Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 16: 1980 - 1981

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Zu dieser Edition
Dieser 16. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1980 und 1981. In dieser Zeit war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.

Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden

Inhalt von Band 16

117. Was "ist" eine didaktische Theorie? (1980)

118. Wie und warum wird man Terrorist? (1980)

119. Politisch-didaktischer Dogmatismus bei der Hessischen Schulbuchzulassung (1980)

120. Sozialkunde (1980)

121. Anmerkungen zur "Konfliktpädagogik"(1980)

122. Entwicklung der Didaktik des Politischen Unterrichts (1980)

123. Ewiger Lückenbüßer (1981)

124. Ein Plädoyer für politische Kultur (1981)

125. Politik lehren und verstehen (1981)

126. Keine Reform, sondern Repression (1981)

127. Jugend zwischen Autonomie und Vergesellschaftung (1981)

128. Das Konzept der "Partnerschaft" - von heute aus gesehen (1981)

129. Eine ziemlich mühelose Ablehnung (1981)

130. Wir wollen alles, und zwar subito

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117. Was "ist" eine didaktische Theorie? (1980)

(In: Neue Sammlung, H. 1/1980, S. 65-67)
 

(Dieser Beitrag bezieht sich auf den Artikel von Peter Kühn: Nach Alternativen suchen. Zur Politischen Bildung, im selben Heft der Neuen Sammlung, S. 56-65, H. G.).
 

Der vorstehende Beitrag von Peter Kühn erscheint mir als eine bedenkenswerte Kritik an politisch-didaktischen Theorien überhaupt. Die Kritik zeigt vor allem, wie wenig es den Didaktikern der politischen Bildung gelungen ist, benachbarten Disziplinen wie der Politikwissenschaft zu verdeutlichen, um welche Fragen und Probleme es ihnen geht und welche Funktion didaktische Konzepte eigentlich haben. Ich habe den Eindruck, daß Peter Kühn den "Quellenwert" didaktischer Theorien an einem entscheidenden Punkt falsch einschätzt und daß deshalb sein Ergebnis, die didaktischen Konzepte von Sutor und Giesecke seien "nicht theoretisch pluralistisch", korrigiert bzw. präzisiert werden muß, zumal es sonst auch zur politischen Diffamierung mißbraucht werden kann.

1. Richtlinien, didaktische Theorien und der jeweils tatsächliche Unterricht in den Schulen sind drei verschiedene Ebenen des politisch-gesellschaftlichen Phänomens "Politischer Unterricht". Richtlinien sind ein "politischer Text", dessen Legitimation auf dem gesetzlich vorgegebenen Auftrag des Staates gegenüber der Schule beruht. Diese Richtlinien begrenzen einen mehr oder weniger großen "Spielraum" für die Unterrichtsgestaltung des Lehrers, der diesen unter anderem unter Verwendung didaktischer Theorien ausfüllt. Darüber, wie groß der durch den "politischen Text" gesetzte Rahmen sein muß, kann es eine sinnvolle öffentliche Diskussion geben, und meine seinerzeitige Kritik an den Hessischen und Nordrhein-westfälischen Richtlinien - die Kühn erwähnt - zielte vor allem darauf, daß mir diese "politischen Texte" zu weit gingen. Kühns Frage, ob der

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politische Unterricht "Pluralismus" zuläßt, läßt sich also sinnvoll zunächst einmal nur an die Richtlinien stellen.

2. Didaktische Konzeptionen sind dagegen eine ganze andere "Sorte" von Texten. Hier wird der Versuch unternommen, die im Rahmen eines jeden politischen Unterrichts notwendig auftauchenden Probleme (z. B. Ziele, Begründung, Stoffe, Methoden usw.) nach den Regeln wissenschaftlichen Argumentierens in einem sinnvollen theoretischen Zusammenhang zu entwickeln und mögliche Lösungen zu begründen.

Der theoretische Pluralismus zeigt sich hier darin, daß verschiedene Autoren mit verschiedenen Ansätzen sich an dieser öffentlichen Diskussion beteiligen - wie bei anderen wissenschaftlichen Gegenständen und in anderen Disziplinen auch. Sutor zum Beispiel bevorzugt einen mehr anthropologisch-systematischen Begründungszusammenhang, ich einen mehr historisch-kritischen. "Theoretischer" Pluralismus kann nun ernsthaft nicht vom einzelnen Autor verlangt werden; verlangt werden kann vielmehr nur, daß er sich mit anderen wissenschaftlichen Ansätzen auseinandersetzt, also überhaupt die Regeln wissenschaftlichen Argumentierens einhält. Der konkrete politische Unterricht kann nämlich gar nicht durch irgend eine dieser didaktischen Konzeptionen determiniert werden - so wenig wie sonst irgendwo praktisches Handeln durch eine wissenschaftliche Theorie determiniert werden kann. Vielmehr wirken didaktische Theorien einerseits mehr oder weniger nachhaltig auf die Richtlinien ein, andererseits ermöglichen sie dem Lehrer, sich eine Art von didaktischem Bewußtsein zu verschaffen; dazu ist allerdings nötig, daß er zumindest mehrere didaktische Ansätze kennt und vergleicht.

Die übliche Regel eines jeden wissenschaftlichen Studiums, sich mit unterschiedlichen Forschungsansätzen zur Aufklärung eines bestimmten Problems oder Gegenstandes zu befassen, muß auch für das didaktische Studium des Lehrers gelten.

3. Der konkrete Unterricht hinterläßt in der Regel keinen "Text", der auf seine Pluralität hin zu prüfen wäre; gleichwohl könnte man Bedingungen nennen - einerseits hinsichtlich der Art und Weise der Bearbeitung der Stoffe, andererseits hinsichtlich des Kommunikationsstiles - die als Kriterien eines pluralistischen Unterrichts gelten könnten. Vorschläge dazu habe ich an anderer Stelle entwickelt (1) Wenn Kühn aber prüfen will, ob eine didaktische Konzeption Pluralität für den Unterricht zuläßt oder nicht, dann muß er die didaktischen Lösungsvorschläge, also das vorgeschlagene didaktische Arrangement, daraufhin überprüfen und nicht die Begründungszusammenhänge, die zu diesen Lösungsvorschlägen geführt haben. Also: Genügt zum Beispiel das von mir vorgeschlagene Kategorien-Modell diesem Anspruch? Und nicht: Genügt meine im Begründungszusammen-

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hang vorgetragene Auffassung über die "Kritische Theorie" diesem Anspruch? Diese Auffassung ist nämlich überhaupt nicht Gegenstand des Unterrichts. Ähnlich habe ich auch Sutor verstanden, der gewiß nicht erwartet, daß seine anthropologischen Vorstellungen in die Köpfe möglichst aller Schüler abfragbar transportiert werden. Der Begründungszusammenhang richtet sich an den Lehrer, er soll und kann nicht Ergebnis ("Lernziel") des Unterrichts sein. Im übrigen bin ich ziemlich sicher, daß der konkrete politische Unterricht, den Sutor machen würde, sich sehr viel weniger von dem meinen unterscheiden würde, als dies nach der öffentlich aufgebauten Polarisierung erscheinen mag.

4. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob die Begründungszusammenhänge für didaktische Theorien so umfangreich sein müssen, wie sie auch von mir vorgetragen worden sind. Mir scheint, daß dies zunächst deshalb nötig war, um dem noch unbekannten, ungeliebten und unsicheren Schulfach eine gewisse Stütze zu geben. Inzwischen jedoch sehe ich die Gefahr, daß sich die Begründungszusammenhänge gegenüber den eigentlichen praktischen didaktischen Problemen verselbständigen - bzw. durch Untersuchungen wie die von Kühn dahin uminterpretiert werden - und damit zu einem eigentümlich belanglosen Genre von Text werden - nutzlos für den Unterricht, aber auch nicht autonom genug, um als Theorie sui generis Bedeutung zu erlangen. Darüber sollte vielleicht weiter nachgedacht werden.

5. Nachdenklich sollte aber stimmen, daß man durch scheinbar logisch plausible, dazu noch "wissenschaftstheoretisch" legitimierte Analyse-Arrangements einen Gegenstand so verändern kann, daß er eine neue Qualität bekommt, die er nur innerhalb dieses Arrangements hat und die außerhalb dieses Arrangements keine Realität mehr deckt. Die logische "Gleichschaltung" von Phänomenen, die in der historisch-politischen Realität in komplexen Wechselwirkungen und Kommunikationszusammenhängen stehen, führt zu einem eigentümlichen Verfehlen dieser Realität. Deshalb muß die Veränderung, die an der Realität durch die Definition im Rahmen eines bestimmten methodischen Vorgehens vorgenommen wird, bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden.

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Anmerkungen:

(1) H. Giesecke: Die Schule als pluralistische Dienstleistung und das Konsensproblem der politischen Bildung. In: S. Schiele/H. Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S. 56ff. und: H. Giesecke, Überlegungen zur Konsensfähigkeit von Schulbüchern für den politischen Unterricht. In: Neue Sammlung H. 4/1979.


 
 

118. Wie und warum wird man Terrorist? (1980)

(In: Christine Schaefers (Hrsg.): Notausgänge. Hannover 1980, S. 149-156)

(Der Artikel knüpft an zwei voranstehende Beiträge der ehemaligen RAF-Terroristen Michael "Bommi" Baumann und Hans-Joachim Klein an, H. G.).
 

Die beiden in diesem Kapitel abgedruckten Beiträge zeigen, daß der Entschluß, sich einer terroristischen Gruppe anzuschließen, nicht irgendwann bewußt gefaßt wird - so wie man üblicherweise beschließt, einem Verein oder einem Verband beizutreten. Vielmehr handelt es sich um einen Prozeß, dessen Ende im Terrorismus eher zufällig ist, er könnte zum Beispiel auch in der Drogenszene oder in einer Jugendsekte enden. Entscheidend ist offenbar, auf wen man trifft, wenn man sich entschlossen hat, aus dem "normalen" Leben und seinen Ansprüchen und Bindungen "auszusteigen". Dies, das mehr oder weniger bewußte Aussteigen, ist der eigentliche Anfang. Auf welche Gruppe "Gleichgestimmter" man dann trifft, ist zunächst eher vom Zufall bestimmt.

Ich spreche mit Absicht von "man", weil es kaum eine Möglichkeit gibt vorher zu sagen, wer von dieser Gefahr betroffen ist und wer nicht. Im Prinzip kann jeder junge Mensch in eine terroristische Szene steuern, insofern ihm die "normale" Lebensperspektive - Lernen, Arbeiten, Familie gründen - nicht mehr erstrebenswert erscheint und er ihr auszuweichen sucht. Das gilt für die übliche Jugendkriminalität auch. Im allgemeinen wird kein Jugendlicher "aus heiterem Himmel" kriminell, fast immer geht dies in einem längeren Prozeß vor sich, der mit irgendeiner sozialen Abweichung beginnt (zum Beispiel Schule schwänzen), die an und für sich harmlos ist, aber gleichwohl Teilstück einer "kriminellen Karriere" sein kann.

Daß Terroristen zunächst einmal "Menschen wie Du und ich" sind, nicht neurotischer als viele andere Bürger auch daß sie kein für jedermann sichtbares Zeichen tragen, daß man im Restaurant neben Ihnen sitzen könnte - diese ihre "Normalität" läßt wahrscheinlich die Öffentlichkeit über ihre Existenz so erschrecken, ruft bei vielen Bürgern aggressive Reaktionen hervor und hat sogar den Gesetzgeber zu problematischen Maßnahmen veranlaßt. Überhaupt ist ja bemerkenswert, daß die öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich der kleinen Zahl der Terroristen gilt, den anderen Aussteigern dagegen kaum, obwohl Alkoholismus, Drogensucht und Jugendsekten nicht nur vielen Jugendlichen und ihren Angehörigen großes Leid bereiten, sondern auch hohe sozialpolitische Kosten verursachen und insofern keineswegs nur "Privatsache" sind. Offensichtlich provozierten die Terroristen einen Haß aus der Bevölkerung, der ihrem eigenen durchaus ähnlich war. Dieser Haß kann seine

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Ursache nicht in vordergründigen Ängsten haben wie der, selbst Opfer des Terrorismus zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, mit dem eigenen Auto umzukommen, ist weitaus größer, und eine Bedrohung für den Staat ist der Terrorismus nur insofern, als der Staat in seinem Abwehrverhalten in die Versuchung gerät, wichtige Prinzipien, auf denen seine Legitimation beruht, aufzuweichen.

Die entscheidenden Prozesse vollziehen sich also in den Gruppen, zu denen der Aussteiger stößt. Hier findet er die gleiche "Gestimmtheit" - eine Mischung aus Resignation, Aggression und Suche nach einem einleuchtenden Lebenssinn; hier erfährt er das, was ihm draußen versagt bleibt: Anerkennung, Zuwendung, Ermutigung. Aber die Gruppe blockiert auch den Zugang zur Realität, sie hat ihre eigene Realität. Immer wieder werden dieselben Meinungen ausgetauscht, die nicht mehr an der Wirklichkeit überprüft werden müssen, andere Ansichten kommen nicht zu Gehör, sie werden auch nicht mehr gesucht. In dem Maße, wie man sich in der Gruppe wohlfühlt, verfällt man auch ihrem Weltbild. Spätestens dann, wenn der "Neue" an der ersten illegalen Aktion teilgenommen hat - und sei es nur am Rande -, kann er nicht mehr zurück, er ist nicht nur straffällig geworden, er wäre im Falle des Austritts auch ein "Sicherheitsrisiko" für die ganze Gruppe. Die aufgezwungene Isolierung nach außen verstärkt den Gruppendruck, irgendwann ist man nicht mehr geborgen in der Gruppe, sondern total von ihr abhängig, nur noch ein Stück von ihr, die äußere Welt wird immer unrealistischer erlebt und gedeutet. Die Menschen, die ermordet werden, erscheinen als Un-Personen, als un-lebendige Agenten des Systems. Die Isolierung in der Gruppe verändert also den Menschen, insbesondere auch seine Moral. Das Grund-Motiv zumindest des deutschen Terrorismus ist sicherlich kein politisches, jedenfalls haben die entsprechenden Äußerungen von Baumann und Klein nicht den Rang praktischer politischer Analysen, aus denen die Gewalttaten irgendwie erklärbar würden. Eher entsteht der Eindruck, daß das Politische lediglich als Verlängerung der eigenen Unlustgefühle gesehen wird: Die Unzufriedenheit mit sich selbst lenkt den Haß auf das politische System, die Unterdrückung, wie man sie selbst erlebt, und wird sodann verbunden mit der Unterdrückung, gegen die im Ausland Befreiungsbewegungen antreten. Allerdings muß man bedenken, daß die terroristische Szene in Deutschland differenziert ist. Baumann und Klein waren insofern nicht repräsentativ, als sie nicht aus der Hochschulszene stammen und die spezifischen Motive der Terroristinnen nicht zum Ausdruck bringen, die die Mehrheit der Terroristen darstellen. Hatte die Kerngruppe der RAF ihre Handlungen noch durch politisch-theoretische Argumentationen zu rechtfertigen versucht, so wurde der Terror bald zum kaum noch begründeten Selbstzweck, diente

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vor allem der Befreiung inhaftierter Genossen - was die Rolle der Gruppe noch einmal unterstreicht! - und schließlich wurden, wie Klein berichtet, Morde nur noch deshalb geplant, um bei ausländischen Widerstandsorganisationen Eindruck zu machen und deren Unterstützung zu erlangen. Der Hang zur Gewalttätigkeit beschränkte sich aber keineswegs auf die kleine Gruppe der aktiven Terroristen. Diese lebten vielmehr zumindest einige Jahre in einem "Umfeld", zum Beispiel von Studenten, die mit den Gewaltanwendungen sympathisierten und teilweise selbst an den Hochschulen psychische Gewalt anwendeten. Erst das Schrumpfen dieses "Sympathisanten-Feldes" hat den harten Kern der Terroristen in die letzte Isolierung getrieben.

Welche konkreten Motive im Einzelfall zum Terrorismus geführt haben, läßt sich nicht generell beantworten. Da gibt es sicher Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen jungen Arbeitern und Studenten, um nur einige zu nennen. Aber man kann sich nach den gesellschaftlichen Bedingungen fragen, unter denen Jugendliche heute heranwachsen, und hier nach Erklärungen für den Terrorismus suchen. Dabei ist jedoch Vorsicht angebracht. Die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Terrorismus verführt nämlich leicht dazu, die eigenen Vorstellungen über Mängel in Staat und Gesellschaft aus Anlaß des Terrorismus zur Sprache zu bringen: Wer sowieso für Reformen plädiert, sieht hier eine gute Gelegenheit, ebenso derjenige, der immer schon meinte, daß die alten Werte und Ordnungen wieder her müßten. Mir scheint, daß die gesellschaftlichen Randbedingungen für den Terrorismus weniger im realpolitischen Bereich zu suchen sind, als vielmehr im Bereich der politischen Kultur - marxistisch gesprochen: eher im Bereich des "Überbaus". Daß dieser Staat faschistisch oder faschistoid sei, kann nur behaupten, wer vom Faschismus wenig Ahnung und mit ihm keine Erfahrung hat; die Jugendarbeitslosigkeit war Anfang der 50er Jahre erheblich höher als heute; die Bedingungen am Arbeitsplatz sind zumindest nicht schlechter geworden, und die ohnmächtig machenden Verfahren der Bürokratie erleben Jugendliche eher am Rande - solange die Administration nicht durch Rechtsbrüche zur Manifestation gezwungen wird. Die "Krise" des Systems, wie viele junge Menschen sie empfinden, kann also gar nicht in erster Linie in diesen Realitäten liegen, sie liegt eher auf der Ebene der politischen Kultur, vor allem auf der Ebene der Sinnfragen und der Normen. Dazu einige Stichworte:

1. Die Prinzipien des wirtschaftlichen Wachstums einerseits und des totalen Konsums andererseits haben sich gegen alle Prinzipien, die dem historisch entgegenstehen (zum Beispiel religiöse), fast ganz durchgesetzt. Gab es Mitte der 60er Jahre noch ein differenziertes Spektrum von gesellschaftlichen Teilkulturen mit jeweils eigentümlichen Werten - zum

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Beispiel die Kirchen, das Leitbild des "Gebildeten", oder schichtspezifische Traditionen etwa in der Arbeiterschaft - so wurde diese Differenz durch die eigentümlichen Gesetze der kapitalistischen Produktion radikal vereinheitlicht und diesen unterworfen. Dabei haben die Kritiker aus der Studentenbewegung paradoxerweise kräftig mitgeholfen, die an jener einheitlichen Vergesellschaftung gemessen "rückständigen" Bereiche wie das Hochschulwesen ebenfalls "gleichzuschalten". Im Unterschied jedoch zu anderen normativen Prinzipien, die in irgendeiner Form Einschränkung, Verzicht, und damit die Herausarbeitung der eigenen Bedürfnisse und Interessen verlangen und somit Identität ermöglichen, gilt dies für das Prinzip des Wachstums und des Konsums gerade nicht. Das Wachstum als Prinzip ist ohnehin in eine Krise geraten. Das Prinzip des Konsums für sich genommen führt zur Grenzenlosigkeit der Bedürfnisse. Etwas haben heißt nicht, damit zufrieden zu sein, sich daran zu freuen, das Zusammenleben mit anderen zu verschönen, sondern es heißt: Vieles andere nicht haben, und in diesem Vergleich wird das, was man hat, sofort wieder wertlos. Wem es gelingt, zufrieden zu sein mit dem, was er sich an Konsum ausgewählt hat, der ist dies nicht mit dem normativen Prinzip des Konsums sondern trotz seiner, er bezieht die Maßstäbe dafür aus ganz anderen Zusammenhängen. Ist aber das, was man hat, nichts wert im Vergleich zu dem, was man nicht hat, dann ist auch die Arbeit nicht mehr lohnend, die dafür investiert wird. Das Konsumprinzip kann also allein keine Identität bieten, es führt im Gegenteil zum grenzenlosen Verschwimmen des Ichs. Wenn man seine Grenzen nicht erfährt, kann man sich auch selbst nicht erfahren. Das terroristische Handeln erscheint dann manchem als Gelegenheit, eben solche Erfahrungen zu machen.

2. In dieser Situation läuft jede Initiative, jede Absicht des jungen Menschen ins Leere. Es scheint nichts zu tun zu geben, was der Mühe wert wäre, keine Aufgabe zu geben, die nicht vom Prinzip des Konsums überschattet wäre. Selbst die zwischenmenschlichen Beziehungen sind davon erfaßt. Es gibt heute ganze therapeutische Schulen, die das Tauschprinzip zu ihrer Handlungsmaxime gemacht haben: Du bekommst nur so viel, wie ich auch von dir erhalte, streng dich also an, damit du geliebt wirst. In dieser Sinnlosigkeit des Lebens erscheint der Anschluß an eine terroristische Befreiungsbewegung und die internationale "Solidarität" des Terrorismus für manchen als lohnende Alternative.

3. Das Problem der heute Heranwachsenden ist nicht, daß sie von Staat und Gesellschaft unterdrückt würden, sondern daß sie deren Realität gar nicht mehr erfahren. Gewiß gibt es den Leistungsdruck in der Schule, aber Schule ist ja eben schon ein Teil der "künstlichen" Welt, in der Jugendliche heute heranwachsen. Über viele Jahre leben junge Menschen

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heute - Studenten gar bis ins Erwachsenenalter - in einer Scheinwelt, die einerseits pädagogisch konstruiert ist (Schule und Hochschule), und die andererseits von den Gesetzen des Konsums bestimmt ist. Was Politik "wirklich" ist, wie unternehmerisches und gewerkschaftliches Handeln "wirklich" aussehen, kann nicht erlebt und erfahren werden. In der künstlichen Welt aus Pädagogik und Konsum können deshalb Weltvorstellungen entstehen, deren Realitätsgehalt nur durch relativ abstrakte Denkoperationen überprüfbar wäre, aber kaum durch persönliche Erfahrungen. Solche Weltbilder bestimmen auch jene Subkulturen, in die man "aussteigen" kann. Terroristische Aktivität zum Beispiel produziert so etwas wie eine extreme Erfahrung, die existenzielle Erfahrung von Kampf, Leben und Tod. An den Hochschulen zum Beispiel konnte man vor einigen Jahren den Eindruck gewinnen, als sei die provozierte Konfrontation mit der Polizei "endlich" einmal so etwas wie eine "Real-Erfahrung".

4. Die oft beklagte Isolation des Einzelnen, aus der die Flucht in die Gruppe befreien soll, drückt nur aus, daß die Menschen in einem sehr hohen Maß auf sich selbst zurückgeworfen sind. Eine Gesellschaft, die an der Basis (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) weitgehend aufgelöst ist, während die bürokratischen Zwänge der Apparate zunehmen, die von sich aus wenig Orientierung anbietet, verlangt vom Einzelnen ein hohes Maß an Ich-Stärke und Eigenständigkeit, an Fähigkeit, kulturelle und soziale Normen und Beziehungen selbst zu entwickeln und zu gestalten. Das ist der eigentliche "Leistungsdruck" der Gesellschaft, und sie überfordert damit viele Menschen. Gerade die Freiheit, sein Leben selbst gestalten zu können, für die es faktisch gerade auch für junge Menschen noch nie so viel Spielraum gab wie heute, wird zunehmend als Bedrohung, weniger als Chance erlebt. Die Tendenz, diese Freiheit zu opfern zugunsten neuer Bindungen in Gruppen, Kollektiven oder Sekten, nimmt zu, und der Terrorismus ist davon nur eine Variante. Die Gefährlichkeit dieser Tendenz wird durch den Blick auf den Terrorismus eher unterschätzt; denn diese Freiheit, für die man nicht erzogen wurde und für die man nichts Nennenswertes selbst hat tun müssen, die einem vielmehr kampflos von Kindheit an wie ein Konsumgut zugeworfen wurde, könnte auf die Dauer als so wertlos erscheinen, daß radikale politische Organisationen, die sie auch politisch abschaffen wollen, eine Chance erhalten könnten.

In den Formen des "Aussteigens" - besonders dramatisch in der Terrorszene - zeigt sich zweifellos eine tiefe Sinnkrise der hochentwickelten westlichen Gesellschaften, deren Zukunft neue Perspektiven braucht. "Sinn" jedoch kann man nicht verordnen, im Grunde auch nicht einfach anerziehen; was dem Leben Sinn und Perspektive gibt, kann nur erfahren

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werden in neuem Zugang zu alten Werten und Traditionen oder durch das Ausprobieren neuer Möglichkeiten. Das, was die Aussteiger mehr oder weniger sprachlos artikulieren, ist keineswegs nur ein Problem der jungen Generation, sondern ein Problem aller Generationen, bei den in Beruf und Familie etablierten Generationen zeigt es sich nur anders, zum Beispiel in der Zunahme psychosomatischer Erkrankungen. Der Haß etwa, der die Terroristen zu Gewaltakten verleitet, wird von vielen "normalen" Erwachsenen nur nach innen, gegen die eigene Person gewendet. Gerade weil es sich hier um ein allgemeines gesellschaftliches Problem handelt, ist die Frage so schwer zu beantworten, was "die Gesellschaft" oder "die Familie" tun könnten, um den Aussteigern zu helfen bzw. um das Aussteigen zu verhindern.

Sicherlich ist Liebe und Zuwendung wichtig, damit sich Jugendliche auch in ihren Schwächen und Problemen anerkannt fühlen, aber dies allein eröffnet ihnen noch keine sinnvolle Lebensperspektive. Auch die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit - so wichtig sie ist - trifft nicht den Kern des Problems, denn Baumann und Klein waren nicht arbeitslos, sondern sie wollten unter den sie frustrierenden Bedingungen nicht arbeiten, dafür jedoch in dem als sinnvoll erlebten Zusammenhang der Terrorszene.

Gerade im Hinblick auf die spezifischen terroristischen Aussteiger scheinen mir vor allem drei öffentliche Reaktionen nützlich zu sein, die jedoch nicht leicht zu realisieren sein dürften:

1. Die Rückkehr in die gesellschaftliche Normalität sollte so leicht wie möglich gemacht werden. Das ist rechtlich schwierig, weil schließlich Mord auch dann Mord bleibt, wenn er von Terroristen begangen wurde. Auf dieses rechtspolitische Problem kann ich hier nicht näher eingehen. Aber angesichts des geschilderten Teufelskreises in den terroristischen Gruppen wäre es wichtig, daß Verwandte und Freunde den Kontakt so lange wie möglich aufrecht erhalten, um auf diese Weise eine Rückkehr zu ermöglichen.

2. Wichtig wäre, die gesellschaftliche Ausgliederung des Jugendalters so weit wie möglich wieder rückgängig zu machen. Das "Aussteigen" erfolgt ja hin zu Subkulturen gleichaltriger Jugendlicher. Wir wissen aus der Jugendforschung, daß im Jugendalter die Gruppen der Gleichaltrigen eine besondere Bedeutung haben; jeder Jugendliche gehört zumindest einer solchen Gruppe an, die ihm in der Zwischenphase zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus eine gewisse Anerkennung und Solidarität verschafft. Die Nützlichkeit solcher Gruppen wird aber dadurch ins Gegenteil verkehrt, daß sie immer mehr gesellschaftlich erzwungen werden. Vom Schuleintritt an und für Studenten bis weit ins Erwachsenenalter hinein werden junge Menschen auf die Gleichaltrigen zurück-

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geworfen. Die Kontakte mit Erwachsenen - zum Beispiel Lehrer oder Hochschullehrer - sind begrenzt und auf ganz bestimmte Zwecke (zum Beispiel Unterricht) beschränkt. Im übrigen gibt es kaum kontinuierliche Beziehungen zwischen den Generationen. In den Hochschulen befinden sich zum Beispiel die Studenten, die Erwachsenen müssen in der Volkshochschule lernen. Es ist sicher kein Zufall, daß die Massenuniversitäten zur Basis des Terrorismus wurden, wo Zehntausende von Gleichaltrigen auf sich selbst verwiesen sind, abgeschnitten von jedem sonstigen Realitätsbezug im Getto künstlicher pädagogischer Situationen und des Konsums. In dieser Lage ist Gleichaltrigkeit nicht mehr nur eine Kommunikationsform unter mehreren anderen, sondern sie wird zur ausschließlichen. Die Jugend, die wir in die Bildungsstätten gesellschaftlich ausgegliedert haben, wird so massenhaft zum Selbstzweck gemacht. Ähnlich wie bei den Alten, wenn sie in perfekte Heime abgeschoben werden, wird auch von den Jungen die Ausgliederung als Gleichgültigkeit der Gesellschaft an ihren Problemen erlebt. Ursache für die Gettoisierung des Jugendalters ist nicht etwa, daß anders eine angemessene Bildung und Ausbildung nicht zu regeln wäre, sondern der bürokratische Selbstlauf und Selbstzweck des vorhandenen Systems. Denkbar und viel ergiebiger wäre zum Beispiel, die Pflichtschulzeit zu verkürzen, dafür aber einen Wechsel von Berufsphasen und Lernphasen anzubieten, auf diese Weise also die Jugendphase zu verkürzen, möglichst früh also Realitätsbezüge zu ermöglichen, die nicht schon wieder künstlich pädagogisiert sind. Auch Studiengänge an den Hochschulen ließen sich produktiv durch Phasen praktischer Tätigkeit unterbrechen. Natürlich wären solche Maßnahmen noch keine Garantie gegen den Terrorismus, aber sie würden eine wichtige Ursache der Ratlosigkeit und Unerfahrenheit mildern.

3. Schließlich käme es darauf an, übertriebene gesetzliche, polizeiliche und administrative Reaktionen zu vermeiden. Ohne Frage haben Maßnahmen wie der Radikalenerlaß, die Einschränkung der Verteidigerrechte bei Terroristenprozessen und die öffentliche Denunzierung der "Linken" als Sympathisanten des Terrorismus - bei gleichzeitiger Verschlechterung der Berufsaussichten vieler Jugendlicher - nicht nur für manche die Versuchung erhöht, zumindest mit dem Terrorismus zu sympathisieren, sondern die Entfremdung eines großen Teils der jungen Generation vom Staat noch verstärkt. Die Frage ist nicht nur, ob solche Maßnahmen formal rechtens sind, sondern auch, wie sie von einer ohnehin desorientierten und perspektivarmen jungen Generation erlebt werden. Was für die professionelle Politik - zum Beispiel die Außenpolitik - sonst gilt, sollte auch hier gelten: daß nämlich die Wirkung von Maßnahmen vorausgeahnt wird. Man kann natürlich sagen, daß die Angst vor dem 

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politischen Engagement und vor den staatlichen Reaktionen übertrieben sei, oder daß man für das, was man für richtig hält, eben auch gegen solche Reaktionen kämpfen müsse; aber man kann - und das ist eine Weisheit aller Politik - eben niemandem vorschreiben, wie etwas auf ihn wirkt und wie er es erlebt. Wer sich darüber freut, daß es in der jungen Generation politisch ruhiger geworden ist, sollte auch daran denken, daß ein großer Teil der Energie, die noch vor wenigen Jahren in das politische Engagement ging, heute in jene problematischen Bereiche gedrängt ist, von denen dieses Buch handelt.

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119. Politisch-didaktischer Dogmatismus bei der Hessischen Schulbuchzulassung (1980)

(In: Neue Sammlung, H. 4/1980, S. 395-405)
 
 

Vorbemerkungen: Anlaß der folgenden Überlegungen ist die Tatsache, daß der Hessische Kultusminister das von mir verfaßte Schulbuch "Einführung in die Politik, 2. Auflage, Stuttgart: Metzler-Verlag 1979" "zum Schulgebrauch" "nicht zugelassen" hat. Die Begründung stützt sich auf zwei Gutachten, die in Auszügen dem Verlag und also auch dem Autor zugeleitet wurden. Grund für die Ablehnung ist nicht etwa der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit oder der politischen Einseitigkeit oder sachlicher Unrichtigkeit oder fehlende Übereinstimmung mit dem Lehrplan, abgelehnt wird vielmehr das didaktische Konzept als solches - von dem einen Gutachter aus eher politisch-ideologischen Gründen, von dem anderen aus eher didaktisch-methodischen Gründen. Das Zulassungsverfahren sieht die Möglichkeit einer Diskussion nicht vor, die Gutachter bleiben anonym, es bleibt offen, ob die Administration sich vertrauensvoll den Gutachtern anschließt bei ihrer Entscheidung oder ob sie ihre Gutachter so auswählt, daß Übereinstimmung von vornherein erwartet werden kann. Man muß also davon ausgehen, daß der Hessische Kultusminister die Argumente der Gutachter teilt.

Nun ist die Misere der Schulbuchzulassung längst notorisch (1). Gerade deshalb darf man fragwürdige Praktiken nicht auf sich beruhen lassen. Die Auseinandersetzung, die ich im folgenden über die beiden Gutachten führen will, hat in mehrfacher Hinsicht mißliche Voraussetzungen. Einmal können die Gutachter sich nicht wehren, weil sie unbekannt sind. Aber mir geht es gar nicht um diese Gutachter, sondern ich verstehe ihre Texte als solche des Hessischen Kultusministers. Die zweite Mißlichkeit ist, daß ich in eigener Sache argumentieren muß, aber bei dem nicht-öffentlichen Halbdunkel des ganzen Zulassungsverfahrens bleibt keine andere Wahl; denn die Diskussion darüber muß irgendwann einmal konkret werden, "Roß und Reiter nennen". Das kann - außer in Gerichtsverfahren, die es inzwischen auch schon gibt (2) - nur der jeweilige Autor tun. Drittens schließlich ist ein Handicap, daß der Leser den Gegenstand der Auseinandersetzung, das Schulbuch, nicht kennt. Aber da ich mich in meiner Kritik nur so knapp

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wie möglich auf Einzelheiten einlasse - sie werden ohnehin kaum moniert von den Gutachtern - , muß die Kenntnis des Buches nicht unbedingt vorausgesetzt werden.

Ich will vielmehr zeigen, daß die beiden Gutachten charakteristische Elemente eines politisch-didaktischen Dogmatismus enthalten, den sie zum Maßstab für die Ablehnung erheben. Wenn das aber stimmt, dann ist von öffentlichem Interesse, welchen Spielraum der politische Unterricht in einem Land haben darf, wie weit das Eingriffsrecht des Staates gehen darf, und vor allem, nach welchen öffentlich bekannten Kriterien die Zulassung eigentlich gegeben bzw. verweigert werden darf.

Nach meiner Kenntnis sind die Hessischen Ablehnungsgründe ungewöhnlich; zwar spielen überall didaktisch-methodische Gründe auch eine Rolle, aber nicht in der Konzentration und fast Ausschließlichkeit wie in diesem Falle. Üblicherweise wird auf fehlende Übereinstimmung mit dem Lehrplan, auf politische Einseitigkeit oder "Unausgewogenheit" abgehoben. Politische Einseitigkeit glaubt zwar einer der hessischen Gutachter aus marxistischer Sicht auch zu entdecken - es sind ihm zu wenig Hinweise auf das "Kapitalverwertungsinteresse" im Buch - , aber damit wird, soweit ich erkennen kann, die Ablehnung nicht begründet.

Der Dogmatismus in den Gutachten zeigt sich vor allem in folgenden Aspekten:

1. Die außersubjektive politische Realität als das Ohnmächtigmachende;

2. didaktische Konstruktion als Ersatz für politische Realität;

3. die Zensur der Schülerfrage;

4. "permanente Ideologiekritik", "Veränderung" und "Interessenorganisation" als Leitvorstellungen
5. die politisch-pädagogische Ausbeutung des sogenannten "Schülerinteresses".
 
 

1. Die außersubjektive politische Realität als das Ohnmächtigmachende

Das Schulbuch beginnt mit einer begriffsorientierten Skizze, die dem Schüler zeigen soll, daß viele Prinzipien des Politischen einen engen Bezug zur Lebenserfahrung haben und von daher auch verstanden werden können (z. B. Bedürfnisse, Ordnung, Arbeit, Mangel, Ungleichheit, Kompromiß, Konsens, Alternative u. a. m.). Dazu schreibt Gutachter I (im folgenden wird der mehr didaktisch-methodisch argumentierende Gutachter als G I, der andere als G II bezeichnet):

"Die fachwissenschaftliche Struktur dieses Kapitels wird sich nur als bald wieder verdrängtes Faktengerüst über die Interessenstruktur der Schüler stülpen lassen, zumal über Schüler der 7. (!) Klasse. Sollen die zwischengeschalteten Fragen und Anregungen, was durchaus möglich wäre, die Interessenlage der Schüler erreichen, dann könnte man sich mit Anstößen zufrieden geben und sich die restlichen 300 Seiten sparen. Wenn ein Lehrer gleich am Anfang dieses Kapitel zügig-systematisch durcharbeitet, sind die Schüler für den restlichen Sozialkundeunterricht entmotiviert; läßt er sich ein Jahr Zeit dafür, folgt den Fragen (worüber muß Konsens in einer Familie, in der Schule, in einer Gewerkschaft, in einem Staat bestehen?, warum lesen wir nicht ungern in den Zeitungen Berichte über Gewaltverbrechen?) und den Querverweisen auf spätere Kapitel, bleibt die angestrebte Systematik zugunsten eines inhaltlich unstrukturierten Potpourris auf der Strecke." (S. 3).

Kritisiert wird hier nicht etwa das Heikle an diesem Versuch, politische Grundbegriffe aus dem Erfahrungshorizont der Schüler zu erklären - zum Beispiel die Gefahr der sachlichen Verkürzung. Abgelehnt wird vielmehr überhaupt der

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Versuch, politische Zusammenhänge so einfach wie möglich zu erklären; denn an einer anderen Stelle im Gutachten heißt es dazu:

"Einem Text, der sich in all seiner Ausgewogenheit ,definit' geriert, kann durch Zwischenfragen nichts von seinem Anspruch genommen werden. Dieser wird ähnlich wie bei vielen didaktischen Dialogen womöglich durch die Zwischenfragen in einer Art dialektischen Rösselsprungs noch verstärkt." (S. 2).

Es soll also überhaupt nichts im Zusammenhang erklärt werden, weil das in jedem Fall "definit" wäre. Im übrigen wird im Lehrerheft (S. 16ff.) ausführlich darauf hingewiesen, daß es selbstverständlich nicht darum gehen kann, dieses Kapitel oder irgendein anderes von vorne bis hinten "durchzunehmen". Vielmehr wird davor ausdrücklich gewarnt, werden eine ganze Reihe von Varianten für den Einsatz des Buches im Unterricht vorgeschlagen - einschließlich der, es zeitweise gar nicht zu benutzen.

Außerdem ist die Argumentation an zwei Punkten falsch. Erstens handelt es sich nicht um ein "Faktengerüst", sondern allenfalls um ein "Reflexionsgerüst" - auswendig zu lernen ist da nichts! - Und zweitens handelt es sich nicht um eine "fachwissenschaftliche Struktur". Wäre dies so, dann müßten sachliche Bedenken geltend gemacht werden sowohl gegen die Auswahl wie gegen die Reihenfolge. Die Reihenfolge beginnt mit den menschlichen Bedürfnissen, aber es ist wissenschaftlich höchst fraglich, ob man politische Grundbegriffe aus den Folgen menschlicher Bedürfnisse erklären kann; didaktisch dagegen spricht viel für die Vermutung, daß es einleuchtender ist, bei den menschlichen Bedürfnissen als bei irgendwelchen staatstheoretischen oder ordnungspolitischen Prinzipien anzufangen.

Der Gutachter spielt in seiner Kritik lediglich eine Reihe absurder Verwendungsmöglichkeiten des Schulbuchs im Unterricht durch, vor denen im Lehrerheft ausdrücklich gewarnt wird, um damit das Buch selbst zu diskreditieren. Mit dieser Logik könnte man jedes Schulbuch zurückweisen wie überhaupt alles, was falsch verwendet werden könnte.

Die übrigen Kapitel des Buches sind anders konzipiert, nämlich an politischen Sachzusammenhängen orientiert. Jedes der 22 Unterkapitel beginnt mit einem Angebot des Autors an Orientierungswissen, dem dann "Materialien und Problemskizzen" folgen. Zum Orientierungswissen schreibt G 1:

"Was für den Studenten als Repetitorium hilfreich sein könnte, gewinnt für den Schüler keine Funktion. Steht dieser Text, von dem ich nicht weiß, wie man ihn eigentlich einsetzen (durchnehmen?) kann, am Anfang des Unterrichts, kommt es zu einer völligen Gängelung der Schüler. Fragen und Probleme der Schüler sind von der Textstruktur vorgegeben, alternatives und problemorientiertes Denken wird nur scheinbar, weil wohl kanalisiert gefördert. Selbst da, wo explizit gefragt wird, legt die Textanordnung die Antwort nahe, sofern sie nicht gleich gegeben wird ... . Das Bemühen um systematische Vollständigkeit der Darstellung scheut auch nicht vor Banalitäten zurück. Erster Satz des Unterkapitels Was ist ein Staat im Kapitel Die Staaten in der Weltpolitik: 'Wie ein Blick auf die politische Weltkarte zeigt, ist die Erde in Staaten aufgeteilt'." (S. 4).

Auch hier kein Wort davon, daß der Text unrichtig wäre oder unvollständig oder zu schwierig - nein, der Gutachter will solche Texte offensichtlich über-

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haupt nicht, weil er nicht weiß, was er damit im Unterricht machen soll. Ja, was kann man mit Texten schon machen, außer daß man sie liest und versteht, falls man ihren Inhalt für wichtig genug hält? Aber man muß gar nicht, im Lehrerheft S. 16 ff. steht, daß man auch von den Materialien ausgehen kann. "Gängeln" würde also höchstens der Lehrer, der das Buch falsch einsetzt. Wiederum muß das "Schülerinteresse" herhalten, zu dessen Wortführer sich der Gutachter macht, um jeden Versuch einer Erklärung von Sachverhalten zu verhindern. Kann er sich wirklich nicht vorstellen, daß Schüler zumindest ab und an auch ein Interesse daran haben könnten, etwas zu lernen und zu verstehen, anstatt ihr politisches Weltbild ständig aus diffusen "nicht aufbereiteten" Materialien selbst basteln zu müssen?

Abgesehen davon wäre es ganz unmöglich, mit zwei bis vier Seiten Orientierungswissen pro Kapitel "systematische Vollständigkeit der Darstellung" anzustreben. Was damit beabsichtigt ist, steht ausdrücklich im Lehrerheft, aber das interessiert den Gutachter offensichtlich nicht. - Und ich erinnere mich noch sehr genau, daß ich es als Junge keineswegs "banal", sondern eher erschreckend fand, als ich erfuhr, daß jedes Stückchen Erde schon irgend einem Staat gehört und daß dies keineswegs immer in der Geschichte so war, aber die hessischen Schüler und vor allem ihre selbsternannten Oberschulmeister von heute sind da sicher viel aufgeklärter.

Den Einwänden, die sich ja bezeichnenderweise gar nicht gegen die Autorentexte im einzelnen richten, obwohl jeder Versuch einer didaktischen Vereinfachung genug Schwierigkeiten bereitet und Anlaß zur Kritik böte, ist zu entnehmen, daß es gar nicht darum geht, ob der Autor diese didaktische Aufgabe gut oder schlecht gelöst hat, sondern daß er sie sich überhaupt gestellt hat. In dem didaktischen Dogmatismus, den der Gutachter zu seinem Maßstab macht, ist Information über politische Realität - ob sie einem nun gefällt oder nicht, ob sie zur Kenntnis zu nehmen Spaß macht oder nicht, ob sie wichtig ist oder nicht - ein didaktisches Tabu: Realität macht ohnmächtig, gängelt die Schüler. An die Stelle der politischen Realität tritt eine künstlich konstruierte, die pädagogisch-didaktische.
 
 

2. Didaktische Konstruktion als Ersatz für politische Realität

Die "Materialien und Problemskizzen" im Schulbuch, die jedem Kapitel beigegeben sind, bestehen im wesentlichen aus journalistischen Texten, Graphiken und Karikaturen. Es handelt sich also um die üblichen Mitteilungen aus der politischen Realität, wie wir sie alle bekommen und zu unserer Urteilsfindung verwenden müssen. Ausgewählt für das Schulbuch wurden solche, die Probleme zur Sprache bringen, die für die Gegenwart und voraussichtlich auch für die Zukunft von Bedeutung sind. Dazu G I:

"Ob Karikaturen oder Textmitschnitte aus politischen Fernsehsendungen, für beide ist typisch, daß in ihnen die Probleme schon angerissen bzw. sogar kommentiert sind. Neue, nicht aufbereitete Texte, die informieren und eigenständiges Denken der Schüler

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auslösen, sind selten ... innerhalb der Materialien ist eine ausgeprägte Tendenz zu darstellenden Texten festzustellen, die die Probleme schon aufbereitet darbieten.

Typisch dafür sind Spiegeltexte (die Schwierigkeit des Spiegelstils gerade für jüngere Schüler, die allzu leicht seiner Pseudoobjektivität aufsitzen, ist offenbar nicht berücksichtigt) und Fernsehreportagen, die neben These und Antithese meist auch noch die überlegene Kommentator-Synthese mitliefern ... . Besonders auffällig ist das besonders in den beiden ersten Kapiteln vorherrschende Prinzip der politisch wohlausgewogenen - großen Deutschen. Auffällig deshalb, weil sich die Mehrzahl der Repräsentanten der Gegenwartspolitik nicht politisch, sondern politologisch äußert. Alle Sprengkraft, die Diskussionen entzünden könnte, ist ausgeschlossen, alle, nicht nur unsere ehemaligen Bundespräsidenten, auch Biedenkopf und Eppler, dozieren brav und bieder, als ob sie übers Schulbuch in die Geschichte eingehen wollten." (S. 2 und 6).

