen als unbrauchbar für die Theoretisierung der gegenwärtigen und künftigen pädagogischen Aufgaben erweisen wird. Dann aber wären wir gezwungen, uns eine neue brauchbare pädagogische Tradition zu schaffen, in der dann vermutlich bisher vernachlässigte Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts eine größere Rolle spielen werden als das heute der Fall ist.

Solche hier nur knapp angedeuteten Gründe sind mitverantwortlich dafür, daß die erziehungswissenschaftliche Verarbeitung der mit der Politischen Bildung gestellten Aufgaben bisher unbefriedigend geblieben ist.

Wenn wir die drei Aspekte unserer Rechenschaftslegung - den politischen, soziologischen und pädagogischen - nun zusammenfassen, so können wir sagen: Ein nur formalistisch-demokratisch verstandenes politisches und soziales Establishment, eine mittelständische unpolitische Mentalität der Erzieher und eine konservative erziehungswissenschaftliche Tradition, bei der demokratische Impulse keine entscheidende Rolle gespielt haben, ergänzten sich in der Vergangenheit zu einer Version von Politischer Bildung, die faktisch die demokratisch frisierte Eingliederung in eben dieses Establishment teils zum Ziel, jedenfalls aber zur Wirkung hatte.

Nun bleibt nach der Rechenschaft noch einiges zum Ausblick zu sagen. Ich möchte dies nicht in Form von Prognosen tun, sondern indem ich einige mir besonders wichtig erscheinende Aufgaben knapp skizziere, die sich zum Teil logisch aus dem bisher Gesagten ergeben.

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1. Es muß bei Politikern wie bei Pädagogen die Einsicht Fuß fassen, daß Politische Bildung eine kritische Institution ist, und zwar kritisch gegenüber allem, was Herrschaft ist. Als Institution gehört sie in die Nähe der parlamentarischen Opposition und des unabhängigen Journalismus in Wort und Bild, und sie gehört nicht in die Nähe der Regierenden, der Bürokratie und der planmäßig betriebenen Bewußtseinsindustrie. Sie ist mehr Erziehung zum Ungehorsam als zum Gehorsam, mehr zum Nein als zum Ja. Die gesellschaftlichen Zwänge der Sozialisation sind selbst schon derart auf Ordnung, Anpassung, Mitmachen, Eingewöhnen aus, daß wir in den pädagogischen Institutionen dies nicht auch noch verstärken müssen. Natürlich ist "an sich" Ungehorsam nicht ohne Gehorsam, Widerstand nicht ohne Anpassung, das Nein nicht ohne das Ja möglich, aber unter den gegenwärtigen, schon in die frühe Kindheit hineinreichenden gesellschaftlichen Zwängen können es sich die pädagogischen Institutionen weitgehend ersparen, das, was ohnehin geschieht, noch zu verstärken und zu verfestigen. Sie können und müssen sich konzentrieren auf das, was das Individuum stark, selbständig und widerstandsfähig macht. In der These von der Politischen Bildung als einer kritischen Institution ist das Vorhandensein nicht-kritischer Lernfelder mitgesetzt. Es ist ein Beweis für die mangelnde funktionale Vorstellungskraft in unserem Lande, daß man die funktional notwendige Parteilichkeit kritischer Institutionen wie des Journalismus und der Politischen Bildung so schwer verständlich machen kann. Dabei liegt es doch auf der Hand, daß die so oft geforderte "Objektivität" tatsächlich nur den etablierten Mächten zugute kommt. Erst wenn die Chancen der Mitbestimmung für alle gleich wären - was im Ernst heute niemand behaupten kann - hätte jene "Objektivität" einen funktionalen Sinn. Die Regierenden müssen sich an den Gedanken gewöhnen, daß die Politische Bildung nicht eine Firma von Seeleningenieuren ist, bei der sie ihre Ziele zum Zwecke des möglichst effektiven Transfers abliefern, wie immer diese Ziele heißen mögen und wie sehr wir immer sie als politische Ziele billigen möchten. Politische Bildung ist vielmehr ein didaktisch organisiertes und kontrolliertes Verfahren, politische Ziele, Gedanken und Realitäten einer rationalen Überprüfung zu unterziehen.

2. Sowohl in der Lehrerbildung wie auch in den Schulen selbst werden die politischen und sozialen Wissenschaften einen viel größeren Raum beanspruchen müssen, als ihnen heute gewährt wird. Dabei sind nicht nur die Stoffe entscheidend so wichtig sie zweifellos sind, sondern ebenso die für diese Wissenschaften charakteristischen Denk- und Vorstellungsmodelle, wie "Interdependenz" und "Funktion". Die politischen und sozialen Wissenschaften sind ja wohl deshalb entstanden und haben sich durchgesetzt, weil sie für die Praxis des gesellschaftlichen Lebens Erkenntnislücken schließen mußten, die die traditionellen Wissenschaften offen gelassen hatten. Es ist offenbar kein Zufall, daß es diese Wissenschaften gibt, und deshalb müssen sie auch eine ihnen zukommende Stellung in den pädagogischen Einrichtungen erhalten.

3. Unterhalb einer 10jährigen Vollzeitschule ist Politische Bildung gar nicht ernsthaft diskutierbar. Heute wird der größte Teil unserer Kinder immer noch zu einem Zeitpunkt aus der Schule entlassen, wo die Fähigkeit zur kritischen Durchdringung ihrer politischen und sozialen Umwelt gerade erst eingesetzt hat.

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4. Nötig wäre - wie für andere didaktische Bereiche ebenfalls - eine Form der Lehrerfortbildung, durch die eine direkte Begegnung mit der jeweils neuesten wissenschaftlichen Forschung gewährleistet ist. Heute dagegen sieht unsere Lehrerfortbildung - von Ausnahmen abgesehen - immer noch so aus, daß sie in bloß methodischen Erwägungen stecken bleibt. Es käme aber darauf an, nicht die Beschränktheiten der Praxis durch Fortbildung noch zu verstärken, sondern gerade zu korrigieren. Das ist nur möglich in einer unmittelbaren Konfrontation mit den Wissenschaften selbst. Wahrscheinlich ist das nur zu erreichen, wenn nicht die Schulverwaltungen, sondern die Hochschulen selbst die Fortbildung organisieren oder doch wenigstens in hohem Maße daran beteiligt werden. Was für die Industriearbeiter längst entdeckt wurde, gilt auch für pädagogische Berufe: die Notwendigkeit einer lebenslangen Fortbildung. Die Fortschritte sowohl in didaktischer wie in fachwissenschaftlicher Hinsicht werden so bedeutsam sein, daß sie in einer einzigen Ausbildungsstufe nicht mehr vermittelt werden können.

5. Es wäre nötig, der Politischen Bildung als einer kritischen Institution in einer demokratischen Gesellschaft eine solidere wissenschaftliche Basis zu verschaffen. Sie wird sich nämlich nur dann von unsachgemäßen Erwartungen emanzipieren können, wenn sie ihr Selbstverständnis stärker als bisher der wissenschaftlichen Argumentation unterwirft. Dazu gehört zunächst einmal die Erforschung der pädagogischen Praxis selbst. Ich bin nicht sicher, ob man sich dabei allzusehr auf den Leitgedanken der "Wirksamkeit" festlegen sollte. Die Wirkungen pädagogischen Handelns zu erforschen ist immer problematisch, wenn man sich nicht von mehr oder weniger äußerlichen Effekten beeindrucken lassen will. Es käme zunächst auf etwas viel Bescheideneres an: auf die einigermaßen verläßliche Ermittlung dessen, was überhaupt geschieht in den einzelnen Schularten, mit welchen Intentionen dies geschieht, welche Vorstellungen Lehrer und Schüler dabei vertreten. Dabei genügt die bloß ideologiekritische Reflexion nicht, so wichtig sie zweifellos ist. Wichtiger wäre, die Probleme des politischen Lernens genauer zu erforschen; darüber wissen wir nämlich so gut wie gar nichts. Gibt es für das politische Lernen spezifische Lernhemmungen und Lernwiderstände? Worin sind sie begründet? Gibt es schichtenspezifische Lernhemmungen gegenüber dem Politischen? Wie könnten sie überwunden werden? Welche Bedeutung haben die Sozialbeziehungen in diesem Zusammenhang? Die Beziehungen zwischen den Schülern einerseits und Schülern und Lehrern andererseits? Und weiter: Wir wissen, daß junge Menschen gleichzeitig unter dem Einfluß mehrerer Lernfelder und Lerninstitutionen stehen: z. B. Schule, Beruf, Freizeitsystem, Familie, Peer-Group, Massenmedien usw. Aber wir wissen praktisch überhaupt nichts darüber, in welcher Weise diese verschiedenen Lerneinflüsse nun auf die je einzelne Person einwirken, deren Vorstellungen und Urteile formen. Die im wesentlichen ideologiekritische Perspektive, wie sie bisher zur Untersuchung der Wirksamkeit der Politischen Bildung angewandt wurde, droht leicht den Widerspruch von Sein und Seinsollen unüberbrückbar zu machen, solange nicht eines der Probleme, das diese Brücke darstellt, nämlich das Lernen, mitgesehen wird.