Kritisiert wird hier wiederum das Prinzip, nicht die Art der Ausführung. Verlangt werden "nicht aufbereitete Texte", aber die produziert die Realität eben nicht, also muß der Pädagoge sie produzieren, entweder indem er sie selbst macht - aber knappes Orientierungswissen ist ja auch schon ein "aufbereiteter" Text! - oder indem er die "echten" Texte so zerstückelt, daß lediglich ein paar Zitätchen oder Fakten übrigbleiben. Ich frage mich, was die hessischen Buben und Mädchen eigentlich überhaupt im politischen Unterricht lernen sollen, wenn nicht, die tatsächlichen Informationen über politisches Geschehen zu entschlüsseln? Ob die Bundespräsidenten oder der Gutachter das falsche Politikverständnis haben, ist vielleicht eine interessante Frage. Aber möglicherweise ist der Gutachter bereits so in der von ihm favorisierten didaktischen Politikrealität befangen, daß er dem Schulbuchautor anlastet, was die Wirklichkeit immer weniger hergibt: nämlich zündende politische Diskussionen. Teilweise liegt das sicher am Amt; ein Bundespräsident, der mit seinen Stellungnahmen politisch Furore macht, wäre sicher nicht gut beraten. Aber haben deshalb seine Texte per se keinen politisch-analytischen Wert?

Auch mir wäre lieber, die Politiker würden zu den großen Gegenwarts- und Zukunftsproblemen präzise, alternative Stellungnahmen abgeben, die man im Schulbuch schön nebeneinander präsentieren könnte - wie noch vor 15 oder 20 Jahren. Aber wenn Politiker der alten Garde wie Strauß oder Wehner dies noch gelegentlich tun, dann wird dies von ihrer Umgebung "abgewiegelt" und so lange entstellt, bis niemand mehr weiß, wovon überhaupt die Rede war. Politische Kontroversen können nur von Menschen, von politischen Individuen, ausgetragen werden, nicht von Gremien, Vorständen, Verbänden oder Kollektiven. Die im Rahmen der Massenmedien vergesellschaftete Politik produziert kaum noch schulbuchfähige Kontroversen, zündende Positionen können nur noch die formulieren, die im politischen System (noch) nichts zu melden haben, die keine Rücksicht auf Gremien, auf öffentliche Reaktionen oder auf politische Partner nehmen müssen und die dem politischen Gegner gegenüber sich noch Blößen geben dürfen. Die weit verbreitete politisch-pädagogische Ansicht, die auch von den beiden hessischen Gutachtern offensichtlich geteilt wird, da gebe es unterschiedliche Klassen oder Schichten oder politische Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Ideologien, und nun müsse man lernen, zwischen denen zu unter-

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scheiden unter Berücksichtigung des eigenen Interesses, ist einfach eine realitätsferne Illusion geworden. Natürlich gibt es diese Unterschiede noch, aber sie geben von sich aus kaum noch kontroverse Kunde. Wo trotzdem in Schulbüchern versucht wird, solche Kontroversen zusammenzustellen, da werden sie entweder mühsam montiert, oder man muß zu wissenschaftlichen Texten greifen, aus denen sich die meisten Bürger aber nicht informieren.

Heute sind es die qualifizierten journalistischen Analysen, die Konflikte, Widersprüche, Problematisierungen, moralisches Engagement zum Ausdruck bringen, aber Journalisten diskutieren in der Regel nicht mit- oder gegeneinander und produzieren deshalb eben auch selten schöne Schulbuchkontroversen. Die tatsächlichen Intentionen politischer Parteien und Verbände im Rahmen allgemeiner Programme, aber auch vor allem angesichts bestimmter politischer Probleme zu erfahren, erfordert inzwischen eine hochentwickelte philologische Akribie, deren Schüler der Sekundarstufe kaum fähig sein und für die sie auch kaum motiviert sein dürften. Wenn die herausragende politisch-didaktische Bedeutung des kritischen, qualifizierten Journalismus richtig gesehen ist, dann erklären sich von daher auch die vielfältigen Versuche, ihn politisch mundtot zu machen oder ihn einzuschränken. Dann muß aber auch die politische Didaktik allmählich von liebgewordenen Vorstellungen abrücken, die durch die Realität nicht mehr gedeckt werden.

In die politisch-didaktische Eigenwelt des Gutachters paßt natürlich auch nicht, daß die Materialien des Schulbuches nicht listig mit dem Orientierungswissen verbunden sind, so daß die Schüler lauter Aha-Erlebnisse des freudigen Wiedererkennens haben, wenn sie vom Orientierungswissen zu den Materialien fortschreiten oder umgekehrt.

"Geht man von einer primären Erarbeitung des Darstellungsteils aus, wird ein Großteil der Materialien überflüssig, da die Ergebnisse, wenn auch zum Teil abstrakt abgehoben, schon vorweggenommen wurden. Andererseits fällt es oft schwer, den Bogen von den Materialien, die eher an einem Stichwort der Darstellung ansetzen und ein konkretes Problem herausgreifen, zurück zur systematischen Darstellung zu schlagen. Zudem stehen sie meist isoliert und reichen kaum als Informationsgrundlage für eine in sich geschlossene kleine Einheit aus.
Geht man dagegen, was wohl kaum der Intention des Verfassers entspricht, aber in dem Augenblick notwendig erscheint, wenn man den Darstellungsteil für nicht einsatzfähig hält, nur von den Materialien aus, gewinnt man, von Ausnahmen ... abgesehen, den Eindruck ungeheurer Sprunghaftigkeit und Heterogenität." (G I, S. 5).

"Die Intention des Verfassers" hätte der Gutachter im Lehrerheft nachlesen können. Entgegen seiner Vermutung meint der Verfasser in der Tat, daß zumindest eine ganze Reihe von Materialien oder mehrere von ihnen zusammen eine Unterrichtseinheit hergeben können und auch sollen; wäre es denn nicht eine erhebliche "Gängelung des Schülers", gegen die sich der Gutachter ja so nachdrücklich verwahrt, wenn man ihm erst etwas im Rahmen des Orientierungswissens erklärte und ihm dann nur solche Materialien zumutete, die diese Erklärung wiederholen? Natürlich kann man auch andere Materialien mit guten Gründen auswählen, nur würde man ihren Sinn und ihren Quellenwert erheb-

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lich verändern, wenn man sie allzusehr auf den Inhalt des Orientierungswissens zuschnitte. Außerdem: Wenn "ein Großteil der Materialien überflüssig wird", wenn man das Orientierungswissen behandelt hat, dann kann der Vorwurf nicht stimmen, die Materialien seien nicht rückbeziehbar auf das Orientierungswissen.

Wie im Lehrerheft erläutert wird, werden in dem Buch drei Darstellungsmöglichkeiten miteinander verbunden, die im Prinzip unabhängig voneinander existieren können, hier aber kombiniert werden: Die Skizze über "politische Grundbegriffe" eröffnet prinzipielle Zugänge zum Politischen, aber auf Kosten realitätsbezogener Detailanalysen. Das Orientierungswissen gibt grundlegende Informationen zu den einzelnen Sachverhalten, aber es ermöglicht wenig eigene Aktivität und würde für sich genommen auch zu problematischer Systematik führen. Die Materialien enthalten in prinzipiell beliebigem Umfang jene Mitteilungen aus der Realität, die eigene Arbeit und Auseinandersetzung ermöglichen, aber für sich genommen nur zu additiven Problemanalysen führen würden. Das Schulbuch versucht nur, die Vorteile dieser drei Zugänge nutzbar zu machen und ihre Nachteile durch Hinweis auf die jeweils anderen Ansätze möglichst gering zu halten. Das müßte doch eigentlich auch ein Zensurgutachter verstehen, und wenn nicht billigen, dann zumindest mit guten Gründen kritisieren. Statt dessen spielt er auch hier wieder nur radikal zu Ende gedachte absurde Verwendungsmöglichkeiten durch.
 
 

3. Die Zensur der Schülerfragen

Den Materialien im Schulbuch sind unter der Rubrik "Was man' sich fragen kann" Fragen hinzugefügt. Es sind Fragen, die sich auf das Verständnis der jeweiligen Materialie beziehen, aber auch solche, die einzelne Aspekte des Textes weiterspinnen bis hin zu allgemein moralischen Fragen, die gleichsam den Text nur zum Anlaß nehmen. Sinn der Sache ist, die Schüler im Prinzip unbegrenzt zum Fragen zu ermuntern - aus der Einsicht heraus, daß der Schüler seine Erfahrung, seine Interessen und Motive in erster Linie durch Fragen zum Ausdruck bringen kann bzw. durch Meinungen, die wieder - zur Fortsetzung der Kommunikation - in Fragen zurückverwandelt werden können. Im Lehrerheft wird das ausführlich begründet. Der Gutachter schreibt dazu:

"Ich bin mir dessen bewußt, daß Arbeitsfragen zu den schwierigsten Teilen der Lehrbücher gehören, da dem Fragesteller die Lerngruppe unbekannt ist, er also entweder seine Fragen für eine vorgestellte idealtypische Gruppe (die es nicht gibt) formuliert oder sie so streut, daß für jeden etwas im Angebot enthalten ist. Giesecke scheint sich für den zweiten Weg entschieden zu haben. Die Kritik richtet sich keineswegs gegen die Heterogenität der Fragen, obwohl ich meine, daß allzu krasse Häufungen ... pädagogisch nicht sinnvoll seien. Sie richtet sich ausschließlich gegen die Fragen, die in keiner vorgestellten Unterrichtssituation methodisch zu vertreten sind. Die Menge solcher Fragen erlaubt es nicht mehr, sie einfach hinzunehmen und davon auszugehen, daß sie als Quantite negligeable nicht zum Tragen käme." (G I S. 7).

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Ganze Seiten lang läßt er sich dann darüber aus, die Fragen zu klassifizieren: "Suggestive Fragen", "unterfordernde", "überfordernde", "banale", "pauschale". Wohl an keinem Punkt verrät sich der didaktische Dogmatismus des Gutachters so wie hier. Das beginnt schon damit, daß er als Schülerfrage nur die "Arbeitsfrage" kennt - die tatsächlich der Lehrer stellt bzw. die der Lehrer entsprechend umfunktioniert, wenn der Schüler sie stellt. In einer Art von Freudscher Fehlleistung unterstellt der Gutachter - obwohl es ihm im Lehrerheft anders erklärt wird! - , daß der Autor die Schüler mit diesen Fragen bombardieren will - was ihm dann zu Recht den Vorwurf "der Entmündigung des Befragten" einbringen müßte - , während schon der mit Absicht gewählte Titel der Rubrik das genaue Gegenteil verrät ("Was man sich fragen kann") (3).

Hier wird niemand "befragt", sondern es werden Fragen angeboten, die aufgegriffen werden können oder nicht, die auch durch andere ersetzt werden können, die einem wichtiger erscheinen. Wenn irgend etwas die Schüler (und Lehrer) "gängelt", dann doch der vom Gutachter erwartete Versuch, die Komplexität einer Materialie durch willkürliche Beschränkung auf einige "Arbeitsfragen" zu reduzieren. Im Gegensatz dazu sollen die Fragen den Blick gerade öffnen für das, was in einer Materialie - als einer Mitteilung aus der Realität - an Perspektiven, Problemen und Diskussionsmöglichkeiten enthalten sein könnte - gerade auch als Gegengewicht gegen die notwendigerweise relativ eindimensionale Information des Orientierungswissens. Aber Fragen, die jemand stellt, zu rubrizieren anstatt sie zu beantworten bzw. mit ihm zu bearbeiten, gehört zu jenen schulmeisterlichen Untugenden, die sicherlich mit dafür verantwortlich sind, daß die Schule den Schülern das Lernen austreibt. Abgesehen von den "Arbeitsfragen", die sich auf das Verständnis des Textes beziehen, ist keine einzige Frage dabei, die ich mir nicht auch selbst ernsthaft stellen würde - wenn auch gelegentlich sicher in einer etwas "wissenschaftlicheren" Formulierung.
 
 

4. "Permanente Ideologiekritik", "Veränderung" und "Interessenorganisation" als Leitvorstellungen

G I bemängelt, daß im Schulbuch der Grundrechtsteil des Grundgesetzes abgedruckt ist; das Grundgesetz bekämen die hessischen Schüler sowieso in die Hand,

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also hätte man den Platz für anderes nützen können. G II rügt das Fehlen verbandspolitischer und parteipolitischer Stellungnahmen, obwohl die nun wirklich jederzeit zu bekommen sind. Sie fehlen nicht deshalb, weil der Autor sie als solche für unnötig hielte, sondern weil es für die Klassen 7 - 10 ziemlich entmutigend ist, Parteiprogramme zu einem Thema zu vergleichen - es sei denn, man reduzierte das Ganze auf ein paar aus dem Begründungszusammenhang gerissene Zitätchen. Aber es geht G II auch um etwas anderes, nämlich "um permanente Ideologiekritik".

"Nicht überzeugen können auch Gieseckes Bedenken gegen eine Präsentation parteipolitischer oder verbandspolitischer Stellungnahmen im Materialteil. Giesecke verbaut sich damit die Chance, daß die Schüler die politischen Parteien und Interessenverbände nicht nur als Institutionen kennenlernen, sondern auch ihre inhaltlichen Positionen zu bestimmten politischen Problemen erfahren und sachlich diskutieren lernen. Das setzt voraus, daß Ideologiekritik zu einer permanenten Aufgabe des politischen Unterrichts wird und nicht schwerpunktmäßig, wie es Giesecke tut, einem Kapitel "öffentliche Meinung und öffentliche Information" zugewiesen wird ... . Die Schüler müssen es lernen auch gegenüber der eigenen Meinung ideologiekritisch zu verfahren, damit sie zu einer begründeten Meinungsbildung finden und sich der Interessengebundenheit der eigenen Position bewußt werden. Dazu ist aber Voraussetzung, daß die Schüler mit partei- und verbandspolitischen Äußerungen konfrontiert werden." (S. 5).

Es ist schon irritierend: ein paar Seiten Orientierungswissen sind schlechterdings ungeeignet für die Schüler, aber ihre und anderer Leute "Ideologie" sollen sie permanent kritisieren, obschon doch klar sein muß, daß der Begriff "Ideologie" - im Unterschied zum "Vorurteil" - nicht von der Lebenserfahrung her verständlich zu machen, sondern Resultat recht komplizierter Denkoperationen ist. Als Quintessenz der beiden Gutachten scheint sich herauszuschälen: Politik als außersubjektive Realität ist nicht wichtig, wichtig ist nur, daß zu den Problemen kollektive, gesellschaftlich partikulare Stellungnahmen präsentiert werden mit dem Ziel, daß sich der Schüler - wie bei einem Warenhausangebot - die ihm (oder dem Lehrer?) genehmste aussucht. Durch Ideologiekritik soll das Ganze einen seriösen Anstrich kriegen. Damit das Sinn bekommt, muß dem Schüler natürlich die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse deutlich gemacht werden. Dazu dient dann die reduzierte Historie:

"Die Vermittlung der Erkenntnis von der Gewordenheit gegenwärtiger Verhältnisse, durch die möglicherweise ein Prozeß der Reflexion über den Grad ihrer Veränderbarkeit ausgelöst wird, kann sich nicht in historischen Erläuterungen erschöpfen, sondern bedarf der exemplarischen historischen Gegenüberstellung." (G 1, S. 2).

"Giesecke liefert zu einigen Themen eine Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung, es fehlt jedoch eine an einem Beispiel konkretisierte Erklärung der Prozesse, durch die gesellschaftliche Verhältnisse geändert worden sind. In der Darstellung Gieseckes sind zum Beispiel Gesetze einfach da. Welche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen es gegeben hat, um zum Beispiel die Regelungen, die wichtige sozialstaatliche Errungenschaften absichern, durchzusetzen, bleibt offen oder wird bestenfalls sehr allgemein beschrieben." (G II, S. 6).

Um gesellschaftliche Veränderbarkeit erfahrbar zu machen, braucht man nicht im Stile eines harten Filmschnitts historische Quellen so zurechtzustutzen, daß

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sie ins Konzept passen, da braucht man nur die Lebenserfahrung zu reflektieren; und daß Gesetze nicht einfach "da" sind, sondern ständig gemacht bzw. geändert werden, erfährt man aus jeder zweiten Tagesschau. Schon immer sollte man in der Schule irgendetwas aus der Geschichte lernen, zum Beispiel Patriotismus, anthropologische Grundeinsichten oder allgemeine Tugenden. Solche Pädagogisierungen waren immer schon dubios und weit hergeholt, aber man braucht schon einige pädagogische Blindheit, um in einer Zeit derart raschen sozialen Wandels wie heute die Kategorie "Veränderbarkeit" so umständlich didaktisch zu inszenieren. Gegen Einsicht in historische Prozesse ist selbstverständlich gar nichts einzuwenden, aber dann muß es auch um die Sache selbst gehen, und das meinen die Gutachter nicht.
 
 

5. Die politisch-pädagogische Ausbeutung des sogenannten "Schülerinteresses"

Einige Seiten Text - gegen den an sich nichts eingewendet wird - zu lesen, ist eine "Gängelung" der Schüler; ein Angebot von Fragen führt zur "Entmündigung des Befragten". Das sogenannte "Schülerinteresse" steht hoch im Kurs bei beiden Gutachtern; es soll ja auch - durch permanente Ideologiekritik - in die richtige politisch-partikulare Heimat überführt werden.

Aber dieses Interesse am "Schülerinteresse" findet sehr schnell seine Grenze dort, wo die eigene politisch-pädagogische Position der Gutachter berührt wird. Da muß der Schüler sich mit Parteiprogrammen und Verbandsprogrammen herumschlagen, weil sonst die falschen Lernergebnisse herauskommen könnten. Da soll er nur fragen dürfen, was der Lehrer für richtig hält bzw. wozu die Antwort im Lehrerheft steht. Er soll geschützt werden vor den Mitteilungen aus der Realität in einem einfachen, hausgemachten schulischen Politik-Weltbild. Er soll permanent Ideologiekritik betreiben, was nicht einmal alle Wissenschaftler können. Er soll seine Interessen - oder was er dafür hält - ideologiekritisch traktieren, aber er soll sie nicht durch geistige Arbeit belästigen und schon gar nicht sich für Fragen und Probleme interessieren, bei denen es vielleicht nicht in erster Linie um "Ideologiekritik" oder um das "Verändern" oder um Identifikation mit einer gesellschaftlichen Partikularität geht - offensichtlich die drei Heiligen Kühe des hessischen Politikunterrichts - , sondern vielleicht nur um Neugier oder darum, etwas zu kapieren, oder vielleicht auch nur darum, einem Fernsehmagazin mit mehr Interesse und Verständnis als vorher folgen zu können. Die politisch-didaktische Dogmatisierung des Politikunterrichts, wie sie aus den beiden Gutachten unverhüllt spricht, ist eine politische und pädagogische Ausbeutung des sogenannten Schülerinteresses, weil es dieses gar nicht sich entfalten lassen, sondern es bloß politisch nutzbar machen will. Die wiederholte Option für das Schülerinteresse und für die Erfahrungen der Schüler ist unglaubwürdig, weil sie nicht einmal imstande ist, sich mit kritischen Modifizierungen auseinanderzusetzen - zum Beispiel damit, was "Interessenbezogenheit" und "Erfahrungsbezogenheit" des politischen Unterrichts angesichts einer dem zunächst erst ein-

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mal fremden Realität eigentlich heißen kann. Statt dessen wird nur apodiktisch verkündet, was gut ist fürs Kind, und damit basta!

Dieser Dogmatismus ist deshalb ein Ärgernis, weil er durch nichts zu rechtfertigen ist, weder durch unwiderlegbare wissenschaftliche Erkenntnisse noch durch unbestreitbare didaktische Einsichten. Er betrifft einen "Spielraum", der offengehalten werden muß für die Konkurrenz unterschiedlicher didaktischer Konzepte. Pädagogische Dogmatisierungen - nicht nur in der Schule - sind immer ein Signal für die machtvolle Abschottung pädagogischer Berufsinteressen, und der hessische Kultusminister sollte sich überlegen, ob er dafür politisch zur Verfügung stehen will. Außerdem stellt sich die Frage, ob die Lehrmittelfreiheit, durchgesetzt mit dem Ziel, die Chancengleichheit der Schüler ein Stück zu verbessern, nun ein Vehikel für eine Art von politisch-didaktischer Staatsideologie werden soll.

Ich möchte nicht mißverstanden werden: Meine Kritik richtet sich lediglich gegen die Maßstäbe für die Nicht-Zulassung und gegen die offensichtliche Voreingenommenheit der Gutachter. Abgesehen davon muß selbstverständlich auch mein Versuch, dem politischen Unterricht aus seiner weithin beklagten Misere zu helfen, der öffentlichen Kritik unterliegen. Angesichts der immensen didaktisch-methodischen Probleme, die heute beim Verfassen eines Politik-Schulbuches zu bearbeiten sind und von denen sich viele nur als Kompromisse zwischen mehreren Möglichkeiten lösen lassen, steht es weder Autoren noch Kritikern gut an, auf dem hohen Roß zu sitzen.

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Anmerkungen:

(1) Vgl.H. Giesecke: Überlegungen zur Konsensfähigkeit von Schulbüchern für den politischen Unterricht. In: Neue Sammlung, H. 3/1979, S. 310ff. - G. Stein (Hrsg.): Schulbuchschelte als Politikum und Herausforderung wissenschaftlicher Schulbucharbeit. Stuttgart 1979. - W. Müller: Schulbuchzulassung. Kastellaun 1977.

(2) Das Verwaltungsgericht in Hannover hat am 12. 7. 79 ein bemerkenswertes Urteil gefällt, durch das zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Kultusminister gezwungen wurde, ein Schulbuch - in diesem Falle ein Grundschullesebuch - für den Schulgebrauch zuzulassen. Nach der Auffassung dieses Gerichts darf - jedenfalls nach niedersächsischem Landesrecht - das Ministerium nur prüfen, ob ein Schulbuch "vereinbar" ist a) mit dem geltenden Recht, b) mit den im Landesschulgesetz verankerten Erziehungszielen, c) mit den geltenden Lehrplänen. Vgl. J. Sach: Prozesse um Schulbuchzulassung in Niedersachsen vor dem Verwaltungsgericht Hannover. In: Politische Didaktik, H. 4/1979, S. 147-161.

(3) Im Vorwort des Schulbuches - also an die Schüler gerichtet - heißt es: "Was man sich fragen kann' zu diesen Materialien ist bei den meisten anschließend formuliert worden. Aber: Man kann auch ganz andere Fragen stellen. Die von mir gestellten Fragen sollen das Nachdenken eigentlich nur in Gang bringen. Es gibt immer sehr viel mehr Fragen, und bei Licht besehen gibt es eigentlich keine ,dummen Fragen', aber auf viele Fragen gibt es leider keine befriedigenden Antworten Solche Fragen, die wichtig sind und auf die vielleicht niemand kurz und bündig antworten kann, sind auch dabei; sie können nur mit Fantasie und Spaß am Denken diskutiert werden. Die meisten Fragen kann man sich allerdings beantworten, wenn man die Informationen liest oder an die eigene Erfahrung denkt, also an das, was man eigentlich aus Beobachtungen, Gesprächen oder vom Fernsehen her sowieso schon weiß."


 
 

120. Sozialkunde (1980)

(In: Walter Spiel (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. XI, Zürich 1980, S.851-855)
 
 

Definition

Der Begriff Sozialkunde wird - in der Regel ohne präzise begriffliche Unterscheidung - synonym mit anderen Begriffen gebraucht: Politikunterricht, Staatsbürgerkunde, politische Bildung, politische Weltkunde, Gemeinschaftskunde. Alle diese Begriffe bezeichnen dasjenige Schulfach, in dem vorrangig die kognitiven, affektiven und sozialen Kompetenzen für den Erwerb sozialer, gesellschaftlicher und politischer Normen, Rollen und Handlungsweisen gelernt werden sollen - etwa im Unterschied zum Erwerb beruflicher und kultureller Kompetenz. Die unterschiedlichen Bezeichnungen für diese Aufgabe drücken dabei unterschiedliche Akzente aus, z. B. ob mehr die unmittelbaren sozialen Horizonte und Verhaltensweisen oder mehr die abstrakt-allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge im Mittelpunkt stehen sollen. Diese Akzente verschieben sich je nach der Altersstufe der Schüler, aber auch in der geschichtlichen Entwicklung des Schulfaches selbst.

Der übergeordnete Begriff für die Sozialkunde ist der der politischen Sozialisation. Darunter versteht man alle Lernleistungen und Prägungen im Verlaufe der Kindheit und des Jugendalters, die für das politische Denken und Verhalten in irgendeiner Weise von Bedeutung sind, z. B. neben der planmäßigen Unterrichtung in der Schule die sozialen und emotionalen Grunderfahrungen in der Familie und in den Gleichaltrigen-Gruppen, die Wirkungen der Massenmedien u. a. m.

Die Notwendigkeit des Sozialkundeunterrichts ergibt sich aus der Tatsache, daß in der modernen Gesellschaft die politische Sozialisation nicht mehr von selbst zu einem angemessenen Verständnis der politisch-sozialen Umwelt führt:

a) Kinder und Jugendliche sind durch die Trennung von Familie und Arbeitsplatz sowie durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung überhaupt aus dem politischen und sozialen Handlungszusammenhang weitgehend ausgegliedert; der dadurch bedingte Erfahrungsmangel muß durch "soziologische Phantasie" (Mills 1963) ausgeglichen werden, die planmäßig zu erlernen ist.

b) Der offene, pluralistische Charakter der modernen Gesellschaft macht "selbstverständliche" politische Identität als Identifizierung mit einer bestimmten sozialen Gruppe, ihren Normen, Verhaltensweisen, Perspektiven kaum noch möglich. Identität im allgemeinen und politische Identität im besonderen sind weitgehend als die Fähigkeit zu definieren, zwischen widersprüchlichen Erwartungen eine individuell verbindliche "Balance" (Krappmann 1969) zu finden; diese Fähigkeit muß planmäßig trainiert werden.

c) Die im sozialen Horizont der Familie lernbaren, stark gefühlsbetonten und personenbezogenen Normen und Verhaltensweisen sind nicht einfach auf den Umgang mit gesell-

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schaftlichen Großorganisationen (Betrieb, Institution, Administration, Verband, Partei) übertragbar. Rollenwechsel z. B. und der dadurch nötige Wechsel von Positionen und Kompetenzen, unentbehrlich für den Umgang mit Großorganisationen, ist in der Familie nur begrenzt lern- und erfahrbar.

d) Schließlich stellt der demokratische Staat bestimmte Ansprüche an die Heranwachsenden. Zu seinem Selbstverständnis gehört, daß seine Bürger für "mündig" gehalten werden, was ganz allgemein zur Folge hat, daß der Staat diesen Anspruch auch in irgendeiner Weise in seinen Bildungsplänen einlösen muß.
 
 

Geschichtliche Entwicklung

Sozialkunde als spezifisch schulischer Beitrag zur politischen Sozialisation der heranwachsenden Generation entsteht - wenn auch unter anderen Bezeichnungen - mit dem modernen Pflichtschulwesen. Das Interesse des absolutistischen Staates an einer allgemeinen Pflichtschule beruhte nicht zuletzt darin, seine neuen Prinzipien (rationale Organisation der Wirtschaft, zentrale Verwaltung) auf diese Weise allen Bürgern zu vermitteln, diese die nötigen Kenntnisse für die Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten lernen zu lassen. Loyalität zu diesem neuen Staat war nicht selbstverständlich, da die frühere soziale Organisation (vor allem das Zunftwesen) andere Loyalitäten hervorgebracht hatte. Die Aufgabe der Sozialkunde wurde damals vor allem im Geschichtsunterricht und in sogenannten "bürgerkundlichen" Stoffen gesehen.

Ende des neunzehnten Jahrhunderts ergab sich eine neue Problemlage. Angesichts der "sozialen Frage", also der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiter, ihrer Distanz zum Staat und der Gefahr revolutionärer Lösungen, wurde von der Schule erwartet, einerseits gegen sozialistische Ideen zu immunisieren, andererseits die Arbeiterjugend in den Staat zu integrieren. Diese Aufgabe war jedoch mit der damaligen Volksschule und Fortbildungsschule - einem Vorläufer der heutigen Berufsschule - nicht zu lösen. Eine neue Lösung schlug Georg Kerschensteiner in seinem Buch "Staatsbürgerliche Erziehung" (1900) vor: Der Kern aller Bildungsbemühungen um die Arbeiterjugend müsse in der Berufsbildung liegen, von daher nur könne Interesse für allgemeinbildende und staatsbürgerliche Bildung geweckt werden. Es komme darauf an, in der Berufsarbeit bzw. schon in der Schulwerkstatt diejenigen "Tugenden" (z. B. Sorgfalt, Pflichtgefühl, Gehorsam, Hingabe an die Sache u. a.) zu entwickeln, die dann auch für das Verhalten des Staatsbürgers wichtig seien.

Die Grundannahmen dieser Konzeption haben die Sozialkunde in der Volksschule und Berufsschule bis weit in die fünfziger Jahre bestimmt - ergänzt durch das vor allem von E. Spranger entwickelte didaktische Konzept des "heimatkundlichen Prinzips", wonach das räumlich Nähere auch das leichter zu Verstehende sei (Spranger 1957).

Für die führenden Schichten (Adel, Bürgertum) wurde die staatsbürgerliche Erziehung erst nach 1918 zum Problem, als die neue demokratische Staatsform an sie auch neue Erwartungen und Verhaltensanforderungen stellte. Bis dahin galt die durch Familie und gesellschaftliche Beziehungen geprägte politische Sozialisation als ausreichend - unterstützt durch den die gleichen Normen vertretenden Unterricht der Gymnasien und der Hochschulen.

Die "Staatsbürgerkunde" in der Weimarer Republik beschränkte sich schon aus Gründen des schulpolitischen Konsenses auf die Erklärung der Verfassung bzw. der staatlichen Institutionen ("Institutionenkunde"), die Auseinandersetzung mit der politischen Realität und ihren Widersprüchen wurde den außerschulischen Jugendorganisationen und den ihnen zugehörigen Erwachsenenverbänden überlassen. Neu war das - bis heute nicht befriedigend gelöste - Problem, daß einerseits sehr unterschiedliche und widersprüchliche politi-

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sche Auffassungen und Parteiungen staatlich toleriert werden mußten, andererseits die staatlich monopolisierte Schule gerade deswegen durch ihren Unterricht nicht einseitig Partei ergreifen durfte. Der Nationalsozialismus "schaltete" gleichwohl Schule und außerschulische Formationen "gleich" mit dem Ziel der planmäßigen Ideologisierung der Jugend. Nach 1945 war die Notwendigkeit einer allgemeinen politischen Bildung schon wegen der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus unbestritten, die zumindest moralische "Aufarbeitung der Vergangenheit" unabweisbar. So beschloß die Kultusministerkonferenz 1950, die Sozialkunde in allen Schulstufen einzuführen, überließ jedoch den einzelnen Bundesländern, ob dies in einem eigenen Unterrichtsfach oder als Unterrichtsprinzip im Rahmen angrenzender Fächer (Geographie, Geschichte, Sachkunde) erfolgen sollte, auch die Bezeichnung des Faches blieb den Ländern freigestellt. Jedoch waren die Voraussetzungen für diese pädagogische Aufgabe lange Zeit ungünstig. Der Nationalsozialismus hatte die wissenschaftliche Tradition abgebrochen bzw. ihre Vertreter in die Emigration getrieben; es fehlten also die für diese Aufgaben nötigen wissenschaftlichen Grundlagen, und auch die re-education-Politik der Besatzungsmächte war in den inhaltlichen Fragen eher zurückhaltend. Die Lehrer waren durch den Nationalsozialismus und durch die Entnazifizierung verunsichert und standen der Aufgabe der Sozialkunde eher ablehnend gegenüber. Erst in der ersten Hälfte der sechziger Jahre wurde die Sozialkunde als selbstverständliche Aufgabe an den Schulen mehr und mehr akzeptiert, um dann allerdings Anfang der siebziger Jahre - im Zuge der Studentenbewegung und durch neue, umstrittene Richtlinien in Hessen und Nordrhein-Westfalen ausgelöst - in eine heftige politisch-ideologische Polarisierung verwickelt zu werden.
 
 

Didaktik und Methodik

Wie bei jeder planmäßigen schulischen Unterrichtung, so sind auch hier die didaktischen und methodischen Grundprobleme als praktische vorgegeben: Was soll warum unterrichtet werden? Welches Ergebnis wird erwartet? Welche Kommunikations- und Arbeitsformen müssen dafür wie organisiert werden? Welche Akzente dabei jeweils gesetzt werden, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, nicht zuletzt vom allgemeinen politischen "Klima" in der Gesellschaft. Nach 1945 ging es primär um den wirtschaftlichen Wiederaufbau und darum, Demokratie als eine alle öffentlichen Beziehungen durchdringende Lebensform zu sehen und zu praktizieren (vgl. Oetinger 3/1956); es ging mehr um moralische Kategorien des mitmenschlichen Umgangs als um prinzipielle politisch-gesellschaftliche Theorien. In der Zeit von etwa 1950 bis 1965 ging es darum, das sich stabilisierende Staatswesen im Bewußtsein der Bürger auch prinzipiell zu verankern. Antikommunistische Leitbilder, soziale Marktwirtschaft gegen kommunistische Planwirtschaft, Demokratie gegen Totalitarismus waren auch in der politischen Bildung die vorherrschenden Grundmodelle. Die staatliche und wirtschaftliche Konsolidierung, verbunden mit optimistischen Wachstumsvorstellungen, hatten für die junge Generation eine relativ stabile politische Identität und eine relativ problemlose politische Sozialisation zur Folge. Für diese "skeptische Generation" hatte Politik kaum eine existentielle Bedeutung. Das änderte sich Ende der sechziger Jahre. Die politischen Prinzipien des demokratischen Staates wurden nun mit der Wirklichkeit verglichen, an der unterschiedlichen Beurteilung dieser Differenz entwickelten sich zum Teil heftige innenpolitische Polarisierungen, zumal das Verteilungsproblem sich angesichts der "Grenzen des Wachstums" schärfer als früher stellte. Neue didaktische Konzeptionen setzten bei diesen Konfliktsituationen und Konflikterfahrungen an (Giesecke 10/1976; Hilligen 1975; Schmiederer 1971,1977) und erklärten die Fähigkeit, gesellschaftliche Konflikte auszuhalten und produktiv zu lösen, für die zentrale Aufgabe der Sozialkunde. Zudem wurde

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unter dem Einfluß psychoanalytischer und gruppendynamischer Theorien die subjektive Seite politischer Sozialisationsprozesse entdeckt und zum Teil als problematisch erlebt (Dreitzel 1968). Die Folge für die Sozialkunde war unter anderem eine Abwendung von der Institutionenlehre hin zur Thematisierung und Problematisierung der unmittelbaren Erfahrung, verbunden mit der Option für gruppenorientierte Lernverfahren.

Diese Hinweise zeigen, daß die didaktischen Akzente sich durchaus verschieben können je nach dem, wie die Gesellschaft von den betroffenen Lehrern und Schülern erlebt wird. Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten entstehen eigentlich nicht durch ausdrücklich "falsche" didaktische Konzepte, sondern eher durch die einseitige Überbetonung an sich richtiger Gesichtspunkte.

Probleme

Für die Zukunft lassen sich einige grundsätzliche Probleme feststellen, die mit dem Fach Sozialkunde verbunden bleiben werden:

1. Die Entwicklung der Sozialkunde - also des schulischen Anteils an der politischen Sozialisation - zeigt, daß ihre Aufgaben nur bestimmt werden können im Hinblick auf die gesamte politische Sozialisation. Ist die politische Sozialisation relativ stabil und eröffnet sie aussichtsreiche Zukunftsperspektiven, dann ist die subjektive Befindlichkeit kein ernsthaftes Problem, das Interesse wendet sich der objektiven politischen Welt zu, ihren Institutionen und Prozessen. Die Sozialkunde hat dann vor allem die Aufgabe, die Realität zu erklären, Vorurteile und einseitige Einstellungen aufzulockern und aufzuklären.

Wenn jedoch - wie gegenwärtig - die politischen Sozialisationsprozesse diffus, widersprüchlich und mit geringen Möglichkeiten zur Identität ablaufen, wenn zudem die Zukunftsperspektiven unklar oder gar mit Angst besetzt sind, dann führt dies mehr oder weniger zu einem politischen Realitätsverlust und zu einem übersteigerten Interesse an der subjektiven Befindlichkeit. Die Folge ist ein Politikverständnis, das an den objektiven Gegebenheiten wenig interessiert ist und die politische Welt als Verlängerung der subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen erklärt. In dieser Situation hat die Sozialkunde vor allem die Aufgabe, die Ansprüche der politischen Realität zur Geltung zu bringen, diese Realität zu lehren. Das didaktische Grundproblem besteht so oder so also darin, wie man die Ansprüche der objektiven Realität vermitteln kann mit den jeweils vorliegenden Erfahrungen und Selbsteinschätzungen.

2. Weiterhin ungelöst ist das mit der Einführung der demokratischen Staatsverfassung entstandene Problem des Widerspruchs zwischen staatlich monopolisierter Pflichtschule und gesellschaftlicher Pluralität. Für den Sozialkundeunterricht bedeutet dies, daß er Rücksicht nehmen muß auf die unterschiedlichen politischen und normativen Auffassungen und Positionen in der Bevölkerung, keine auf Kosten anderer favorisieren darf. Aus diesem Problem resultiert einerseits eine immer noch weitverbreitete Skepsis gegen den politischen Unterricht überhaupt, andererseits die Bemühung, nur solche Gegenstände zu lehren, die nicht strittig sind (z. B. Institutionenkunde oder Verfassungskunde oder auch historische Tatsachen). Diese Lösung des Problems würde jedoch den aus der politischen Sozialisation entstandenen Lernbedürfnissen der Jugendlichen nicht genügen, da die planmäßige Auseinandersetzung mit der kontroversen politischen Realität für die Identitätsbildung unentbehrlich geworden ist. Die Lösung kann nur durch die didaktische Konstruktion des Unterrichts selbst erfolgen: Das Umstrittene so zu bearbeiten, daß unterschiedliche Positionen im Sinne unterschiedlicher, standortgebundener Interpretationen der Realität möglich bleiben. Voraussetzung dafür wäre aber, daß die staatlichen Lehrpläne diesen Spielraum zulassen. Die zum Teil heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen über neue Lehrpläne in Hessen und Nordrhein-Westfalen zeigen, daß die Versuchung nach wie vor groß ist, über den

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Sozialkundeunterricht bestimmte politische Auffassungen durchzusetzen. Auf Grund solcher Erfahrungen ist das Problem, unter welchen Bedingungen es einen politischen Konsens über den Sozialkundeunterricht geben kann, in den letzten Jahren ausführlich diskutiert worden.

3. Die Sozialkunde ist verständlicherweise schon immer dasjenige Schulfach gewesen, das gerade deshalb oft politisch umstritten war, weil es prinzipielle Probleme im Verhältnis von Schule und Gesellschaft besonders deutlich werden läßt. Die Grundprobleme dieses Verhältnisses kann man in folgender Alternative zusammenfassen: Besteht die Aufgabe der Schule überwiegend darin, Ansprüche der Gesellschaft (z. B. des Staates, der gesellschaftlichen Großorganisationen) an die Schüler heranzutragen, diese Ansprüche in Form möglichst vereinheitlichter, abfragbarer "Leistungen" abzuverlangen, oder geht es in der Schule eher darum, daß sie eine "Sozialisations-Dienstleistung für Schüler" sein soll, ein Ort, der in erster Linie der Herausarbeitung der je individuellen Identität dient und der geeignete Bedingungen der Möglichkeit hierzu anbietet. Je nach dem, welcher Leitgesichtspunkt vorherrschen soll, ergeben sich auch für die Sozialkunde ganz verschiedene Stoffpläne, methodische Varianten und "Leistungen".
 
 

Literatur:

ACKERMANN, P. (Hrsg.): Politische Sozialisation. Opladen: Westdeutscher Verlag1974

BEHRMANN G. C.: Soziales System und politische Sozialisation. Stuttgart: Kohlhammer 2. Aufl. 1972

DREITZEL, H. P.: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Stuttgart: Enke 1968

FISCHER K. G.: Überlegungen zur Didaktik des politischen Unterrichts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972

GIESECKE, H.: Methodik des politischen Unterrichts. München: Juventa 1973

GIESECKE, H.: Didaktik der politischen Bildung. München: Juventa 10. Aufl. 1976

GROSSER, D., u a.: Politische Bildung. Stuttgart: Klett 1976

HABERMAS J.: Legitimationsprobleme im Spatkapitalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973

HILLIGEN, W.: Zur Didaktik des politischen Unterrichts, I, II. Opladen: Leske 1975 - 1976

KERSCHENSTEINER G.: Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend (1900). In: G. Kerschensteiner: Berufsbildung und Berufsschule. Paderborn: Schöningh 1966

KRAPPMANN, L.: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart: Klett 1969

LITT, TH: Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1957

MICKEL, W.: Lehrpläne und politische Bildung. Neuwied: Luchterhand 1971

MILLS, C. W.: Kritik der soziologischen Denkweise. Neuwied: Luchterhand 1963

NEGT, O.: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Frankfurt M: Europäische Verlagsanstalt, 6. Aufl. 1971

OETINGER, F. ( = WILHELM, TH ): Partnerschaft. Stuttgart: Metzler 3Aufl. 1956

ROLOFF, E. A.: Erziehung zur Politik, I, II. Göttingen 1972 - 1976

SCHMIEDERER R.: Zur Kritik der politischen Bildung. Frankfurt M.: Europäische Verlagsanstalt 1971

SCHMIEDERER R.: Politische Bildung im Interesse der Schüler. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 1977

SCHÖRKEN R. (Hrsg.): Curriculum Politik. Opladen: Leske 1974

SFRANGER, E.: Gedanken zur staatsburgerlichen Erziehung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1957

SUTOR B.: Didaktik des politischen Unterrichts. Paderborn: Schöningh 1971

WENIGER, E.: Politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung. Würzburg: Werkbund 1964

WULF, CH.: Das politisch-sozialwissenschaftliche Curriculum. München: Piper1973

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121. Anmerkungen zur "Konfliktpädagogik"(1980)

(In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 4/1980, S. 629-633)
 
 

Im Heft 6/1979 (S. 953 - 967) dieser Zeitschrift hat WOLFGANG BREZINKA einen Aufsatz über "Konfliktpädagogik" veröffentlicht, zu dem mir einige sachliche Korrekturen und Ergänzungen nötig erscheinen.

Entsprechend seinem Begriff von "Erziehung", geht BREZINKA davon aus, daß jede erziehungswissenschaftliche Theorie - also auch die "Konfliktpädagogik" - erst einmal anzugeben habe, welches Erziehungsziel angestrebt werde und mit welchen Mitteln man es erreichen wolle, wobei die Ziele und Mittel so formuliert sein müßten, daß ihre Realisierung empirisch überprüft werden kann. An dieser Definition gemessen, muß natürlich alles, was im Umfeld der sogenannten "Konfliktpädagogik" geschrieben worden ist, als inhaltsleer, vage, unüberprüfbar, als "dunkle Ahnungen" (S. 962) erscheinen. Freilich drängt sich andererseits der Eindruck auf, daß BREZINKA auf diese Weise trotz seiner philosophisch-akribischen Auswertung zahlreicher "einschlägiger" Veröffentlichungen deren Problemstellungen und Lösungsversuche überhaupt nicht trifft, daß er sie vielmehr nur unter sein rigoroses Begriffskonstrukt subsumiert und insofern auch den Kontext der angegriffenen Argumentationen verfehlen muß. In diesem Denkmodell erscheinen dann folgerichtig die "Konfliktpädagogen" als ein Haufen von Autoren, die ihre teils ideologisch gefährlichen, jedenfalls verworrenen und unklaren Normen und Ziele an den Mann bringen wollen.

Läßt man sich jedoch zunächst einmal unbefangen auf die historische Realität und die Veränderung ihrer Phänomene ein, dann muß man zum Beispiel feststellen, daß das Thema "Konflikt" in der Pädagogik bis Mitte der sechziger Jahre keine nennenswerte Rolle gespielt hat, obwohl die Sache selbst immer schon behandelt wurde: E. SPRANGERS "Psychologie des Jugendalters". E. H. ERIKSONS Identitätstheorie, E. WENIGERS Lehrplantheorie und H. NOHLS Theorie des pädagogischen Bezugs sind "Konflikttheorien" bzw. "Konfliktlösungstheorien". Mitte der sechziger Jahre tauchte bekanntlich der Konfliktbegriff in der Politikdidaktik auf, Anfang der siebziger Jahre dann auch als Bezeichnung für psychische Realitäten. Seitdem ist er ein verbreitetes Thema pädagogischer Erörterungen geworden. Bemerkenswert ist nicht nur, daß derartige Publikationen verfaßt wurden, sondern daß sie ein professionelles und nichtprofessionelles Publikum und in diesem Sinne öffentliche Resonanz fanden und noch finden. Nach aller Erfahrung aber wird "Konfliktpädagogik" nicht von einer breiten Masse rezipiert, wenn diese dafür keine entsprechende Erfahrung aufzubringen vermag. Man muß schon die private, berufliche und politische Existenz - wie unklar immer - als konflikthaft, widersprüchlich, problematisch usw. erleben, um für entsprechende Deutungen bzw. Handlungsanweisungen empfänglich zu sein. Und man braucht noch gar keine wissenschaftliche Theorie, sondern nur einen halbwegs unvoreingenommenen Blick in die gesellschaftliche Realität, um festzustellen, daß gewisse vorher relativ gesicherte "Selbstverständlichkeiten" (z. B. Normen, gesellschaftliche Regeln, gesellschaftlicher Konsens, Erziehungsziele usw.) für viele Menschen unklar bzw. mehrdeutig geworden sind und insofern zu

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Verhaltensunsicherheiten, Sinnkrisen, ja, zu psychischen Leiden geführt haben. Welche gesellschaftlichen Ursachen dieser spätestens Mitte der sechziger Jahre einsetzende Prozeß hat, will ich jetzt nicht erörtern, sie sind auch für die pädagogische Problematik zunächst einmal gleichgültig. Wichtig ist nur die Feststellung, daß die pädagogischen Autoren ihn nicht produziert, sondern allenfalls aufgegriffen bzw. kommentiert haben.

Das pädagogische Problem besteht nämlich darin, daß jene Verunsicherung auf die pädagogischen Institutionen durchschlug, vor allem auf die Schulen und Hochschulen, bis hin zum "pädagogischen Bezug". Die "Konfliktpädagogen" haben also nur ein Problem aufgegriffen, das sie vorfanden, und nun kann man natürlich prüfen, inwieweit sie diesem Problem als einem pädagogischen unter wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht geworden sind. Für diese Prüfung ist aber BREZINKAS Argumentationsfigur aus folgenden vier Gründen ziemlich untauglich:

1) Trotz des imposanten wissenschaftlichen Aufwands ist es BREZINKA entgangen, daß der Begriff "Konfliktpädagogik" als Sammelbezeichnung für "die ganze Richtung" ein Produkt des konservativen Kulturkampfs ist, also in polemischer Absicht erfunden wurde und verwendet wird: Auf diese Weise werden Autoren zu einer Gruppe zusammengefaßt, damit man sie als kulturpolitischen Gegner bekämpfen kann. (Soweit ich feststellen kann, hat in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung von MAIER [1973] eine gewisse Wirkung gehabt.) Dabei ist unerheblich, daß einige der kritisierten Autoren diesen Begriff ebenfalls verwendet haben. (Ich habe ihn übrigens nur einmal und mit Anführungszeichen verwendet [GIESECKE 1978] und halte ihn im übrigen für unbrauchbar, weil damit selbstverständlich keine pädagogische Richtung markiert werden kann, sondern "Konflikt" nur eines von vielen pädagogischen Themen ist.) BREZINKA hat im Grunde nichts anderes getan, als alle Autoren, die sich irgendwie mit dem Thema "Konflikt" pädagogisch befaßt haben, als eine "Richtung" zu definieren - ohne Rücksicht darauf, in welch unterschiedlichen und zum Teil einander ausschließenden Kontexten und Argumentationsfiguren sie dieses Thema - als ein praktisches Problem! - erörtert haben. Das ist ähnlich sinnvoll, wie wenn man alle diejenigen, die sich in irgendeiner Form mit dem praktischen Problem der pädagogischen Interaktion befaßt haben, "Bezugspädagogen" nennen würde. Nicht ohne Ironie muß man feststellen, daß BREZINKA erst Uneinheitliches in einen Topf wirft, um dann triumphierend festzustellen, daß da keine einheitliche Theorie zu finden sei. Niemals haben sich die von BREZINKA zusammengewürfelten Autoren als eine Gruppe oder weltanschauliche Richtung oder gar als eine erziehungswissenschaftliche "Schule" verstanden. Sie haben nichts weiter gemeinsam, als daß sie - unter anderem! - sich auch mit dem pädagogischen Problem des Konflikts befaßt haben.

2) BREZINKA engt den Begriff "Konflikt" von vornherein dadurch ein, daß er ihn mit "Streit" assoziiert. Nun ist das insofern richtig, als dem Wortsinn nach Konflikt immer mit etwas "Widerstreitendem" zu tun hat: Normen, Ziele, Erwartungen, Bedürfnisse, Interessen usw. liegen dann im Widerstreit miteinander, entweder in einer Person oder in ihrer Beziehung zu anderen. "Streit" jedoch ist eher ein Austragungsmodus von Konflikten, und BREZINKA weckt mit diesem Begriff falsche Vorstellungen. Konflikte durch "Streit" auszutragen, ist nämlich nur eine Möglichkeit, eine andere ist z. B. das Leiden. (Ein Mädchen, das einen Jungen liebt, aber Jungfrau bleiben will, muß deshalb nicht streiten, es kann auch leiden.) Selbst in den bewegten Jahren der Studentenbewegung ist Streit als Mittel der Lösung von Konflikten nur von einer Minderheit gesucht worden.

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3) BREZINKAS aseptische Begriffsbildung reißt ohne erkennbaren Erkenntnisgewinn auseinander, was tatsächlich zusammengehört: "Es gibt also mindestens vier Bedeutungen des Wortes 'Konflikterziehung', soweit das Wort 'Konflikt' auf Erziehungsziele bezogen wird: 1. Erziehung zur Konfliktfähigkeit, 2. Erziehung zur Konfliktvermeidungs- und Konfliktbeilegungsfähigkeit, 3. Erziehung zur Konflikterzeugungs- und Konfliktnutzungsfähigkeit, 4. Erziehung zum Konfliktwissen, zur Konfliktwahrnehmungs-, Konflikterklärungs- und Konfliktbeurteilungsfähigkeit" (S. 955). - Ich weiß nicht, was "Erziehung zur Konfliktfähigkeit" heißen soll, wenn nicht die Fähigkeit, Konflikte beilegen oder aushalten, aber auch für sich nutzen zu können, was ja alles wohl nicht recht funktionieren kann, wenn man derartige Konflikte nicht auch hinreichend kognitiv versteht. Das muß doch schon dem gesunden Menschenverstand einleuchten, und ein "Konfliktpädagoge", der sein Thema seriös abhandelt, kann die Akzente unterschiedlich setzen, aber er kann die Komplexität nicht aus dem Blick verlieren, ohne das Thema schlicht zu verfehlen.

4) BREZINKA hält an seinem eingangs erwähnten Erziehungsbegriff fest, obwohl dieser gerade durch das, was sich im Begriff "Konflikt" an gesellschaftlichen Veränderungen ausdrückt, fragwürdig geworden ist. Wer, bitte, soll denn mit welcher Legitimation welche Erziehungsziele auf der Grundlage welcher Normen - dies alles natürlich in empirisch nachprüfbarer Form! - den zu Erziehenden gegenüber in welcher pädagogischen Situation oder Institution vertreten, wenn im Rahmen des normativen Pluralismus auch andere Positionen vertretbar sind? Soll die Pädagogik zu einem Markt derart konstruierter pädagogischer Positionen werden, wo den Kindern und Jugendlichen zugerufen wird: Hol Dir eine gute Erziehung bei uns, egal bei wem, aber bitte nur bei einem? (Dies etwa war in den 50er Jahren z. B. in der Jugendarbeit herrschende Meinung: Der weltanschauliche und politische Pluralismus der Verbände galt als besondere demokratische Qualität der neuen Republik, aber der einzelne Jugendliche sollte diesen Pluralismus nicht in sich aufnehmen, sondern sich zum Zweck seiner optimalen Bildung und Erziehung an eine Richtung "binden", was z. B. lange zur Diffamierung der "offenen Jugendarbeit" führte.)

Derartige Vorstellungen sind eben nicht mehr realistisch angesichts der erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen, zu denen auch die Entmachtung der "klassischen Erziehungsmächte" gehört. In dieser historischen Lage müssen eben die Erziehungsziele und deren normative Maßstäbe zumindest bis zu einem gewissen Grad den Lernenden zur Disposition stehen. Dies ist der sachliche Hintergrund nicht nur der "Konfliktpädagogik", sondern auch neuerer identitätstheoretischer oder interaktionistischer Konzepte. In diesem Spielraum sind die Erzieher nicht mehr diejenigen, die aufgrund klarer Normen die Ziele setzen und ihre Realisierung nachprüfen, sondern diejenigen, die die Bedingungen der Möglichkeit dafür arrangieren müssen, daß die Lernenden selbst ihre Ziele und Normen finden, entdecken und modifizieren können. Altmodisch gesprochen: Erziehung ist hier Hilfe zur Selbsterziehung, nicht mehr! (So neu ist das Problem übrigens gar nicht, man kann es schon an der pädagogischen Diskussion der Weimarer Zeit studieren, und einige Vertreter der damaligen "geisteswissenschaftlichen Pädagogik" haben sich dazu auch heute noch lesenswerte subtile Überlegungen gemacht.)

"Es muß angegeben werden, zu welcher Art von Konflikten auf welche Weise Stellung genommen werden soll. Sobald das getan wird, scheiden sich die Geister. Man muß dann zwangsläufig eine Wertrangordnung angeben und Normen mit Normgehalt nennen, die

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mit entgegengesetzten Normen unverträglich sind" (BREZINKA, S. 964). Wer "muß"? Der Erzieher? Als Person oder als Rollenpartikel? Oder der zu Erziehende? Vielleicht kommt es auch darauf an, nicht zwischen verschiedenen Normen zu wählen, sondern zwischen ihren widerstreitenden Ansprüchen eine Balance zu finden?

BREZINKA merkt offensichtlich gar nicht, daß sein Erziehungsbegriff historisch obsolet geworden ist - und dies nicht deshalb, weil eine Gruppe von pädagogischen Autoren dies so wollte, sondern weil die gesellschaftlich produzierte pädagogische Realität sich entsprechend verändert hat. Ich gebe zu, daß die neue Lage für Erziehung kompliziert ist, aber weder mit "Mut zur Erziehung" ist es getan noch mit einem wissenschaftstheoretisch aufgeputzten doktrinären Erziehungsbegriff. Ich hätte nichts dagegen, daß "Tugenden wie Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mut, Verteidigungsbereitschaft, Selbstdisziplin, Geduld, aber auch Wohlwollen, Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Friedfertigkeit, Selbstlosigkeit, Genügsamkeit, Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit" (S. 962) wieder zur Geltung kommen. Vielleicht könnte BREZINKA dafür nach seinem Konzept einmal ein Curriculum entwickeln; denn "einfacher geht es nicht" (S. 963).

BREZINKAS Erziehungsbegriff, der nicht nur wissenschaftstechnisch formuliert ist, sondern auch nur in bestimmten - und eben keineswegs allen! - historischen Situationen gelten kann, scheitert einfach an einem großen Teil der pädagogischen Realität. Wenn man ihn ernsthaft aufrechterhalten will, schrumpft der Umfang dessen, was damit noch bezeichnet werden kann, bis zur Unkenntlichkeit zusammen.

Das eigentliche Problem, das hinter der pädagogischen Diskussion zum Thema "Konflikt" steckt, ist, ob und wie die Pädagogik denen, die subjektiv sich in Konflikten befinden, helfen kann, indem sie Lernhilfen anbietet. Erst wenn man dieses Problem, das keine wissenschaftliche Theorie, sondern die gesellschaftliche Praxis konstituiert hat, akzeptiert, kann man dessen Lösungsversuche kritisieren. Dann erst wird mancher Einwand von BREZINKA bedenkenswert: Ob man die Konflikte nicht besser klassifizieren könne, damit der Begriff weniger inhaltsarm wird (was auch der dafür zuständigen Soziologie noch nicht überzeugend gelungen ist); ob man den Begriff "Konflikt" nicht ganz aufgeben solle (aber zugunsten welcher anderer Begriffe?); daß die Pädagogik sich bescheiden solle mit dem, was sie wirklich kann:

"Wissen über Konflikte und Konfliktregelung läßt sich durch Unterricht fördern; ebenso die Fähigkeit, Konflikte zu erkennen, zu analysieren und zu beurteilen. Wie aber steht es mit so anspruchsvollen Zwecken wie 'Konfliktfähigkeit', 'Konfliktbeilegungsfähigkeit', 'Konfliktvermeidungsfähigkeit' und mit den Tugenden, die damit gemeint sind? Da besteht ein Abgrund zwischen dem Bezweckten und den empfohlenen Mitteln" (S. 962). Hinsichtlich der pädagogischen Planung von sozialen und emotionalen Fähigkeiten teile ich BREZINKAS Skepsis durchaus - allerdings aus anderen Gründen: Mich schreckt die Tendenz zur Manipulation wichtiger Persönlichkeitsbereiche. Trotzdem bleibt dies ein pädagogisches Thema, aber wohl eher auf der Ebene des Stils des pädagogischen Bezugs - einer Dimension freilich, die durch Zweck-Mittel-Relationen im Sinne BREZINKAS kaum erreichbar ist.

BREZINKA will offenbar nicht wahrhaben, daß seine rigide Zweck-Mittel-Relation ein lebensfremdes Konstrukt aus den Denk-Retorten wissenschaftlicher Institute ist. Es ist schlechterdings keine pädagogische Situation denkbar, in der diese Relation in der von ihm

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verfochtenen Reinheit nicht ohne eine Menge "ungewollter Nebenwirkungen" wirklich zu praktizieren wäre. Jede pädagogische Situation ist über die pädagogische Intention hinaus einfach auch ein Stück gemeinsamen Lebens - mit allen darin liegenden Implikationen. Es nutzt doch niemandem, zugunsten einer simplen und eindimensionalen Logik auseinanderzureißen, was in der Realität zusammengehört und gerade in dieser Zusammengehörigkeit erst zum Problem wird. Für das einzelne Individuum - und mit dem hat es die praktische Pädagogik zu tun - ist es zunächst einmal gleichgültig, ob seine Konflikte von einem innerpsychischen Defekt herrühren oder etwas mit ungenügender Verarbeitung objektiver gesellschaftlicher Widersprüche zu tun haben. Über diese Zusammenhänge wissen wir einfach noch zu wenig, als daß wir da stramme Klassifizierungen und eindeutige Zielstrategien anbieten könnten. Insofern halte ich den Begriff "Konflikt" trotz BREZINKAS Einwänden nach wie vor für verwendungsfähig, weil er gerade in seiner alltagssprachlichen Vieldeutigkeit das wissenschaftliche und praktische Dilemma eines Problems im Auge behalten läßt, an dem nicht wenige Menschen leiden. Es gibt einstweilen keinen Grund, die Ratlosigkeit der Autoren hinsichtlich dessen, was z. B. "Erziehung zur Konfliktfähigkeit" konkret heißen könnte, ihrer Dummheit anzulasten und beispielsweise den "Aussteigern", die auf ihre Weise ja auch ihre Konflikte lösen, bedauernd mitzuteilen, man könne ihre Konflikte leider noch nicht einwandfrei klassifizieren.

BREZINKA zeigt sich hier erneut als normativer Pädagoge im Gewand moderner Wissenschaftstheorie (vgl. BREZINKA 1974; dazu GIESECKE 1975). Seiner simplen Logik fällt notwendigerweise die Sache zum Opfer, die er untersuchen will. Statt sich auf Argumentationskontexte einzulassen, geht er mit Argumentationen anderer um wie Meinungsforscher mit den Antworten ihrer Befragten: Zugelassen wird nur, was in die einfache Frage paßt, Denken und Argumentieren wäre zu kompliziert, um "erfaßt" zu werden. Schade, daß BREZINKA seinen Konflikt, ob er "noch länger verworrene konfliktpädagogische Texte lesen oder spazierengehen soll" (S. 956), nicht anders gelöst hat.
 
 

Literatur

BREZINKA, W.: Erziehung und Kulturrevolution. München 1974.

GIESECKE, H.: Brezinkas gesammelte Ressentiments. Anmerkungen zu "Erziehung und Kulturrevolution". In: Neue Sammlung 15 (1975), S. 585-591.

GlESECKE, H.: Konflikt. In: H. HIERDElS (Hrsg.): Taschenbuch der Pädagogik. Baltmannsweiler 1978

MAlER, H: Grenzen der Konfliktpädagogik. ln: Politische Bildung (1973), H. 4, S. 65-68. - Nachdruck in: TH. DIETRlCH/F. J. KAISER (Hrsg.): Brennpunkte der Schulpädagogik. Bad Heilbrunn 1975, S. 203-207.

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122. Entwicklung der Didaktik des Politischen Unterrichts (1980)

(In: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung(Hrsg.): Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, Bd.1, Stuttgart 1980, S. 501-547)

(Der Text beginnt erst mit S. 503, die Seiten 501-502 enthalten Deckblatt und Inhaltsverzeichnis. H. G.)
 
 

0. Einleitung

Unter dem Begriff "Didaktik" sollen hier solche literarischen Veröffentlichungen verstanden werden, die sich mit der Begründung des politischen Unterrichts in den Schulen, mit Erörterungen seiner Ziele sowie der allgemeinen Bedingungen der Unterrichtsorganisation befassen. Sie unterscheiden sich dadurch von verwandten Texten (zum Beispiel Richtlinien, unterrichtsmethodischer Gebrauchsliteratur usw.), daß sie die verschiedenen Determinanten des Handlungsfeldes Unterricht zu integrieren bemüht sind, sich also nicht nur auf einen Teilaspekt konzentrieren.

Didaktische Literatur ist zweckgebunden, sie soll denen, die unterrichten, einen Vorstellungszusammenhang anbieten, an dem sie ihr Handeln orientieren und rechtfertigen können; sie soll eine Reihe von Determinanten aufklären und integrieren, die diesen Handlungszusammenhang bestimmen (Richtlinien, erziehungswissenschaftliche Kenntnisse und Annahmen, Zielsetzungen, Kommunikationsprobleme usw.). Dieser praktische Zweck definiert weitgehend die gedankliche Variationsbreite möglicher Konzepte und Lösungen, denn die Grundfragen, um die es geht, sind - im Unterschied zu einer nicht zweckgebundenen Forschung - als praktische Probleme vorgegeben: Was soll warum unterrichtet werden? Was soll dabei herauskommen? Durch welche Art von Organisation läßt sich das, was herauskommen soll, am besten erreichen? Didaktische Literatur erfüllt aber auch legitimatorische Funktionen. Sie wird benötigt, um den pädagogischen Entscheidungsspielraum, den die Richtlinien lassen, rational zu fassen und öffentlich zu verantworten. Insofern setzt die Existenz einer didaktischen Literatur voraus, daß es einen solchen Spielraum gibt und daß nicht zum Beispiel die Lernziele "von oben" eindeutig vorgegeben sind. Im allgemeinen findet diese Literatur jenseits der fachlichen öffentlichen Meinung wenig Beachtung. Aber wenn der Konsens strittig wird, kann sich auch die nichtfachliche öffentliche Meinung für diese Art von Literatur kritisch interessieren, wie es zum Beispiel in der Diskussion der neuen Rahmenrichtlinien und der damit zusammenhängenden didaktischen Literatur geschehen ist.

Die veröffentlichten didaktischen Konzepte sind nur ein Teil dessen, was es wirklich an didaktischem Bewußtsein gibt. Jeder Lehrer muß über die didaktischen Grundfragen ein - wenn auch vielleicht vorwissenschaftliches und nur rudimentär bewußtes - Konzept haben, sonst könnte er gar nicht handeln. Abgesehen davon gibt es eine mehr oder weniger große Anzahl von intern benutzten didaktischen Konzeptionen, die sich an den veröffentlichten aus legitimatorischen Gründen zwar orientieren, aber dennoch nicht mit ihnen identisch sein müssen. Ein Vergleich aus der Publizistik liegt nahe. Die veröffentlichten didaktischen Modelle und Konzepte entsprechen der veröffentlichten pädagogischen Meinung, die anderen der öffentlichen

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pädagogischen Meinung. Zwischen beiden existiert eine von Fall zu Fall unterschiedlich breite Kluft; wird sie zu breit, so gerät die offizielle pädagogische Literatur in Gefahr, von den Lehrern als Oktroi bestimmter Vorstellungen empfunden zu werden und zugleich nach außen als bloße Fassade zu wirken, hinter der die Meinung der "schweigenden Mehrheit" verborgen bleibt. Durch entsprechende Untersuchungen könnte man bis zu einem gewissen Grade die Konzepte der "öffentlichen Meinung" literarisch rekonstruieren; dies ist nur zum Teil geschehen, die bekannten Untersuchungen zur Wirksamkeit des politischen Unterrichts und zum Lehrerbewußtsein aus den sechziger Jahren fragten nach politisch-ideologischen und allgemein-didaktischen Einstellungen, weniger nach dem Verbreitungsgrad der unterschiedlichen spezifisch-fachdidaktischen Konzeptionen. Die veröffentlichte didaktische Meinung, mit der wir es hier zu tun haben, ist also keineswegs identisch mit denjenigen didaktischen Vorstellungen, die an den Schulen vorzufinden sind. Rückschlüsse von jenen auf diese sind nicht ohne weiteres möglich, vielmehr müßte das tatsächliche didaktische Bewußtsein eigens erforscht und mit der "veröffentlichten Meinung" verglichen werden. Diese Differenz ergibt sich zwangsläufig daraus, daß die Produktion didaktischer Konzepte nur Teil eines komplexen gesellschaftlichen und pädagogischen Handlungszusammenhangs ist.

Wenn didaktische Theorie notwendigerweise zweckgebundene Theorie ist, dann läßt sich dieser Zweck nicht nur abstrakt fassen - im Sinne der obengenannten Grundfragen -, sondern auch historisch-konkret. Die praktischen Grundprobleme, um die es geht und die durch die historische "Erfindung" von Schule, das heißt von planmäßigem Unterricht im Unterschied zu den naturwüchsigen Unterweisungen (noch im Meister-Lehrling-Verhältnis), gegeben sind, sind in ihrer Allgemeinheit zwar von der "Sache" her vorgegeben, aber die Konkretisierung ist historisch veränderbar. Diese Veränderung wird vor allem durch das Zusammenwirken folgender Faktoren bestimmt:

- Richtlinien setzen einen mehr oder weniger großen Handlungsspielraum.

- Lehrmittel, vor allem Schulbücher, sind mehr oder weniger verbindliche Angebote, diesen Spielraum praktisch zu nutzen.

- Die pädagogische "öffentliche Meinung" - also die "öffentliche Meinung" der Lehrer - definiert zumindest in wichtigen pädagogischen Grundfragen das "Selbstverständliche" im Unterschied zum "Abweichenden".

- Die nichtfachliche öffentliche Meinung zu bestimmten pädagogischen Grundfragen - von der fachlichen mehr oder weniger beeinflußt - steht in mehr oder weniger spannungsvollem Verhältnis zur fachlichen öffentlichen Meinung.

- Das professionelle Rollenverständnis der Lehrer, das unter anderem von Art und Umfang ihrer Qualifikation abhängt, sowie ihre mit bestimmten

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"pädagogischen Ideologien" legitimierten Standesinteressen sind als eigenständiger, wenn auch mit den anderen Faktoren vielfach verbundener Faktor zu begreifen.

- Die Schüler schließlich setzen als einzelne wie als schichtenspezifische Gruppe oder als ganze Generation Grenzen für die Lernbarkeit politisch-pädagogischer Ziele. Art und Ausmaß der sozialen Integration der Schüler, ihre "Perspektive" und ihre durch beides bedingte Lernmotivation bestimmen unter anderem diese Grenzen.

Die Produktion didaktischer Konzepte erfolgt in diesem Zusammenhang und kann die beharrenden, überlieferten Determinanten nur in sehr begrenztem Maße überschreiten. Geschichte der politischen Didaktik ist also die Geschichte des Wandels, der sich im veröffentlichten didaktischen Bewußtsein angesichts der Veränderungen der dabei vorgegebenen Rahmenbedingungen vollzogen hat. Der Rekonstruktion dieses Prozesses für die letzten 25 beziehungsweise 30 Jahre dient die folgende Skizze. Sie ist zu verstehen als ein allgemeiner Zusammenhang von Hypothesen, deren historische und vor allem auch empirische Erforschung noch weitgehend aussteht. Sie beinhaltet damit zugleich den Versuch, einige Kategorien für die "Geschichtsschreibung" in diesem Bereich anzubieten und zu begründen.

Die folgende Darstellung setzt sich von den vorliegenden ideologiekritischen Überblicken über die Entwicklung der politischen Didaktik nach 1945 ab (Schmiederer, 1972; Kniffler/Schlette, 1967; Beck u. a., 1970); diese Arbeiten treffen die Eigentümlichkeiten des Prozesses deshalb nicht, weil sie die geistigen Produkte von vornherein von außen betrachten und unter "nicht-einheimischen" Kategorien subsumieren. Dabei vernachlässigen sie den eigentümlichen gesellschaftlichen Handlungszusammenhang, in dem Didaktik steht, insofern sie mehr am Produkt des richtigen Bewußtseins als dem Arrangement von Lernprozessen im Unterricht interessiert sind. Vor allem aber übersehen sie die Eigendynamik des pädagogischen Sektors, zum Beispiel der gewerkschaftlich organisierten Lehrerschaft, der pädagogischen Institutionen und der Konkurrenz intellektueller Gruppen in diesen Institutionen. Wie zu zeigen sein wird, spielen diese Faktoren gerade für die Entwicklung nach 1967 eine entscheidende Rolle. Statt dessen wird hier der gesellschaftliche Handlungszusammenhang, in dem die politische Didaktik sich entfaltet, als eine komplexe, sich ständig verändernde "politisch-pädagogische Kultur" begriffen: als ein Kommunikationssystem von vielfältigen Einflüssen und Abhängigkeiten. Nur so ist es möglich, den didaktischen Entwicklungsprozeß - vor allem seine jeweiligen Grenzen - zu verstehen. Allerdings sind auch die Schwierigkeiten erheblich, die sich mit einem solchen Vorhaben verbinden:

- Es kann nur ein Ausschnitt aus dem komplexen Zusammenhang vorgestellt werden, viele wichtige Aspekte der "politischen Kultur" können nicht berücksichtigt werden.

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- Die Darstellung kann nicht in einem chronologischen Durchgang erfolgen, vielmehr müssen die Gesichtspunkte in mehreren Durchgängen dargestellt werden, um die Argumentation nicht völlig unübersichtlich werden zu lassen.

- Da die "politisch-pädagogische Kultur" nach 1945 noch kaum erforscht wurde - vermutlich weil sie lange Zeit nicht als problematisch erschien - müssen wir uns an vielen Punkten mit begründeten Hypothesen begnügen, die mehr als Hinweise für künftige Forschungen denn als gesicherte Erkenntnis dienen.

Forschungsstand und zur Verfügung stehender Raum legen es bei diesem Ansatz nahe, daß die im engeren Sinne für unser Thema besonders wichtigen "Mikrofaktoren" (zum Beispiel Richtlinien, Lehrmittel) hinter der Darstellung übergreifender allgemeiner Tendenzen unangemessen weit zurücktreten. Erstaunlicherweise gibt es außer den schon erwähnten ideologiekritischen "Rückblenden" kaum Arbeiten zur Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Einige befassen sich mit der Entwicklung in den Gymnasien beziehungsweise in der Realschule (Mickel, 1967; Hilligen, 1953; Ellwein, 1955), für die Hauptschule und die Berufsschule gibt es noch gar keine Aufarbeitung (1). Dies kann auch hier im einzelnen nicht nachgeholt werden. Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Geschichte der politischen Didaktik im allgemeinen, die besonderen Verhältnisse für die Sekundarstufe I werden nur teilweise spezifiziert.
 
 

1. Geschichte der politischen Didaktik als Problemgenese
Wie die kritischen Hinweise auf ideologiekritische Arbeiten bereits zeigten birgt der Versuch, die Geschichte didaktischer Theorien zu beschreiben, methodologische Probleme. Diese sind hier nicht im einzelnen zu diskutieren, aber es muß klargestellt werden, was unter "Geschichte" verstanden werden soll. Die folgende Betrachtung basiert auf dem problemgenetischen Konzept. Danach sind der eigentliche Gegenstand der Analyse die schriftlich vorliegenden didaktischen Theorien, die im zeitlichen Nacheinander veröffentlicht werden. Diese Produktionen werden mit der Unterstellung analysiert, daß das zeitliche Nacheinander einen problemgenetischen Sinn habe, das heißt, daß diese Produktionen miteinander in einem Zusammenhang stehen und in bestimmter Weise aufeinander bezogen sind. Unterstellt wird, daß die Autoren der didaktischen Produktionen - sei es persönlich, sei es literarisch - in einem Kommunikationszusammenhang miteinander stehen, daß sie ein als gemeinsam erkanntes, durch den praktischen Zweck definiertes Problem bearbeiten, voneinander lernen, einander kritisieren, Argumente der anderen in ihre eigene Konzeption übernehmen usw., so daß man im Laufe der Zeit - je länger also dieser Kommunikations- und Produktionsprozeß dauert - einer optimalen Lösung des jeweiligen Problems immer näher kommt. Didaktische Theorien von 1977 müssen nach dieser Annahme "besser" (zum Beispiel differenzierter, umfassender) als die von 1947 sein.

Es ist deutlich, daß eine solche Annahme zunächst nur hypothetischer Natur sein kann, wenn man sich nicht von vornherein den Vorwurf eines blinden Fortschrittsoptimismus zuziehen will. Auch ist die kritische Frage schwer abzuweisen, wieweit nicht gerade der Versuch, die Vergangenheit aus der Entwicklung eines fortlaufenden Diskussionszusammenhangs zu rekonstruieren, unausgewiesen den Entwurf der Geschichte auf die Gegenwart und ihre Probleme hin darstellt. Dennoch besitzt ein solcher Ansatz Vorteile gegenüber dem Verfahren der eben erwähnten ideologiekritischen Rückblenden: In diesen Arbeiten wurde hauptsächlich Mühe darauf verwandt, die Beziehung zwischen Bewußtseinsinhalten von Personengruppen oder didaktischen Texten einerseits und gesellschaftlichen (zum Beispiel ökonomischen) Interessenlagen andererseits aufzudecken. Doch werden durch den Nachweis bestehender Entsprechungen didaktische Konzeptionen noch nicht zureichend gekennzeichnet - erst recht nicht, wenn man diese dabei aus dem Kontext von pädagogisch-didaktischen Problemen löst, für die sie mögliche Lösungsmodelle anbieten sollen. Der Gedanke läßt sich an dem heiklen Beispiel von Sprangers Elementarisierungskonzept veranschaulichen, das schnell als "konservativ" eingestuft ist. Abgesehen davon, daß bei diesem Urteil die zeitlich gebotenen Vergleichsmaßstäbe im Auge behalten werden müssen, ist die Tatsache zu berücksichtigen, daß auch im Rahmen konservativer Konzepte einzelne didaktische Problemlösungen angeboten werden können, die in "fortschrittlichen" Konzepten zu verwenden sind. Die erwähnten Darstellungen vernachlässigen eine solche Unterscheidung. Darüber hinaus mißverstehen sie ihren Gegenstand sogar, wenn sie einem didaktischen Konzept die Absicht oder die Funktion unterstellen, selbst das zu lernende Bewußtsein bereits zu enthalten, während es vielleicht lediglich die Bedingungen der Möglichkeit dafür arrangieren will, daß etwas gelernt werden kann, dessen - auch ideologisches - Ergebnis offengelassen werden soll. Mit diesen Einwänden wird nicht prinzipiell gegen den ideologiekritischen Ansatz votiert, vielmehr gegen die Art, in der sich die erwähnten Darstellungen seiner bedienen. Ihre ideologiekritischen Fragestellungen verweisen zwar durchaus auf wichtige Erklärungsmomente, können aber allein weder historische noch auch biographische Prozesse erklären.

Die der folgenden Skizze zugrunde gelegte Unterstellung, daß von einer Kommunikationsgemeinschaft der Didaktiker auszugehen ist, ist jedoch

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nicht unbedingt zwingend. Zweifellos läßt sich ein solcher Kommunikationszusammenhang für den Zeitraum bis etwa Ende der sechziger Jahre nachweisen. Bis dahin bezogen sich die Konzepte und Argumente aufeinander und beeinflußten sich gegenseitig; deshalb waren die Theorien mehr oder weniger eklektisch, es gab keine radikalen Alternativen, im großen und ganzen ging man von denselben Grundproblemen aus, für die unterschiedliche Lösungen angeboten wurden. Aber das änderte sich gegen Ende der sechziger Jahre. Die Arbeiten der "Frankfurter Schule", vor allem zur Wirksamkeit des politischen Unterrichts, kamen "von außen" und befaßten sich nur am Rande mit den didaktischen Theorien, dafür ausführlicher mit den politischen Meinungen und Einstellungen der Schüler und Lehrer (Habermas u. a., 1961; Becker u. a., 1967; Teschner, 1968). Die didaktischen Konzepte wurden nun an ihrer Wirkung gemessen, nämlich daran, wie sie auf das Bewußtsein der Schüler und Lehrer einwirkten. Insofern sie zugleich als vergegenständlichte Bewußtseinsprodukte ideologiekritisch in Relation zu gesellschaftlichen Interessen gedeutet wurden, isolierte man die einzelnen didaktischen Konzepte aus ihrem problemlösenden Zusammenhang. An ihm hatte die kritische Theorie nur ein marginales, eher persönliches als wissenschaftlich-systematisches Interesse. In der Folge konzentrierte sich das Interesse auf die inhaltliche Seite des Unterrichts, auf das "richtige" Bewußtsein, das im Unterricht vermittelt werden sollte, im Unterschied zum "falschen", das tatsächlich vermittelt wurde. So wichtig diese Kritik auch zweifellos war, für ihre didaktische Umsetzung war damit nur zum Teil und in Ansätzen Hilfe angeboten. Eine neue Qualität bekam diese Tendenz jedoch seit Anfang der siebziger Jahre, als auf der Grundlage der "kritischen Theorie" beziehungsweise ideologiekritischer Positionen nun eigene didaktische Konzepte entwickelt wurden. Soweit sie sich jedoch ausschließlich auf die inhaltliche Seite konzentrierten, wurde die didaktische Problematik unter Verkennung ihres komplexen Charakters folgenschwer verkürzt: Nicht der lernende Schüler stand im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern lediglich der Lerninhalt (Beck u. a., 1970; Wallraven/Dietrich, 1970; Schmiederer, 1971). Unter anderen Vorzeichen wurde diese Wende vom Schüler und seiner Bildung zum Lernziel auch von der Administration, zum Beispiel in Form der sogenannten "Normenbücher" (vgl. Flitner/Lenzen, 1977; Giesecke, 1977, S. 115ff), sowie in der modernen Curriculum-Theorie vollzogen; sie kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Erst neuere Konzepte des "sozialen Lernens" (Claußen, 1978) versuchen, hier Korrekturen zu schaffen; zumindest teilweise bleiben sie aber jenem inhaltlichen Absolutheitsanspruch verhaftet und wollen die Endergebnisse von Lernprozessen den Schülern nicht freigeben.

Zwar blieb es für die politische Didaktik möglich, die Ergebnisse jener ersten Untersuchungen in ihren eigenen Problemzusammenhang und Kommunikationszusammenhang zurückzuholen (Giesecke, 1972). Doch ging

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der Kommunikationszusammenhang in dem Maße verloren, wie die didaktischen Positionen nun nach politisch-ideologischen Kategorien, wie "konservativ", "radikal-demokratisch", "anti-kapitalistisch", sortiert wurden (Holtmann, 1973, S. 127ff; Schmiederer, 1972). Derartige Raster dienten ausdrücklich der Abgrenzung der Positionen voneinander, was zur Folge hatte, daß die so abgegrenzten Richtungen auch nicht mehr an einem gemeinsamen Problemzusammenhang arbeiten konnten: Die eine Position wurde zur Herausarbeitung der eigenen Ansätze kritisiert, die andere, genehme Position zitiert. Im Prozeß der politisch-ideologischen Polarisierung, der den Wissenschaftsbetrieb insgesamt bis in den Bereich wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzungen hinein ergriff, büßten die Didaktiker auch die ihnen bis dahin gemeinsame Grundlage einer gemeinsamen Praxis ein. Man unterschied sich - tatsächlich oder nur vermeintlich - auch hinsichtlich unterschiedlicher praktischer Ambitionen, zum Beispiel für eine "bürgerliche" oder "sozialistische" Schule.

Trotzdem läßt sich auch hier der problemgenetische Zusammenhang zumindest nachträglich wiederherstellen, wenn man nämlich auf den praktischen Zweck zurückgeht, dem didaktische Theorien zu dienen haben. Die politischen Alternativen wären dann nicht als solche zu diskutieren, sondern im Hinblick auf ihre Chance, sich unter den gegebenen Bedingungen einer bestimmten historischen Situation realisieren zu können. Dabei sind keineswegs nur die im engeren Sinne politischen Bedingungen gemeint, sondern zum Beispiel auch die, die in der politischen Identität der Schüler und ihrer Verständnisfähigkeit selbst liegen.

Ein weiterer Bruch für den problemgenetischen Fortschritt trat etwa zur selben Zeit durch die Versuche der Curriculum-Konstruktion ein. Denn diese verfahren ihrem Anspruch nach nicht so, daß sie Überliefertes kritisieren und korrigieren, sondern daß sie gleichsam vom historischen Nullpunkt aus logisch-systematisch ihre Entwürfe fertigen. Davon wird noch die Rede sein. Jedoch sind auch diese Konzepte zumindest nachträglich wieder in unsere Vorstellung der Problemgenese einzubauen, so daß nicht zuletzt die Möglichkeit gegeben ist, ihren "Fortschritt" an dem vor ihnen erreichten Standard zu messen.

Die Entwicklung der didaktischen "Produktionen" soll also insgesamt so beschrieben werden, daß deutlich wird, wie und in welchem Maße die Konzepte sich weiterentwickelt haben. Nur dann haben solche Rekonstruktionen überhaupt einen Sinn. Im folgenden geht es nun darum, die Veränderung einiger wichtiger Rahmenbedingungen aus dem gesellschaftlichen Handlungsfeld seit 1945 zu skizzieren, in dem die didaktische Entwicklung sich vollzieht (vgl. die Beiträge von Leschinsky/Roeder und Raschert). Dies dient dazu, den Spielraum zu beschreiben, der den didaktischen Überlegungen und Konzeptionen in der Nachkriegszeit gesetzt war.

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2. Richtlinien und Schulbücher

Richtlinien sind politische Texte, das heißt Willenserklärungen des Staates im Rahmen seiner Schulaufsicht, mit dem Ziel, den zugelassenen didaktisch-methodischen Spielraum zu markieren. Unter unseren gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnissen müssen die Richtlinien so abgefaßt sein, daß sie konsensfähig sind. Das hat gleichzeitig zur Folge, daß sie in der Regel auf Veränderungen mit einer gewissen Verzögerung reagieren.

Die wichtigste Entscheidung nach 1945 war der KMK-Beschluß von 1950, mit dem der politische Unterricht grundsätzlich an allen Schulen eingeführt wurde; dabei blieb es den einzelnen Ländern überlassen, ob dies in einem eigenen Fach geschehen solle und wie dieses Fach zu benennen sei. Selbst wenn man aus heutiger Sicht die damals entworfenen Richtlinien skeptisch beurteilt, unter den damaligen Umständen bedeuteten sie einen Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der für die Lehrerschaft auch durch die mangelhafte fachliche Vorbildung gerade in diesem Bereich noch erheblich verschärft wurde. In der folgenden Zeit - von etwa 1950 bis Mitte der sechziger Jahre - spielten die Richtlinien für den politischen Unterricht eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle. Sie blieben "defensiv" gegenüber der Schulpraxis, beschränkten sich auf mehr oder weniger verbindliche Stoff- und Themenpläne und auf allgemeine, "leerformelhafte" Zielvorstellungen. Allerdings behinderten sie auch kaum didaktisch-methodische Fortschritte in den Schulen. Der "konfliktorientierte" Ansatz der politischen Didaktik konnte zum Beispiel jahrelang von Lehrern, die ihn für richtig hielten, ebenso wie ältere Modelle der staatsbürgerlichen Unterweisung oder einer harmonisierenden Sozialkunde in der Schule realisiert werden. Die Richtlinien in dieser Zeit betrachteten die Schule als eine Institution von relativer Autonomie und beschränkten sich darauf, allgemeine Ziele festzulegen. Jedenfalls haben sie die Entwicklung der didaktischen Diskussion - soweit erkennbar - nicht behindert.

Allerdings kann aus diesem Charakter der Richtlinien nicht geschlossen werden, daß die von ihnen eingeräumten Möglichkeiten auch tatsächlich im Sinne einer breiten Realisierung unterschiedlicher didaktischer Konzepte genutzt wurden. Die Untersuchungen und Berichte aus dieser Zeit lassen im Gegenteil den Schluß zu, daß vor allem in den Volks- und Realschulen die Unterrichtswirklichkeit erheblich hinter dem in der "veröffentlichten didaktischen Meinung" diskutierten Standard zurückblieb (Ellwein, 1955 und 1960; Hilligen, 1953). Auch dies lag nicht an den Richtlinien, sondern an anderen Ursachen, von denen noch die Rede sein wird.

Für die Richtlinien (vgl. Mickel, 1971; Kniffler/Schlette, 1967; Giesecke u. a., 1974, S. 84ff) war bis etwa Mitte der sechziger Jahre vor allem folgendes charakteristisch:

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- Sie stellten quantitativ und qualitativ - gemessen an den realen Unterrichtsmöglichkeiten - zumindest für die Sekundarstufe I viel zu hohe Zielansprüche. Diese lauten in allen damaligen Richtlinien annähernd gleich, so wie es der Deutsche Ausschuß 1955 in seinem "Gutachten zur Politischen Bildung und Erziehung" - allerdings allgemein für die Schularten und -stufen - ausdrückt:

"Die Schüler müssen die wichtigsten Zusammenhänge des gesellschaftlichen, staatlichen und überstaatlichen Lebens kennenlernen; sie müssen in die Elemente der Rechts- und Wirtschaftsordnung eingeführt werden; sie müssen sich mit den wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen vertraut machen: aus den Bereichen der Familie, der Gemeinde, des Landes, des Bundes und der überstaatlichen Einrichtungen, der beruflichen Gliederungen, der Parteien und der Organe der öffentlichen Meinung. Sie müssen, unabhängig vom Geschichtsunterricht, aber möglichst in Fühlung mit ihm, die Zeitgeschichte verstehen lernen, die für das Verständnis politischer Gegenwart unerläßlich ist." (Empfehlungen und Gutachten, 1966, S. 836)

Das Mißverhältnis zwischen derartigen Ansprüchen und schon den dafür vorgegebenen Stunden erklärt sich aus dem - vermeintlichen oder tatsächlichen - Legitimationsdruck der politisch Verantwortlichen, in solchen politischen Texten nach 1945 nicht nur - wie in den meisten anderen Schulfächern - pragmatische, dem Unterricht nützliche Ziele und Hinweise zu geben, sondern darüber hinaus bei diesem Anlaß auch allgemeine politisch-moralische Willenserklärungen zu formulieren.

- Diese Ansprüche waren aber zugleich unverbindlich, insofern sie sich auf allgemeine, leerformelhafte und gerade deshalb konsensfähige, wenig nachprüfbare moralische Prinzipien beriefen. Zudem gab es bis 1960 ein "Fach" Gemeinschaftskunde für die Volksschulen nur in Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, während sich die anderen Bundesländer mit dem Unterrichtsprinzip begnügten. Trotz des Gutachtens des Deutschen Ausschusses von 1955, das die Diskussion bis dahin zusammenfaßte und damit auch für die Notwendigkeit eines politischen Unterrichts in der fachlichen und nichtfachlichen Öffentlichkeit "werben" wollte, war in den Schulen selbst der Eindruck weit verbreitet, daß der politische Unterricht auch von der Administration nicht sonderlich forciert werde. Stellt man zudem in Rechnung, daß in den fünfziger Jahren wenig für eine spezielle Ausbildung der Gemeinschaftskunde-Lehrer getan wurde, dann erscheinen die "defensiven" Richtlinien von heute aus auch als "desinteressierte" Richtlinien.

- Die Stoffpläne für die Volksschulen waren durchweg am "heimatkundlichen Prinzip" orientiert: Der Blick sollte sich von den "vertrauten" Bereichen wie Familie und Gemeinde auf die entfernteren wie Bundesland, Staat, Europa und Welt richten. Wirtschaftliche Fragen spielten eigentlich nur im Hinblick auf die bevorstehende Berufswahl eine Rolle.

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Hier wird deutlich, daß die Richtlinien nicht aus sich heraus verständlich sind, sondern Produkte der "politisch-pädagogischen Kultur" sind, zu der sie gehören. Deren Faktoren müssen zur Erklärung etwa der Tatsache herangezogen werden, daß die Erziehung zu politischen "Tugenden" und das heimatkundliche Prinzip pädagogische Topoi in dieser Zeit waren.

Mit dem 1972 veröffentlichten Entwurf der hessischen Rahmenrichtlinien "Gesellschaftslehre" (Hessischer Kultusminister, o. J.), der nicht in Kraft gesetzt wurde, begann der Versuch, mit Hilfe von Richtlinien den politischen Unterricht in der Sekundarstufe I "offensiv" voranzutreiben. Die heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen (vgl. Köhler/Reuter, 1974; Bergmann/Pondel, 1975; Gutjahr-Löser/Knütter, 1975) zeigten, daß damit der politische Konsens gefährdet war; der Anteil des "politischen Textes", also der Willenserklärung des Staates, war zu umfangreich und reichte zu weit in jenen Spielraum hinein, der nur auf andere Weise, zum Beispiel durch den Wettbewerb wissenschaftlich-didaktischer Konzepte, zu legitimieren ist. Die Auseinandersetzungen zeigten aber auch, wie labil und empfindlich die Beziehung der nichtfachlichen öffentlichen Meinung zum politischen Unterricht nach wie vor war.