Diese hier nur knapp angedeuteten Probleme und Fragen verweisen auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung. Das hört sich einfach und schon fast wie

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eine Banalität an. Aber soweit wir mit dieser Art von Forschung bisher Erfahrungen gemacht haben, haben sich erhebliche Schwierigkeiten eingestellt. Ich will nicht reden von den Eifersüchteleien zwischen einzelnen Disziplinen, die sich an ihre spezifischen Gegenstände klammern, um damit ihre Autonomie und ihr Selbstbewußtsein zu bewahren. In dieser Frage setzt sich doch wohl langsam die Meinung durch, daß es eine praktische Frage sein soll, wer mit welchen Methoden einem bestimmten Problem am effektivsten zu Leibe rücken kann. Ich meine vielmehr die Tatsache, daß interdisziplinäre Forschung selbst ein neues theoretisches Problem aufwirft, das man vielleicht Wissenschaftskommunikation nennen könnte. Es ist offensichtlich nicht damit getan, daß Vertreter verschiedener Disziplinen sich daran machen, ein bestimmtes Problem zu untersuchen, sondern indem sie das tun, konstituieren sie ihre Sache in ganz anderer Weise, als wenn jeder einzelne bei seiner eigenen Perspektive bliebe. Interdisziplinäre Forschung ist offenbar mehr als die Summe der verschiedenen Methoden und Perspektiven. Dieser Hinweis auf ein wissenschaftstheoretisches Problem neuer Art hat nur scheinbar vom eigentlichen Thema abgeführt; denn alle pädagogischen Probleme und insbesondere die der Politischen Bildung sind von der Art, daß sie nur noch interdisziplinär zu erforschen, zu beschreiben und zu theoretisieren sind. An dieser Stelle müssen wir die vorhin geübte Kritik an der traditionellen Erziehungswissenschaft noch einmal aufgreifen. Nötig wäre eine Neubesinnung der Erziehungswissenschaft in der Richtung, daß sie für die Probleme der Pädagogik, und das heißt für die Probleme des Lernens im weitesten Sinne, Modelle der interdisziplinären Forschung und Interpretation entwirft, und dies in didaktischer Absicht, d. h. zu dem Zweck, die ganze demokratische Öffentlichkeit - und nicht nur die Lehrer und Schulräte - an der sachverständigen Diskussion pädagogischer Probleme zu beteiligen.

6. Damit sind wir bei einer letzten Überlegung angekommen. Es ist bisher nicht recht gelungen, die kritische Öffentlichkeit, wie sie etwa durch die Presse- und Fernsehjournalistik repräsentiert wird, mit den besonderen Problemen einer Politischen Bildung in einer demokratischen Gesellschaft vertraut zu machen. Man kann immer wieder die Feststellung treffen, daß im Unterschied zu anderen Sachbereichen unseres öffentlichen Lebens pädagogische Probleme in Presse und Fernsehen sehr viel weniger sachverständig behandelt werden. In einer demokratischen Gesellschaft aber nutzen noch so gute wissenschaftliche Arbeiten und eine noch so gute Praxis alleine nichts, wenn es nicht gelingt, die nicht-fachliche Öffentlichkeit so sachverständig wie möglich in die Diskussion mit einzubeziehen; denn diese nicht-fachliche Öffentlichkeit, zu der ja in der Regel auch unsere Parlamentarier gehören, entscheidet letzten Endes darüber, in welcher Rangfolge öffentliche Aufgaben angegangen werden sollen. Das Schicksal der Politischen Bildung in unserem Lande wird in Zukunft entscheidend davon abhängen, ob und in welchem Maße es uns gelingt, unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse und Theorien auch für die nicht-fachliche Öffentlichkeit zu formulieren.

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 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke7.htm

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