Die Autoren der neuen Richtlinien in Nordrhein-Westfalen (Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, 1973) lernten offensichtlich vom Schicksal der hessischen Richtlinien, da sie den "politischen Text" sehr viel enger faßten und die unterrichtsbezogenen Teile und Materialien als "Beispiele" und "Empfehlungen" deklarierten. Charakteristisch an diesem Konzept war der Versuch, durch konsequente Orientierung an der Curriculum-Konstruktion einerseits das Legitimationsproblem zu lösen (vgl. Schörken, 1974; Gagel/Schörken, 1975; Jenkner/Stein, 1976), andererseits über Sequenzen von "Lernzielen erster und zweiter Ordnung" präzisere Hinweise für den Unterricht selbst zu geben. Auch in Hamburg und Rheinland-Pfalz wurden Anfang der siebziger Jahre neue Richtlinien für die Sekundarstufe I erlassen. Hier handelte es sich um Mischformen zwischen den alten "defensiven" Richtlinien und den neuen Maßstäben der Lernzielorientiertheit (vgl. zu den neueren Lehrplänen insgesamt Gutjahr-Löser/Knütter, 1975).

Die umstrittenen Richtlinien von Hessen und Nordrhein-Westfalen begründeten ihre Notwendigkeit unter anderem durch eine Kritik der alten, "defensiven" Richtlinien: Deren Zielsetzungen seien unklar, ihre Stoffvorschläge zufällig und nicht zwingend begründet, die Präambeln enthielten pure Leerformeln. Rückblickend muß man jedoch sehen, daß die alten Richtlinien gerade deswegen konsensfähig waren und eine ganze Reihe von unterschiedlichen didaktisch-methodischen Modellen zugelassen hätten. Die umstrittenen neuen Richtlinien waren nicht zuletzt gerade deshalb problematisch, weil sie die Grenzen der unterschiedlichen Legitimationsebenen verwischten: Was gehört in den politischen Text, was in den offenen Wettbewerb der fachwissenschaftlichen und didaktischen Theorie-

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bildung und was in die professionelle Unterrichtskompetenz des Lehrers? Die Diskussion um die Richtlinien hat trotz ihrer Breite ein Problem kaum angesprochen, um das es in Wirklichkeit ging: um die politisch-erzieherische Kompetenz der Schule im Rahmen der gesamten politischen Sozialisation. Alle Richtlinien gehen nach wie vor selbstverständlich davon aus, daß die Schule zu bestimmten Haltungen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Überzeugungen zu erziehen habe; das ist besonders deutlich in den curricular orientierten Richtlinien von Nordrhein-Westfalen erkennbar. Die Frage ist jedoch nicht nur, ob die Schule angesichts der normativen Pluralität dazu noch berechtigt ist, sondern gleichzeitig, ob sie dies auch angesichts der "ideologischen Übermacht" der außerschulischen Sozialisationsfaktoren noch leisten kann. Realistischer wäre vermutlich, zu fordern, daß der politische Unterricht die Bedingungen der Möglichkeit dafür arrangieren soll, daß die Schüler die gewünschten Einstellungen usw. sich verschaffen können. Dies aber wäre ein Konzept, das andere Richtlinien und auch andere Auffassungen über die Funktion der Schule und ihre innere Gestaltung voraussetzt.

Im Zusammenhang mit den Richtlinien ist auch ein kurzer Blick auf die Lehrmittel, vor allem auf die Schulbücher, sinnvoll; denn Schulbücher müssen vom Kultusministerium genehmigt werden, und ihre "Lehrplangemäßheit" ist ein wichtiges Kriterium der Zulassung. Andererseits gilt das benutzte Schulbuch gleichsam als "heimlicher Lehrplan" im Unterricht. Es ist kein Zufall, daß nicht nur Richtlinien, sondern immer wieder auch Schulbücher in der öffentlichen Meinung zur Diskussion stehen; denn im Unterschied zu jedem anderen Buch ist das Schulbuch seitens der Öffentlichkeit mit einer magischen Erwartung versehen: Es soll das Wahre, das Richtige, das Konsensfähige enthalten, zumal der Staat es ja auch ausdrücklich genehmigen muß. Angesichts derartiger Erwartungen ist vielleicht verständlich, warum es zwar Literatur zum Genehmigungsverfahren, aber noch keine befriedigende "Theorie des Schulbuchs" (vgl. Schallenberger, 1973; Claußen, 1977, S. 20ff; Hambrink, 1976, S. 135ff) gibt, die im Rahmen einer Unterrichtstheorie seine Funktion thematisiert. Gerade beim politischen Schulbuch führt der Erwartungsdruck dazu, daß dieses selbst jene Mehrdimensionalität und Pluralität nicht haben kann, die der konkrete Unterricht schon durch die Fragen der Schüler bekommt. Zwischen der zulässigen Struktur des Unterrichts und der zulässigen Struktur des Schulbuchs für diesen Unterricht besteht also eine notwendige Differenz. Nur vor dem Hintergrund dieser Tatsache kann man die Inhalte von Schulbüchern für den politischen Unterricht verstehen. Zwei Phasen lassen sich für die Zeit seit 1945 grob unterscheiden:

- Bis etwa Ende der fünfziger Jahre herrschte der Typ des moralisch-institutionenkundlichen Schulbuchs vor. Die politischen Tugenden waren ebenso konsensfähig wie die Erklärung der demokratischen Institutio-

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nen. Es war dieser Schulbuchtyp, der dann in den sechziger Jahren durch Forschungen kritisiert wurde (Nitzschke, 1966; Klönne/Tschoepe, 1965; Hamm-Brücher, 1968; Schuon/Wiedner, 1968 und 1969; Institut für Sozialforschung, 1970). Dabei identifizierte man als seine charakteristischen Eigenschaften im wesentlichen die Darstellung des Staates als Gemeinschaft tugendhafter Bürger, die Harmonisierung politischer Verhältnisse, die Ausblendung oder problematische Verfälschung jener innenpolitischen Realitäten, die ihrer Natur nach konfliktträchtig sind, wie Arbeitskämpfe oder Streiks, die Wendung des Konfliktpotentials nach außen als Verteidigung der Demokratie gegen den Totalitarismus, die allenfalls moralische Behandlung des Nationalsozialismus, da seine sachliche Behandlung ungemein konfliktträchtig zwischen den Generationen - auch der Lehrer - gewesen wäre.

- Ein neues Schulbuchkonzept legte Wolfgang Hilligen Anfang der sechziger Jahre mit seinem Buch "Sehen - Beurteilen - Handeln" vor, dem später die ähnlich konzipierten Schulbücher von Fischer folgten (Hilligen, 1960; Fischer, 1971). Der dem Konsenszwang unterworfene Schulbuchtext des Autors wurde auf knappe Hinweise reduziert, dafür wurden kontroverse, aber "ausgewogen" dargebotene Materialien und Standpunkte den Schülern zur Bearbeitung präsentiert. Die Legitimation dieses neuen Verfahrens lag darin, daß die präsentierte politische Realität authentisch war, das Problem lag im wesentlichen in der "Ausgewogenheit" der Präsentation. Auf diese Weise hatte Hilligen den obenerwähnten Strukturwiderspruch zwischen Schulbuch und Unterricht gelöst: Der systematische Schulbuchtext stand nun nicht mehr im Schulbuch, sondern mußte im Umgang mit dem Schulbuch vom Lehrer "gemacht" werden. Allerdings hat diese Lösung den Nachteil, daß das Problem der Konsensfähigkeit des Lehrtextes auf den einzelnen Lehrer verlagert ist. Zudem muß damit gerechnet werden, daß der politische Unterricht in vielen Fällen ohne hinreichende systematische Lehre gleichsam als eine bloße additive Sequenz von Themen, Diskussionen und Fallbeispielen abgehalten wird.
 
 

3. Faktoren der pädagogischen "öffentlichen Meinung" und ihre Veränderung
Man kann davon ausgehen, daß zu jedem historischen Zeitpunkt die pädagogische Diskussion durch Auffassungen der "öffentlichen Meinung" über pädagogische Normen mitbestimmt wird, die nicht nur von Fachleuten, sondern eben auch von der nichtfachlichen Öffentlichkeit mehr oder weniger geteilt werden. "Fortschritte" in der pädagogischen Diskussion müssen

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gegen solche Auffassungen durchgesetzt werden, diese korrigieren und verändern, ja, sie überhaupt erst einmal aus dem Zustand der Selbstverständlichkeit in die öffentliche Diskussion bringen. Doch wird diese öffentliche Meinung keineswegs nur durch fachliche Argumente verändert, sondern wohl in erster Linie durch allgemeine gesellschaftliche Veränderungen ökonomischer, sozialer und kultureller Art. Die Frage lautet: Wann wird eine solche "Selbstverständlichkeit" warum zum Problem?

Die "pädagogische" öffentliche Meinung kann - wie die politische insgesamt - als eine Art von geschichtlich überliefertem Konsens in normativen Grundfragen verstanden werden, die ihrerseits für Erziehung und Schule praktische Konsequenzen haben. Sie ist relativ zählebig und nur langsam zu verändern - außer in Zeiten raschen gesellschaftlichen Wandels. Ein Beispiel dafür aus der letzten Zeit ist das Scheitern der hessischen Rahmenrichtlinien, das nicht zuletzt darin begründet ist, daß die Beweglichkeit und Veränderbarkeit der öffentlichen Meinung offenbar erheblich überschätzt wurde.

Einige der Faktoren der öffentlichen Meinung, die für die Entwicklung der politischen Didaktik in den letzten Jahrzehnten wichtig waren, sollen im folgenden charakterisiert werden: nämlich die Auffassung von der politischen Exterritorialität der Schule, von der politischen Exterritorialität des Jugendalters und von der schichtspezifischen Bildungsfähigkeit.
 
 

3.1 Die politische Exterritorialität der Schule

Die Schule galt nach 1945 als politisch exterritorial, als "neutrale" Gemeinsamkeit aller Bevölkerungsschichten für die Erziehung aller Kinder. Politische, gar parteipolitische Widersprüche gehörten nicht in die Schule, auch nicht in den Unterricht; dieser hatte sich um das zu bemühen, was auch in den Widersprüchen und Streitigkeiten das Gemeinsame war, und das waren vor allem normative, moralische Inhalte. Bestärkt wurde diese Ansicht durch die Erfahrung der NS-Zeit, durch die dort versuchte rücksichtslose Politisierung der Schule, aber entstanden ist dieser Konsens wohl schon früher, in den schulpolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit.

Exemplarisch kennzeichnen läßt sich dieser Vorstellungskreis durch das Konzept vom "pädagogischen Bezug". Es entstammt eher der pädagogisch-fachlichen Diskussion, beinhaltet aber Vorstellungen, die zumindest in moralischer Hinsicht auch von der öffentlichen Meinung weitgehend geteilt wurden und nur scheinbar "unpolitisch" waren. Die Konzeption des "pädagogischen Bezugs" (Nohl, 1933 und 1949; Bartels, 1970, S. 268ff) bezog sich keineswegs nur auf die unmittelbare menschliche Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, sondern thematisierte auch mehr oder weniger ausdrücklich den grundsätzlichen Zusammenhang von Staat-Gesellschaft-

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Lehrer-Schüler. Knapp resümiert, ging es um folgende Überlegungen: Die Ausgangsfrage war, welche Funktion der Lehrer einerseits gegenüber dem Kind hat und andererseits gegenüber den Anforderungen der "gesellschaftlichen Mächte" (Staat, Kirche, Wirtschaft usw. ) sowie gegenüber deren pluralistischen normativen Ansprüchen. Als Aufgabe des Lehrers beziehungsweise Erziehers galt, dem Kind die Herausarbeitung seiner Individualität, also seiner besonderen Fähigkeiten und Begabungen zu ermöglichen. Diese Aufgabe war aber nur zu leisten, wenn das Kind den widersprüchlichen Erwartungen und Ansprüchen der gesellschaftlichen Mächte nicht unmittelbar ausgeliefert wurde, sondern ihnen in einer (durch Didaktik und Methodik) aufbereiteten und kontrollierten Form begegnete, in der die unterschiedlichen Forderungen in bildender Weise miteinander bereits vermittelt worden waren. Diese Vermittlung konnte nur in der Person des gebildeten Lehrers geschehen, der für sich diese Ansprüche in eine Form gebracht hat, die zur Bildung des Kindes geeignet ist; denn "das Leben bildet nicht".

Diese pädagogische Grundannahme hatte für den politischen Unterricht zur Folge, daß die Schule das Kind vom wirklichen Leben, jedenfalls von dessen Widersprüchen und Konflikten, trennen und es dazu in eine "bildende Distanz" bringen mußte. Unter anderem deshalb hat es nach 1945 so lange gedauert, bis sich ein auf Aktualität oder jedenfalls auf die politische Wirklichkeit selbst bezogener politischer Unterricht durchsetzen konnte. Er hatte nämlich eine andere "Schultheorie" als die überlieferte zur Voraussetzung. Gleichwohl ist das Problem, das der politische Unterricht für das überlieferte Verständnis der Schule aufwarf, nie systematisch bearbeitet worden; vermutlich kann man darin noch einen Grund für die Schärfe der dann mit den neuen Richtlinien aufbrechenden Diskussion sehen. Noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein spielen in der Diskussion des politischen Unterrichts Fragen eine Rolle, die eigentlich nur vor diesem Hintergrund der öffentlichen Meinung verständlich sind; dazu zählt etwa das Problem der "politischen Parteilichkeit" des Lehrers, die Frage also, ob und unter welchen Umständen dieser überhaupt den Schülern seine politische Ansicht sagen dürfe. Die Vorstellung von der politischen Exterritorialität der Schule änderte sich in der öffentlichen Meinung kaum, sie wurde nicht einmal durch die Richtliniendiskussionen problematisiert. Dadurch wurde aber der Widerspruch zu einem auf die politische Wirklichkeit und damit auf deren Parteilichkeit und Widersprüche bezogenen politischen Unterricht immer größer. Spätestens Ende der sechziger Jahre war die Tatsache unübersehbar, daß die Schule nicht jenseits der gesellschaftlichen Widersprüche, sondern mitten in ihnen steht - auch ganz unabhängig von den Problemen des politischen Unterrichts. Doch wurde das allenfalls in den Fachdiskussionen, nicht aber von der öffentlichen Meinung wirklich akzeptiert. Denn das Problem ist, ob die Schule noch konsensfähig sein kann, wenn sie die überlieferte politische Exterritorialität aufgibt.

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Soweit erkennbar, gibt es für dieses Problem zwei mögliche Lösungen: Entweder benutzt man in Zukunft die Schule "parteilich" über neue Richtlinien für die Durchsetzung partikularer gesellschaftlicher Auffassungen, wie den hessischen Richtlinien zu Unrecht vorgeworfen wurde. Dann wird die Konsensfähigkeit stets gefährdet sein und droht mit jeder neuen Landtagswahl auch eine Änderung der Bildungsinhalte. Oder man akzeptiert, daß die Schule in Sachen politische Bildung nicht nur propädeutische, sondern auch lebensbegleitende Funktionen hat. Die Konsensfähigkeit kann dementsprechend nicht durch Ausklammerung der gesellschaftlichen Widersprüche, sondern nur durch die Art und Weise des unterrichtlichen Umgangs mit ihnen, also ihre intellektuelle Bearbeitung, gewährleistet werden. Konsensfähig könnte dann auch eine Schule sein, die den Pluralismus der Gesellschaft in sich abbildet und ihn unter Wahrung bestimmter kommunikativer und argumentationsmethodischer Regeln zu ihrem Gegenstand macht (vgl. Giesecke, 1978, S. 55 ff). Doch gibt es an dieser Stelle eine breite Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und den Anforderungen an einen auf die politische Realität bezogenen politischen Unterricht.

Die Vorstellung von der politischen Exterritorialität der Schule und auch der Bildung macht zugleich verständlich, daß der politische Unterricht nach 1945 mit einer sozialethisch orientierten Gemeinschaftskunde beginnen konnte. Dabei war gerade die Kategorie "Gemeinschaft" durch den Nationalsozialismus diskreditiert worden, wie man nach dem Kriege allerdings erst allmählich gewahr wurde. Eben der sozialethische Aspekt mußte unter den eben genannten Voraussetzungen als "bildend" gelten; er war geradezu die ideale Form für den speziellen pädagogischen Auftrag des Lehrers, die Wirklichkeit der Welt dem Kinde auf eine bildende Weise zu präsentieren. Schließlich läßt sich aus dieser Vorstellung unter anderem auch klären, daß etwa Mitte der fünfziger Jahre die Diskussion um einen eigenständigen politischen Unterricht in der Oberstufe des Gymnasiums begann. Ihre Schüler hatten ein Alter, für das am ehesten die Notwendigkeit einzusehen war vom Propädeutischen zum Wirklichen zu gelangen.
 
 

3.2 Die politische Exterritorialität des Jugendalters

Auch das Kindes- und Jugendalter galt in der Nachkriegszeit zunächst als politisch exterritorial. Gerade wegen der politischen Verführung der Jugend im Nationalsozialismus ging die öffentliche pädagogische Meinung wie schon vor 1933 davon aus, daß Kinder und Jugendliche selbst noch keine politischen Interessen hätten, die sie vertreten müßten, sondern daß dies die Aufgabe der Erwachsenen sei. Deshalb könne der politische Unterricht in der Schule nur propädeutische Bedeutung haben; er solle darauf vorbe-

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reiten, daß die Jugendlichen später, als Erwachsene, ihrer politischen Verantwortung gerecht werden können. Dies war zum Beispiel eine wichtige Prämisse der von Erich Weniger schon in den zwanziger Jahren formulierten "Didaktik des Geschichtsunterrichts" (Weniger, 1965; Blankertz/Hoffmann, o. J., S. 175ff). Für Weniger war der Geschichtsunterricht als politisch propädeutischer Unterricht gerade deshalb so geeignet, weil er der jungen Generation ermöglichte, in Distanz zu aktuellen Konflikten und Kontroversen sich mit den grundlegenden historischen Prozessen des eigenen Staates zu befassen, um als Erwachsene die politische Verantwortung für diesen Staat auch verständig mit übernehmen zu können.

Mit dieser Begründung hatte der Geschichtsunterricht bis weit in die fünfziger Jahre hinein eine Art von Privileg für den politischen Unterricht. Seine Ergänzung durch einen eigenständigen politischen Unterricht hatte im Bannkreis dieser pädagogischen Grundannahme unter anderem zur Voraussetzung, daß die Stellung des Kindes und Jugendlichen zu Staat und Gesellschaft anders gesehen wurde. Eine wichtige Veränderung war bereits, daß der Blick sich vom Staat auf die gesellschaftlichen Bezüge der Jugendlichen ausdehnte, denn in diesem Bereich konnte es sich nicht mehr nur um Propädeutik (etwa die Vorbereitung auf das Wahlrecht oder auf den Militärdienst), sondern schon um aktuelle Pflichten und Rechte der Jugendlichen handeln. Deshalb ist die Anfang der fünfziger Jahre geführte Grundsatzdiskussion zwischen Oetinger (1956) einerseits und Weniger (1952, S. 304ff, und 1964), Litt (1957) und anderen andererseits von zentraler Bedeutung gewesen. Oetingers Verdienst ist es, die Grenze der bloßen Propädeutik überschritten und damit einen Prozeß angebahnt zu haben, in dem zumindest Jugendliche dann immer mehr als gesellschaftliche Subjekte angesehen wurden. Auch sie waren Menschen, die bereits selbst politische beziehungsweise gesellschaftliche Probleme zu bewältigen haben. Unterstützt wurde dieser Prozeß dann durch eine Reihe von gesellschaftlichen Veränderungen, die wahrscheinlich dazu führten, daß die Jugendlichen weniger als zuvor ökonomisch in ihre Familien integriert waren. Deutlich zeigt sich dies an der Etablierung des Stipendienwesens. In dem Maße etwa, in dem eine so wichtige Entscheidung wie die Berufsentscheidung ökonomisch nicht mehr allein von der Familie getragen wurde, sondern auf der Grundlage staatlicher Unterstützung erfolgte, wurde der Jugendliche auch bereits vor seiner Volljährigkeit zu einer Art selbständigem Bürger. Hinzu kamen Entwicklungen im Freizeit- und Konsumbereich: "Halbstarken-Krawalle" sowie die Entstehung von jugendlichen Subkulturen in Verbindung mit einem auch volkswirtschaftlich, das heißt für die Konsumindustrie interessanten Konsum-Budget verwiesen auf Tendenzen zur Lösung aus den überkommenen sozialen Beziehungen.

Es scheint auch, als habe der bloße propädeutische politische Unterricht, der sich im wesentlichen auf die sittlichen Prinzipien der Politik und auf die

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Institutionenkunde gründete, bei der jungen Generation im Laufe der fünfziger Jahre zunehmend weniger Interesse gefunden. Für eine Veränderung der Konzeption des politischen Unterrichts sorgten ferner politische Ereignisse wie die zunehmende Dominanz der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie und Realität im geteilten Deutschland. Zum unmittelbaren Anlaß einer Revision wurden die Hakenkreuzschmierereien Ende der fünfziger Jahre, die dem Ansehen der Bundesrepublik im Ausland sehr schadeten. Angesichts solcher Ereignisse wurde klar, daß allein ein propädeutischer politischer Unterricht gegenüber einer Jugend, die sich immer mehr auch selbst als politisches Subjekt empfand, nicht mehr ausreichen konnte, zumal das Interesse an historisch fundierter Identität und damit am Geschichtsunterricht nach zeitgenössischen Befunden immer mehr abzunehmen schien (Küppers, 1961).

Die Geschichte des Jugendalters in der Bundesrepublik von der optimalen Integration der "skeptischen Generation" aus der Mitte der fünfziger Jahre bis hin zur gegenwärtigen Situation einer beträchtlichen Arbeitslosigkeit nicht nur der Arbeiterjugend, sondern auch der studentischen Jugend ist noch nicht geschrieben. Wir verfügen zwar über eine Fülle von empirischen Einzeluntersuchungen und Theorien, was jedoch fehlt, ist der Versuch, dieses Material zu einer Art von "Sozialisationsgeschichte" des Jugendalters seit 1945 auszuwerten, aus der der hier spekulativ angedeutete Prozeß einer Veränderung der Lebenswelten und der Perspektiven klar hervorginge beziehungsweise erklärbar würde.

Die Ergebnisse dieses Prozesses scheinen unter anderem zu sein: zunehmende Emanzipation der Jugendlichen im Sinne von "Freisetzung" aus familiären Bindungen und Traditionen, zunehmende Individualisierung der Lebensentscheidungen und Lebensperspektiven beziehungsweise abnehmende Verbindlichkeit gesellschaftlicher Erwartungen und Normen dafür, zunehmende soziale Desintegration und damit Verunsicherung der sozialen und politischen Identität; als Effekt der jüngsten Entwicklung macht sich möglicherweise auch eine Verunsicherung der Zukunftserwartungen (der Lebens"perspektive") im Rahmen abnehmenden wirtschaftlichen Wachstums und struktureller Arbeitslosigkeit bemerkbar. Man kann diesen Prozeß als eine "objektive Politisierung" des Jugendalters bezeichnen; das muß nicht bedeuten, daß die Jugendlichen tatsächlich politisch interessierter seien als früher, wohl aber, daß sie hinsichtlich der Vertretung ihrer eigenen politischen und gesellschaftlichen Interessen in der Gesellschaft keinen "Schonraum" mehr vorfinden, in dem gleichsam automatisch für ihre Zukunft gesorgt würde. Sie sind zumindest in diesem Punkt in der gleichen Lage wie die Erwachsenen auch. Allerdings muß daran erinnert werden, daß die hohe ökonomische und soziale Sekurität des einzelnen, deren Bedrohung heute so tief empfunden wird, überhaupt erst(malig) zu einem relativ späten Zeitpunkt in der westdeutschen Nachkriegsentwicklung erreicht wurde.

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Es leuchtet ein, daß dieser Veränderungsprozeß, von dem einzelne Konsequenzen wohl Ende der sechziger Jahre fühlbar wurden, Rückwirkungen auf die politische Bildung innerhalb und außerhalb der Schulen haben mußte. Die Thematisierung des politischen Konflikts, die Identifizierung des eigenen Interesses in Abgrenzung zu anderen Interessen, die Frage nach der Legitimation des ganzen politischen und ökonomischen Systems und seiner Institutionen verweisen auf Fragestellungen, die in der politischen Bildung zwischen 1945 und 1965 nicht vorgesehen waren. Konflikt-, erfahrungs- und emanzipationsorientierte didaktische Ansätze wurden nun unentbehrlich. Sowenig derartige Ansätze bei den Jugendlichen Anfang der fünfziger Jahre eine Chance gehabt hätten, sowenig Chancen hätten die alten didaktischen Konzepte heute, um bei dieser neuen Sozialisationslage ansetzen zu können. Die seit Mitte der sechziger Jahre entwickelten Konflikttheorien in der Didaktik der Politischen Bildung rechtfertigen sich in diesem Zusammenhang; sie sind darum mehr als nur willkürliche, subjektiven Optionen folgende politische Interpretationen der Didaktiker.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die bildungspolitische Auseinandersetzung irgendwann diesem Problem, nämlich der neuen Sozialisationslage der jungen Generation, wirklich stellen wird. Es hat wenig Sinn, Erziehungsziele und pädagogische Normen zu verfechten, die angesichts der Lebensrealität der Jugendlichen keine integrierende und Perspektiven setzende Kraft mehr haben. Doch ist nicht auszuschließen, daß man aus Gründen des politischen Konsenses versuchen wird, die objektive Politisierung des Jugendalters mit einer zunehmenden politischen Neutralisierung der Schule zu beantworten und die kontroverse politische Realität wieder aus dem Unterricht auszublenden. Dann steht zu befürchten, daß sich die für diese Generationslage "interessante" politische Bildung aus der Schule in die partikularen Organisationen verlagert. Dort kann sie ohne Korrektur in einer Weise betrieben werden, die einseitig parteilich ist und ohne Verpflichtung auf einen gemeinsamen Konsens die ohnehin vorhandenen gesellschaftlichen Konflikte nur verschärft.

Während die öffentliche Meinung sich hinsichtlich der politischen Exterritorialität der Schule wenig geändert hat, ist hier die Änderung eindeutig: Das Recht, seine politischen Rechte und Interessen auf politische Weise selbst zu vertreten, wird der jungen Generation heute nicht mehr ernsthaft bestritten. Dem trug schon die Herabsetzung des Wahlalters Rechnung. Der Widerspruch besteht aber darin, daß die neue politische und ökonomische Lage der jungen Generation im ganzen in der schulischen politischen Bildung wegen der genannten Barrieren der öffentlichen Meinung nicht didaktisch angemessen behandelt werden kann.

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3.3 Schichtenspezifische Begabung: "Volkstümliche Bildung"

Nach 1945 gehörte zu den - nur von einer Minderheit bestrittenen - Annahmen der öffentlichen Meinung auch, daß das dreigliedrige Bildungssystem im großen und ganzen den Begabungsunterschieden in der Bevölkerung angemessen sei. Diese Annahme war für die Entwicklung der politischen Bildung in der Sekundarstufe I, vor allem in der Oberstufe der Volksschule und in der Berufsschule, von erheblicher Bedeutung. Das beherrschende Denk- und Handlungsmuster der Didaktik für diese beiden Schularten war das Konzept der "volkstümlichen Bildung". Unter diesem Begriff soll hier eine Gesamtheit von Vorstellungen verstanden werden, die sich auf die spezifischen Lernmöglichkeiten, Interessen, Begabungen und Bedürfnisse der Unterschichtkinder bezogen. Die Konzeption der "volkstümlichen Bildung" (Glöckel, 1964; Kudritzki, 1962, S. 113ff) in dem hier verwendeten weiteren Sinne ging von der Annahme aus, daß bis auf relativ wenige Fälle des sozialen Aufstiegs die Kinder aus den unteren sozialen Schichten und aus der Landbevölkerung auch nach ihrer Schulzeit in ihrem spezifischen Milieu bleiben würden. Gleichzeitig unterstellte man, daß sie praktische und weniger intellektuelle Interessen hätten, daß ihr Denkstil erfahrungsbezogen-konkret und weniger systematisch-abstrakt sei und daß darum alle geistigen Ansprüche an sie begrenzt werden müßten.

Diese öffentliche Meinung bezog sich keineswegs speziell auf den politischen Unterricht, hatte aber unter anderem zur Folge, daß sich in der Nachkriegszeit die politische Bildung je nach Schulart ungleich entwickelte. Im wesentlichen ist dabei zwischen der Entwicklung in Realschule und Gymnasium einerseits und der Haupt- und Berufsschule andererseits zu unterscheiden. Die Differenzen beruhten vor allem auf der Einschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Seit Kerschensteiner galt als zentrales didaktisches Problem für den politischen Unterricht, welche Ziele und Strategien dieser haben solle, wenn für die Schüler der Volks- und Berufsschule die eigentlich für den politischen Unterricht erforderlichen intellektuellen Fähigkeiten nicht erwartet werden konnten. Aus dieser Auffassung erklären sich spezifische didaktische Konzeptionen wie "heimatkundliches Prinzip" oder die "Kunde". Das Ziel war immer in irgendeiner Weise die gesellschaftliche "Eingliederung" in die insgesamt untergeordneten Positionen, die auf Grund der sozialen Herkunft voraussichtlich eingenommen werden mußten. Es ist deutlich, daß derartige Auffassungen sich folgerichtig auch auf die zu erwartende soziale Mobilität bezogen. Bis Ende der fünfziger Jahre bezweifelten nur Gruppen von geringem Einfluß auf die öffentliche Meinung, daß lediglich eine relativ geringe Mobilität zu erwarten sei und das Bildungssystem im ganzen dafür hinreichend organisiert sei. Infolgedessen galt es auch weitgehend als problemlos, den Haupt- und Berufsschülern lediglich solche didaktischen Angebote zu machen, die sie zu ihrer Eingliede-

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rung in eine relativ klar vorgegebene soziale und berufliche Karriere unmittelbar zu benötigen schienen. Von den höheren Bildungsgängen wurden dagegen wegen der künftig zu erwartenden Führungspositionen mehr kognitive Energie und höhere intellektuell-systematische Arbeit auch im politischen Unterricht verlangt.

Ideologiekritisch hat man in vielen neueren Darstellungen auf den Klassencharakter dieser Vorstellungen zu Recht hingewiesen. Dabei ist zu betonen, daß die vorgenommene soziale und schulische Zweiteilung scheinbar den Lebensperspektiven der Arbeiterkinder selbst entgegenkam. Deren Bildungsaspirationen waren durch eine Elterngeneration geprägt, die von den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des Nationalsozialismus bestimmt war, und wurden durch die Schule dann noch verstärkt. Es war ein Charakteristikum der Zeit, daß die Ergebnisse dieses in gewisser Weise zirkulären Prozesses den Arbeitern allgemein als Voreinstellungen zugeschrieben wurden: Bis in die sechziger Jahre fanden Hinweise auf die soziale Ungleichverteilung im Schulsystem der Bundesrepublik wenig Beachtung - nicht zuletzt, weil viele Untersuchungen zu zeigen schienen, daß die Bereitschaft zur sozialen Mobilität in den unteren Schichten generell relativ gering war; für Einzelfälle aber war prinzipiell, wenn auch faktisch mit besonderen Beschwernissen, die Gelegenheit zum sozialen Aufstieg durch höhere Bildung gegeben. Außer den genannten Erklärungsfaktoren für die festgestellte geringe Aufstiegsbereitschaft ist unter anderem noch auf das damals vergleichsweise geringe Angebot an weiterführenden Schulen hinzuweisen, dessen Expansion selbst auch eine zunehmende Nachfrage nach höheren Bildungsabschlüssen ermöglichte (vgl. auch den Beitrag von Trommer-Krug). Auch ist nicht auszuschließen, daß für manche Gruppen der Arbeiterschaft die relativ bescheidene, aber "gesicherte" Perspektive, die von der volkstümlichen Bildung ideologisiert wurde, im allgemeinen eine größere Bedeutung als die "besseren", aber ungewissen Perspektiven des sozialen und beruflichen Aufstiegs hatte. Diese Vermutung ist schon an anderer Stelle in dem Bericht ausgesprochen worden. Vielleicht kann man auch als einen - ausdeutungsfähigen - Beleg für diese These die Erfahrung werten, daß in außerschulischen Tagungen zur politischen Bildung bis Mitte der sechziger Jahre eine kritische Beschäftigung mit dem Betrieb oder den Arbeitsbedingungen mangels Interesse der Jugendlichen kaum eine Chance hatte. Nicht dort lagen die Probleme der Lehrlinge zum Beispiel, sondern im Bereich des geselligen und kulturellen Verhaltens (2).

Es geht hier selbstverständlich nicht darum, nachträglich die konservative Bildungsideologie zu rechtfertigen. Aber es ist nicht von vornherein von der Hand zu weisen, daß die die Reformvorstellungen leitende Kritik an diesem ideologischen Syndrom insofern verkürzt war, als sie dessen Anknüpfungsmöglichkeit, Verankerung und wohl auch sozialintegrierende Funktion im Rahmen einer ganz bestimmten Lebenswelt und ihrer Perspektiven über-

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sah. Ideologien werden ja erst dann obsolet, wenn sie diese Funktion nicht mehr haben können und dann nur noch Herrschaftsfunktionen haben. Von daher hatten rational-kritische oder auch konfliktorientierte didaktische Konzepte, wie sie partiell damals in das Gymnasium Eingang fanden, vielleicht auch objektiv wenig Chancen in Volks- und Berufsschule, weil sie eben nicht auf ein entsprechendes problematisches Lebensgefühl trafen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1957 und 1958). Die hier wirksamen und benötigten didaktischen Modelle waren zum Beispiel nicht die des Konfliktansatzes, sondern eher solche der "Grundeinsichten" (Fischer/ Herrmann/Mahrenholz, 1965) beziehungsweise der "Phänomenologischen Reduktion" (Spranger) oder der "Partnerschaft".

Freilich darf man diesen Gedanken nicht überstrapazieren. Nach allem, was Untersuchungen über das Arbeiterbewußtsein gezeigt haben, kommt es nicht überraschend, daß seit Anfang der siebziger Jahre eine zunehmende Bereitschaft in diesem Teil der Jugend fühlbar wurde, die "Selbstverständlichkeit" der eigenen Perspektiven kritisch-analytisch zu befragen. Für die gewandelte Lage der Arbeiterjugend können also die überlieferten didaktischen Muster und Ansätze nicht mehr genügen. Die Fähigkeit, sich in Konflikten reflexiv zu verhalten, ist ebenso nötig, wie systematische Vorstellungen über Politik ("Orientierungswissen") zu erwerben. Denn in dem Maße, wie die Lebensperspektive nicht mehr selbstverständlich gegeben ist, nutzen auch keine "Eingliederungen" und "Integrationen" in diese mehr, vielmehr muß nun die Perspektive durch das Training einer geistigen Vorstellungskraft von hinreichender Reichweite gleichsam konstruiert werden. Die gegenwärtige Diskussion über die kognitive Überfrachtung der Lehrpläne und speziell die Misere der Hauptschule mag die Frage nahelegen, ob bei der betreffenden Schülerpopulation überhaupt das nötige Potential an formaler Intelligenz für einen derartigen Erfordernissen entsprechenden politischen Unterricht vorhanden ist, beziehungsweise in welchem Maße man solche Fähigkeiten trainieren könnte. Einzelne Untersuchungen über Lernvoraussetzungen und das Scheitern von Schülern machen es aber außerordentlich unwahrscheinlich, daß wirklich an dieser Stelle das Problem liegt. Jede Einschränkung des Unterrichts auf das Praktische, anschaulich Gegebene wird mindestens einem Teil der Schüler nicht gerecht und verfehlt die oben umrissene Aufgabe der Schule gerade in Sachen der politischen Bildung. Insofern sind auch die Möglichkeiten skeptisch zu beurteilen, die im Rahmen der "volkstümlichen Bildung" entwickelten didaktischen Konzepte, wie etwa Sprangers Elementarisierungen, aufgreifen und neu formulieren zu können, zumal sich dabei die Frage nach deren politischer Angemessenheit erneut und verschärft stellen muß. Aber möglicherweise ließen sich auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Kategorien differenziertere Elementarisierungen formulieren, die diese Mängel vermeiden. Zugleich ist jedoch deutlich, daß der Unterricht sich im Gegensatz zur

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üblichen Dominanz verbaler Vermittlungsformen an einem breiteren Spektrum von Fähigkeiten, Handlungspotentialen und Interessen der Schüler orientieren muß, wenn er sie alle erreichen soll.

Daß dies grundsätzlich und vielleicht erst recht für den politischen Unterricht eine schwierige Aufgabe darstellt, muß im Auge behalten werden, wenn hier die kritische Frage gestellt wird, ob die neuen Richtlinien von Hessen und Nordrhein-Westfalen dieser auch wirklich gerecht werden. Ihre Lernzielorientierung erweist sich dabei nicht gerade als hilfreich. Grundsätzlicher noch wäre zu fragen, ob der curriculare Ansatz, Lernziele aus - standardisiert gedachten - Lebensbereichen zu entwickeln, sich auf die neue Sozialisationslage bezieht oder nicht doch letzten Endes auf die alte.
 
 

4. Faktoren und Prozesse der Veränderung

Wie sicher schon deutlich wurde, besteht die Schwierigkeit dieser Darstellungsweise darin, Veränderungen eines komplexen Zusammenhangs zu beschreiben, ohne dabei deutlich Ursachen und Wirkungen trennen zu können. Daß diese Veränderungen bedeutsame ökonomische Hintergründe haben, wird hier als selbstverständlich vorausgesetzt; sie sind zudem an anderer Stelle des Berichts skizziert (siehe insbesondere den Beitrag von Naumann). Es ist auch ohne wissenschaftliche Begründung jedermann einsichtig, daß in Zeiten großen wirtschaftlichen Wachstums und hoher Beschäftigung die Lebensprobleme der Menschen, ihre Perspektiven und ihre soziale Integration und deshalb auch ihre pädagogische Ansprechbarkeit anders sind als in Zeiten schwindenden Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit. Unsere Frage ist hier, wie die politische Didaktik darauf reagiert, deren Grundproblem ja in dem ganzen Zeitraum war und sein mußte, wie die Bedürfnisse und Interessen der Menschen mit der Realität vermittelt werden können. In diesem Zusammenhang ist interessant, wie die didaktischen Autoren die politische Realität selbst verstehen, was davon zu vermitteln sie für wichtig halten und was nicht oder weniger. Dies ließe sich genauer untersuchen, allerdings wäre es dabei wenig hilfreich, die Publikationen lediglich auf isolierte Stücke politischer Aussagen hin abzuhorchen, vielmehr muß - wie schon früher ausgeführt - die didaktische Intention, also die Relation der politischen Aussagen zu den didaktischen Problemen, mit gesehen werden. Für eine solche Analyse können hier nur einige Hypothesen angeboten werden.

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4.1 Von der "Bewältigung der Vergangenheit" zur "Legitimationskrise" des demokratischen Staates: Das politische Selbstverständnis der Didaktiker
Diskreditiert durch den deutschen Faschismus war nach 1945 kaum die Arbeiterschaft oder gar die deutsche Arbeiterbewegung, sondern in erster Linie die deutsche Ober- und Mittelschicht, deren Angehörige in der NS-Zeit an führender Stelle mitgewirkt hatten. "Politische Bildung" war als Reaktion darauf also stark ein Problem dieser Gruppen. Da die Generation, die den Nationalsozialismus getragen hatte, auch die politische Bildung nach 1945 bestimmte, war deren Hauptthema zunächst die "Aufarbeitung der Vergangenheit", die aus einer Reihe von Gründen - zum Beispiel, weil wissenschaftliche Erklärungsversuche erst später zur Verfügung standen - moralisch zwischen Rechtfertigung und Umkehr betrieben wurde. Marxistische Faschismus-Theorien konnten von diesen Gruppen nicht akzeptiert werden. Sie fanden in der Bundesrepublik auch schon deswegen zunächst kaum ein Forum, weil die deutsche Arbeiterbewegung und die ihr verbundene wissenschaftliche Tradition zerschlagen waren und bald die Diskriminierung marxistischer Positionen im Rahmen des Kalten Krieges und wegen der Entwicklung in den von der Sowjetunion besetzten Ländern einsetzte.

Wichtig ist jedoch, daß auch die Arbeiterbewegung vor 1933 und ähnlich zunächst die sozialistische Pädagogik nach 1945 in der SBZ keine didaktischen Alternativ-Konzepte entwickelten, sondern nur inhaltliche: Es sollte auf dieselbe (didaktisch-methodische) Weise nur etwas anderes gelehrt werden als früher. Bekanntlich hat weder die kommunistische noch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung vor 1933 didaktische Konzepte ohne erhebliche Anleihen bei der bürgerlichen Reformpädagogik zu entwickeln vermocht. Damals waren die Klagen darüber allgemein, daß in den außerschulischen politischen Lehrgängen oder in Zeitschriften die sozialistische Lehre viel zu abstrakt und zu "frontal" vermittelt wurde. Der lange, sprachlich schwierige Vortrag war das Kernstück. Entsprechend hatten die späteren emanzipations- , konflikt- und erfahrungsorientierten Konzepte der politischen Didaktik sowohl in der "bürgerlichen" als auch in der sozialistischen Pädagogik nur wenige Vorläufer. Eine umfangreiche didaktische Diskussion wie in den letzten Jahren konnte damals nach 1945 überhaupt nicht stattfinden, weil es gegenüber dem überlieferten Repertoire keine durchsetzungsfähigen Alternativen gab. Auch die Re-education-Konzepte der Besatzungsmächte gingen nicht über das hinaus, was seit der Reformpädagogik bekannt war (Bungenstab, 1970). Die Tendenz ging, wie zunächst auch in der SBZ, folgerichtig dahin, die reformpädagogischen Traditionen wieder zu mobilisieren, die als vom Nationalsozialismus unterdrückt oder pervertiert angesehen waren. Es wurde schon erwähnt, daß damit jedoch auch bestimmte allgemeine pädagogische Annahmen über Schule, Schüler und

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den Bildungsauftrag der Schule verbunden waren. So blieb die Schule von den zum Teil heftigen Auseinandersetzungen verschont, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit etwa um die Entnazifizierung, um die Eingliederung der Flüchtlinge, um die Demontage der Betriebe, um die Entflechtung der Konzerne, um die Mitbestimmung der Gewerkschaften usw. geführt wurden. Wer als Jugendlicher sich daran beteiligen wollte, war auf die außerschulischen Jugendorganisationen verwiesen.

Die Diskussionen der Nachkriegsjahre fanden ihren Abschluß in dem KMK-Beschluß von 1950, der die Notwendigkeit des politischen Unterrichts feststellte, den Ländern aber seine Organisation (Fach oder Unterrichtsprinzip) und auch die Bezeichnung überließ (Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Weltkunde usw.). Gleichwohl blieb die "Aufarbeitung der Vergangenheit" in den fünfziger Jahren ein beherrschendes Thema der politisch-didaktischen Diskussion. Sie wurde geprägt eben von jener Generation von Lehrern, die den deutschen Faschismus als junge Erwachsene erlebt hatten und nun die Aufgabe sahen, durch eine neue politische Bildung die junge Generation gegen derlei politische Verführungen zu "immunisieren". Aus diesem Zusammenhang mag sich auch - zu einem geringen Teil - der Antikommunismus erklären, der in dieser ersten Generation der politischen Didaktiker mehr oder weniger differenziert anzutreffen ist. Dabei berief sich dieser zunächst weniger auf theoretische oder gar ökonomische Analysen als vielmehr auf unmittelbare Eindrücke aus der damaligen SBZ beziehungsweise DDR: Zum Gegenstand der Kritik wurden die politische Verfolgung von Menschen, die Massenaufmärsche, die paramilitärischen Organisationen und vor allem die neue und anscheinend ungebrochene politische "Massenverführung" der jungen Generation (FDJ-Aufmärsche) gemacht.

Es bleibt zweifelhaft, wie groß der Rückhalt dieser Gruppe in der eigenen Lehrergeneration damals wirklich war. Vieles spricht dafür, daß die große Mehrheit dieser Lehrergeneration der Aufgabe der politischen Bildung ablehnend gegenüberstand - im Sinne einer "öffentlichen Meinung", die sich aus naheliegenden Gründen kaum veröffentlichte. Dieser Widerstand würde im Zusammenhang mit anderen noch zu nennenden Faktoren, wie etwa der unzureichenden Ausbildung, auch erklären, warum sich die politische Bildung in den Schulen nur langsam durchsetzen konnte.

Die Fixierung dieser ersten Generation auf den Komplex Nationalsozialismus-Totalitarismus war für die nachfolgende Generation der Didaktiker immer weniger nachvollziehbar. Für die zweite "Generation" (3). der politischen Didaktiker, die das Ende des Faschismus als Kinder erlebt hatten, verlagerte sich die Problemstellung etwa auf Themen wie "Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit". Man begann, die politische Realität der Bundesrepublik an den Normen der eigenen Verfassung zu messen, nicht mehr am Gegenbild des NS-Regimes: In diesem Vergleich war die

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Darstellung der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik allzuleicht harmonistisch und zur "politischen Märchenerzählung" (Messerschmid) geworden. Die politische Wirklichkeit wurde nun kritischer gesehen, und der Vergleich mit der DDR erfolgte differenzierter, nämlich nicht mehr pauschal nach dem Schema "Totalitarismus versus Demokratie". Vor diesem Hintergrund wurden die konfliktorientierten didaktischen Ansätze entworfen. Diese zweite Generation der politischen Didaktik bezog ihre politische Identität wesentlich aus der Adaption und wissenschaftlichen Präzisierung der Faschismus-Kritik, vor allem aber aus der Identifikation mit einem Staat, dessen Entstehung sie von Anfang an miterlebt hat.

Die dritte Generation der politischen Didaktik, die sich in der Studentenbewegung artikulierte, hatte wieder eine andere Problemlage. Da sie "normal" in den Staat hineingeboren wurde, konnte sie keine persönliche Erfahrung mit dem Faschismus haben. Auch hatte sie die Aufbauphase nicht erlebt, sondern erst das Stadium der Konsolidierung, also auch des relativen Wohlstandes. Vielleicht kann man die von dieser Seite entwickelte Position auch unter dem Aspekt begreifen, daß man Staat und Gesellschaft gewissermaßen ohne eigenes Zutun "fertig" vorfand. Da sich Perspektiven für nennenswerte Veränderungen innerhalb des etablierten Systems nicht unmittelbar anboten, schien als eigene Leistung eher die "radikale" Kritik der Grundlagen und Prinzipien dieses Systems in Frage zu kommen. Als eine wichtige Folge wäre verständlich, daß Aspekte in die politische Didaktik einflossen, die die beiden ersten Generationen der Didaktiker aus der Erfahrung des Nationalsozialismus fast tabuisiert hatten: Man scheute weniger davor zurück, die emotionale Qualität politischer Fragen sowie den sinnlichen Charakter politischer Kommunikationen und Auseinandersetzungen nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt ihrer didaktischen Umsetzbarkeit zu diskutieren. Zugleich gewöhnte man sich daran, abstrakte politische Systeme und Institutionen an der subjektiven Befindlichkeit des einzelnen Individuums zu messen und auch das Problem der Gewalt breit in die Diskussion einzubeziehen.

An der Entwicklung der politischen Didaktik nach 1945 haben also drei "Generationen" gearbeitet, die ein ganz unterschiedliches Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft hatten: Die erste Generation baute mit hohem moralischem und persönlichem Engagement den neuen Staat mit auf, die zweite fand ihn konsolidiert und versuchte, seine demokratischen Tendenzen weiterzuentwickeln, die dritte erlebte ihn als "geschlossene Gesellschaft". Unter diesem Aspekt erhalten die von dieser letzten Generation weitgehend vertretenen politischen Theoreme nicht nur eine sachliche Bedeutung, sondern auch eine psychologische. Die Frage ist ja, warum bestimmte Theoreme, die wie Arbeiten der Kritischen Theorie zum Teil lange vorlagen, erst jetzt zu einem eine ganze Generation von Lehrern und Didaktikern verbindenden sozialen Erkennungssignal wurden (4). Die Folge für

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die politische Didaktik war jedenfalls, daß die "Kommunikationsgemeinschaft" der Didaktiker Anfang der siebziger Jahre zerbrach; übrig blieben eine Reihe von politisch-ideologisch beziehungsweise wissenschaftstheoretisch begründeten "Richtungen", die einander kaum noch zur Kenntnis nahmen, sondern sich eher voneinander abgrenzten. Die nachhaltigste Leistung dieser dritten Generation war die Kritik der überlieferten politischen Didaktik und ihrer Grundlagen sowie die Einbeziehung bisher vernachlässigter wissenschaftlicher Fragestellungen zum Beispiel aus Psychoanalyse oder politischer Ökonomie. Zur praktischen Problematik der Didaktik hat sie wohl zahlreiche Einzelaspekte beigesteuert, aber keine ausformulierte "didaktische Theorie".

Durch wissenschaftstheoretische Setzungen (gegen die "bürgerliche" Wissenschaft), durch systematische Deduktionen aus der politischen Ökonomie sowie durch die Verabsolutierung ideologiekritischer Gesichtspunkte entstand zudem eine eigentümliche, "geschichtslose" Perspektive für die didaktische Diskussion. Verloren ging dabei die Kenntnis "früherer", zum Beispiel reformpädagogischer Lösungen didaktisch-methodischer Probleme; die neuen Konzepte und Theoreme schienen nun zum erstenmal gedacht worden zu sein. Zugleich beseitigte der Verzicht auf die "Einfädelung" der eigenen Position in die überlieferte didaktische Diskussion und Problemstellung auch den Maßstab für die "Fortschrittlichkeit" der eigenen Argumentation. Der "anti-kapitalistische" Affekt führte vielfach zunächst zu einer Art von didaktischem Objektivismus: Das "richtige" Bewußtsein, wie es der politische Didaktiker besaß - nämlich die Erklärung aller politisch-gesellschaftlichen Phänomene von einigen anti-kapitalistischen beziehungsweise politökonomischen Theoremen her - mußte nun den Schülern "irgendwie" beigebracht werden. Dabei wurde Didaktik auf Methodik, nämlich auf die taktischen Möglichkeiten und Bedingungen des Beibringens, reduziert (vgl. Christian, 1974). In dem Maße, wie sich herausstellte, daß dieses Verfahren an den Erfahrungen der Schüler beziehungsweise Jugendlichen - vor allem der Arbeiterjugendlichen - scheiterte und mit diesen nicht zu vermitteln war, wurde allmählich die Perspektive umgekehrt: Nun galt der "erfahrungsbezogene" Ansatz, für den die Idee der "herrschaftsfreien Kommunikation" eine theoretische Voraussetzung war, als "fortschrittlich" (5). Fortschrittlich war diese Wende jedoch nur auf dem Hintergrund der selbstgesetzten politisch-ideologischen Prämissen und Abgrenzungen, keineswegs im Vergleich zur ganzen früheren Diskussion. Denn in dieser war das Problem des Verhältnisses von subjektiver Erfahrung und objektiver Wirklichkeit (vor allem auch der institutionellen Wirklichkeit) bereits Ende der sechziger Jahre ziemlich gründlich erörtert worden.

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4.2 Die Bedeutung der pädagogischen Berufsinteressen und ihrer Ideologien
Die vorliegenden ideologiekritischen Untersuchungen zur Entwicklung der politischen Bildung in der Bundesrepublik übersehen durchweg einen wichtigen Bedingungsfaktor für die pädagogische Sphäre im allgemeinen und für die politische Didaktik im besonderen: Es handelt sich um die Berufsinteressen der Didaktiker und Lehrer beziehungsweise die ideologische Rechtfertigung dieser Interessen. Zumindest teilweise sind die schon mehrfach erwähnten Arbeiten selbst auch Ausdruck solcher Berufsideologien. Unter dem Begriff "Ideologie" wird hier die Funktion pädagogischer Aussagen für die Vertretung materieller, ideeller, standespolitischer Interessen professioneller Pädagogen gegenüber der nichtfachlichen Öffentlichkeit verstanden. Für bestimmte Äußerungen - zum Beispiel gewerkschaftliche Forderungen - ist dies ohnehin klar. Aber auch pädagogische und erziehungswissenschaftliche Äußerungen und Veröffentlichungen haben einen derartigen Anteil. In gewissem Sinne ist ja sogar die Erziehungswissenschaft eo ipso, nämlich als Berufswissenschaft für professionelle Pädagogen, immer auch so etwas wie eine "intellektuelle Gewerkschaft" für diese Berufe. Und nicht einmal staatliche Richtlinien können es sich bei Strafe des Konsensverlustes leisten, derartige berufspolitische Faktoren einfach zu übersehen. Für unser Thema sollen diese Zusammenhänge an einigen Punkten gezeigt werden.

Die fast bis Ende der fünfziger Jahre dauernde Diskussion darüber, ob der politische Unterricht nur als Unterrichtsprinzip oder als selbständiges Fach einzurichten sei, war keineswegs nur eine theoretische, sondern auch eine eminent berufspolitische Frage. Ein neues Fach hätte nämlich normalerweise zur Stundenkürzung für andere Fächer geführt, und zwar in erster Linie für die benachbarten wie Geschichte. Schon deshalb wehrten sich die Geschichtslehrer und ihre Organisationen am heftigsten gegen das neue Fach. Aus demselben Grunde waren andererseits die Verfechter des neuen Faches - voran die Protagonisten wie zum Beispiel Messerschmid - davon überzeugt, daß die Aufgabe der politischen Bildung nur dann auf die Dauer ernst genommen würde, wenn sie zu einem richtigen Schulfach würde. Teilweise geradezu erbittert wurden die berufspolitischen Auseinandersetzungen geführt, als die Kultusminister in der sogenannten Saarbrücker Rahmenvereinbarung von 1960 für die Oberstufe des Gymnasiums die Fächer Geographie und Geschichte in das neue Sammelfach "Gemeinschaftskunde" überführten.

Als ein weiteres Beispiel für den Einfluß berufspolitischer Interessen und Perspektiven kann das schon erwähnte Konzept der "volkstümlichen Bildung" genannt werden. Das damit zusammenhängende Problem einer schichtenspezifischen Didaktik ist ja schon historisch nicht nur ein Problem der betroffenen Kinder, sondern ebenso der Rivalität zwischen Volksschul-

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lehrern und Gymnasiallehrern, die sich bis in didaktische Kontroversen fortsetzte. Wenn die Volksschullehrer sich zum Beispiel primär nicht wissenschaftlich, sondern pädagogisch-professionell verstehen, haben spezifische didaktische Konzepte für sie auch eine ganz besondere Bedeutung. Insofern war zum Beispiel der "Eigengeist der Volksschule" (Spranger) auch ein "Eigengeist des Volksschullehrers", der dann zu seiner beruflichen Identität auch einen "Eigengeist des Volksschulkindes" benötigte. Dessen spezifische Lernvoraussetzungen und Eigenschaften wurden so definiert und damit auch so begrenzt, daß sie in die berufliche Selbstdefinition dieser Lehrergruppe hineinpaßten.

Eine besondere Bedeutung hat in diesem berufspolitischen Zusammenhang auch die "Studentenbewegung" gehabt, aus der die dritte Generation der Didaktiker hervorging. Sie begleitete nicht nur eine ganz erhebliche Ausweitung der Nachfrage nach wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeitsplätzen und damit eine gewaltige Ausdehnung des pädagogischen Sektors, sondern lieferte auch die Rechtfertigung dafür. Dabei traf sie natürlich mit anderen Strömungen wie zum Beispiel mit den Bemühungen der sozial-liberalen Koalition zur Verbesserung des Bildungswesens zusammen, die ihrerseits wieder von einer breiten öffentlichen Reformstimmung getragen wurden.

- Die Studentenbewegung war unter anderem eine politisch-pädagogische Bewegung. Sie wollte weg von den politisch wie beruflich praxisfernen Studien, hin zu praxisorientierten Formen. Das hieß insbesondere politisches Lernen während politischer und berufspraktischer Aktionen, die auf diese Weise zugleich künftig effektiver gemacht werden sollten. Dafür aber waren die bisherigen Hochschullehrer nicht ausgebildet und meist nicht aufgeschlossen; denn in der Tat stand mit diesen Erwartungen der überlieferte Begriff des wissenschaftlichen Studiums selbst zur Debatte. Also wünschte man sich auch Lehrende einer neuen Art. Die Berufungspolitik an den Hochschulen - vor allem im Mittelbau und bei den Assistenten - wurde vielfach stark unter diesem Leitmotiv betrieben. Zusätzlich kam dabei ins Spiel, daß neue hochschuldidaktische Formen, wie Projektstudium, Arbeit in Kleingruppen usw., als notwendig angesehen wurden, die allesamt sehr personalintensiv waren.

- Im Rahmen ihres Protestes gegen herrschende Strukturen in der Gesellschaft und vor allem in der Hochschule veränderte die Studentenbewegung den überlieferten Kanon in der Lehrerbildung. Neben der kritischen Theorie wurden nun psychoanalytische, gruppendynamische und politisch-ökonomische Perspektiven sowie Frageansätze gefordert und teilweise entwickelt. Auch auf diese Weise bewirkte die Studentenbewegung einen relativ großen Bedarf an neuen Stellen in der Hochschule; sie ermöglichte damit zugleich einer relativ großen Zahl von jungen Wissenschaftlern relativ schnell und ohne den bis dahin üblichen langen Weg eine Position in der Hochschule.

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Die "Berufsideologie", von der hier die Rede ist, hat aber noch einen anderen Aspekt. Zahlreiche ideologiekritische Untersuchungen haben spezifische Inhalte und Tendenzen des Lehrerbewußtseins ermittelt, die in der Regel als Variante der "mittelständischen Ideologie" erklärt wurden. Es gibt jedoch auch so etwas wie professionell bedingte und von daher auch begrenzte Wahrnehmungsmuster, die gerade auch die Sicht des Politischen beeinflussen. Bei Lehrern besteht die Tendenz, das Politische so zu sehen, wie es im eigenen beruflichen Handlungszusammenhang erscheint beziehungsweise realisierbar ist. Beispiele dafür sind:

- Kerschensteiners bekanntes Mißverständnis, daß die Schule ein "kleiner Staat" und der Staat eine überdimensionale Schule sei, war aus seiner beruflichen Perspektive sehr plausibel. Sie ermöglichte ihm die Begründung seines Konzeptes der "staatsbürgerlichen Erziehung". Wenn es nämlich so war, dann ging es nur noch darum, die grundlegenden politischen (beziehungsweise beruflichen, beziehungsweise schulischen) Tugenden zu lernen, die überall dieselbe Bedeutung hatten. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll die Versuchung wohl jeder pädagogischen Profession, das Lehrbare sub specie magistri für das Wirkliche zu halten.

- Im Gutachten des Deutschen Ausschusses von 1955 findet sich der Satz:

"(Der Schüler) soll lernen, daß ein verantwortungsbewußter Mensch erst urteilt, nachdem er sich von Fall zu Fall die nötigen Kenntnisse und Informationen selbst erworben hat." (Empfehlungen und Gutachten, 1966, S. 836)

Eine solche Forderung ist zweifellos im Prinzip richtig, doch läßt sie sich auch überziehen: dann entspricht dieses Nacheinander mehr dem Aufbau einer Schulstunde - also der Berufserfahrung des Lehrers - als der Erfahrung dessen, der politisch handelt. Da kann man nicht warten, bis alles geklärt ist, sondern muß in einem zeitlich engen Wechselspiel von Recherchieren und Handeln sich bewegen.

Im Grunde lassen sich alle didaktischen Konzepte - auch die aus der Zeit der Studentenbewegung - daraufhin befragen, in welcher Weise sie praktische Berufskonflikte der Pädagogen lösen; diese Aspekte können die "eigentlichen" Probleme der Didaktik, die Lernprobleme der Schüler, gelegentlich sogar überspielen (6). So waren die didaktischen Vorstellungen der Studentenbewegung geprägt von den Erfahrungen der Hochschule, die man zunächst auf andere Institutionen vielfach ohne hinreichende Berücksichtigung und Kenntnis von deren besonderen Bedingungen zu übertragen versuchte: Die Verbindung von Lernen und Aktion war eher noch in der Hochschule als in den Schulen zu realisieren; die Idee der "herrschaftsfreien Kommunikation" entspricht der Erfahrung eines Oberseminars, nicht der der Schule oder des Betriebes; in der Hochschule kann man von institutionellen Rahmenbedingungen weitgehend absehen, in den Schulen kaum.

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4.3 Von der praxisbezogenen Didaktik zur universitären Fachdidaktik
Die lange Phase der staatlichen und ökonomischen Konsolidierung, die mit der Währungsreform begann und ungebrochen etwa bis Mitte der sechziger Jahre dauerte, brachte wie erwähnt die Entfaltung der politischen Didaktik in verschiedenen Variationen. Diese erfolgte unter dem Schutz eines im ganzen nicht bestrittenen politischen Konsenses über die Funktion der Schule im allgemeinen und des politischen Unterrichts im besonderen und unter der defensiven Absicherung durch die Richtlinien. Die politische Didaktik entfaltete sich gleichsam im Windschatten einer optimistisch stimmenden Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung. Vor allem vier Zentren der didaktischen Produktion können hervorgehoben werden:

- Die "hessische Gruppe" von Hilligen, Engelhardt, Fischer und anderen (vgl. Hilligen, o. J., 1953, 1965 und 1966; Fischer/Herrmann/Mahrenholz, 1965; Fischer, 1970 und 1972; Engelhardt, 1964 und 1968) versuchte zunächst aus der Position des Lehrers, dann des Hochschullehrers heraus den politischen Schulunterricht auf allen Schulstufen didaktisch-methodisch zu fundieren; Grundlage waren dabei die älteren, relativ ausführlichen hessischen Richtlinien. Ihre Arbeiten - nicht zuletzt auch ihre Schulbücher - wurden bahnbrechend für die didaktische Diskussion.

- Arnold Bergstraesser (1961) brachte - aus der Emigration zurückgekehrt - die "klassischen" Modelle der Politologie in den politischen Unterricht ein. Er entwickelte umfangreiche Initiativen und Aktivitäten in diesem Zusammenhang. Schon wegen seines hohen persönlichen Ansehens gelang es ihm, erheblichen Einfluß vor allem auf die gymnasialen Richtlinien zu nehmen, insbesondere in Baden-Württemberg. Seiner Autorität ist es auch stark zu verdanken, daß für die Lehrerausbildung zunehmend politikwissenschaftliche Lehrstühle eingerichtet wurden. Die von ihm mitbegründete Vereinigung "Bürger im Staat" organisierte im Rahmen der Erwachsenenbildung auch Lehrerfortbildung. Dabei ging es vor allem um die Begegnung zwischen Lehrern und Politikern, Wirtschaftlern sowie Gewerkschaftlern; zugleich sollten die Politiklehrer mit den Kategorien und Erkenntnissen der politischen Wissenschaft bekannt gemacht werden.

Die Bedeutung der sogenannten "Freiburger Schule" Bergstraessers bestand vor allem darin, daß sie politikwissenschaftlich die sogenannten "ordnungspolitischen" Vorstellungen vertrat, die zu einem wesentlichen Fundament der konservativen politischen Theorie in der Bundesrepublik wurden und noch in der von vier CDU-Kultusministern initiierten Schrift "Politische Bildung" (1976) deutlich zu erkennen sind (Grosser u. a., 1976). Kernstück dieser Theorie ist die These, daß die staatliche Macht die ordnungspolitischen Bedingungen der Möglichkeit für die freie Ent-

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wicklung des gesellschaftlichen Lebens im allgemeinen und der einzelnen Bereiche (wie zum Beispiel des Bildungswesens) im besonderen zu schaffen und zu garantieren habe. Keinesfalls habe sie diese Bereiche nach ihrem Willen mehr als unbedingt erforderlich zu gestalten. Aus diesem Grunde sei es aber eben auch wichtig, daß die heranwachsende Generation diese so bedeutsame begrenzte Funktion des Staates verstehen und normativ zu akzeptieren lerne. Aus dem erheblichen personellen und ideellen Potential der "Freiburger Schule" erwuchs dann auch seit Anfang der siebziger Jahre eine didaktische Gegenbewegung gegen die - zumindest an den Hochschulen, wohl kaum an den Schulen - vorherrschend gewordenen konflikt- und emanzipationsorientierten Ansätze (Hornung, 1966; Sutor, 1971).

- Eine andere Gruppe, zu der Minssen, Messerschmid, Mickel u. a. zu zählen sind, gruppierte sich um die Zeitschrift "Gesellschaft - Staat - Erziehung". Meist als Gymnasiallehrer tätig und als Geschichtslehrer ausgebildet, versuchten sie zwischen herkömmlichem Geschichtsunterricht und einem eigenständigen politischen Unterricht zu vermitteln und die didaktischen Probleme des politischen Unterrichts speziell für das Gymnasium zu klären. In der genannten Zeitschrift wurden vor allem auch Beiträge der Soziologie und Politologie in die Diskussion einbezogen.

- Seit Anfang der sechziger Jahre beteiligten sich an den didaktischen Diskussionen auch Autoren, die nicht in der Schule, sondern in außerschulischen Jugendbildungsstätten (zum Beispiel Jugendhof Vlotho, Jugendhof Steinkimmen, Jugendhof Dörnberg) politische Bildung mit Jugendlichen betrieben. Wegen der spezifischen Bedingungen dieser Bildungsstätten im Unterschied zur Schule war hier auch der Spielraum für didaktische Experimente erheblich größer als in der Schule, so daß diese Autorengruppe auch didaktische Entwürfe produzierte, die in der Schule kaum zu realisieren waren. Weil die Jugendbildungsstätten durchweg mit studentischen Mitarbeitern arbeiteten, gewann über diese neben der damaligen Politikwissenschaft und Soziologie auch die Kritische Theorie Einfluß auf die didaktische Diskussion. Damit fanden zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik "linke", der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Tradition verpflichtete sozialwissenschaftliche Theorien in der didaktischen Diskussion Gehör. Dies schlug sich erkennbar in den didaktisch-methodischen Konzepten nieder, die in diesen pädagogischen Institutionen entwickelt wurden (Giesecke, 1965 und 1966; Lüers u. a., 1971).

Allen hier genannten Gruppen war jedoch gemeinsam, daß sie ihre didaktischen Konzepte aus ihrer praktischen Arbeit heraus entwickelten. Alle versuchten also gleichsam, zwischen den Prinzipien der demokratischen Gesellschaftsordnung, den verschiedenen wissenschaftlichen Erkenntnismodellen und den praktischen Bedingungen der Lehr- und Lernkommuni-

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kationen zu vermitteln. Bis Ende der sechziger Jahre blieb politische Didaktik eine praktische Zweckwissenschaft; sie wurde formuliert von denjenigen, die auch die Probleme der praktischen Realisierung auf sich nehmen mußten. Das änderte sich Ende der sechziger Jahre. Einerseits traten die Didaktiker der ersten Generation in die Hochschullehre ein, andererseits wurden didaktische Konzepte nun vielfach von Autoren ohne eigene Lehrerfahrung beziehungsweise ohne Berücksichtigung dieser und zum Teil geradezu als Deduktionen aus allgemeinen wissenschaftstheoretischen und/ oder politisch-ideologischen Prämissen formuliert. In dem Maße, wie die Didaktik an die Hochschule ging und Bestandteil der Hochschullehre wurde, änderten die didaktischen Konzepte auch ihre Struktur. Denn sie mußten sich - tatsächlich oder nur vermeintlich - den typischen "wissenschaftlichen" Ansprüchen der Hochschulen anpassen, und die Adressaten waren nun nicht mehr Kollegen mit praktischer Erfahrung, sondern Studenten ohne solche Erfahrung. Beiläufig deutet der letzte Satz zugleich darauf hin, daß zu diesem Zeitpunkt endlich allgemein die Voraussetzungen für die fachliche Ausbildung der Lehrer des politischen Unterrichts gegeben waren.

Die hier skizzierte relativ lange Phase der Herausbildung politisch-didaktischer Theorien verlief jedoch nicht ohne zum Teil heftige Widersprüche und Kontroversen. Ob diese jedoch jene Bedeutung hatten, wie in den vorliegenden Darstellungen behauptet wird, erscheint zumindest zweifelhaft. Wie schon erwähnt, war bis etwa Mitte der sechziger Jahre die Entwicklung der politischen Didaktik eine Sache konservativ-liberaler Autoren; "linke", sozialistische Positionen kamen mit der Leitvorstellung "Emanzipation" erst Mitte der sechziger Jahre zum Ausdruck. Die Auseinandersetzung zwischen Oetinger (Th. Wilhelm) einerseits und Litt, Weniger u. a. andererseits über "politische und soziale Erziehung" verlief auf einer breiten gemeinsamen Basis eines durchaus konservativen politischen Konsenses. Auch bestimmte ideologische Ansinnen wie Antikommunismus oder die von Vertriebenenverbänden betriebene "Ostkunde" haben zwar wahrscheinlich im Schulalltag eine gewisse Bedeutung erlangt, in der "veröffentlichten Meinung" der didaktischen Konzepte jedoch kaum Wirkung gehabt. Erst die Diskussion um den "Neo-Nationalismus" Mitte der sechziger Jahre, die von konservativen Autoren der politischen Didaktik und konservativen Politikern initiiert wurde, brachte zum erstenmal eine auf unterschiedlichen Positionen beruhende öffentliche Kontroverse um die politische Didaktik. An ihr nahmen nun auch "linke" Autoren teil; doch insgesamt hat diese Diskussion den bestehenden Konsens nicht nennenwert belastet (vgl. Lemberg, 1958, S. 57ff, und 1964; Raasch, 1964).

Die erwähnte Professionalisierung der Didaktik, die nun wissenschaftlich an den Hochschulen betrieben wurde, zeigte sich insbesondere in den neuen Curriculum-Konstruktionen. Deren Denkmuster orientieren sich eher

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an systematischen wissenschaftlichen Argumentationen als an den praxisorientierten Denkmodellen bisheriger Art. Sie spielten im Bereich des politischen Unterrichts zum erstenmal bei den umstrittenen hessischen und nordrhein-westfälischen Richtlinien eine Rolle. Ein schwerlich gewolltes oder vorausgesehenes Ergebnis dieser Entwicklung war, daß sich das Theorie-Praxis-Problem verschärfte. Denn die didaktischen Konzeptionen wurden nun nach den wissenschaftlich-systematischen Regeln der Universität konstruiert. Zu diesen Regeln gehört die optimale, auch empirische Erforschung aller möglichen Details sowie in gewisser Weise auch die Herausbildung einer Fachterminologie, die sich von der "Alltagssprache" der pädagogischen Praxis entfernt. Man denke etwa an den spezifischen Jargon der Unterrichtsforschung und Curriculum-Theorie. Soll in Zukunft das dadurch bedingte Theorie-Praxis-Gefälle wieder überbrückbar gemacht werden, müßte eine Unterscheidung eingeführt werden: zwischen der prinzipiell unbegrenzten Erforschung didaktisch relevanter Detailfragen, die nach ihren eigenen Regeln erfolgen muß ( = "didaktische Forschung"), einerseits und Vermittlung und "Übersetzung" dieser Forschung für die pädagogische Praxis ( = "didaktische Theorie") andererseits. Ein anderes ambivalentes Ergebnis dieser Entwicklung war, daß die Fachdidaktik Politik sich nun gegenüber der Fachwissenschaft profilieren und abgrenzen mußte, um gewissermaßen ihre eigene wissenschaftliche Dignität unter Beweis zu stellen. Dies geschieht heute in zweierlei Hinsicht: Einmal wird mit dem didaktischen Zweck die selbständige Interpretation des Politischen - Hilligen: "Didaktik als Wissenschaft vom Bedeutsam-Allgemeinen" - begründet (Hilligen, 1975; Giesecke, 1976, S. 95ff); wenn dies dazu führt, daß die Didaktik nicht mehr den Zugang zur politischen Welt ermöglicht "so, wie sie ist", sondern zu einer didaktisch konstruierten politischen Welt, könnten die früher mit dem "pädagogischen Bezug" gesetzten Probleme erneut auftauchen. Zum anderen richtet sich die Tendenz der fachdidaktischen Profilierung auf den unterrichtlichen Beziehungsaspekt, also auf die "manipulative" Seite des Unterrichts. So kann man wohl die Bemühungen um die "herrschaftsfreie Kommunikation" oder das "soziale Lernen" deuten. Auch diese Verlagerung bietet die Gefahr, daß damit der Zugang der Schüler zur politischen Realität verbaut wird.

An dem Beispiel zeigt sich noch einmal, wie der professionelle Handlungsstandort sowohl die Definition des Erkenntnisgegenstandes wie das Erkenntnisinteresse mitbestimmt. Soweit nun die Fachdidaktik dazu neigt, die unterrichtlichen Beziehungsaspekte als ihren "eigentlichen" Aufgabenbereich im Unterschied zur Fachwissenschaft zu sehen, steht sie in Gefahr, die didaktische Analyse der Lehrinhalte - der Repräsentanten der objektiven Welt - in ihrem Sinn zu verkennen. In diesem Fall käme es scheinbar nur noch auf deren lernzielorientierte Instrumentalisierung und "Verwertung" an. Vielleicht kann man in dieser Hinsicht bereits von der problemati-

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schen Tendenz einer einseitigen "Verwissenschaftlichung" sprechen, durch die nicht nur einer organisierten Halbbildung Vorschub geleistet, sondern der Schüler auch zum Objekt der Erfüllung der ihm von außen gesetzten Ansprüche gemacht wird. Dann wäre ein radikaler Wandel zu konstatieren: Bis Ende der sechziger Jahre nämlich wurde - unter den Prinzipien "geisteswissenschaftlicher Pädagogik" - Didaktik insgesamt als Bedingung der Möglichkeit für die Herausarbeitung individueller Lernprozesse durch die Schüler selbst verstanden; dies war mit (politischer) "Bildung" gemeint. Vom Konzept der pädagogischen Professionalisierung und den diese begleitenden "wissenschaftlichen" didaktischen Konzepten scheint dagegen eine Tendenz zur "Unterweisung" zu drohen - trotz allen bekundeten Interesses für die unmittelbare Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern. "Didaktische Forschung" hieße aus diesem Blickwinkel dann zum Beispiel nicht, die Bedürfnisse, Probleme und Konflikte der Schüler, sondern die noch vorhandenen Barrieren der Manipulationsfähigkeit des Lehrers ermitteln. Aus der hier geäußerten Kritik kann jedoch nicht das Verlangen folgen, systematische didaktische Forschung zu vermindern, sondern nur, die praktisch-theoretische Übersetzung der Ergebnisse einem eigenen Verfahren mit eigenen Maßstäben zu überlassen (7).
 
 

4.4 Einflüsse der Wissenschaften

Wenn man die Einflüsse der einzelnen Wissenschaften auf die Entwicklung der politischen Didaktik untersucht, ist natürlich schwer auszumachen, auf welchem Wege diese Einflüsse erfolgt sind: Erfolgten sie unmittelbar im Rahmen der üblichen wissenschaftlichen Kommunikation? Oder verliefen sie mittelbar auf dem Umweg über die veröffentlichte Meinung?

Nach 1945 war in der Bundesrepublik die wissenschaftliche Tradition zunächst abgebrochen. Insbesondere die sozialen und politischen Wissenschaften waren praktisch unbekannt; es dauerte lange, bis der Stand der Jahre vor 1933 wieder erreicht war. Durch den Nationalsozialismus hatte sich eine Art moralischer Innerlichkeitsphilosophie durchgehalten, die Adorno später als "Jargon der Eigentlichkeit" charakterisierte (Adorno, 1964). Besonders problematisch war die Lage für den Geschichtsunterricht; denn die deutsche Geschichtswissenschaft war auf Grund ihrer allgemeinen Rechtslastigkeit und nationalsozialistischen Prägung diskreditiert und international bedeutungslos geworden. So lag es nahe, daß die erste Phase der politischen Didaktik von sozialethischen Prämissen bestimmt war. Für die Frage, welche Kenntnisse im politischen Unterricht zu lernen waren, gab es im nachkriegsdeutschen Westen praktisch keine anderen wissenschaftlich begründbaren Antworten. Vor diesem Hintergrund muß das erste große didaktisch relevante Werk der politischen Bildung, Oetingers "Partner-

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schaft", gesehen werden. Einerseits plädierte es ganz im Stil der Zeit für die sittlichen Prinzipien des partnerschaftlichen Zusammenlebens. Andererseits befreite es diese Prinzipien aber auch - durch die Anlehnung an den amerikanischen Pragmatismus (Dewey) - von der emotionalen Hochtourigkeit der sozialen Dichte und Nähe der "Gemeinschaft" und der abstrakten "Staatsmetaphysik". Insofern gab Oetingers Buch der politischen Bildung eine erste - von der Vergangenheit hinreichend distanzierte - Grundlage (8). Die kritischen Einwände von Weniger und Litt u. a. rückten dann gewisse Einseitigkeiten (hinsichtlich des Machtproblems und hinsichtlich der Funktion des Staates) zurecht. Aber auch damit wurde noch keine Brücke zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Disziplinen geschlagen. Das änderte sich erst mit dem Eintritt der jungen Politikwissenschaft in die Diskussion; die besondere Bedeutung der Freiburger Schule ist bereits erwähnt worden. Nun wurde es möglich, für die Ausbildung der Lehrer und für den politischen Unterricht spezifische Denkmuster, Kategorien und Vorstellungsmodelle zur Verfügung zu stellen. Die Politikwissenschaft galt in den fünfziger Jahren geradezu als "Demokratie-Wissenschaft", von ihr erwartete man die theoretische Fundierung des neuen Staates. Jedoch scheint sie - als junge wissenschaftliche Disziplin in Deutschland - zu sehr mit ihrer fachlichen Profilierung beschäftigt gewesen zu sein, als daß sie von sich aus die ihr angetragene pädagogische Aufgabe nennenswert verfolgt hätte (9). Ähnliches gilt für die sich ebenfalls neu etablierende deutsche Soziologie. Allerdings mangelte damals auch der politischen Didaktik ihrerseits das Sensorium für die Rezeption relevanter politik- und sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse sowie Denkmuster weitgehend. Erst die Arbeiten von Dahrendorf vom Anfang der sechziger Jahre erzielten einen breiteren Durchbruch; vor allem sie brachten in die didaktische Diskussion die aus den USA adaptierten Rollen- und Konflikttheorien ein (Dahrendorf, 1961). Etwa zur selben Zeit wurden die Arbeiten der Frankfurter Schule bekannt; am Beginn standen etwa Adornos Vortrag: "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?" (Adorno, 1960 und 1969) und die Untersuchung des Instituts für Sozialforschung über "Student und Politik" (Habermas u. a., 1961 und 1963).

Diese wissenschaftlichen Einflüsse wurden zwar in den einschlägigen Zeitschriften - vor allem in "Gesellschaft - Staat - Erziehung" - diskutiert, aber zunächst noch nicht in eine zusammenfassende didaktische Theorie integriert. Zunächst schlugen sie sich offenbar in Hilligens Schulbuch "Sehen - Beurteilen - Handeln" (1960) und in Engelhardts Schrift "Politisch bilden - aber wie?" (1964) nieder. Gemeinsam war beiden die Hinwendung zur kontroversen politischen Realität. Der erste umfassende Versuch, diese sozialwissenschaftlichen Einflüsse zu einer didaktischen Theorie zu integrieren, war Gieseckes "Didaktik der politischen Bildung" (1965). Jedoch muß man dabei im Blick behalten, daß Gieseckes Arbeit nicht im Rahmen der

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Schule, sondern in der Arbeit einer Jugendbildungsstätte entstanden ist. Auch hier hatte man es mit Haupt-, Ober- und Berufsschülern zu tun, aber eben doch unter im Vergleich zur Schule besonders günstigen Bedingungen. Dazu gehörte vor allem, daß auf dem Weg über die an den Lehrgängen mitwirkenden Studenten die eben genannten Einzelwissenschaften unmittelbar in die pädagogische Arbeit und damit in die didaktische Theoriebildung einwirken konnten. An den Schulen war die Lage ganz anders. In den meisten Bundesländern gab es politischen Unterricht noch keineswegs als eigenes Fach. Und selbst wo es dies gab und politische Bildung nicht nur Unterrichtsprinzip war (was zumindest seit dem KMK-Beschluß von 1950 für alle Bundesländer und für alle Schularten galt), waren die wenigsten Lehrer dafür politikwissenschaftlich und sozialwissenschaftlich ausgebildet.

Die didaktische Entwicklung bis Mitte der sechziger Jahre betraf vor allem die kognitive Ebene. Zwischen Didaktikern und Fachwissenschaftlern stellte sich Einigkeit darüber her, daß - schon auf Grund der Lehren aus der NS-Vergangenheit - wichtigste Aufgabe des politischen Unterrichts sei, die rationalen Fähigkeiten der Menschen, also Einsichtsfähigkeit, Urteilsfähigkeit und Denken zu schulen. Es sei dafür zu sorgen, daß Politik nicht mehr als unvermeidbar emotionalisiert würde. Allerdings wurde schon relativ früh dagegen mit dem Bedenken argumentiert, daß dieser emotional unterkühlte politische Unterricht wichtige emotionale Bedürfnisse der Jugendlichen nach Symbolen und nach Identifizierung mit überindividuellen Größen wie Staat oder Nation vernachlässige (Lemberg, 1958, S. 57ff, und 1964; Raasch, 1964; Adorno, 1960 und 1969). Rückblickend muß man feststellen, daß jene vorherrschend rationale politische Bildung offenbar darauf beruhte, daß bei den Jugendlichen kein Bedürfnis danach bestand, die emotionalen und sozialen Bedürfnisse ausgerechnet in die Politik zu wenden. Vielmehr schienen diese in den außerpolitischen Lebensbereichen genügend "abgesättigt" und wurden deshalb kaum als Problem erlebt. Auch dies änderte sich Ende der sechziger Jahre. Vermutlich ist die dann folgende Entwicklung nur verständlich, wenn man annimmt, daß in der bürgerlichen studentischen Jugend ein neuer Sozialisationstypus in Erscheinung trat, dessen emotionale und soziale Bedürfnisse nicht mehr durch den kulturellen und geselligen Bereich gebunden waren, sondern sich gleichsam auf "Objektsuche" befanden.

Das zeigte sich zunächst in der Thematisierung der Subjektivität. Gefühle wie Angst, Ohnmacht und Beziehungsunfähigkeit wurden unter dem Einfluß psychoanalytischer Konzepte thematisiert. Dabei stellte man Verbindungen zur Analyse von Herrschaftsverhältnissen her und erklärte tendenziell das eigene Leiden als Ausdruck eines falschen und deshalb zu ändernden gesellschaftlichen Systems (10). Marxistische Theorien schienen Erklärung und Kritik des Systems nicht nur im ganzen, sondern auch hinsichtlich gesellschaftlicher Teilbereiche wie des Erziehungswesens anzubieten (11). Zu-

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gleich griff man Ergebnisse der Sozialisationsforschung ("politische Sozialisation") auf, mit denen die eigene Situation, aber auch die Tatsache erklärt wurde, daß andere Gruppen der Gesellschaft - zum Beispiel Arbeiterkinder - sich ganz anders fühlten als die bürgerliche Jugend ("schichtspezifische Sozialisation") (Nyssen, 1970; Pawelka, 1977; Ackermann, 1974). Die Ansätze der Gruppendynamik schienen jene zerbrochene soziale und emotionale Identität wiederherstellen zu können, die Voraussetzung der politischen Bildung bis Ende der sechziger Jahre war. Während einige Didaktiker im Zuge der skizzierten Entwicklung die didaktische Aufgabe weitgehend auf die Vermittlung der richtigen Bewußtseinsinhalte reduzierten, machten andere aus diesem Grunde gerade das "soziale Lernen" zur dominierenden Perspektive (12).

Für das Selbstverständnis der politischen Didaktik war bis Ende der sechziger Jahre die Trennung von Politik, Beruf und Freizeit konstitutiv gewesen. Daran gemessen mußte diese Entwicklung als völlig "unpolitisch" beziehungsweise als Ausfluß der Unfähigkeit erscheinen, sich in dem komplexen gesellschaftlichen System mit seinen Gefühlen und Erwartungen zurechtzufinden. Sie ließ sich als ein Versuch kennzeichnen, Politik lediglich als die Verlängerung der eigenen Lust- und Unlustgefühle zu betreiben. Jedoch hat die weitere Entwicklung gezeigt, daß damit durchaus allgemeine Tendenzen zum Ausdruck kamen, die man vielleicht als zunehmende Aushöhlung der bis Mitte der sechziger Jahre aufgebauten "Lebenswelten" bezeichnen kann. Wie die Entwicklung in den Schulen zeigt, scheint dieser Prozeß keineswegs mehr auf das bürgerliche oder kleinbürgerliche Milieu beschränkt zu sein.

Die Fülle der sich kumulierenden wissenschaftlichen Einflüsse konnte jedoch bisher von der politischen Didaktik nicht mehr aufgearbeitet und integriert werden. Der letzte Versuch dieser Art wurde von Giesecke in der Neubearbeitung seiner "Didaktik der politischen Bildung" (1972) vorgelegt; in anderen Arbeiten wie der von Hilligen (1975) wurde von vornherein auf eine historische Aufarbeitung zugunsten eines systematischen fachdidaktischen Ansatzes verzichtet. Einen neuen, von der Systemtheorie beeinflußten Ansatz für eine mögliche Neukonstruktion der politischen Didaktik bieten möglicherweise die Arbeiten von Behrmann, die sich aus den politisch-ideologischen Polarisierungen herausbegeben und aus einer Kritik eben dieser Positionen eine neue theoretische Fundierung zu gewinnen suchen (Behrmann, 1972 und 1978).

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5. Zur gegenwärtigen Situation der politischen Didaktik

Zusammenfassend lassen sich folgende Probleme skizzieren, die für die Weiterentwicklung der politischen Didaktik von Bedeutung sind:

1. Anfang der siebziger Jahre ist der Versuch abgebrochen worden, neue wissenschaftliche Entwicklungen und Erkenntnisse, die für die praktischen Grundprobleme der politischen Didaktik relevant sind, in deren Theorie zu integrieren. Dieser Versuch muß wieder aufgenommen werden. Gelingt dies nicht, dann werden die genannten vielfältigen wissenschaftlichen Einflüsse auch weiterhin zu partikularen, verabsolutierten didaktischen und methodischen Einzelstrategien führen, die der praktisch vorgegebenen Komplexität des Handlungszusammenhangs nicht mehr gerecht werden. Im gleichen Maße werden sie sich notwendig auch von ihren wissenschaftlichen Kontrolldisziplinen lösen und zu pädagogischen Ideologien verkümmern. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Frage, wie vom Standpunkt des Schülers aus didaktisch zu argumentieren und zu arbeiten sei.

2. Der Versuch einer Integration in die didaktische Theorie hat aber auch Rückwirkungen auf die Rekonstruktion der Entwicklung bis Ende der sechziger Jahre; er kann nicht einfach diese fortschreiben. Vielmehr muß zum Beispiel als Ergebnis dieses Berichts gesehen werden, daß eine Geschichte der politischen Didaktik als Problemgenese, wie sie hier verstanden wurde, nicht so dargestellt werden kann, als ob die bereits entfalteten Aspekte nur noch weiter zu differenzieren seien. Vielmehr geht es immer auch um die Entdeckung neuer, bislang nicht problematisierter Aspekte. Was problematisch ist, entscheidet letzten Endes allerdings nicht die Didaktik, sondern es ergibt sich aus allgemeinen oder besonderen gesellschaftlichen Entwicklungen, auf die die didaktische Theorie nur reagieren kann.

3. Welche Aufgabe der politische Unterricht hat und welche Schwerpunkte die didaktische Theorie deshalb setzen muß, hängt offensichtlich entscheidend davon ab, wie die heranwachsende Generation sich selbst politisch definiert beziehungsweise wie sie von der Gesellschaft politisch definiert wird. Anders ausgedrückt heißt das, wie und in welchem Ausmaß die Lebenswelt der Jugend politisch tangiert wird. Für die "skeptische Generation" der fünfziger Jahre stand im Mittelpunkt der Aufbau der privaten und beruflichen Karriere, und zwar im Kontext des Wiederaufbaus von Staat und Gesellschaft im ganzen. Die dadurch vorgegebene beziehungsweise geschaffene Lebenswelt wurde politisch kaum unmittelbar tangiert. Deshalb war das Interesse an politischer Bildung relativ gering; Politik erlebte man eher als Faktor, durch den die Bedingungen der Möglichkeit dieser Lebenswelt garantiert wurden. Für die Jugend zwischen

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1955 und 1965 - jedenfalls für Teile der bürgerlichen Jugend - war die Hinwendung zu kritischen Analysen eine Art von "intellektuellem Luxus", der wenig existentielle Bedeutung hatte und immer noch weitgehend aus einer integralen Lebenswelt hervorging. Die konfliktorientierten Konzepte der politischen Didaktik konnten an diese Kritikbereitschaft anknüpfen. Hingegen war die Arbeiterjugend an solchen Ansätzen im großen und ganzen noch nicht interessiert, sondern hatte eher ein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Integration und Stabilisierung der Perspektive.

Für die Generation der Studentenbewegung schließlich wurde radikale politische Kritik, verbunden mit dem Wunsch nach möglichst raschem Handeln mit möglichst raschen Erfolgen, das Kernstück einer Existenz. Diese war nicht mehr kulturell, sozial und emotional integriert, und dieser Mangel wurde voll in die politische Kritik umgesetzt. Möglicherweise spielte beim Prozeß der Entfremdung von den außerpolitischen sozialen Bezügen auch die Tatsache eine Rolle, daß im Zuge der Expansion des Bildungssystems nun auch stärker solche Gruppen an die Hochschule kamen, die früher nicht studiert hätten. Der Charakter von Universität und Studium wandelte sich insgesamt, und ihren schwer zu bewältigenden Anforderungen sahen sich die einzelnen nun ohne hinreichende Orientierung ausgesetzt. Jedenfalls scheint für diese und die nachfolgende Generation politische "Kritik" nicht mehr in relativ stabile soziale und kulturelle Zusammenhänge eingebunden. Dies hat zur Folge, daß die politische Didaktik ihren Schwerpunkt sehr viel stärker wieder auf systematische, orientierungstiftende Einsichten und Erkenntnisse legen muß, damit die kritische Potenz sich überhaupt wieder profilieren kann und nicht verkommt zu irrationaler Blindheit. Was die Arbeiterjugend betrifft, so geht es - wie bereits früher erwähnt - nach der Veränderung ihrer Lebenswelt um den Aufbau einer grundlegenden politisch-intellektuellen Existenz. Vielleicht kann man sagen, daß die konfliktorientierten Ansätze aus der Mitte der sechziger Jahre einschließlich des dazu gehörenden systematischen Orientierungswissens für diesen Teil der Jugend - gleichsam mit historischer Verspätung - nun angemessen sind.

4. Die Didaktik des politischen Unterrichts hat in der Bundesrepublik, wenn man auf den Anfang (und nicht auf das Ausland) sieht, inzwischen einen relativ hohen wissenschaftlichen Standard erreicht. Problematisch ist jedoch das Gefälle zwischen diesem Standard und der Schulwirklichkeit - vor allem hinsichtlich der Sekundarstufe I. Der politische Unterricht ist außerdem in den Schulen nach wie vor politisch umstritten. Die Versuche nehmen zu, ihn noch mehr einzuschränken oder ihn wieder in den Geschichtsunterricht zurückzuführen. Dies ist zweifellos durch eine Reihe von professionell unqualifizierten Praktiken und Theorien der letzten Zeit mitverschuldet, die das Bild der politischen Bildung in der Öf-

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fentlichkeit beherrscht haben. Doch geht aus diesem Bericht auch hervor, daß es gerade gegenwärtig für einen didaktisch durchdachten politischen Unterricht in den Schulen keine vernünftige Alternative gibt: Er muß vermehrt, nicht vermindert werden. Sofern überhaupt Möglichkeiten bestehen, hätten nur die Schulen eine Chance, die objektive Politisierung des Jugendalters - quer durch alle sozialen Schichten hindurch - in Richtung auf eine planmäßige Aufarbeitung der Enttäuschungen und Aggressionen und in Richtung auf eine kategoriale Durchdringung der politischen Wirklichkeit und ihrer Strukturen aufzugreifen. Dies nicht zu sehen wäre nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch kurzsichtig.

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Anmerkungen:

(1) Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Ellwein, 1960. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine historische Untersuchung, sondern eher um eine Momentaufnahme der Situation der politischen Bildung in der Volksschule.

(2) Vgl. den Bericht von Giesecke, 1966. Die hier gemeinten Veränderungen werden bereits deutlich in dem späteren Bericht von Lüers u. a., 1971.

(3) Der Ausdruck "Generation" trifft zwar für die erste Nachkriegsgeneration zu, schon wegen des zu geringen Altersunterschiedes jedoch eigentlich nicht mehr für die folgenden. Vielleicht wäre es richtiger, von unterschiedlichen Typen der politischen Sozialisation zu sprechen.

(4) Marcuses Buch "Triebstruktur und Gesellschaft" etwa erschien unter anderem Titel völlig unbeachtet schon Mitte der fünfziger Jahre. Möglicherweise geschah die massenhafte Transmission dieser politischen "Erkenntnissignale" durch die über weite Strecken ausschließlich benutzten Zeitschriften "betrifft: erziehung" und "päd. extra" und natürlich durch die Organe der einzelnen politischen Gruppen. Diese aus der Studentenbewegung hervorgegangene "Generation" zutreffend zu beschreiben ist schon wegen der geringen zeitlichen Distanz äußerst schwierig. Deshalb dürfen die folgenden Hinweise auch nur cum grano salis genommen werden, weil sie sich lediglich auf die äußerlich erkennbaren Phänomene beziehen. Vieles, zum Beispiel die radikale Staats- und Systemfeindschaft, die auch die didaktische Argumentation eigentümlich irreal machten, ist schwer zu erklären. Möglicherweise ist hier die gesamte Sozialisation radikal anders verlaufen als bei den "Generationen" vorher. Vgl. dazu Ziehe, 1975.

(5) Der "erfahrungsorientierte" Ansatz geht zurück auf Negt, 1969, der ihn allerdings für die gewerkschaftliche Erwachsenenbildung konzipierte. Bei der Umsetzung auf die Schule wurde aus "erfahrungsorientiert" dann bezeichnenderweise "schülerzentriert". Vgl. Schaeffer/Lambrou, 1972. Differenzierter, allerdings um den Preis der Aufgabe einer erkennbaren systematischen Unterrichtung: Schmiederer, 1977.

(6) Diesen Anschein erweckt zunächst auch der schon genannte Erfahrungsbericht von Schaeffer/Lambrou, 1972. Es geht hier offensichtlich um die Probleme, die der Lehrer bei Übernahme der Schulklasse hat; mit der Lösung dieser Probleme scheinen auch automatisch die Lernbedürfnisse der Schüler subjektiv und objektiv befriedigt zu sein. Allerdings ist nicht zu vergessen, daß der dabei geschilderte Gewinn der Arbeitsbereitschaft und des sachlichen Interesses der Schüler an der Unterrichtsarbeit eine zentrale Voraussetzung und faktisch auch Ergebnis des Unterrichts selbst darstellt. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang auch, ob die Vorliebe vor allem von Hauptschullehrern für schülerzentrierte beziehungsweise von der schulischen Kommunikation ausgehende Konzepte etwas damit zu tun hat, daß sie ihre professionelle Souveränität weniger aus einem systematischen Fachstudium ihres Unterrichtsfachs als vielmehr aus pädagogischen Qualifikationen herleiten.

(7) Diese Überlegungen treffen sich in der Tendenz mit ähnlichen von Flitner, 1977 und 1978, S. 193f.

(8) Die erste Auflage erschien 1951 unter dem Titel "Wendepunkt der politischen Erziehung - Partnerschaft als pädagogische Aufgabe".

(9) Die Politikwissenschaft kritisierte insbesondere die Realitätsferne der vorliegenden pädagogischen Verständnismodelle des Politischen. Vor allem folgende Beiträge spielten eine Rolle für die didaktische Diskussion: Hennis, 1957, S. 330ff; Landshut, 1957, S. 311ff; Besson, 1958, S. 302ff. Später erlangten Beiträge von Greiffenhagen und Sontheimer eine ähnliche Bedeutung: Greiffenhagen, 1963 und 1964; Sontheimer, 1963 a, S. 11 ff, und 1963 b.

(10) In diesem Zusammenhang bekamen vor allem die Arbeiten von Marcuse Bedeutung: Marcuse 1965a, 1965b und 1969.

(11) Hier wären in erster Linie zahlreiche Beiträge aus der Zeitschrift "betrifft: erziehung", später auch "päd. extra" zu nennen, die für die Verbreitung derartiger Vorstellungen eine große Bedeutung hatten. Verhältnismäßig bekannt wurden vor allem folgende Arbeiten: Altvater/Huisken, 1971; Baethge, 1970; Combe, 1971; Gamm, 1970 und 1971; Nyssen, 1969 und 1971.

(12) Auch hier kann nur wieder auf die publizistischen "Sprachrohre" dieser Bewegung hingewiesen werden, nämlich auf die Zeitschriften "betrifft: erziehung" und "päd. extra". Vgl. außerdem Claußen, 1978.
 
 

6.2 Literaturverzeichnis

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BECK, J., u. a.: Erziehung in der Klassengesellschaft. München 1970.
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BEHRMANN, G. C.: Soziales System und politische Sozialisation. Stuttgart 1972.
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123. Ewiger Lückenbüßer (1981)

Immer wieder wird die Schule für politische Absichten mißbraucht.

(In: DIE ZEIT, Nr. 39, 8.9.1981)
 
 

Wenn das Volk unwillig wird, muß es in den Schulen wieder zur richtigen Gesinnung geführt werden. Seit Kaiser Wilhelms Versuch, die Schule gegen die Sozialdemokratie zu mobilisieren, ist dieser Politikerwunsch lebendig geblieben. Davon ist in diesen Tagen wieder einmal die Rede.

Nach den öffentlichen Auseinandersetzungen über Gelöbnisse und Traditionserlasse, über Wehrdienst und Ersatzdienst und angesichts der anschwellenden "Friedensbewegung" möchte Verteidigungsminister Hans Apel die Bundeswehr und die Verteidigungspolitik besser in den Schulen gewürdigt sehen. Eine Kommission der Kultusminister soll entsprechende Richtlinien erarbeiten, ein erster Entwurf aus dem baden-württembergischen Kultusministerium ist vorzeitig bekannt geworden.

Nun wäre es weder fair noch der Sache dienlich, Einzelheiten dieses Arbeitspapiers zu diskutieren, solange dafür noch niemand die politische Verantwortung übernommenen hat. Vorzugehen ist aber rechtzeitig gegen die technokratische Mentalität von Politikern und Bürokraten, die nach dem Motto handeln: Wenn wir schon die ganzen Schulen bezahlen (das tun in Wahrheit die Steuerzahler), dann wollen wir auch die richtigen Ergebnisse sehen.

Selbstverständlich gehören die Themen Bundeswehr und Verteidigung in den politischen und historischen Unterricht. Aber die vorliegenden Richtlinien schreiben dies entweder bereits vor oder lassen es zu, neue Erlasse sind da also überflüssig. Gewiß ist alles zu begrüßen, was der besseren Information der Lehrer dient, und nützlich wäre zum Beispiel, wenn das Verteidigungsministerium seine Sicht der Dinge für Schüler verständlich formulieren und solche Texte den Schulen für den Unterricht zur Verfügung stellen würde. Aber abwegig - und zum Glück auch nicht so einfach realisierbar - ist die in dem baden-württembergischen Entwurf zum Ausdruck kommende Vorstellung, diese Themen für die Lehrerbildung und die Lehrerprüfung verbindlich zu machen. Dann müßte man auch die übrigen Teile des Studiums verbindlich inhaltlich regeln - und das wäre das Ende einer wissenschaftlichen Ausbildung.

Gewiß sollten Jugendoffiziere in den Schulen mit Schülern diskutieren - aber auch andere Repräsentanten des öffentlichen Lebens. Je mehr "Realkontakte" der Schüler bekommt, um so weniger wird er das Opfer einer didaktischen Inzucht in den Schulen. Und insofern so etwas rechtlich und finanziell geregelt werden muß, mag dies auch in einem Erlaß geschehen.

Nur: Was in der öffentlichen Diskussion umstritten ist, kann die Schule nicht mehr unumstritten machen. Wer trotzdem seine Hoffnung darauf setzt, der wird scheitern - nicht ohne dabei wieder einmal eine überflüssige schulpolitische Auseinandersetzung ausgelöst zu haben. Er wird scheitern, weil die Schule das gar nicht mehr kann, selbst wenn sie es versuchen müßte. Schon das abendliche Fernsehen würde die Absicht, irgendwelche "staatstragenden Gedanken" in den Schulen durchzusetzen, lächerlich werden lassen.

Der Staat hat einen Anspruch darauf, daß im politischen Unterricht seine Organe und Institutionen und auch die politischen Absichten der Regierung ernsthaft und sorgfältig behandelt werden, und es gehört zur pädagogischen Pflicht der Lehrer, dies nach bestem Wissen zu tun. Aber der Staat muß das Ergebnis des unterrichtlichen Nachdenkens genauso - und aus denselben Gründen - freigeben wie die öffentliche Diskussion auch. Die Schule kann nur wirken durch den Stil, durch die Art und Weise, wie sie mit politischen Problemen und Kontroversen umgeht, nicht dadurch, daß sie selbst Partei ergreift. Wenn es gutgeht, lernt der Schüler, sich sorgfältig zu informieren, sich in andere Meinungen und Positionen einzufühlen und einzudenken, Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden und Vorurteile abzubauen. Wenn es weniger gutgeht, lernt er nur, seine Interessen und Bedürfnisse zu wichtig zu nehmen und geistige Anstrengung in politischen Fragen für nicht erforderlich zu halten. Ob aber der Schüler für den Wehrdienst oder für den Ersatzdienst votiert, ob er für oder gegen die "Nachrüstung" demonstriert - darüber kann keine didaktische Planung verfügen. Und das ist gut so, weil sonst die Lehrer eine unverantwortbare Macht hätten.

Unsere Politiker sollten aufhören, bei politischen Problemen immer gleich auf die Schule zurückzugreifen. Man kann sich vorstellen, wie so etwas abläuft: Da gibt es politischen Ärger, auf den muß reagiert werden. Verantwortliche Politiker fühlen sich gedrängt, irgend etwas zu tun, um dem Vorwurf zu entgehen, sie stünden auf der Seite derer, die den Ärger machen. Und da bietet sich die Schule als Lückenbüßer, als Alibi an.

Wenn Normen und Werte in der Gesellschaft fragwürdig werden, wenn ein Wahlkampfthema gesucht wird, wenn die Zahl der Verkehrstoten gesenkt werden soll, oder wenn - wie hier - politische Schwierigkeiten beseitigt werden sollen - die Schule hat schuld, sie soll das Übel beseitigen. Die darin zum Ausdruck kommende technokratische Überschätzung der Schule - "es muß doch möglich sein, den Leuten das Gewünschte beizubringen!" - diskriminiert sie zugleich öffentlich, eben weil sie derartige Erwartungen nicht erfüllen kann.

Nicht über die Schule, sondern nur durch eine öffentliche Diskussion kann das Verteidigungsministerium die Einstellung der jungen Generation zu seiner Politik ändern, indem es nämlich ebenso freimütig wie entschieden und verständlich seine Position darlegt, und die Begründungen dafür durchschaubar macht. Und wenn auch die Opposition der Ansicht ist, daß es sich da um parteiübergreifende Fragen des Gemeinwohls handelt, dann muß sie der Regierung ermöglichen, ohne taktische Rückversicherung zu argumentieren.

Die junge Generation hat da eine Menge Fragen, die nicht die Lehrer, sondern nur die Experten beantworten können. Dazu gehören auch ganz banale, wie die, die ich neulich von einem jungen Wehrdienstverweigerer hörte: Wieso wird unsere Sicherheit durch immer kompliziertere Waffensysteme erhöht, wenn andererseits mitten im Frieden und ohne daß die Russen mit der Wimper gezuckt hätten, 200 Starfighter vom Himmel fallen? Was kann ein Lehrer darauf sagen? 

 

 

124. Ein Plädoyer für politische Kultur (1981)

(In: Neue Sammlung, H. 5/1981, S. 499-501)
 
 

Theodor Wilhelm: Sittliche Erziehung durch politische Bildung. Über die Lernbarkeit von Moral, 109 S., Edition Interfrom Zurich 1979
 
 

Das Problem der politischen Sittlichkeit und damit der politischen Kultur überhaupt hat Theodor Wilhelm, der in diesem Jahre 75 Jahre alt wurde, seit dem Ende des zweiten Weltkrieges beschäftigt. Schon in seinem 1951 unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger erschienenen Buch "Wendepunkt der politischen Erziehung - Partnerschaft als pädagogische Aufgabe" (1) hatte er in noch heute gültigen Analysen gezeigt, daß eine der wichtigsten Vorbedingungen des deutschen Faschismus der Mangel an politischer Kultur in Deutschland war. Zwischen abstrakter "Staatsmetaphysik" sowie der idealistischen Vision des Individuums einerseits und der intimen Wärme der "Gemeinschaft" andererseits gab es für das deutsche Bürgertum keinen politischen Vorstellungs- und Handlungskodex, mit dem der politische und soziale Alltag hätte gestaltet werden können. Politische und soziale Beziehungen, so meinte Wilhelm, seien Beziehungen eigener Art, weder eine Version familialer Nähe oder bündischer Gemeinschaft, noch eine Variation des militärischen Reglements. Damals schlug er vor, diesen Bereich mit der Leitvorstellung der "Partnerschaft" zu gestalten: Die "Partner", auf die man im politisch-gesellschaftlichen Bereich trifft, mit denen man zusammenarbeiten oder Auseinandersetzungen austragen muß, kann man sich in der Regel nicht aussuchen, also ist emotionale Distanz am Platz, Höflichkeit, aber auch die Bereitschaft, vom anderen zu lernen, mit ihm nach gemeinsamen Lösungen zu suchen, damit das Leben weitergehen kann. Dafür wird eine eigentümliche Sittlichkeit benötigt, für die das konkrete soziale Ergebnis wichtiger ist als "Wahrheit" von Prinzipien. Angemessene sittliche Leitideen sind zum Beispiel "Kompromiß" und "Gerechtigkeit" - das eine als Formel für das praktische Ziel des partnerschaftlichen Verhaltens, das andere als Leitmotiv für dessen Norm: Kompromisse sollen allen Beteiligten möglichst "gerecht" werden. Aber was in einer bestimmten Situation "Gerechtigkeit" ist, ist nicht aus irgendwelchen Prinzipien einfach ableitbar, sondern muß von den Beteiligten selbst mitverhandelt werden.

"Gerechtigkeit" ist auch das Leitmotiv der vorliegenden neuen Schrift. Sie steht im Kontext einer Reihe von Arbeiten, in denen Wilhelm seine Vorstellungen einer politischen Verhaltenskultur gegen neue Gefährdungen zu behaupten sucht (2):

499

Gegen neo-marxistische "Ableitungen" und das Konzept der "Parteilichkeit", aber auch gegen einen "Interaktionismus", der wieder zu einer realitätsfernen "Innerlichkeit" führen könne. Psychoanalytische Selbstrechtfertigungen sind ihm ebenso suspekt wie eine Gruppen-Identität, die den einzelnen die Verantwortung raubt, oder Sozialisationstheorien, in denen das Individuum als mehr oder weniger unausweichlich von gesellschaftlichen Mächten produziert erscheint. Ohne individuelle Verantwortung nämlich, wie klein der gesellschaftlich zugelassene Spielraum dafür auch erscheinen mag, ist für Wilhelm politische Sittlichkeit nicht möglich; Kollektive können keine Subjekte der Sittlichkeit sein, sie sind nur mehr oder weniger unausweichliche Randbedingungen für verantwortliches Verhalten.

Sittliches Verhalten unter der Leitidee der "Gerechtigkeit" ist für Wilhelm eine Art von gelungener Balance: Zwischen Ich und Du, Wunsch und Möglichkeit, Prinzip und Menschlichkeit. Was kann nun die Schule - insbesondere der politische Unterricht - zur Herausbildung einer solchen politischen Moral leisten? Wenig durch einen isolierten Ethikunterricht, der würde "leicht ins politische Abseits geraten" (S. 5). Wichtig ist die Deutung sozialer Erfahrungen. "Wer eine realistische Wendung der sittlichen Erziehung anstrebt, muß darauf bestehen, daß die Begegnung des Subjekts mit der politischen und sozialen Wirklichkeit durch nichts entschärft wird" (S. 24). Dieser Satz ist gerichtet gegen alle pädagogischen Konzepte, die nach der Realität gar nicht mehr fragen, sondern sich mit deren Widerspiegelung in der unmittelbaren Kommunikation begnügen. Soziale Erfahrungen werden so - auch noch mit pädagogischer Begründung - gar nicht mehr zugelassen, oder sie werden verstellt, wenn etwa die Konkurrenzsituation in der Schule vorweg und einseitig als kapitalistische Intrige abgewertet wird, ohne die Chancen zu bedenken, die der Wetteifer auch für die Herausbildung der individuellen Fähigkeiten haben kann.

Jedoch kommt es darauf an, solche Erfahrungen rational zu überprüfen. "Mit den Mitteln der Schule kommt man an die moralische Motivation am ehesten auf dem Weg der gedanklichen Klärung heran" (S. 54). Wilhelm ist davon überzeugt, "daß die Entwicklung des moralischen Urteils das Kernstück des moralischen Verhaltens darstellt" (S.63). Für diese Intention bietet das Bändchen zwölf thematische Skizzen für den Unterricht an, die zum Training des moralischen Urteils unter Berücksichtigung der beim Schüler vorliegenden Sozialerfahrungen geeignet sind.

Wilhelms Schrift trifft auf eine am Thema interessierte Öffentlichkeit; denn in der Tat sind heute alle wichtigen politischen Fragen in hohem Maße normativ aufgeladen, werden politische Alternativen wieder moralisch begründet, man denke nur an die Friedensbewegung, an die Umweltbewegung oder an die Alternativbewegung. Diese Entwicklung hat ihre Gefahren, die längst erkennbar sind. Es ist ein Unterschied, ob Politik grundlegende Normen (z. B. die des Grundgesetzes) beachten soll oder ob sie als Exekutive moralischer Ansprüche betrieben wird. Im letzteren Falle droht alles das einzutreten, was Wilhelm Sorge

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bereitet: Die Verteufelung des Andersdenkenden, die selektive Wahrnehmung der Realität, die Reduktion des politischen Denkens auf die "richtige Gesinnung" und schließlich die moralisch gerechtfertigte Radikalisierung. All dies ist bereits in den politischen Randszenen erkennbar. Nach 1945 und bis etwa Mitte der sechziger Jahre herrschte - unter dem Eindruck der Erfahrungen mit der NS-Zeit - ein breiter Konsens darüber, daß moralischer Rigorismus und aufgeladene Emotionalität nicht in die politische Sphäre eindringen dürften, daß im Gegenteil politisches Verhalten und Handeln - im Unterschied etwa zu familiärem, freundschaftlichem oder beruflichem Handeln - eines eigentümlichen Stiles bedürften, daß die verschiedenen menschlichen und sozialen Ebenen nicht verwischt werden dürften. Seit der Studentenbewegung sind diese Grenzen mehr und mehr ineinander übergegangen. Subjektive Unlust und Frustration wurden unmittelbar ins Politische gewendet, ein an objektiver Realität nicht mehr interessierter Subjektivismus begann sich durchzusetzen - gestützt unter anderem durch Kommunikationstheorien und durch eine Psychoanalyse, die nicht mehr nur als therapeutische Möglichkeit, sondern zur allgemeinen Welterklärung öffentlich rezipiert wurde. In dem Maße, wie die politisch-gesellschaftlichen Institutionen an Dignität und Glaubwürdigkeit einbüßten, mußte auch die politische Moral zerfallen, denn diese kann sich nicht frei flottierend entfalten, nicht aus der Innerlichkeit oder aus "Diskursen" immer wieder neu erfunden werden, sondern bedarf einer institutionellen Stützung - ein Gesichtspunkt, der bei Wilhelm vielleicht ein wenig zu kurz kommt. Aber die Institutionen sind nicht nur von denen demontiert worden, die sie hart kritisierten und nach Veränderungen verlangten, sondern auch von denen, die sie eigentlich von Amts wegen hätten schützen sollen. Der unselige Radikalenerlaß gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die rücksichtslosen Schulkämpfe. Die Übung des moralischen Urteils, auf die Wilhelm zu Recht setzt, müßte also auch einschließen, den normenstiftenden und normenstabilisierenden Sinn von Institutionen wieder verständlich zu machen - was politische Kritik selbstverständlich nicht ausschließt, sondern überhaupt erst fundieren kann.

501

Anmerkungen:

(1) Von der 2. Aufl. an (Stuttgart 1953) hieß der Titel: "Partnerschaft - Die Aufgabe der politischen Erziehung." Vgl. dazu H. Giesecke: Das Konzept der "Partnerschaft" - von heute aus gesehen. In: G. Groth (Hrsg.): Horizonte der Erziehung. Festgabe für Theodor Wilhelm zum 75. Geburtstag. Stuttgart 1981, S. 245 ff.
(In diesem Band abgedruckt unter Nr. 128., H. G.)
(2) Vgl. Th. Wilhelm: Traktat über den Kompromiß. Stuttgart 1973; ders: Jenseits der Emanzipation. Alternativen zu einem magischen Freiheitsbegriff. Stuttgart 1975; ders.: Die Rede vom Partner. Über soziale Einstellungen der Zukunft. Zürich 1980.


 
 

125. Politik lehren und verstehen (1981)

Unterricht sollte nicht Lern-Management, sondern Friedensarbeit sein.

(In: DIE ZEIT, Nr. 8/ 13.2.1981)
 
 

Die politische Bildung in der Bundesrepublik ist aus dem Nachlaß der NS-Herrschaft entstanden: Künftigen Generationen sollte das Schicksal der HJ-Generation erspart bleiben, sie sollten befähigt werden, den neuen demokratischen Staat aktiv mitzugestalten und ihn vor antidemokratischer Verführung zu schützen. So beschlossen im Jahre 1950 die Kultusminister, politische Bildung an allen Schulen einzuführen, überließen jedoch den einzelnen Ländern, ob dies in einem eigenen Fach oder nur als "Unterrichtsprinzip" geschehen sollte, also so, daß Politisches in Fächern wie Deutsch, Geographie, Geschichte zum Thema gemacht wird, wo es sich von der Sache her anbietet. Dieser Streit hat jahrelang die Fachleute beschäftigt. Die einen meinten, in unseren Schulen könne sich ein neues Lehrgebiet nur dann durchsetzen, wenn es zum ordentlichen Schulfach gemacht werde, die anderen meinten, das klassische Fach für die politische Bildung sei der Geschichtsunterricht, bringe man aktuell Politisches in die Schule ein, so müsse der Lehrer selbst politisch parteilich werden und dies bedrohe den politischen und weltanschaulichen Konsens der Schule.

Diese Kontroverse hat sich in allen möglichen Variationen bis heute erhalten. Im Kern geht es um die Frage, wie man Politik lehren könne, ohne dabei politisch einseitig zu werden, also das pluralistische Spektrum von Meinungen und Positionen unzulässig zu verengen.

Gleichwohl schien sich Mitte der sechziger Jahre ein Konsens einzustellen. Die Richtlinien enthielten allgemeine Hinweise über die Ziele des politischen Unterrichts und ebenso allgemein gehaltene Themenkataloge; sie unterstellten, daß die Lehrer - obwohl sie nur selten eine hinreichende fachwissenschaftliche Ausbildung genossen hatten - sachlich und pädagogisch kompetent genug seien, im Rahmen dieser Richtlinien realitätsgerecht und mit pädagogisch-methodischem Sachverstand zu unterrichten. Die ersten großen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über den politischen Unterricht ergaben jedoch ein anderes Bild: Fehlender Sachverstand wurde mit pädagogischen Vereinfachungen kompensiert, mit politischen "Weltbildern", die die komplexen Strukturen moderner Gesellschaften nicht trafen.

So versuchten die neuen Richtlinien in Hessen und Nordrhein-Westfalen die politische Bildung auf eine neue Grundlage zu stellen: Im Mittelpunkt sollte nun der Schüler stehen, ihn sollte der politische Unterricht so qualifizieren daß er seine Interessen und Bedürfnisse in alle gesellschaftlichen Bereichen - von der Schule bis zur Bundestagswahl - zur Geltung bringe und dabei die vorgefundene Realität mitgestalten beziehungsweise verändern konnte.

So einleuchtend dieses Konzept war, so problematisch wurde es im Verlauf seiner pädagogischen Verwirklichung. Hatte der alte politische Unterricht den Fehler gemacht, Politik als eine "objektive" Sache - etwa als "Institutionenkunde" - zu lehren, mit wenig Rücksicht auf das, was Kinder und Jugendliche interessiert, so droht jetzt umgekehrt das Verstehen der politischen Realität bedeutungslos zu werden. Sind "Interessen" und "Bedürfnisse" von Kindern und Jugendlichen stabil genug, um als Fundament für ein zuverlässiges politisches Weltbild gelten zu können? Genügt es, die Unzufriedenheit von Schülern mit ihrer Schule zu thematisieren, ohne daß Sinn und Funktion dieser Institution mit mindestens gleichem Gewicht zur Geltung gebracht werden? Liegt nicht die Gefahr nahe, daß das ohnehin labile "Schülerinteresse" vom Lehrer definiert wird - nach seinen bewußten oder unbewußten "Interessen"? Zweifellos ist der politische Unterricht in den letzten Jahren in vielen Fällen fixiert geblieben auf solche Unmittelbarkeit, hat den Wust von undurchschauten Meinungen, Gefühlen, Stimmungen und Bedürfnissen nicht durchbrechen können.

Viel schlimmer jedoch, weil weniger leicht korrigierbar, ist die Realitätszerstörung, die von der Kultusadministration im Verein mit bestimmten "technokratischen" pädagogischen Konzepten betrieben wird. Gemeint sind die "Lernziele", auf deren Formulierung und Kontrolle keine Kultusadministration mehr verzichten möchte. Sie liegen in der Logik des neuen Ansatzes: Wenn es um die Qualifikation von Schülern, und das heißt um ein gewünschtes Verhalten in bestimmten Situationen geht, dann muß man versuchen, dieses Verhalten näher zu kennzeichnen, zum Beispiel durch "Lernziele".

Sie sind vernünftig, wenn sie dem Lehrer dazu dienen, seinen Unterricht vorzubereiten. Werden sie jedoch allgemein vorgegeben, so daß die Stoffe nach den "Lernzielen" ausgewählt und zurechtmontiert werden müssen, dann schiebt sich zwischen Kind und politische Wirklichkeit eine eigentümliche, künstliche "pädagogische Realität". Ziel ist dann nicht mehr, Politik zu verstehen, sondern sie als Material zur Erfüllung pädagogischer Ziele zu "verfüttern". Politische Realität nämlich, sofern wir nicht unmittelbar an ihr teilhaben, erfahren wir durch (wissenschaftliche und journalistische) "Mitteilungen" über sie, also durch "Texte", die ihre eigene didaktische Struktur haben, da sie ja verstanden werden sollen, und die sich nicht danach richten können und dürfen, was gerade in den "Lernzielen" steht. Werden aber diese "Texte" zerstückelt, indem man auf die Lernziele passende "Zitätchen" aus ihnen macht, dann wird auch das zerstückelt, wovon sie Kunde geben. Übrig bleibt ein politisches Weltbild, in dem nichts zusammenpaßt, selbst wenn man vielleicht dieses oder jenes kennt und kann.

Wie kann der politische Unterricht aus dieser Misere wieder herausfinden? Zunächst gilt es zu erkennen, daß die Schuld daran nicht auf einer politischen Seite liegt. Man muß unterscheiden zwischen (guter) Absicht und den tatsächlichen Wirkungen. Daran gemessen haben im Effekt alle Beteiligten, die Reformer, ihre Kritiker, die Lehrer, ihre politischen Organisationen, die Fachdidaktiker an den Hochschulen eine "unheilige Allianz" gebildet. Es gibt nicht nur "rechte" und "linke" Schulpolitiker, sondern auch massive Berufsinteressen an Schulen und Hochschulen mit pädagogisch verklausulierten "Berufsideologien", die sich der einen oder anderen Seite politisch bedienen.

Die Revision müßte damit beginnen, daß man auf den Ausgangspunkt zurückkommt: Die heranwachsende Generation wird aller Voraussicht nach mit einer Fülle von politischen Problemen leben müssen, von denen viele ",lebensgefährlich'' sind, Nord-Süd-Gefälle, Verteilungskämpfe, Energieprobleme, um nur einige zu nennen. Das ist keine "pädagogische Provinz", sondern vorweggenommener Ernstfall, und zwar für alle lebenden Generationen, auch für die Lehrer.

Hier dürfen die Lehrer keine "Lern-Manager" sein, die erledigte "Lernziele" abhaken, als ob sie dies alles persönlich nichts anginge. Wenn sie dagegen versuchen (dürfen), mit ihren Schülern solche Probleme präzise zu recherchieren, aus der unterschiedlichen Sicht der Betroffenen "durchzuspielen", grundlegende Fragen dabei anzusprechen, zu halbwegs vernünftigen und ausgewogenen Urteilen zu finden, dann leisten sie unmittelbar "Friedensarbeit"; denn angesichts der vor uns liegenden Probleme hängen friedliche Lösungen nicht nur von der Klugheit der Regierenden ab, sondern in hohem Maße davon, mit welchem politischen Bewußtsein diese Regierenden von der Bevölkerung getragen werden - etwa wenn sie unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen treffen müssen.

Für diese Aufgabe, nämlich die heranwachsende Generation in ihre politische Zukunft zu führen, die sie sich ebenso wenig wie ihre Eltern aussuchen kann, gibt es keinen Ersatz. Auch das neue Fach "Werte und Normen", das dem politischen Unterricht ein wichtiges Stück seiner Substanz entzieht, kann kein solcher Ersatz sein; denn abstrakte und rigorose, ohne Bezug zu konkreten sozialen Kontexten und Verantwortlichkeiten gedachte Moralität hatten wir schon einmal als Grundlage bürgerlichen Politikverständnisses, und sie hat den deutschen Faschismus nicht verhindert, sondern eher gefördert.


 
 

126. Keine Reform, sondern Repression (1981)

Die Empfehlung für das Studium der Erziehungswissenschaften in Niedersachsen ist reine Reglementierung

(In: Die Zeit 49/1981, 27.11.81)
 
 

Im Niedersächsischen Hochschulgesetz sind ",Studienreformkommissionen'' für die einzelnen Studiengänge vorgesehen. Ihr Auftrag: "Erarbeitung von Grundsätzen für die Neugestaltung von Prüfungs- und Studienordnungen auf dem Gebiet ihres jeweiligen Faches". Die Kommissionen bestehen aus Vertretern der Hochschulen und des Staates, wobei die Vertreter des Staates bei Studiengängen, die mit einer Staatsprüfung abschließen - also auch beim Lehrerstudium - die absolute Mehrheit der Stimmen haben. Die Kommissionen geben zwar nur "Empfehlungen" heraus, aber man muß davon ausgehen, daß keine von den Universitäten vorzulegende Studienordnung vom Ministerium genehmigt werden wird, die nicht in allen wesentlichen Punkten der jeweiligen Empfehlung entspricht.

Die für die Lehrämter an Grund- und Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien zuständige Kommission hat nun eine Empfehlung für den erziehungswissenschaftlichen Teil dieser Studiengänge vorgelegt, also für das Studium der Erziehungswissenschaft und ihrer Bezugswissenschaften (Psychologie, Soziologie, Philosophie, Politik). Das Ergebnis aber ist keine Reform, sondern eine Repression des Studiums.

Erstens wird das Studium organisatorisch so kompliziert, daß der Student ohne ständige Beratung sich in dem Gewirr von "erziehungswissenschaftlichem Grundblock", "Wahlpflichtfächern" und "Kooperationsbereich" kaum wird durchfinden können. Ähnlich kompliziert - wenn überhaupt organisierbar - wird das Lehrangebot zu gestalten sein.

Zweitens handelt es sich nicht um eine Studienordnung, sondern um eine "Unterrichtsstunden-Verteilungsordnung". Von Studium ist nur noch dem Wort nach die Rede, es geht mehr darum, an wie vielen Veranstaltungsstunden der Student in welchem Fach und über welche Themen teilzunehmen habe. Einige Male muß er das auch "erfolgreich" tun - was immer das heißen mag. Folgerichtig ist von "Studienleistungen", die da zu erbringen wären, nicht die Rede, obwohl diese im Niedersächsischen Hochschulgesetz ausdrücklich verlangt werden.

Drittens spiegelt die Empfehlung - und das erklärt das meiste an ihr - in erster Linie den gegenwärtigen Stand des Verteilungskampfes um Stunden wider. Seit die Kultusminister die "Kapazität" der Hochschulen berechnet haben - wie viele Lehrstunden werden benötigt, um eine bestimmte Studentenzahl mit Lehrveranstaltungen zu "versorgen" - ist unter den an der Lehrerbildung beteiligten Fächern ein heftiger Machtkampf um ihren "Stundenanteil" entbrannt, denn davon hängt entscheidend ab, wie viele Stellen das Fach bekommt. Es gibt in dieser Frage nie Frieden, sondern höchstens Waffenstillstand bis zur nächsten passenden Gelegenheit. Dieser Verteilungskampf ist einer der Gründe für die komplizierte Struktur der Studienordnung.

Viertens hat der Verteilungskampf nun auch auf die Studieninhalte übergegriffen. Durchgesetzt hat sich eine ziemlich beschränkte schulpädagogische Version. Das Studium soll sich auf vier Bereiche konzentrieren: "Erziehung und Bildung", "Unterricht", "Beurteilen und Beraten", "Pädagogische Institutionen mit besonderer Berücksichtigung der Schule". Daran sollen sich auch die Bezugswissenschaften halten. Begründet wird dies damit, daß der Lehrerstudent neben grundlegenden Kenntnissen auch "pädagogische Handlungskompetenz" erwerben solle. Aber lernt jemand kompetent zu unterrichten, wenn er Unterrichtstheorien "als solche" studiert, ohne konkreten fachlichen Inhalt? Spräche nicht vieles dafür, gerade die der Schulpraxis sehr nahen Themen in die zweite Phase der Ausbildung - das Referendariat - zu verlagern, wo man das Unterrichten, Beurteilen und Beraten auch tun muß? Der Hinweis auf die "Handlungskompetenz" ist nichts weiter als ein Legitimationsschwindel, der schon einer bloß oberflächlichen Prüfung nicht standhält.

Statt eines so "schulnahen" Studiums, das doch nur Fiktion bleiben kann, könnte zum Beispiel "das Kind" zumindest ein Zentrum des Studiums sein, sein Heranwachsen, sein Leben in Familie, Freizeit, Massenkommunikation, seine Probleme. Aber das Kind wird ganz überwiegend nur als Objekt professionell-pädagogischer Manipulation gesehen.

Außerdem gehört es seit Rousseau zu den pädagogischen Maximen, daß nicht nur die Zukunft des Lernenden, sondern auch seine Gegenwart ernst genommen werden muß. Der Lehrerstudent aber wird hier lediglich als eine Art Homo faber im Wartestand begriffen, ohne eigene Bildungsinteressen. Angesichts dessen, was sich heute in der politischen Kultur in aller Welt abspielt, wirken die hier praktisch verhängten Studierverbote geradezu lächerlich. Jede Studentengeneration hat zudem ihre Themen, für deren Studium sie besonders motiviert ist, weil sie etwas mit den Problemen des eigenen Lebens zu tun haben. Was für eine bornierte "Handlungskompetenz" soll denn dabei herauskommen, wenn dies alles planmäßig ausgeblendet ist?

Fünftens sind die Empfehlungen teilweise schlicht unsinnig. So wird für die vier Inhaltsbereiche je eine "grundlegende Veranstaltung" vorgeschrieben. Zum Komplex "Erziehung und Bildung" zum Beispiel "sind folgende Themen zu behandeln: 'Anthropologische und soziale Bedingungen der Erziehung und Bildung', 'Normen und Ziele der Erziehung und Bildung' 'Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationstheorien unter Berücksichtigung der Sozial- und Problemgeschichte der Erziehung sowie wissenschaftstheoretischer Fragestellungen'. Das ist so ungefähr die ganze "Allgemeine Pädagogik", abgehandelt in einem einzigen zweistündigen Seminar. Möglicherweise ließe sich ein Teil davon in einer zweistündigen Vorlesung bearbeiten, aber für Vorlesungen hat die Kommission (einem modischen Affekt folgend) nur wenige Stunden vorgesehen. Viel vernünftiger wäre, statt dessen die Seminare zu reservieren für die exemplarische Bearbeitung von grundlegenden Problemen, "Überblickswissen" wäre durch Vorlesungen oder private Lektüre zu erwerben.

Sechstens schließlich favorisiert der Entwurf eine bestimmte Version von Pädagogik und Erziehungswissenschaft und schließt zugleich andere aus. Favorisiert wird jene modernistische Erziehungswissenschaft, die da an eigenständige, von anderen Wissenschaften abgrenzbare Gegenstände und Stoffe glaubt; daher auch der krampfhafte Versuch, zwischen "grundlegenden" und "weiterführenden" Themen zu unterscheiden. Ausgeschlossen werden jene Positionen, für die Erziehungswissenschaft lediglich über eigenständige Fragestellungen und Kategorien verfügt, unter denen das von den Humanwissenschaften bereitgestellte Forschungsmaterial strukturiert wird. Diese Positionen wären noch am ehesten in der Lage, handlungsorientierte Vorstellungen entstehen zu lassen, während die im Entwurf favorisierte Position notwendig zu blutleerer Abstraktheit ("Theorien als solche", bestenfalls versehen mit Beispielen aus der Praxis) führen müssen.

Was müßte eine Studienordnung, die wirklich für Studenten geschrieben wird, eigentlich regeln? Die Studienleistungen, die der Student für die Zulassung zur Prüfung zu erbringen hat (zum Beispiel Scheine, Hausarbeiten), ferner meinetwegen die Verteilung der Stunden auf die Fächer; möglicherweise auch inhaltliche Pflicht- beziehungsweise Wahlgebiete. Das wäre für einen ganzen Studiengang und für alle Fächer auf rund drei Schreibmaschinenseiten unterzubringen. Was der Student entscheiden darf, muß nicht reglementiert werden, und was nicht reglementiert ist, ist allemal konsensfähig. Aber für so etwas Einfaches muß man nicht so vielen hochkarätigen Leuten die Zeit stehlen. Ruft man dennoch eine solche Kommission ins Leben, dann forciert man die genannten Verteilungskämpfe und zwingt dieses Gremium zu einer Leistung, die gar nicht benötigt wird.

Aber offensichtlich ist die Administration daran interessiert, das Lehrerstudium möglichst bis in inhaltliche Einzelheiten hinein zu reglementieren. Dabei muß das Studieren, das sich im Kern nicht reglementieren läßt, eben abgeschafft werden zugunsten einer Verschulung mit gelegentlichen Hausaufgaben. Die Administration ist offensichtlich besessen von dem Gedanken, daß irgendwann einmal alle ihre Lehrer dasselbe lernen (und nicht lernen). Möglicherweise gibt es demnächst neben den "Richtlinien", die der Entwurf faktisch enthält, auch Schulbuchzulassungen für Universitäten. Leider wird die Absicht der Administration unterstützt durch den ständigen Versuch bestimmter Gruppen, die eigene Version einer wissenschaftlichen Lehre für alle anderen verbindlich zu machen.

Studienordnungen sind heute jedenfalls zu brisanten politischen Texten geworden, und so muß man sie auch lesen und behandeln.


 
 

127. Jugend zwischen Autonomie und Vergesellschaftung (1981)

(In: Neue Sammlung, H. 5/1981, S. 455-463)
 
 

Vorbemerkung:

Der folgende Text enthält unter neuer Überschrift das - leicht veränderte - Schlußkapitel meines Buches "Vom Wandervogel bis zur Hitler-Jugend", das in diesem Herbst im Juventa-Verlag in München erscheint. In diesem Buch habe ich versucht, die Entwicklung der Jugendbewegung und der Jugendpflege in Deutschland von 1900 bis 1945 insbesondere unter politischen und pädagogischen Gesichtspunkten darzustellen. Das Schlußkapitel soll noch einmal einige wichtige Ergebnisse zusammenfassen und bis in die Gegenwart hinein "durchspielen".
 
 

Überblickt man die Entwicklung der Jugendbewegung und Jugendarbeit in der Zeit von 1900 bis 1945, so lassen sich einerseits gewisse epochale Grundprobleme und Tatsachen erkennen, andererseits aber auch bedeutsame Veränderungen, die noch mehr ins Auge fallen, wenn man sie bis zur Gegenwart verlängert.

1. Ein Grundproblem ist die gesellschaftliche Ausgliederung des Jugendalters als einer besonderen sozialen Gruppe. Sie wird nötig in dem Maße, wie die Herkunftsfamilie - repräsentiert durch den Vater - nicht mehr die Zukunft der Kinder bestimmen und garantieren kann, und wie normative Pluralität bewältigt werden muß, und in einem gewissen Handlungsspielraum für die Zukunft relevante Entscheidungen - zum Beispiel beruflicher Art - getroffen werden müssen. Unter diesen Bedingungen bedeutet der Übergang in den Erwachsenenstatus nicht mehr nur einfach die Übernahme vorgegebener Werte und Verhaltensrituale, kommt Identität nicht einfach mehr durch Identifikation mit ihnen zustande. Vielmehr wird nun ein gewisses Maß an persönlicher, individueller, also von niemandem mehr abzunehmender Verantwortung und Entscheidung nötig sowie ein hohes Maß an Verinnerlichung von Normen und Werten im Unterschied zu fraglos ritualisierter Übernahme. Es wird - mit anderen Worten - den Jugendlichen "Kulturpubertät" zugemutet, das heißt ein relativ offener Lebens- und Handlungsspielraum, in dem sie selbst durch Erfahrung und Auseinandersetzung eine Identität gewinnen und - praktisch gesprochen - einen eigenen Lebensplan entwerfen und seine Realisierung beginnen müssen. Dieser durch sozialen und normativen Wandel hervorgerufene Sachverhalt, der zunächst nur für eine Minderheit der Jugendlichen, aber tendenziell für alle gilt, ist ambivalent. Er ist einerseits eine Form der Emanzipation, eines Freiwerdens von den Determinanten der traditionellen familiären und gesellschaftlichen Erziehungsmächte, ist insofern ein Stück Autonomie und Eigenverantwortung. Andererseits bedeutet dies aber auch Verunsicherung, Ungeborgenheit und Vereinzelung. Diese Spannung muß ausbalanciert werden, und die zwischen 1900 und 1945 auftretenden Jugendgenerationen haben dieses Problem sehr

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unterschiedlich bewältigt. Die Wandervogelgeneration vor dem Ersten Weltkrieg lebte noch so stark in die Gesellschaft integriert, daß sie ihr Interesse verstärkt auf Emanzipation bzw. Autonomie richten konnte. Nach dem Kriege, bis etwa 1923, setzte sich diese Haltung zunächst mit einer Generation fort, die die durch den Krieg aufgezwungenen Entbehrungen kompensieren wollte. Da aber das gesellschaftliche System nun selbst offen und mehrdeutig war und insofern wenig Orientierung und Geborgenheit vermittelte, versuchte die folgende Generation, diesen Mangel durch Bindung an einen Bund oder eine andere Jugendorganisation zu kompensieren. Bei der Jugendgeneration am Ende der Republik verstärkte sich dieses Bedürfnis noch bis dahin, daß sie die Emanzipation, die die liberale Gesellschaft bot - nun einschließlich der nicht erwünschten Befreiung von der Arbeit - nicht auch noch in den Jugendverbänden doppelt erleben wollte, sondern sie äußerte das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Integration, die die Nationalsozialisten mit ihren Jugendverbänden anboten.

Natürlich ist diese Charakteristik sehr grob und vernachlässigt zum Beispiel, daß auch unter Gleichaltrigen ganz unterschiedliche "Generationsgefühle" (K. Mannheim) (1) bestehen können. Aber trotzdem läßt sich prinzipiell folgendes sagen: Was Jugendliche in einer Jugendbewegung oder in einem Jugendverband suchen, hängt davon ab, was die sie umgebende Gesellschaft ihnen bietet oder vorenthält, und zwar im Hinblick auf die Balance von Emanzipation und Geborgenheit bzw. sozialer Integration. Die Geschichte der Jugendarbeit ist bis heute nämlich voll von Mißverständnissen, die aus der Ignorierung dieser Tatsache entstanden. Die Ratlosigkeit der Pädagogen am Ende der Weimarer Republik über den neuen "Sozialisationstypus" ist dafür nur ein Beispiel. Sie gingen davon aus, daß - entsprechend ihrer eigenen früheren Erfahrung - die junge Generation das in der Jugendarbeit suchen müsse, was sie selbst früher dort gesucht und womöglich auch gefunden hatten. Das erwähnte Grundproblem der Spannung von Emanzipation und Geborgenheit und die Notwendigkeit, in einer angemessenen Balance zwischen beiden Polen Identität zu finden, ist also ein epochales, bis heute gültiges Grundproblem des Jugendalters. Aber die Rolle der Jugendgemeinschaften in diesem Zusammenhang ändert sich je nach den gesellschaftlichen Bedingungen und nach der Art und Weise, wie diese jeweils in einem Generationsgefühl erlebt werden. Dabei ist der subjektive Aspekt nicht minder wichtig als der objektive; denn von einer gesellschaftlichen Desorganisation oder normativen Verunsicherung kann man erst dann sprechen, wenn diese Zustände auch so erlebt werden. Und das kann - auch in ein und derselben Generation - ganz unterschiedlich sein. Die Jugendarbeit aber kann in diesem Zusammenhang immer nur kompensatorische Funktion haben, also das anbieten, was im Rahmen dieser Balance im übrigen gesellschaftlichen Umfeld fehlt. Sie kann also das je vorhandene Sozialisationsangebot nur ergänzen oder korrigieren im Hinblick auf die erwähnte Balance. Die jugendliche Gruppe

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kann also einmal eher Mittelpunkt und Ausgangspunkt jugendlicher Rebellion, ein anderes mal eher Ort sozialer Geborgenheit und Stabilisierung sein.

2. Der Handlungs-, Entscheidungs- und Verantwortungsspielraum, der dem Jugendalter zugemutet werden muß, macht es aber auch zugänglich für öffentliche Zugriffe. Zumindest im Freizeitbereich wird es gleichsam aus der "pädagogischen Provinz" entlassen und sieht sich Wertungen und Erwartungen ausgesetzt, mit deren Pluralität und Widersprüchlichkeit sich die Jugendlichen individuell auseinandersetzen müssen, um eine eigene Position zu finden. Nachwuchs für die Erwachsenenorganisationen und ihre Normen und Werte wird nicht mehr geboren, sondern muß im Jugendalter geworben werden. So ist unser Thema die Geschichte eines unermüdlichen "Kampfes um die Jugend". Die Freisetzung des Jugendalters ermöglicht seine Vergesellschaftung und tendenziell seine Abschaffung, das heißt seine volle gesellschaftliche Integration außerhalb der jeweiligen Familienzugehörigkeit, wie das der Nationalsozialismus zum ersten Mal praktiziert hat. Der Weg vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend ist der Weg einer von der Familie her vergesellschafteten und integrierten Jugend zu einer auf neuer Stufe erneut integrierten, wobei Familienzugehörigkeit und - daraus folgend - Klassenzugehörigkeit prinzipiell keine Rolle mehr spielen. Es wäre aber ein Irrtum, den Vergesellschaftungsprozeß in der nationalsozialistischen Zeit lediglich als Zwischenstadium zu verstehen. Der schon in der Weimarer Zeit weit fortgeschrittene Prozeß der Vergesellschaftung geht nämlich nicht nur von den Verbänden und Institutionen der Erwachsenen aus, sondern auch vom kommerziellen Freizeit- und Konsumsystem, das - vor allem dann nach 1945 und bis zur Gegenwart - das gesellschaftlich Übliche in die Nischen transportiert, in denen sich Jugendliche Teilkulturen ansiedeln könnten, bzw. umgekehrt deren Teilkulturen auf die Gesamtgesellschaft hin verbreitet. Gegenwärtig scheint im Vergleich dazu der Zugriff von Erwachsenenverbänden bedeutungslos geworden zu sein.

Ergänzend kommt hinzu die Wirkung der Massenmedien. Sie machen einerseits unentwegt die Probleme des Jugendalters zum öffentlichen Thema und stellen damit ein öffentliches Bewußtsein darüber her, andererseits aber verhindern sie dadurch jede authentische Selbstartikulierung von Jugendlichen, wie dies in der Fülle der Eigenpublizistik der Jugendverbände in Weimar noch möglich war. Schon die HJ hatte die publizistischen Äußerungen monopolisiert. Aber die durch Kapitalkonzentration in der Gegenwart erzwungene weitgehende Monopolisierung der Publizistik - ergänzt durch die Apparate der öffentlich-rechtlichen Medien - wirkt vom Standpunkt der öffentlichen Äußerungsmöglichkeit jugendlicher Gruppen ähnlich, obwohl die Pressefreiheit nach wie vor besteht. Entweder nämlich werden jugendliche Selbstdarstellungen im Keime erstickt bzw. verfälscht, wie dies zum Beispiel geschieht, wenn sie im Fernsehen etwa sofort den dort gültigen politischen (zum Beispiel "Ausgewogenheit") und dramaturgischen Regeln unterworfen werden. Oder aber jede nicht in der offiziellen Publizistik erscheinende Selbstäußerung gerät relativ leicht in den Verdacht, zum

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kriminellen Untergrund zu gehören. Ein schon klassisches Beispiel dafür war die Wirkung des sogenannten "Mescalero-Artikels" in einer Göttinger Studentenzeitung. Keineswegs an die offizielle Publizistik adressiert, sondern an eine bestimmte Gruppe, in der Jargon und Nuancen verstanden werden konnten, geriet er zum öffentlichen Skandal, nachdem er an den Maßstäben der öffentlichen Publizistik gemessen und von dieser - in Ausschnitten, auch das gehört dazu - verbreitet worden war.

Noch bedeutsamer ist die vergesellschaftende Wirkung der Publizistik aber im Hinblick auf das von ihr ständig geschaffene und veränderte "Jugendbild" in der Öffentlichkeit. Würde heute eine neue Jugendbewegung entstehen, sie hätte nicht die mindeste Chance, ihr Selbstverständnis zu artikulieren und überhaupt darüber zu kommunizieren, ohne sich vom ersten Tage an mit Wertungen aus der offiziellen Publizistik auseinandersetzen zu müssen, in die korrigierend einzugreifen sie keine Macht und Gelegenheit hätte. (Wyneken konnte immerhin noch sich in Vortragsreisen gegen die gegen ihn und die Freideutschen gerichteten Angriffe wehren.)

Daß die Jugend sich in der Publizistik einem Bild ihrer selbst gegenübersieht, das - mag es nun positiv oder negativ sein - auf ihr Selbstverständnis zurückwirken muß, ja, daß man auf diese Weise Jugendprobleme "machen" oder auch verschweigen kann, hatte schon F. Paulsen (2) gesehen, und der Wandervogel hatte davon einen Vorgeschmack bekommen. Am Ende der Republik war "Jugend" ein Lieblingsthema der Publizistik - die übrigens überwiegend unrecht behielt, denn ein Großteil der damaligen bürgerlichen Jugend tat das, was man nicht von ihr erwartete: Sie unterwarf sich begeistert der Führung Hitlers.

Der Vergesellschaftungsprozeß, von dem hier die Rede ist, definiert Jugendliche als von ihren konkreten sozialen Herkünften losgelöst gedachte Individuen, die dadurch für die genannten Einwirkungen und Erwartungen zur Disposition stehen. Mit dieser Tendenz überschneidet sich das vorhin erwähnte Problem der Balance zwischen Emanzipation und Geborgenheit, und je länger dieser Prozeß fortschreitet, um so mehr wird diese Balance gestört, weil eben die konkreten sozialen Herkünfte und Kontexte diesem Prozeß mehr oder weniger zum Opfer fallen. Identität finden bedeutet daher zunehmend auch, diese Kontexte als verbindliche selbst wieder herzustellen, zum Beispiel in Form von Freundschaften oder Gruppenbindungen. Oder aber dieser Prozeß führt zu einem Sozialisationstyp, wie ihn Riesman (3) schon früh als "außengeleiteten" beschrieben hat, dessen Identität abhängig ist von der unentwegten "Rückmeldung" durch möglichst viele andere - im Unterschied zum "innengeleiteten", der von solcher Zustimmung relativ unabhängig ist und sein Verhalten eher nach einem "inneren Kompaß" steuert.

Sieht man sich den Prozeß der Vergesellschaftung des Jugendalters genauer an,

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so stellt sich heraus, daß das ursprüngliche Konzept eines von äußeren Zwängen und Verantwortlichkeiten relativ "freien Jugendraumes" bzw. der "Kulturpubertät" oder des "psychosozialen Moratoriums" immer weniger durch die gesellschaftliche Realität gedeckt wird. Das begann schon in der politischen Polarisierung in Weimar und erreichte seinen ersten Höhepunkt in der HJ, die ja die gesellschaftliche - keineswegs die individuelle - Pubertät praktisch abschaffte. Aber ihren wirklichen Höhepunkt erreicht diese Tendenz erst in der Gegenwart. Schule und Hochschule sind weitgehend den industriell-bürokratischen Prinzipien der Effizienz und Kontrolle unterworfen, das Studium wird nicht mehr mit der Erwartung eines "psychosozialen Moratoriums" verbunden, sondern ist selbst "Arbeit" geworden, in Stundenzahlen aufgeteilt; der Rest ist das übliche Maß an Freizeit. Jugendliche Arbeitslose zum Beispiel sind eben Arbeitslose wie andere auch, nur eben junge.

3. Unterstrichen wird diese Einschätzung dadurch, daß gegenwärtig der Jugend als sozialer Gruppe kaum noch eine Zukunftsbedeutung für die Gesellschaft zugeschrieben wird; an sie knüpft sich keine Hoffnung auf einen besseren Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse. Von eben dieser Erwartung aber hatten die Jugendbewegungen und die Jugendarbeit gelebt - der "Jugendkult" der Kulturkritik ebenso wie die Bünde und Arbeiterparteien in Weimar und die staatliche Jugendpflege. Diese Erwartung setzte sich nach 1945 fort. Daß sie in der NS-Zeit pervertiert wurde, kann nichts daran ändern, daß sie die entscheidende Legitimationsgrundlage war für das öffentliche Interesse an "Jugendwohlfahrt" und damit auch an Jugendarbeit. Es war jene Vorstellung, die den Heranwachsenden neben dem negativen Status des "noch nicht Erwachsenseins" zugleich den positiven Status eines "Garanten der Zukunft" aller gab. Entfällt aber diese positive Zuschreibung - wie es gegenwärtig zu sein scheint - und bleibt nur die negative des "noch nicht" übrig, dann sind auch entscheidende Voraussetzungen für die sogenannte "Kulturpubertät" entfallen, dann wird Jugend zu einer Teilgruppe der Erwachsenen, die aber wegen ihrer ökonomischen Abhängigkeit zu einem großen Teil einer materiellen Fürsorge, einer Art von "Jugendrente" bedarf, und die damit tendenziell zu einer Randgruppe wird wie andere negativ definierte Gruppen auch, die etwas nicht, noch nicht oder nicht mehr haben oder können (4).

4. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, ob die Jugendbewegung und Jugendarbeit ein historisch begrenztes Phänomen sei, dessen Ende inzwischen in Sicht ist. Von ihren Anfängen in diesem Jahrhundert her waren beide Bestrebungen ja Begleiterscheinungen eines sozio-kulturellen Wandels, der in Deutschland sich innerhalb weniger Generationen vollzog, und in dessen Verlauf die bürgerliche Jugend, aber auch der "verbürgerlichende" Teil der Arbeiterjugend einen neuen gesellschaftlichen Status zugeschrieben erhielt. Möglicherweise war dabei Jugendarbeit nur eine Art von pädagogisch arrangierter Begleitung des

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beschriebenen Vergesellschaftungsprozesses und ist deshalb nachgerade historisch überfällig.

Aber derartige Schlußfolgerungen könnten kurzschlüssig sein. Man kann nämlich schwerlich annehmen, daß in Zukunft die nachwachsenden Generationen sich einfach einfügen werden in die jeweils vorgegebene Form der für sie vorgesehenen Vergesellschaftung. Die gegenwärtige Protestszene macht das bereits erkennbar. Zumindest in vielen Bereichen des "alternativen Lebens" werden wieder Vorstellungen und Erlebnisse aufgegriffen, die auf die Jugendbewegung - vor allem auf die bürgerliche - , wenn auch meist unbewußt, wieder zurückführen. Das alte Leitthema von "Gemeinschaft und Gesellschaft" steht wieder in Rede, in alternativen Lebensgemeinschaften und Kooperationen wird jene alte Sehnsucht nach umgreifenden statt rollenmäßig parzellierten menschlichen Beziehungen, nach gegenwärtiger und nicht erst zukünftiger Lebenserfüllung, kurz: nach sozialer Integration und Geborgenheit sichtbar. Auch die antizivilisatorischen, antitechnischen, antiliberalen und antidemokratischen Affekte sind wieder parat, wobei bei letzteren oft (noch) unterschieden wird zwischen den zu verachtenden "technischen" Regeln des Parlamentarismus und der Bürokratie einerseits und den demokratischen Grundwerten andererseits, die zur Unterstützung der eigenen Argumentation benutzt werden. Jedenfalls beginnt sich - wie unklar immer - ein Lebensgefühl zu artikulieren, das weder in den etablierten Institutionen, noch im Rahmen der überlieferten Normen und Verhaltensregeln angemessen zu realisieren ist - eine klassische Voraussetzung für das Entstehen einer "Bewegung". Dabei darf man keine historische Kopie erwarten; eine "Bewegung" sucht sich ihre Ideen im kulturellen Repertoire ihrer Zeit. So fehlen heute die für die bürgerliche Jugendbewegung charakteristischen politisch-ideologischen Fragmente, lediglich die lebensreformerische Komponente kommt wieder durch, was möglicherweise ein Indiz dafür ist, daß die Frage des "richtigen Lebens" in der modernen Gesellschaft eines ihrer epochalen Grundprobleme geblieben ist.

Aus all dem ist zu erwarten, daß die beschriebene radikale Vergesellschaftung des Jugendalters von den nachfolgenden Generationen nicht unbeantwortet bleiben wird. Dabei ist schwer vorauszusehen, wie sich eine jugendliche Protestbewegung artikulieren und realisieren kann in einer Gesellschaft, die dafür keinen spezifischen Ort mehr gewährt und die sich von der Substanz des Protestes keinen Gewinn mehr für die Zukunft verspricht - was sich allerdings zum Beispiel im Rahmen der Umweltbewegung auch wieder ändern könnte. Das ratlose Festhalten der etablierten Generationen etwa an Rechtsgrundsätzen, deren Praktizierung ja den Protest in hohem Maße provoziert hat, ist dafür nur ein Symptom.

5. "Kulturpubertät" gab es nur für diejenigen, die eine reale Entscheidungs- und Handlungsperspektive vorfanden. Das galt keineswegs für alle Jugendlichen, zum Beispiel nicht für die nicht-aufstiegsorientierte Arbeiterjugend und nicht für die meisten Mädchen. Für die Mädchen stellte sich die Identitätsproblematik etwas anders als für die Jungen. Ihre traditionelle Sozialisation und Erziehung zielte auf eine Existenz in der Familie, an der Seite eines Mannes. Darauf wur-

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den ihre sozialen Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten weitgehend beschränkt. Berufstätigkeit, die sich nach 1918 ausdehnte, wurde weniger als eigenständige soziale Handlungskompetenz verstanden, die es mit der anerzogenen "Familienkompetenz" zu verbinden galt, sondern eher als ein Durchgangs- oder Zwischenstadium bis zur Familiengründung. In dem Maße jedoch, wie sich auch für Mädchen im Jugendalter ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum öffnete, stellte sich auch für sie das Problem der Identität neu. Erschwert wurde die Lösung dieses Problems jedoch dadurch, daß - anders als beim Jungen - die gesellschaftlichen Erwartungen, die auf der Erfüllung der traditionellen Rolle bestanden, dieser neuen Chance widersprachen. Das galt für die proletarische weibliche Jugend wie für die bürgerliche. In der bürgerlichen Jugendbewegung zielte etwa das Konzept der "Kameradin" an der Seite des Mannes eher auf eine Erweiterung der traditionellen Rolle als auf den Erwerb neuer sozialer Kompetenzen. Die Arbeiterjugendbewegung vertrat zwar aus Prinzip die Gleichberechtigung der Geschlechter, unterschätzte aber die damit aufgeworfene Identitätsproblematik für die Mädchen. Sie bestand schlicht darin, daß die überlieferte, immer noch mit hohem öffentlichen Ansehen ausgestattete "Rolle" der Frau neu interpretiert werden mußte, wenn berufliche und politische Handlungsstrukturen sachgemäß bewältigt werden sollten. So war zum Beispiel im traditionellen Selbstverständnis die andere Frau eher die individuelle Konkurrentin, die vom eigenen Mann möglichst ferngehalten werden mußte, und nicht etwa die Kollegin am Arbeitsplatz, mit der Kooperation einerseits und Solidarität andererseits zu pflegen wäre - diese neue soziale Kompetenz stand im Widerspruch zu jener alten Rollenerwartung. Er zeigte sich durchweg in den gemischten Gruppen, wie in denen der Arbeiterjugend, wo es vielen Mädchen offensichtlich schwerfiel, das Bedürfnis nach dem einen Jungen und die damit verbundenen Rivalitätsgefühle den Bedürfnissen der ganzen Gruppe unterzuordnen - wobei man allerdings immer wieder sehen muß, daß die Jungen in der Regel selbst zumindest unbewußt jene traditionellen Erwartungen an die Mädchen richteten, deren Versuche, ihre soziale Kompetenz zu erweitern, also keineswegs unbedingt honorierten. Anders als die Jungen waren die Mädchen also dem Widerspruch zwischen dem öffentlich verkündeten Postulat der Gleichberechtigung und einer dem widersprechenden inneren Einstellung auch der eigenen Genossen ausgesetzt. Und möglicherweise beruhte die Faszination, die der BDM nach 1933 unzweifelhaft auf viele Mädchen ausübte, nicht nur auf tiefenpsychologischen, mit dem Mythos der Person Hitlers zusammenhängenden Ursachen, sondern auch schlicht darauf, daß der BDM diesen Widerspruch zu lösen schien: Einerseits bestätigte er in seiner Ideologie nachdrücklich die traditionelle Rolle der Frau, beendete damit also die Identitätskonfusion, andererseits eröffnete er den Mädchen auf der Basis dieses Selbstverständnisses Teilnahme an der Öffentlichkeit und damit auch eine gewisse Emanzipation vom Elternhaus. Inzwischen hat der erwähnte Vergesellschaftungsprozeß auch die Mädchen erfaßt - jedenfalls die "bürgerlichen" - und das Problem der weiblichen Identität scheint sich in einer normativ weitgehend horizontlosen Gesellschaft eher noch verschärft zu haben.

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6. Bei derlei Überlegungen muß man jedoch bedenken, daß die große Mehrheit der Jugendlichen im untersuchten Zeitraum an den Angeboten und Maßnahmen der Jugendbewegung und Jugendarbeit nicht teilnahm, daß wir also auch nicht ohne weiteres aus den Artikulierungen von Minderheiten auf die Lage der ganzen Generation schließen dürfen. Vielmehr erhebt sich die Frage, ob es nicht ein ganz bestimmter Teil der Jugendlichen war, der die Angebote nutzte. Waren es vielleicht die weniger widerstandsfähigen, die besonders große Anpassungsschwierigkeiten hatten, wie gelegentlich in den Reihen der bürgerlichen Jugendbewegung selbst vermutet wurde? Für die bürgerliche Jugendbewegung scheint dies zuzutreffen, allerdings darf das nicht falsch gewertet werden. "Anpassungsschwierigkeiten" kann sowohl der haben, der überfordert ist, wie auch derjenige, der mit einer besonderen Sensibilität ausgestattet ist. Das könnte nur im Einzelfall beurteilt werden.

Wichtiger scheint mir aber zu sein, daß Jugendbewegung und Jugendarbeit bis 1933 überwiegend eine Sache der bürgerlich-kleinbürgerlichen Jugend waren - einerseits der Aufstiegsorientierten wie eher in der sozialdemokratischen Jugendarbeit, andererseits der "Abstiegsbedrohten" wie eher in der bürgerlichen Jugendbewegung. Demnach wäre unser Thema ein Teil der Sozial- und Sozialisationsgeschichte der deutschen Mittelschichten, die u. a. gekennzeichnet sind durch eine relativ große ideologische, ökonomische und politische Verunsicherung. Auch die gegenwärtige Protestszene scheint durchaus in dieser Tradition zu liegen. Aus der Sicht der Jugendlichen wird die Statusunsicherheit der Mittelschichten erfahren als je individueller "Erfolgszwang", weil "Scheitern" (in der Schule, im Beruf) Statusverlust bzw. Statusminderung zur Folge hat. Wir hatten am Beispiel der Bündischen gesehen, daß diese Statusunsicherheit durch elitäre Ideologien kompensiert wurde. Zumindest ideologisch beseitigte der Nationalsozialismus diese Unsicherheit, indem er diesen Schichten wie allen anderen ihren "Stand" im Volke zuwies. Nach 1945 haben die Mittelschichten nicht wieder ein vergleichbares Selbstbewußtsein erhalten, und gegenwärtig - nach der Erschütterung der Leistungs- und Karriereideologie - bieten sie das Bild einer geschichts- und traditionslosen Masse von Individuen, die für den Arbeitsmarkt zur Disposition stehen und die für ihre Statusangst keine öffentlich anerkannten Kompensationsmöglichkeiten mehr haben - eine Tatsache, die für die gegenwärtige Protestszene nicht ohne Bedeutung sein kann.

7. Die Geschichte der Jugendbewegung und Jugendarbeit spiegelt also Prozesse wider, die teils einander ergänzen, teils aber auch im Widerspruch zueinander stehen: Der gesellschaftliche Freiraum, der Jugendlichen eingeräumt wird, ist Ergebnis sozialer Veränderungen, die einen Spielraum individueller Entscheidungen und Handlungsperspektiven notwendig machen; hier muß in einer neuen Weise Identität in Balance zwischen Integration und Emanzipation gewonnen werden. Der "Freiraum" ermöglicht zugleich aber einen Prozeß der Vergesellschaftung des Jugendalters, dessen Tendenz die Aufhebung des Jugendalters als besonderer Lebensphase zu sein scheint, der zumindest aber gleichgültig wirkt gegenüber jener

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Identitätsproblematik. In diesem Prozeß geht zudem die positive gesellschaftliche Definition des Jugendalters als Garant der besseren Zukunft aller verloren, damit aber auch die wichtigste Legitimation für das offizielle Engagement in Sachen Jugendarbeit und Jugendpflege. Entsprechende Maßnahmen werden immer mehr in die - den Geist der Jugendpflege von Anfang an prägende - "bewahrende" bzw. "fürsorgerische" Funktion gedrängt. Diese Tendenzen gelten im Prinzip für alle Jugendlichen, aber sie werden für Teile der mittelständischen Jugendlichen offensichtlich besonders prekär. Aus ihren Reihen stammten überwiegend die Mitglieder der bürgerlichen Jugendbewegung vor 1933, und nach 1933 rückten sie verstärkt in die Führungspositionen der HJ ein. Soweit erkennbar, bestimmen sie auch die gegenwärtige Protestszene in erheblichem Maße mit.

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Anmerkungen:

(1) K. Mannheim: Das Problem der Generationen. In: L. v. Friedeburg (Hrsg.): Jugend in der modernen Gesellschaft. Köln-Berlin 1965, S. 23 ff.

(2) F. Paulsen: Väter und Söhne. In: ders.: Gesammelte pädagogische Abhandlungen. Berlin 1912.

(3) D. Riesman: Die einsame Masse. Hamburg 1958.

(4) Vgl. dazu H. Giesecke: Wir wollen alles und zwar subito. Ein Bericht über jugendliche Aussteiger. In: deutsche jugend, H. 6/1981, S. 251 ff. (In diesem Band unter Nr. 130)


 
 
 
 

128. Das Konzept der "Partnerschaft" - von heute aus gesehen (1981)

(In: G. Groth (Hrsg.): Horizonte der Erziehung. Zu aktuellen Problemen von Bildung, Erziehung und Unterricht. Festgabe für Theodor Wilhelm zum 75. Geburtstag. Stuttgart 1981, S. 145-156)
 
Die politische Bildung in der Bundesrepublik begann unter sehr ungünstigen Vorzeichen nach dem zweiten Weltkrieg. Deutschland hatte bedingungslos kapitulieren müssen, war zum Kriegsschauplatz geworden und erheblich zerstört, die unvorstellbaren Verbrechen des Naziregimes waren bekannt geworden und die Lebensperspektive trug teilweise hoffnungslose Züge. Die Macht des Nationalsozialismus war zerschlagen, aber er hatte in der Vorstellungswelt, im Denken und Fühlen aller damals lebenden Generationen mehr oder weniger tiefe Spuren hinterlassen. Faschismus, das war auch das an die Macht gelangte "gesunde Volksempfinden", ein Konglomerat von politischen, sozialen und kulturellen Vorurteilen und Ressentiments. Diese hielten sich noch lange, wurden im aufs Überleben konzentrierten Alltag zunächst nicht erkannt, später verdrängt, um dann vor allem von der "Frankfurter Schule" zum öffentlichen Thema gemacht zu werden - z. B. durch Adornos Aufsatz: "Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit"?(1) In jener Ausgangssituation setzten sich verständlicherweise viele Hoffnungen auf eine neue Erziehung, der es gelingen sollte, die junge Generation gegen neue politische Verführungen zu immunisieren und für die Idee eines demokratischen Staates zu gewinnen. So beschlossen die Kultusminister 1950, in allen Schulen politische Bildung einzuführen, wobei es jedem Land frei stand zu entscheiden, ob dies im Rahmen eines Faches oder nur als "Unterrichtsprinzip" geschehen sollte und wie das Fach gegebenenfalls zu benennen sei. Aber was sollte da eigentlich gelehrt werden? Vorbilder gab es nicht, in Weimar war man über allgemeine Grundsatzdiskussionen kaum hinausgelangt (2), die rücksichtslose Politisierung der Schule im Nationalsozialismus schreckte ab, Bezugswissenschaften für den Politikunterricht wie Soziologie oder Politikwissenschaft gab es noch nicht wieder; auch auf diesem Gebiet hatte der Faschismus ja "reinen Tisch gemacht". War es da nicht besser, die politische Erziehung wie früher im Rahmen des Geschichtsunterrichts zu erledigen? Oder wie sollte man sonst Politik lehren, ohne damit politische Auseinandersetzungen in die Schule zu holen? Wollte man dies vermeiden, so schien einzig die alte "Staatsbürgerkunde" möglich: Aufklärung über die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten sowie über die wichtigsten staatlichen Institutionen. Aber gerade dieses Konzept war in der Weimarer Zeit unübersehbar gescheitert. Hinzu kam eine weitere Schwierigkeit:
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Jugendliche hatten noch keine politischen Rechte und Pflichten im engeren Sinne, politische Bildung hätte also nur propädeutische Funktionen haben können - z. B. im Hinblick auf die künftige Rolle des Wählers.
In dieser Situation allgemeiner Ratlosigkeit in Sachen politischer Bildung erschien unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger Theodor Wilhelms Buch "Wendepunkt der politischen Erziehung - Partnerschaft als pädagogische Aufgabe" (1951), das dann von der zweiten Auflage (1953) an den Titel bekam: "Partnerschaft - die Aufgabe der politischen Erziehung". In einer überzeugenden Kritik des traditionellen deutschen Politikverständnisses zeigte Wilhelm, daß die Befangenheit in abstrakter "Staatsmetaphysik" das deutsche bürgerliche politische Denken - und damit auch die politische Bildung - daran gehindert habe, soziale Verhältnisse und Beziehungen, also die gesellschaftliche Ebene überhaupt ernst zu nehmen, angemessen zu verstehen und verantwortlich mitzugestalten. Die Kritik zeigte nicht nur, daß der Nationalsozialismus in einem verhängnisvollen historischen Kontext zu sehen war, sie griff gerade auch eine Reihe jener Vorstellungen an, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, obwohl sie ein Stück von ihm waren. "Partnerschaft", das war eben nicht jene warme Intimität der deutschen "Gemeinschaft", sie sollte emotional viel distanzierter sein, gleichsam einen Tugendkatalog für den öffentlichen, gesellschaftlichen Verkehr der Menschen darstellen. Für diese Ebene kannte die deutsche Tradition wenig mehr als das Muster Befehl - Gehorsam. Demgegenüber plädierte das Buch für eine neue politische Kultur in Deutschland, geprägt durch einen "höflichen" und "wohlwollenden" Stil des Umgangs und der Auseinandersetzung. Und dies ließ sich lernen, auch indem man politisch umstrittene Stoffe in der Schule behandelte; denn nun mußte der Unterricht nicht mehr "parteilich" sein, es kam nicht darauf an, wer "Recht hatte" - zumindest hatte die Schule das nicht zu entscheiden - sondern darauf, wie man mit anderen Positionen und Meinungen umging. Die "Partnerschaft" war die erste pädagogische "Konflikttheorie" oder besser: "Konfliktlösungstheorie" im Nachkriegsdeutschland, denn das Konzept war nur sinnvoll, insofern es Meinungsverschiedenheiten, Widersprüche und Konflikte zu regeln gab. Und dies war für Jugendliche nicht mehr nur von propädeutischer Bedeutung, denn gesellschaftliche Beziehungen hatten sie auch, zumindest in Beruf und Schule, und das Partnerschaftskonzept machte sie zu gleichberechtigten politischen Partnern - ohne dabei Ungleiches (Altersunterschiede; Unterschiede der rechtlichen und beruflichen Position) gleich zu machen. Die Kritik machte zwar geltend, daß in diesem Konzept bestimmte Dimensionen des Politischen nicht angemessen berücksichtigt seien - z. B. die Machtfrage; oder die besonderen Funktionen des Staates - aber die Kritiker konnten selbst kein praktikables Konzept für die politische Bildung vorlegen.(3)
Die "Partnerschaft" war die erste aus der Kritik der politisch pädagogischen Tradition entstandene und systematisch begründete Theorie der politischen Bildung und Erziehung nach dem Krieg. Sie enthielt wichtige Grundthemen, die Theodor Wilhelm später mehrfach wieder aufgegriffen und variiert hat,
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insbesondere im "Traktat über den Kompromiß" (1973), in "Jenseits der Emanzipation" (1975) und in "Sittliche Erziehung durch politische Bildung" (1979) sowie in "Die Rede vom Partner" (1980). Es erscheint nun reizvoll, unter einigen wichtigen Gesichtspunkten die weitere Entwicklung der politischen Bildung an jenem ersten Entwurf zu messen.

1. Das Konsensproblem
Wenn man politische Stoffe in der Schule behandelt, entsteht das Problem, daß die Schule als Institution bzw. in Gestalt des Lehrers keine durch das Grundgesetz gedeckte politische Position auf Kosten anderer favorisieren darf. Andererseits aber sind politische Themen - auch in ihrer wissenschaftlichen Interpretation - kontrovers. Wie läßt sich dieser Widerspruch lösen, also ein politischer Unterricht gestalten, der Kontrovers-Politisches nicht vermeidet, gleichwohl aber nicht einseitig "parteilich" wird? Die schon erwähnte Staatsbürgerkunde hatte das Problem dadurch lösen wollen, daß sie sich auf die Vermittlung eines relativ unstrittigen "Wissens vom Staat" beschränkte. In der "Partnerschaft" dagegen standen im Mittelpunkt nun nicht bestimmte Inhalte, sondern persönliche Qualifikationen: Die Schule sollte nicht bestimmte Meinungen und Positionen definitiv lehren, sondern die Art und Weise des Umgangs mit ihnen. Aber ein solcher Gedanke kam für das bundesrepublikanische Bewußtsein zu früh. Es setzte sich zunächst ein eher unpolitischer Unterricht durch, basierend auf einem allgemeinen "unbedingten" abstrakten Tugendkatalog und auf Institutionenkunde.(4) Der Gedanke, auch in Erziehungsfeldern die Beziehungen partnerschaftlich zu gestalten, führte zu der Furcht, die pädagogische Autorität könne untergraben werden.(5) Ohne die Unbedingtheit moralischer Prinzipien schien eine Erziehung den meisten damals noch undenkbar, und dem widersprach die Empfehlung der "Partnerschaft", friedenstiftendes, kompromißbereites, kooperationsbereites Handeln in konkreten sozialen Situationen moralisch aufzuwerten. Das, was Wilhelm bekämpft hatte, hatte sich wieder durchgesetzt. Der politische Unterricht wurde konservativ-parteilich, da aber andererseits die Richtlinien durchweg offen formuliert waren und über den Unterricht selbst keine nennenswerten öffentlichen Auseinandersetzungen entstanden, kann man für diese Zeit trotzdem von einem faktischen Konsens sprechen. Das änderte sich, als die neuen Rahmenrichtlinien in Hessen und Nordrhein-Westfalen vorgelegt wurden. Hätte man die neuen Richtlinien in der Form der alten und als deren Reform abgefaßt, wäre die Auseinandersetzung über sie sehr wahrscheinlich nicht entstanden. Im Unterschied zu den alten Richtlinien enthielten die neuen aber "Lernziele" bzw. "Qualifikationen", die durch den Unterricht erreicht werden sollten und die in Nordrhein-Westfalen sogar weitgehend operationalisiert wurden ("Lernziele 1. und 2. Ordnung"). Was nicht zuletzt als Legitimation für die neuen Richtlinien gedacht war - den alten warf man Leerformelhaftigkeit
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vor - erwies sich bald als Problem und nicht etwa als seine Lösung. Betreffen die Lernziele nämlich die kognitive Ebene, dann müssen sie, um konsensfähig sein zu können, Kontroverses ausklammern, oder aber sie geraten parteilich. Noch mehr gilt dies für solche Lernziele, die die Verhaltensebene betreffen. Wenn etwa "Fähigkeit zur Veränderung der Gesellschaft" als allgemeines Lernziel formuliert wird, werden Konservative vermutlich erwarten, daß zumindest auch so etwas wie "Fähigkeit zur Stabilisierung von Ordnungen" gefördert wird. Spielt man nun solche "Ausgewogenheiten" weiter durch, so zeigt sich schnell, daß dieses Verfahren in die Sackgasse gerät und daß die neuen Lernziele ähnlich inhaltsleer werden wie die Formeln der alten Richtlinien, was die Frage aufwirft, ob die alten Richtlinien jedenfalls in ihrer prinzipiellen Struktur nicht geeigneter waren für einen konsensfähigen Unterricht.
Als Fazit dieser Erfahrung läßt sich festhalten: Will man in der Schule Politisch-Kontroverses behandeln, dann muß auf die Vorgabe von Lernzielen weitgehend verzichtet werden, dann geht es in erster Linie um die Art und Weise des Umgangs mit den Stoffen, um die Förderung der je individuellen Fähigkeiten mit grundsätzlich "offenem Ergebnis" - wie es in Wilhelms "Partnerschaft" bereits angelegt war.

2. Common sense und Fachdidaktik
Das Konzept der "Partnerschaft" war ein solches des Common sense. Man brauchte dafür keine spezielle fachwissenschaftliche oder fachdidaktische Ausbildung, obgleich diese natürlich auch nicht hinderlich gewesen wäre. Aber es reichte aus, wenn der Lehrer ein allgemein politisch interessierter Zeitgenosse war, der aufmerksam das politische Geschehen verfolgte. Gewiß war dies auch ein Mangel, weil alles von der "politischen Persönlichkeit" des Lehrers abhing und davon, wie er den politischen Unterricht gestalten konnte. Aber auch die dann einsetzende Professionalisierung hatte ihre Probleme. Ob politische Bildung ein eigenes Fach oder Unterrichtsprinzip sein sollte, war ein herausragendes Thema der fünfziger Jahre. Die Befürworter des Faches argumentierten vor allem mit dem Hinweis, daß, so wie die Schule nun einmal sei, die politische Bildung nur sich durchsetzen könne, wenn sie die Dignität eines eigenen Schulfaches erhalten würde. Diese Ansicht setzte sich schließlich durch. In dem Maße nun, wie Politik in einem eigenen Fach unterrichtet werden sollte, mußten auch fachspezifische Ausbildungsgänge entwickelt werden. Dies geschah jedoch nur sehr langsam, weil sich die nötigen Bezugswissenschaften erst einmal wieder etablieren mußten. Aber mit der fachwissenschaftlichen Ausbildung entstand das Bedürfnis nach einer fachdidaktischen Ausbildung und damit das Problem des Verhältnisses zwischen diesen beiden Disziplinen, das bisher nicht überzeugend gelöst wurde. Bis Ende der sechziger Jahre stammten die veröffentlichten didaktischen Konzepte fast ausnahmslos von Praktikern, die in der Schule oder in außerschulischen Bildungseinrichtungen
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tätig waren. Sie waren gleichsam "aus der Praxis für die Praxis" geschrieben. Seit Anfang der siebziger Jahre wird die Didaktik zunehmend an den Hochschulen betrieben, und das hat ihren Charakter fundamental verändert. Nun wird sie in erster Linie zur Selbstdarstellung gegenüber den üblichen Wissenschaftsansprüchen verfaßt. Inzwischen ist vom Common sense der "Partnerschaft" wenig übriggeblieben. Dieses Konzept war jedem Bürger - nicht nur den Fachleuten - klarzumachen, seine moralischen Leitvorstellungen waren gleichsam dem praktischen Leben abgeguckt, beruhten auf jedermann einsichtigen Prinzipien. Liest man dagegen gegenwärtige fachdidaktische Literatur, so gewinnt man in vielen Fällen den Eindruck, Politik sei eine ungemein schwierige Sache, eigentlich nur wenigen Experten zugänglich. Schon die Terminologie lehrt das Fürchten.(6)

Wer heute einen politischen Sachverhalt in der Schule klarmachen will, muß zunächst einmal rechtfertigen ("legitimieren"), warum er das überhaupt will. Dann muß er Sachanalysen, didaktische und Bedingungsanalysen vollziehen, um auch ja das fürs Kind Beste daraus zu machen. Lernziele müssen selbstverständlich auch gesetzt werden, hat die Obrigkeit sie bereits vorgeschrieben in den Richtlinien, dann müssen sie verfeinert werden. Eine regelrechte subkulturelle Zwischenwelt schiebt sich da zwischen Subjekt und politische Realität. Sinn der Sache soll offenbar sein, den jeweils erteilten Unterricht als den bestmöglichen zu beweisen und zu rechtfertigen. Dabei ist das Kind nicht mehr "Partner", mit dem, seine Mündigkeit und Einsichtsfähigkeit unterstellend, ernsthaft über politische Probleme gesprochen und nachgedacht wird, die seine Zukunft bestimmen könnten. Es ist vielmehr ein - möglichst störungsfrei zu haltendes - Objekt möglichst effektiv geplanter Lernprozesse geworden. Dabei ist höchst zweifelhaft, ob der große fachdidaktische Aufwand wirklich halten kann, was er verspricht. Sogenannte fachdidaktische Analysen - sieht man sie sich genauer an - haben niemals eindeutige Ergebnisse, sondern führen höchstens zu einem immer noch verhältnismäßig großen Spielraum von Entscheidungsmöglichkeiten, die allesamt gleich plausibel sind, für die es jedenfalls kein zwingendes Entscheidungskriterium mehr gibt. Offensichtlich sind wichtige pädagogische Entscheidungen - zu denen zweifellos die Auswahl der Stoffe und ihre Umsetzung in einen zeitlichen Lernprozeß gehört - nur pragmatisch zu finden. Geltend gemacht wird immer, die fachdidaktische Strukturierung des Stoffes sei nötig, weil die fachwissenschaftliche Struktur aus grundsätzlichen Erwägungen (Bildungsbedürfnis des Kindes) wie aus praktischen Gründen (Schwierigkeitsgrad) nicht zu verwenden sei. Aber für den Bereich der Politik ist die Alternative zur fachwissenschaftlichen Sachstruktur die journalistische (7). Ob Lokalzeitung, Illustrierte, Bild oder politisches Fernsehmagazin, diese Massenmedien füttern uns mit Informationen und Meinungen über die politische Realität und präsentieren dabei durchaus eine eigentümliche didaktische Struktur, die den fachdidaktischen Kompositionen zumindest eines voraus hat: Durchsichtigkeit und Transparenz. Die politische Publizistik steht dem common sense näher als alle Unterrichtswissenschaft.
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"Lernziele" und ihre fachdidaktische Umsetzung haben das Verhältnis von Kind und politischer Realität geradezu revolutionär verändert. Politische Realität erfahren wir nämlich - falls wir sie nicht unmittelbar erleben - nur in Form von sinnvollen "Texten" über sie. Das können neben den journalistischen auch wissenschaftliche Texte sein oder auch mündliche Berichte. Jeder Text aber hat seine eigene didaktische Intention und Struktur, seine immanenten Lernziele, denn er ist auf Mitteilung und Verstandenwerden hin angelegt. Wer die "Lernzielstruktur" solcher Texte zerschlägt (8), zerstört auch die Beziehung zur Realität. Genau dies geschieht, wenn Lernziele vorab formuliert werden, ohne daß sie aus einem solchen Text erwachsen, so daß im Gegenteil die authentischen Texte zur Erfüllung der Lernzielforderungen sinnlos zerstückelt werden. Dieses Verfahren kann keine neue Realitätsvorstellung anbieten, sondern öffnet der Manipulation Tür und Tor. Da nämlich einerseits die fachdidaktische Zuordnung von Themen, Sachverhalten und Lernzielen trotz des imponierenden Selbstanspruchs scheinhaft ist, ein breites Band von Willkür also möglich ist - die andere Seite des vorhin erwähnten Spielraums - andererseits aber die Disziplinierung an der sachlich-didaktischen Struktur der "Mitteilungen aus der Realität" entfallen ist, sind Willkür und Manipulation kaum noch kenntlich zu machen. Die Institution Fachdidaktik hat den Unterricht nicht etwa planvoller, sondern nur "scheinheiliger" gemacht. Man sehe sich einmal in der "reformierten Oberstufe" Kursentwürfe der Lehrer an, die - mit ausführlicher Lernzielbeschreibung - vom Lehrer eingereicht und genehmigt werden müssen. Selbst in solchen Kursen, die es von der Sache her mit Texten zu tun haben (z. B. Deutsch oder Philosophie), geht es nicht einfach darum, den Text zu verstehen - solche immanenten Lernziele sich zu notieren, ist bei der Unterrichtsvorbereitung selbstverständlich nützlich - sondern dann muß das alles noch auf irgendwelche anderen Qualifikationen und Lernziele hin ausgerichtet werden, damit der Unterricht "legitimiert" werden kann. Auf diese Weise steigt das Nachdenken aus der Sache aus.
Die Fachdidaktik Politik hat die unterschiedlichsten Handlungs- und Entscheidungsebenen teils gleichgeschaltet, teils verschleiert, insofern sie versucht, von den Richtlinien bis zur konkreten Unterrichtspraxis eine durchgängige Argumentations- und Handlungsstruktur aufzubauen. Damit ignoriert sie aber die unterschiedlichen Bedingungen und Handlungsstrategien. Richtlinien z. B. sind "politische Texte", die im "politischen System" formuliert werden nach dessen Verantwortungsregeln, aber auch nach dessen Grenzen. Didaktische Forschung findet (inzwischen) im "System Hochschule" statt, nach den dort geltenden Regeln (z.B. allgemeine formale wissenschaftliche Regeln; Verpflichtung auf die Wahrheit; Methoden- und Theorienpluralismus usw.). Der Unterricht findet im "System Schule" statt nach den dort geltenden Regeln (z. B. Schulpflicht; Toleranz- und Konsensgebot; pädagogische Verantwortung des Lehrers u. a. m.). Wenn man nun versucht, die relative Autonomie dieser einzelnen Systeme auszuschalten, oder wenn man sie unklar werden läßt, dann schafft man nicht nur Orientierungslosigkeit in den einzelnen Systemen, son-
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dern nimmt den dort Tätigen auch die Möglichkeit, ihre je spezifische Verantwortlichkeit wahrzunehmen.
Das ist ein Argument gegen den Planungswahn, gegen das "Integrieren" von allem mit jedem, aber selbstverständlich kein Argument gegen den Versuch, auch den Unterricht wissenschaftlich zu erforschen und aufzuklären und daraus praktische Hinweise abzuleiten. Verstünde sich die Fachdidaktik als kritische Disziplin, die fachliche, didaktische und kommunikative Ziele und Bedingungen des tatsächlichen Unterrichts erforschen und durch Kritik der Praxis diese weiterbringen möchte, dann stünde es besser um sie. Aber sie versteht sich inzwischen als "konstruktive" Disziplin, die sagen will, wie man es warum am besten macht. An diesem Anspruch aber ist sie längst gescheitert. Zu wünschen wäre ein neuer Common sense in Sachen politischer Bildung: Richtlinien z. B., die jeder Bürger verstehen kann, und die den Schüler nicht zu irgendetwas "machen" wollen, sondern ihm erlauben, seine politische Vorstellungswelt zu entfalten; zu wünschen wäre ferner ein politischer Unterricht, der die realen Partizipationsmöglichkeiten der Schüler fördert, dabei die üblichen "Mitteilungen aus der politischen Realität" zu benutzen lehrt und elementare Kategorien des politischen Denkens und Argumentierens vermittelt. In der "Partnerschaft" heißt es: "Als echter Partner erweist sich der Lehrer, indem er sein Wissen und Können unter das Wagnis des 'Gesprächs' in der Klassengemeinschaft stellt ... Partner sind (die Lehrer), wenn sie nicht aus dem 'Gnadenstande' lehren, sondern ihre Meinung mit gleichem Risiko als 'Mittel' in den Prozeß der kooperierenden Wahrheitsfindung einbringen wie jeder Schüler die seinige".(9)
Das geht nicht mehr, da weiß man nicht, was dabei herauskommt!

3. Politische Identität
"Partnerschaft" war ein Reflex auf die Erfahrungen mit Krieg und Nationalsozialismus. Das Buch enthielt ein Programm für eine neue politische Identität: Der mündige Bürger, der, geborgen in einem persönlich verbindlichen Nahbereich, an den öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt und dabei demokratische Werte und Prinzipien nicht nur auf der Ebene der staatlichen Willens- und Machtbildung, sondern auch auf der Ebene des gesellschaftlichen Verhaltens realisiert. Daß "Demokratie" nicht nur eine Staats-, sondern auch eine Lebensform sein müsse, war eine damals weitverbreitete Auffassung. Es war jedoch schon die Rede davon, daß die Idee eines partnerschaftlichen pädagogischen Bezugs der Zeit voraus eilte. Im Ganzen war für die nach dem Krieg heranwachsende Generation das Klima eher konservativ. Konservative Werte und Traditionen konnten sich sehr bald wieder festigen. Die "klassischen Erziehungsmächte", insbesondere die Kirchen, gewannen sehr schnell öffentlichen Einfluß in Erziehungsfragen, wobei Elemente des eingangs erwähnten "gesunden Volksempfindens" munter weiter wirkten. Immerhin wuchs die junge
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Generation in den fünfziger Jahren in einem relativ intakten Nahraum auf, die grundlegenden Erziehungsnormen waren weitgehend anerkannt und es gab keine wesentlichen Widersprüche zwischen privaten und öffentlichen Erwartungen. Der "Sozialisationsdruck" war relativ stark und einheitlich, und die Jungen wollten, wie Schelsky feststellte, möglichst bald erwachsen werden. Die "Perspektive" war optimistisch, das Wirtschaftswachstum wuchs, und wer arbeitete, konnte auch "etwas werden". Politisches Engagement war dabei wenig gefragt. Um die politische Bildung in den Schulen war es still geworden, in den Volks- und Berufsschulen waren "heimatkundliches Prinzip" und "volkstümliche Bildung" die herrschenden didaktischen Konzepte; sie gingen - eine Weile zu Recht - davon aus, daß die Schüler das bleiben würden, was ihre Väter waren. Aber das wurde weitgehend akzeptiert, weil sozialer Aufstieg - wenn auch mit Hindernissen - möglich war. In den Gymnasien hatte sich die klassische Bildungstradition wieder durchgesetzt, Politisches wurde vor allem danach befragt, was es für die "Bildung" einbrachte. Im übrigen war der politische Unterricht geprägt vom "Totalitarismus-Modell", in dem die Bundesrepublik zwischen den totalitären Systemen des Nationalsozialismus und der DDR als geradezu vorbildliche Demokratie erschien - eine "politische Märchenerzählung" (Messerschmidt). Ende der fünfziger Jahre geriet die politische Bildung in den Schulen durch Hakenkreuzschmierereien und antisemitische Parolen in die öffentliche Diskussion. Es stellte sich heraus, wie wenig über die NS-Vergangenheit in der jungen Generation bekannt war - was sich bis zu "Holocaust" nicht ändern sollte.
Man hat dafür wie für andere Mängel des politischen Bewußtseins und Verhaltens immer wieder die politische Bildung verantwortlich gemacht; es ist jedoch die Frage, wie viel die planmäßige politische Bildung gegen die übrige politische Sozialisation auszurichten vermag. Vermutlich herrschen jeweils die didaktischen Konzepte, die dem Grundtenor der politischen Sozialisation am ehesten entsprechen. Das gilt auch für den Erfolg der konfliktorientierten bzw. fallorientierten didaktischen Konzepte in den sechziger Jahren. Sie trafen - vor allem in der Gymnasialjugend - auf eine neue Sozialisationslage. Vor allem in den Großstädten hatte aus Gründen, die wir hier auf sich beruhen lassen müssen, eine soziale Desorganisation des Nahbereiches eingesetzt. Bis dahin scheinbar gültige kulturelle, politische und Erziehungsnormen sowie die Ansprüche der klassischen "Erziehungsmächte" konnten von der Studentenbewegung in überraschend kurzer Zeit weitgehend außer Kraft gesetzt werden. Das Hauptproblem dieser Generation, die nach dem Kriege aufwuchs und die "guten Jahre" der Bundesrepublik mitbekommen hatte, war, menschliche Verbindlichkeiten, gleichsam neue "Gemeinschaften" aufzubauen - ein Bedürfnis, das bis in die eigenen politischen Organisationen hineingetragen wurde und diese natürlich politisch behinderte oder in gewalttätige Perspektiven drängte. Gerade diese Vermischung aller sozialen Ebenen (private Beziehungen; gesellschaftliche Rollen; politische, institutionsangemessene Strategien), deren sorgfältige Trennung bisher als unerläßlich für das Funktionieren komplexer
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Gesellschaften galt - und wofür sich die "Partnerschaft" mit Nachdruck eingesetzt hatte - bildete den politischen Sprengstoff dieser Bewegung und bedrohte - unterstützt von den nun in Mode kommenden gruppendynamischen Selbstbespiegelungen - den Sinn für Realitäten. Alle bisherigen didaktischen Konzepte, einschließlich der konfliktorientierten, hatten nun insofern keine Chance mehr, als sie auf Einsicht in Realitäten und den angemessenen Umgang mit diesen zielten. Benötigt - und natürlich auch produziert - wurden nun solche Konzepte, die die Realität weniger kenntnisreich problematisierten als vielmehr antithetisch aufteilten: zu der einen wollte man gehören, die andere war der Feind.
In diesem Generationsgefühl stellten sich wichtige Erfahrungen nun ganz neu dar. War für die erstgenannte Generation z. B. die Anonymität etwa von großen Schulkomplexen oder Universitäten ein willkommener Freiheitsspielraum, so wurde dies nun umgekehrt als krankmachend erlebt. War für die frühere Generation "kritische Reflexion" oder "kritisches Verhalten" etwas, was einen selbstbewußten Handlungsspielraum schaffen konnte im Kontext einer im übrigen stabilen Sozialisation und Identität, so befördern solche Angebote im zweiten Falle nicht mehr unbedingt autonomes Verhalten. Jener Generation mußte man sagen, daß sie ein Recht auf eigene Bedürfnisse und Interessen habe und diese auch politisch vertreten dürfe, dieser mußte man sagen, daß Identität nicht durch pausenlose Postulate von Bedürfnisbefriedigung zu haben ist, sondern nur durch Abarbeiten an der Realität, die nicht einfach als die Fortsetzung der individuellen Bedürfnisse, sondern über weite Strecken als deren Widerpart zu verstehen ist. Da aber andererseits die Pädagogik die Bedeutung stabiler Nahverhältnisse für eine befriedigende Sozialisation zwar aufdecken, aber nicht herstellen kann, ist die politische Bildung in einer schwierigen Lage.
Das Konzept der "Partnerschaft" setzte entsprechend der damaligen gesellschaftlichen Realität voraus, daß junge Menschen in einer Vielzahl von erzwungenen oder freiwillig einzugehenden Sozialbeziehungen leben, teils generationsspezifischen, teils generationsunspezifischen, die "partnerschaftlich" - oder eben auch anders - gestaltet werden konnten. Diese Voraussetzung hat sich entscheidend verändert. Die Spielräume für selbstbewußtes und kooperatives Handeln sind äußerst gering geworden. Die öffentlichen Beziehungen (z. B. in der Schule) sind in einem solchen Maße verrechtlicht, daß jeder Versuch, Probleme partnerschaftlich und kooperativ zu lösen, schnell auf die Frage des gegebenen Rechtes stößt. Wer sich darauf nicht einlassen will, handelt schon subkulturell. Wo rechtliche Regelungen gelten, da gibt es keine Kompromisse, sondern höchstens Interpretationskonflikte. Jedenfalls hat das Folgen für die personale Seite der Beziehungen, die im Partnerschaftskonzept so wichtig war. Der Jugendliche - und natürlich der Erwachsene auch - tritt heute meistens keinen Personen mehr gegenüber, sondern irgendwelchen "Uberich-Agenten" aus irgendeiner Administration oder Organisation. Die "Rollenspielräume" sind enger geworden. Insofern ist ein wichtiger Punkt des
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Partnerschaftskonzeptes in Frage gestellt, nämlich bedeutsame Erfahrungen über das Gemeinwesen überhaupt noch machen zu können. Relativ unreglementiert dagegen ist die Sphäre der Freizeit mit ihren Konsummöglichkeiten. Aber hier gibt es wenig Bedeutsames zu "erfahren". Die gesellschaftlichen Bedingungen für "Partnerschaft" wieder herzustellen, käme einer Kulturrevolution gleich.
Der Vergleich zweier aufeinander folgender Formen politischer Sozialisation darf jedoch nur als idealtypische Skizze verstanden werden; denn erstens lassen sich Generationen nicht klar gegeneinander abgrenzen und zweitens ist die Frage, wer eine Generation eigentlich repräsentiert. Repräsentierte die Studentenbewegung eine ganze Generation oder nur einen bestimmten Teil von ihr, vielleicht denjenigen Teil, der - aus welchen Gründen auch immer - besondere Schwierigkeiten mit wichtigen Lebensproblemen hatte?
Immerhin scheint die Schlußfolgerung erlaubt, daß in Zeiten starken kulturellen und sozialen Wandels Konzepte der politischen Bildung flexibel bleiben müssen im Hinblick auf die Akzente, die jeweils gesetzt werden müssen. Als Faustregel kann vielleicht gelten, daß man gegen die jeweils ablaufende Sozialisation immer etwas "gegensteuern" muß, um die Chance für Autonomie und Mündigkeit und damit für politische Identität zu erhöhen. Gerade in diesem Zusammenhang kann es nützlich sein, sich der Anfänge der politischen Bildung in Deutschland wieder zu erinnern, wobei die "Regeln" der "Partnerschaft" und die damit verbundene Vorstellung einer politischen Kultur - heute wieder gelesen - zum Nachdenken zwingen. Die fortschrittlichen Ideen sind nicht unbedingt die neuen, und wichtige Bücher veralten nicht, sie werden nur eine Zeitlang nicht gebraucht.

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Anmerkungen
1 Th. W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? in: Gesellschaft - Staat-Erziehung 1960, H. l, S. 3ff.
2 Vgl. D. Hoffmann: Politische Bildung 1890-1933, Hannover 1970.
3 Vgl. Th. Litt: Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes, 3. Aufl. Bonn 1957. E. Weniger: Politische und mitbürgerliche Erziehung, in: Die Sammlung 1952, S. 304 ff. Dazu die Replik in: F. Oetinger, Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung, 3. Aufl. 1955, S. 264 ff.
4 Vgl. J. Habermas u. a.: Student und Politik, Neuwied 1961. M. Teschner: Politik und Gesellschaft im Unterricht, Frankfurt 1968. V. Nitzschke: Zur Wirksamkeit politischer Bildung Teil II: Schulbuchanalyse, Frankfurt 1966.
5 Mit diesem Vorwurf mußte sich Wilhelm auseinandersetzen. Vgl. "Partnerschaft", S.272.
6 Die Kritik im folgenden gilt nicht einzelnen Autoren, sondern der "Institution" Fachdidaktik, also gewissermaßen ihrer öffentlichen Macht, der gerade in dem Augenblick verstärkte Aufmerksamkeit gebührt, wo sie mit dem Anspruch auftritt, Unterricht wissenschaftlich planen zu können. Es ist ein wichtiger Unterschied, ob einzelne Autoren ihre Entwürfe zur Diskussion stellen oder ob die Schuladministration oder die Hochschulverwaltung die hier kritisierten fachdidaktischen Elemente für verbindlich erklärt - z.B. indem die Sache auf "Rezeptologie" reduziert wird. Dazu vgl. W. Klafki in: W. Born, G. Otto: Didaktische Trends, S. 74 ff. Zum Machtproblem der Institutionalisierung gehört auch, daß Didaktik und Fachdidaktik zu einem derart zentralen Stück der Erziehungswissenschaft und ihrer öffentlichen Etablierung geworden sind, daß eine grundsätzliche Infragestellung, die m. E. zumindest für den Bereich der Politik nötig wäre, das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft tangieren würde. Vgl. dazu H. Giesecke: Lob des Zwischenhandels, in: neue Sammlung H. 5/1979, S. 489 ff.
7 Die wichtigste Aufgabe der Fachwissenschaft scheint mir darin zu bestehen, grundlegende Verständnismodelle (Basiswissen) der gesellschaftlich-politischen Realität zu entwickeln. Das gelingt ihr jedoch nur, wenn sie sich dieser Aufgabe auch ausdrücklich stellt. Zur problematischen Rolle der Politikwissenschaft in der Lehrerbildung vgl. P. Ackermann, Politiklehrerausbildung, Bonn 1978.
8 Wie sehr die Animosität gegen Texte, die für Schüler geschrieben werden, bereits "an der Macht ist", zeigt sich u. a. bei Schulbuchzulassungen. Vgl. H. Giesecke: Politisch-didaktischer Dogmatismus bei der hessischen Schulbuchzulassung, in: neue Sammlung H. 4/1980, S. 395 ff.
9 Vgl. "Partnerschaft..." S. 164.
10 Vgl. H. Schelsky: Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957.

 

 
 

129. Eine ziemlich mühelose Ablehnung (1981)

Mit welchen Begründungen Rheinland-Pfalz ein Schulbuch ablehnt

(In: Neue Sammlung, H. 6/1981, S. 602-603)
 
 

Vorbemerkung: In Heft 4/1980 dieser Zeitschrift habe ich mich mit zwei Gutachten auseinandergesetzt, die für die Ablehnung meines Schulbuches "Einführung in die Politik" (2. Auflage) in Hessen verantwortlich waren. Inzwischen hat der Hessische Kultusminister einer Bitte um Überprüfung stattgegeben und das Buch zugelassen.

Um "Ausgewogenheit" herzustellen, soll diesmal ein Beispiel aus einem CDU-Kultusministerium folgen - dem rheinland-pfälzischen. Der Ablehnungsbescheid ist so knapp, daß man ihn vollständig wiedergeben kann (AZ: 942 A - Tgb. - Nr. 2047/80). Mit Datum vom 23.12. 1980 schreibt das Kultusministerium in Mainz ohne Zusendung von Gutachten oder sonstigen weiteren Unterlagen dem Verlag:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

nach Abschluß des Prüfungsverfahrens für das o. g. Schulbuch müssen wir zu unserem Bedauern mitteilen, daß eine Genehmigung für den Unterrichtsgebrauch an Realschulen und Gymnasien im Fach Sozialkunde nicht möglich ist.

Maßgeblich für diese Entscheidung ist die Feststellung, daß die Konzeption, die didaktische Aufbereitung und die Reihenfolge der Themen im o. g. Schulbuch z. T. nur in geringem Maße dem Lehrplanentwurf Sozialkunde für die Sekundarstufe I entsprechen und aufgrund dessen ein lehrplangemäßer Unterricht erschwert wird:

So wird z. B. das Thema 'Schulklasse als Gruppe' im o. g. Schulbuch nicht behandelt. Ferner wird auf die Darstellung von Rechtsinstitutionen und Verfahrensgrundsätzen weitgehend verzichtet, so daß die Gefahr einer Problematisierung ohne das Vorhandensein des vorauszusetzenden Grundwissens gegeben ist.

Darüber hinaus fällt beim Thema 2.6 'Aufgaben des Staates - Pflichten der Bürger' auf, daß sich die 'Materialien und Problemskizzen' fast ausschließlich auf den Ersatzdienst beziehen, kaum aber Verständnis für den Wehrdienst als staatsbürgerliche Pflicht vermittelt wird.

Bei der Auflistung von Interessengegensätzen auf Seite 6 halten wir die durch die Polarisierung entstehende Vereinfachung der Darstellung nicht für vertretbar.

Ähnliches gilt u. E. auch z. B. für das Kapitel 'Das Arbeitsverhältnis: Arbeitgeber und Arbeitnehmer'; wenn hier ausgeführt wird, daß Löhne und Gehälter Kosten sind, die der Unternehmer im Interesse des Gewinns möglichst niedrig halten will, müßte gleichzeitig erläutert werden, welche Bedeutung einem ausreichenden Unternehmensgewinn im Interesse der Arbeitnehmer zukommt.

Mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag: Holtmeier.«
 
 

Dazu nur einige Anmerkungen:

1. Es ist nach meiner Kenntnis durchaus originell, für die Zulassung nicht nur Übereinstimmung mit dem Lehrplan, sondern auch noch die dem entsprechende "Reihenfolge der Themen" vorzuschreiben.

2. Abgesehen von der zutreffenden Erkenntnis, daß das Thema "Schulklasse als Gruppe" im Buch nicht ausdrücklich behandelt wird, bleibt das Schreiben bei allgemeinen Behauptungen (Konzeption, didaktische Aufgliederung gefällt nicht), so daß Verlag und Autor nicht einmal in die Lage versetzt werden, aus den Ablehnungsgründen etwas zu lernen.

3. Daß "auf die Darstellung von Rechtsinstitutionen und Verfahrensgrundsätzen weitgehend verzichtet" werde, wird jeden wundern, der das Buch kennt. Ich jedenfalls kenne kein Schulbuch, in dem das mit solcher Ausführlichkeit geschieht. Aber auch in diesem Punkte bleibt es bei einer allgemeinen Behauptung, die niemand produktiv aufgreifen kann.

4. Der Wehrdienst ist, was im Buch unmißverständlich zum Ausdruck kommt, eine Dienstpflicht gegenüber dem Staat, die als solche von keiner gesellschaftlich relevanten Gruppe oder Partei problematisiert wird. Problematisch ist die Gestaltung der Alternative, des Ersatzdienstes.

5. Zum letzten Absatz des Briefes: Die inkriminierte Textstelle beginnt unter der Marginalie "gemeinsame und verschiedene Interessen" so:

"Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben ein wichtiges Interesse gemeinsam: daß der Betrieb erfolgreich wirtschaftet. Nur dann können die Unternehmer (bzw. die Kapitaleigner, zum Beispiel die Aktionäre) Gewinne erzielen und einen Teil dieser Gewinne zur Verbesserung oder Erweiterung der Produktion wieder in den Betrieb hineinstecken ( = investieren); nur dann können die Arbeiter und Angestellten ihren Arbeitsplatz behalten und befriedigende Löhne und Gehälter bekommen" (S. 201 f.). Dann erst ist von den verschiedenen Interessen die Rede. Hier ist die Behauptung des Schreibens also schlicht falsch.

6. Fazit: Sieht man aufs Nachprüfbare, dann kann in Rheinland-Pfalz ein Schulbuch deshalb nicht zugelassen werden, weil ein kleines Teilthema fehlt, die Themen nicht in der Reihenfolge des "Lehrplanentwurfes" behandelt werden, bei einem Thema die Pflichten nicht genügend betont werden und bei einigen wenigen Zeilen zu polarisiert formuliert wurde - wobei die beiden letzten Punkte reine Interpretationsfragen sind.

Da Rheinland-Pfalz mit besonderem Nachdruck die Notwendigkeit von Werten und Normen in der Erziehung betont, schlage ich folgendes Lernziel vor: Du sollst nicht allzu mühelos mit anderer Leute Arbeit (und Kapital) umgehen.


 
 

130. Wir wollen alles, und zwar subito

Ein Bericht über jugendliche Aussteiger

(In: deutsche jugend, H. 6/1981, S.251-266)
 
 

Vorbemerkung: Dieser Beitrag wurde ursprünglich für den Funk geschrieben, am 25. 3. 1981 auf NDR III gesendet und für den Druck redaktionell überarbeitet. Er bietet keine neue Jugendtheorie und auch keine pädagogischen Ratschläge an; er versucht vielmehr, den inneren Zusammenhang der verschiedenen Aussteiger-Gruppen deutlich zu machen und auf wichtige Veränderungen des gesellschaftlichen Status des Jugendalters und auf deren Folgen hinzuweisen.
 
 

Formen des Aussteigens

"Wir wollen alles, und zwar subito", also "sofort", schrieben junge Leute in Zürich und Berlin auf ihre Plakate. Sie gehören zu denjenigen, die von den Massenmedien in letzter Zeit "Aussteiger" genannt werden. Gemeint sind damit Jungen und Mädchen, die die überlieferten Leistungs-, Karriere- und Konsumstandards nicht mehr akzeptieren und sich deshalb in Distanz zur etablierten Gesellschaft eine "Nische" suchen, in der sie ihren Vorstellungen gemäß leben können. Diese Versuche sind keineswegs einheitlich. Das eine Extrem ist der Terrorismus mit seiner Randszene, das andere ist eine Vielzahl bäuerlicher und handwerklicher oder dienstleistungsorientierter Kooperativen, in denen gleichberechtigt, also ohne Chef, gearbeitet wird, wobei die Einkünfte in eine gemeinsame Kasse fließen, aus der der Lebensunterhalt für alle bestritten wird. Irgendwo dazwischen befinden sich die Drogenszene, die Disco-Kultur, das Hausbesetzermilieu, die Punker und Rocker sowie Jugendsekten und manche andere Formen der Subkultur, die zum Teil ineinander übergehen. Wieviele Jugendliche und junge Erwachsene zu den "Aussteigern" gehören, läßt sich nur schätzen.

In "Der Spiegel" war zu lesen: "In den mittleren Städten Westeuropas seien bereits 5 bis 8 Prozent der Teenager zum Aussteigen bereit, in Großstädten sogar bis zu 15 Prozent,

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ermittelte ein Soziologenteam an der Universität von Kopenhagen. Allein in Berlin, schätzen Fachleute, sind gegen 100000 Leute mit der Alternativszene verbunden"(1).

"Der Berliner Politologe Josef Huber schätzt die Zahl der alternativen Projekte in der Bundesrepublik derzeit auf rund 12 000, mit durchschnittlich je 7 Mitgliedern. Aber nur etwa ein Viertel, also knapp 25 000 Leute, leben wirtschaftlich vollständig von ihren Projekten, ,in der Regel mehr schlecht als recht' ... . Dirk Hartung vom Berliner Max-Planck-Institut (schätzt), daß seit Mitte der siebziger Jahre rund 30 Prozent aller Hochschulabgänger ,unbekannt versickern'"(2). So hieß es in der "Frankfurter Rundschau" in einem Bericht mit dem bezeichnenden Titel: "Alternative Ökonomie: Karriere, Konsum und Konkurrenz nicht gefragt".

Hartmut und Thilo Castner haben in einem Bericht über "Jugend zwischen Überfluß und Mangel" weitere Tatsachen zusammengestellt:

- Nicht wenige junge Leute verfallen der Sucht: "Die Zahl der alkohol- und drogenabhängigen Jugendlichen liegt bei mindestens 20000. Ein Sechstel der Jugendlichen gilt als alkoholgefährdet ... . 1978 starben 430 Menschen an überhöhtem Drogenkonsum, 1979 ... (mehr als) 600, überwiegend Jugendliche, vor 10 Jahren dagegen nur insgesamt 29"(3).

- Andere suchen Geborgenheit bei Jugendsekten "Die Zahl der Jugendlichen, die sich Jugendreligionen angeschlossen haben, wurde Anfang 1978 vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit mit 150000 angegeben"(4).

- Manche finden auch in der Aussteigerszene nicht, was sie suchen: "Die Schätzungen über die jährliche Selbstmordrate bei Jugendlichen reichen bis zu 6000. Jeder zehnte Jugendliche trägt sich vorübergehend mit Suizidgedanken ... . Als besonders anfällig erweisen sich Abiturienten und Studenten: 25 Prozent dieser Gruppe hatten nach einer INFAS-Umfrage schon einmal ernsthaft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen"(5).

Charakteristisch ist der Unterschied der neuen Aussteiger-Bewegung zur früheren APO- und Studentenbewegung. Diese verstand sich als politische Bewegung; sie wollte -zunächst durch Provokation, dann durch den sogenannten "Marsch durch die Institutionen" - die politischen Verhältnisse ändern. Die gegenwärtigen "Aussteiger" haben kaum noch politische Ziele. Sie wollen im Hier und Jetzt leben, nicht für eine ferne Zukunft, der sie ohnehin mißtrauen, und nicht nach den Regeln der beruflichen Karriere und eines perfekten Konsumlebens.

Jugend als Randgruppe

Obwohl die Aussteiger - teils friedlich, teils gewalttätig - fundamentale Werte und Normen unserer Gesellschaft für sich außer Kraft zu setzen suchen, reagieren die Politik und die publizistische Öffentlichkeit darauf nur einigermaßen ratlos oder gar desinteressiert. Der "Bericht zur Lage der Jugend 1978" im Bundestag fand zum Beispiel vor weitgehend leeren Bänken statt. Auch unter Politikern ist offensichtlich die Meinung weit verbreitet, hier handele es sich nur um eine Minderheit, deren Existenz man entweder verdrängen könne, oder für die im äußersten Falle die vorhandenen sozialpolitischen Gesetze und Maßnahmen ausreichten.

Aber das ist gewiß eine Fehleinschätzung. Der Graben zwischen den jungen und älteren Generationen scheint so tief zu sein wie noch nie in diesem Jahrhundert, und das gilt für die junge Generation im Ganzen, nicht etwa nur für die spektakulären Aussteiger. Der

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Radikalenbeschluß und seine teilweise rigide Anwendung haben nicht nur viele intellektuelle Jugendliche verunsichert, sondern sie auch der Realität und den Ansprüchen der gesellschaftlichen Institutionen überhaupt entfremdet. Seine Wirkung war und ist jugendfeindlich: einer ganzen Generation wurde ein eigenständiger politischer Experimentierspielraum verwehrt. Die Bemühungen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit Jugendlicher wirken recht lieblos. Selbst die Maßnahmen gegen den Drogenmißbrauch sehen eher wie eine politische Pflichtübung aus. Die junge Generation scheint im Ganzen zu einer "Randgruppe" geworden zu sein, ähnlich den Obdachlosen oder Sozialhilfeempfängern; an der Einschätzung der "Aussteiger" wird das nur besonders deutlich.

Dieses "An-den-Rand-drängen" der Jugend als ganzer Generation ist neu. Bisher war es eher umgekehrt: die gesellschaftlich etablierten Generationen - zumindest eine ernstzunehmende Minderheit unter ihnen - setzten große Hoffnungen auf die Kreativität der nachfolgenden Generation, auf ihre Fähigkeit, die Zukunft besser zu gestalten, als die Alten es vermocht hatten. Das begann schon zu Ende des vergangenen Jahrhunderts, vor allem in Kreisen des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Unter der Wortführung von Nietzsche und anderen Autoren der sogenannten "Kulturkritik" wurde eine Art von "Jugendkult" propagiert. Er wurde getragen von der Hoffnung, daß angesichts der Fragwürdigkeit der wilhelminischen Bürgerkultur die jungen, noch nicht verbrauchten und noch nicht korrumpierten Menschen aufgrund ihrer unverbildet-natürlichen Fähigkeiten und Einsichten die "alten" Werte gegen die neuen Werte des Großstadtlebens und der wirtschaftlichen Rechenhaftigkeit - heute würde man sagen: gegen die Werte des radikalen Kapitalismus - wieder zur Geltung bringen würden. Die bürgerliche Jugendbewegung - der Wandervogel - entstand aus diesen Erwartungen heraus und wurde folgerichtig auch von einem Teil des liberalen Bildungsbürgertums unterstützt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Hoffnungen der Erwachsenen auf die junge Generation noch stärker: Die Jungen sollten die besiegte Nation wieder groß werden lassen und den Parteihader überwinden helfen. Sie sollten gleichsam den erwünschten moralischen Konsens vertreten. Auch die Arbeiterbewegung - vor dem Kriege eher auf einen gefügigen Nachwuchs bedacht - sah nun in der jungen Generation den Sozialismus der Zukunft verkörpert und begründete damit ihre Jugendbildungsarbeit außerhalb der Schule. Äußerer Ausdruck dieses neuen "Jugendkultes" war unter anderem, daß etwa 40 Prozent der Jugendlichen in irgendeiner Form von den zahlreichen Jugendverbänden, beziehungsweise überhaupt von der Jugendpflege erfaßt wurden. Die Hitlerbewegung schließlich verstand diese Jugendeuphorie geschickt zu nutzen. Sie gab sich als eine Bewegung der Jungen aus, die über das Alte triumphieren wolle, und als "alt" galt alles, was man bekämpfte, insbesondere der Weimarer Staat, die politischen Parteien, die demokratischen Werte und Institutionen überhaupt.

Nach 1945 trug die Jugend die Hoffnungen, die sich an eine demokratische Zukunft Deutschlands knüpften. Den materiellen, sozialen und geistigen Problemen der Jugendlichen wurde große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Die Jugendarbeitslosigkeit zum Beispiel, die nach dem Zweiten Weltkrieg unvergleichlich höher war als heute, wurde nicht nur - wie es in unseren Tagen überwiegend der Fall ist - als eine Frage des Arbeitsmarktes angesehen, sondern mehr noch als ein fundamentales pädagogisches Defizit, als etwas, was ein befriedigendes Heranwachsen zutiefst gefährden müsse. Auch noch die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre wurde zunächst von einer

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breiten öffentlichen Zustimmung getragen, in der sich die Erwartung ausdrückte, daß es den Jungen gelingen möge, neue, freiheitliche, demokratische gesellschaftliche Bedingungen und Strukturen durchzusetzen.

Es hat also durchaus Tradition, daß die Erwachsenen oder wenigstens ein nennenswerter Teil von ihnen in den heranwachsenden Generationen den Garanten für eine bessere Zukunft aller Bürger sahen, und das Jugendalter scheint bisher vor allem durch solche Erwartungen gesellschaftlich definiert worden zu sein: Es war geradezu die gesellschaftliche "Rolle" der Jugend, eine bessere Zukunft zu versprechen - was immer das im einzelnen heißen mochte. Aus diesem Erwartungshorizont erwuchs auch das spezifisch pädagogische Interesse am Jugendalter: Wenn die Jugend die bessere Zukunft auch der Älteren ermöglichen konnte, mußte man sie sorgsam "pflegen", vor Gefahren schützen - etwa durch Jugendschutzmaßnahmen - und ihr eine Bildung anbieten, mit deren Hilfe sie imstande war, ihre Fähigkeiten optimal zu entwickeln.

Die der Jugend zugedachte Rolle hatte also auch ihre problematische Seite: Die Erwartungen an eine "bessere" Zukunft waren zunächst einmal ja die Erwartungen der Alten, nicht die der Jungen, und es mußte immer fraglich bleiben, ob beide sich auf die Dauer decken würden. In diesem Widerspruch war der klassische Generationskonflikt angesiedelt. Außerdem hatte das öffentliche pädagogische Interesse am Jugendalter zugleich auch die Funktion der Kontrolle - mit all den daraus resultierenden Konflikten und Spannungen zwischen den Generationen.

Dieses Bild von der Rolle des Jugendalters in der Gesellschaft haben sicher die meisten von uns vor Augen, wenn wir von drogenabhängigen und alkoholsüchtigen oder von gewalttätigen jugendlichen Gruppen hören. Und wenn wir über die Probleme nachdenken, die Jugendliche haben könnten, und auf die sie so abweichend oder gar kriminell reagieren, dann denken wir an jene klassischen Pubertätsprobleme wie Konflikte mit dem Elternhaus, Schwierigkeiten in Beruf und Schule, Probleme im Umgang mit dem anderen Geschlecht und so weiter. Gelegentliche Ausbrüche - so meinen wir vielleicht weiter - gehören nun einmal dazu, wenn Jugendliche in der Auseinandersetzung mit den Erwachsenen und deren Institutionen ihre Identität gewinnen wollen.

Aber es ist die Frage, ob derartige Problemlagen heute noch kennzeichnend für das Jugendalter sind; zumindest scheinen sie nicht mehr die Bedeutung früherer Zeiten zu haben. Unsere These ist vielmehr, daß unsere Gesellschaft - und offensichtlich andere westliche Industriegesellschaften auch - dem Jugendalter keine besondere "Rolle" mehr zuweisen, weder für die Gegenwart, noch für die Zukunft der Gesellschaft. Die Gesellschaft stellt also keine spezifischen Ansprüche und Erwartungen mehr an das Jugendalter. Ein jugendlicher Arbeitsloser zum Beispiel ist ein Arbeitsloser wie jeder andere auch. Die Leistungsanforderungen in der Schule sind denen am Arbeitsplatz ähnlich geworden. Besondere, für das Jugendalter spezifische Erziehungsarbeit leistet die Schule immer weniger. Überhaupt sind die überlieferten öffentlichen Erziehungsmächte, die früher das Leben Jugendlicher bestimmt haben - vor allem Schule und Kirche - ziemlich bedeutungslos geworden.

So leben also Jugendliche heute in einem schwer zu durchschauenden, aber folgenreichen Widerspruch: Auf der einen Seite haben Jugendliche - wie früher auch - spezifische, für ihre Altersstufe typische Statusprobleme: Sie sind noch wirtschaftlich

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abhängig - sei es unmittelbar von Erwachsenen, sei es von staatlichen Zuwendungen; sie sind beruflich und politisch noch nicht etabliert, und sie haben in der Regel auch noch keine eigene Familie. Auf der anderen Seite hat dieses "noch nicht" - also die zunächst nur negative Statuskennzeichnung - keinen erkennbaren positiven gesellschaftlichen Sinn mehr, wie er früher in den Zukunftserwartungen zum Ausdruck kam. Anders ausgedrückt: War früher der Noch-nicht-Status des Jugendalters als begrenzte biographische Durchgangsphase gesellschaftlich definiert, so ist dieser Status heute oft sowohl im materiellen als auch im psychischen Sinne ein Dauerzustand. Die Versuchung ist groß, das Erwachsenwerden im Sinne der Übernahme entsprechender Rechte und Pflichten - zum Beispiel ein regelmäßiges Arbeiten, um eine Familie zu versorgen - solange zu verweigern, bis gar nicht mehr deutlich ist, was Erwachsensein eigentlich heißt. Diese Versuchung ist verständlicherweise größer für die Mittelschichtjugend, die das Jugendalter im wesentlichen in Schule und Hochschule verbringt. Aber zum Beispiel in der Drogenszene finden sich auch viele Jugendliche aus der Arbeiterschaft, die entweder keine Berufsausbildung beginnen oder sie abbrechen.

Die lange Wartezeit - das Auf-Dauer-noch-nichts-Sein - ist aber nicht nur für viele eine individuelle Versuchung, sondern zu einem guten Teil gesellschaftlich erzwungen, wie es sich an den Hochschulen zeigt. Früher wurde auch die relativ lange Dauer der Schul- beziehungsweise Hochschulausbildung als Privileg für eine Minderheit gesehen und positiv definiert, nämlich als ein "psycho-soziales Moratorium" (Erikson). Diese Zeit sollte eine Lebensphase sein, die noch weitgehend frei war von den Status-Pflichten des Erwachsenen in der - in relativer Autonomie - Identität gewonnen werden konnte.

Voraussetzung dafür war aber, daß die jungen Leute auf vielfältige Weise mit der Erwachsenenwelt in Verbindung blieben, zum Beispiel durch die institutionell garantierten Realitätsansprüche der Schulen und Hochschulen und durch das Eingebundensein in die bürgerlichen Regeln des Umfeldes in der Gemeinschaft und Gemeinde. Wenn diese Voraussetzungen entfallen, dann verliert auch das Konzept des psycho-sozialen Moratoriums seinen Sinn, weil Identität, die ihrer selbst sicher ist, nicht allein im Rahmen des jugendlichen "Noch nicht" zu haben ist, sondern nur dann, wenn es zugleich notwendig ist, sich mit der gesellschaftlichen, von Erwachsenen repräsentierten Realität auseinanderzusetzen.

Wird aber eine gesellschaftliche Gruppe durch ihr Defizit, also durch ihre Mängel definiert, ohne daß damit zugleich eine positive, gesellschaftlich bedeutsame Bewertung verbunden ist, dann wird sie notwendig als Sozialfall begriffen. Auch Obdachlose, Behinderte und Verarmte sind so definiert: als Menschen, die etwas nicht, noch nicht oder nichtmehr haben können. Die Jugend als Altersgruppe ist also seit der Jahrhundertwende vom Garanten der Zukunft der Gesellschaft zum Sozialfall "herabgestuft" worden. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß gerade auch an den Hochschulen sich vielfältige Variationen des "Aussteigens" finden - an einem Ort, wo eben die Erfahrung des "Noch nicht" ohne positive Zukunftsperspektiven besonders häufig und prekär ist.

Erst auf diesem Hintergrund des neuen gesellschaftlichen Status des Jugendalters wird auch das Verhalten der verschiedenen "Aussteiger" verständlich. Sie machen nicht nur den Eindruck von Fürsorgefällen, sie sind es objektiv auch. Meist ohne es zu wissen ziehen sie nur die Konsequenz aus dem, als was sie längst gesellschaftlich definiert sind. Bei allen Unterschieden, die sich in dieser Szene finden lassen, scheint es auch

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Gemeinsamkeiten zu geben: 1. den Versuch, den Noch-nicht-Status in irgendeiner Weise positiv zu gestalten, ihm Dauer zu verleihen und ihn - notfalls mit Gewalt - gegen das Eindringen davon abweichender gesellschaftlicher Ansprüche und Realitäten zu verteidigen; 2. die Unfähigkeit, diesen Noch-nicht-Status zu verlassen, und 3. beides nebeneinander. Dies wird deutlich aus der folgenden Schilderung der Berliner Alternativ-Szene:

"Der Durchschnitts-Stadtteilindianer wacht in einer Wohngemeinschaft auf, kauft sich die Brotchen in der Stadtteilbäckerei um die Ecke, dazu sein Müsli aus dem makrobiotischen Tante-Emma-Laden, liest zum Frühstück 'Pflasterstrand', 'INFO-BUG', 'zitty', geht - ... falls er nicht 'zero-work'-Anhänger ist (also nichts tut) - zur Arbeit in einen selbstorganisierten Kleinbetrieb oder in ein 'Alternativ-Projekt'; alle fünf Tage hat er Aufsicht in einem Kinderladen, seine Ente läßt er in einer linken Autoreparaturwerkstatt zusammenflicken; abends sieht er sich 'Casablanca' mit Humphrey Bogart im 'off'-Kino an; danach ist er in der Tee-Stube, einer linken Kneipe oder im Musikschuppen zu finden; seine Bettlektüre stammt aus dem Buchladenkollektiv.

Ärzte- und Rechtsanwaltskollektive, Beratungsstellen für Frauen, Frauen- und Männergruppen gibt es im Getto. Der gesamte Lebensbereich ist weitgehend abgedeckt bis hin zum Besuch der letzten Ausstellung der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst oder der neuesten Inszenierung des Theaters am Turm oder der Schaubühne am Halleschen Ufer (und in der Kunst wird das Getto sogar partiell durchbrochen, weil dort Experimente noch möglich sind). Dabei ist die Kommunikation intensiv - verglichen mit der, die durchschnittliche Bundesbürger untereinander pflegen. Mit diesen unterhalten sich Statteilindianer, antiautoritäre Studenten und Spontis nur, wenn sie müssen, bei einer Razzia zum Beispiel mit Polizisten. In Westberlin und Frankfurt gibt es Angehörige der 'scene', die stolz darauf sind, seit zweieinhalb Jahren kein Wort mehr mit einem von denen, die draußen sind, gewechselt zu haben"(6).

In diesem Getto mit seiner eigenen Presse und eigenen politischen Informationen ist die Begegnung und Auseinandersetzung mit der "offiziellen" politischen Kultur und Information geradezu planmäßig ausgeschlossen. Zudem wird deutlich, daß der Begriff "Aussteiger" die Sache nur halb trifft. Es geht mindestens ebenso sehr darum, nicht "einzusteigen" in die Ansprüche der Erwachsenenwelt.
 
 

Gruppe als Flucht und Sucht

Wenden wir uns nun einigen Einzelaspekten der Aussteiger-Szene zu, zunächst den Gleichaltrigen-Gruppen. Sie spielen hier eine überragende Rolle. Auch die Funktion dieser Gruppen hat sich beim neuen gesellschaftlichen Status des Jugendalters erheblich verändert.

In der traditionellen bürgerlichen Sozialisation waren die Gruppen der Gleichaltrigen ein sinnvolles Bindeglied zwischen der Phase der Kindheit einerseits und der endgültigen Übernahme der Erwachsenenrollen andererseits. In den Gleichaltrigen-Gruppen, die der unmittelbaren Kontrolle der Erwachsenen weitgehend entzogen waren, traf man andere, die dieselben Probleme hatten und bei denen man deshalb auch auf Anerkennung und Solidarität rechnen konnte. Die Gruppe bot die Chance, gleichsam experimentell mit den künftigen Erwachsenenrollen umzugehen, sie eher spielerisch zu handhaben. So konnten sich in ihr subkulturelle Phänomene entwickeln, zum Beispiel besondere Moden und Verhaltensweisen, die aber nach Beendigung dieser Phase meist wieder aufgegeben wurden.

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Die positive Sozialisationsfunktion der Gleichaltrigengruppe muß jedoch verschwinden, wenn die Vorläufigkeit ihres Status aus dem Blick entschwindet und ihre Existenz als Dauerzustand begriffen wird. Dann wird aus der jugendlichen Teilkultur eine Eigenkultur, die den Kontakt und damit eine realistische Auseinandersetzung mit der Hauptkultur, also der gesellschaftlichen Wirklichkeit, verlieren kann - wie das in der Schilderung der Berliner Szene zum Ausdruck kommt.

Drogenkonsum zum Beispiel beginnt immer in solchen Gruppen, und zwar dadurch, daß jemand aus der Gruppe eine "weiche" Droge, vor allem Haschisch, konsumiert und die anderen durch die Schilderung seiner Erlebnisse neugierig macht. Bald entsteht ein Gruppendruck, der denjenigen, der nicht mitmacht, zum Außenseiter werden läßt. Der Druck ist jedoch oft sehr subtil; in der Regel braucht niemand zu befürchten, von der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Aber diejenigen, die Drogen nehmen, fühlen sich den anderen überlegen, weil sie ihnen ein Erlebnis voraushaben, das sie selbst nicht näher beschreiben können. Eine beliebte Selbstdarstellung desjenigen, der Drogen nimmt, ist die des "coolen" Typs, der scheinbar kühl und sachlich über allem steht und dem die Welt nichts anhaben kann. Er wirkt so als Vorbild, dem man gleichen möchte. Aus einer so beeinflußten Gruppendynamik wird man dann zwar nicht hinausgedrängt, aber man wird in die zweite Reihe verwiesen. Ein Heroinabhängiger erzählt, wie er zum ersten Mal Haschisch rauchte:

"Na ja, da wußt' ich, daß einige meiner Freunde so 'ne Droge oder so ... . Aber ich habe mich nie getraut, zu fragen. Einmal haben sie das Zeug im Park geraucht, und ich war dabei. Als ich so blöd guckte, haben sie mir das Zeug angeboten. Na, ich wußte ja, wie gefährlich das sein kann, aber ich dachte: Dir passiert das nicht. Du probierst 'mal, um dich nicht vor all' den Leuten zu blamieren und dann hörst du wieder auf. War ja auch alles Pustekuchen von wegen Schäden. Die sahen alle ganz normal aus, obwohl sie schon lange rauchten"(7).

Ähnlich klingt der Bericht einer jungen Alkoholikerin:

"Wie es begonnen hat, weiß ich nicht mehr so genau; ich war vielleicht 14, vielleicht 15, als ich nach einem Pop-Konzert so richtig viel getrunken habe. Wir waren zu mehreren, und wir waren von der Musik angeregt, vielleicht sogar aufgeregt. Wir gingen hinterher in eine Disco und danach in eine Art Bar. Wir tranken Cola mit Rum, und wir diskutierten, solange die Bar offen hatte. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich schon damals dieses Gefühl des Losgelöstseins, diese Lässigkeit, als ginge das Leben rundum mich nichts an, gespürt habe. Aber ich kann mich erinnern, daß wir von diesem Tag an begannen, öfter abends in Discos und Kneipen zu gehen, und daß wir immer Alkohol tranken. Wir, das war eine Clique von Jungen und Mädchen im letzten Schuljahr. An diesen Abenden machten wir Zukunftspläne, wollten wir die Welt verändern, die wir so beschissen fanden. Wir hatten Ideen und tauschten diese aus, und dann waren wir glücklich. Niemand von uns war mit dem Leben, das er zu Hause zu führen gezwungen war, einverstanden. Wir alle warteten darauf, daß wir 18 würden, um uns dann selbst in die Hand nehmen zu können. Wir wollten die Welt nicht mit Gewalt verändern; wir verachteten Krieg und Autorität. Das Prinzip der Blumenkinder war eher unser Ideal. Wir träumten von edlen, guten Taten, und natürlich verachteten wir das Leistungsstreben unserer Eltern, die keine Zeit hatten für uns, außer an den obligaten Sonntagnachmittagen. Später verabredeten wir uns auch an diesen Sonntagnachmittagen, trotzten dem Familienverband und zogen sonntags hinaus in die Berge, wanderten und pflückten Blumen. Aber immer hatten wir als Wegzehrung außer den Broten auch Alkohol mit, die Jungen meist Bier, wir Mädchen Rum oder Gin, weil wir auf unsere schlanke Linie achteten und glaubten, Bier mache uns zu dick. Der Krach mit den Eltern blieb nicht aus. Je unverstandener wir uns fühlten, umso mehr hielten wir zusammen, umso mehr verbrachten wir unsere Freizeit gemeinsam. Unsere Leistungen in der Schule wurden immer schlechter. Wir bekamen blaue Briefe"(8).

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Jugendliche kommen also mit Drogen und Alkohol in Berührung im Rahmen ihrer gleichaltrigen Gruppen, und zwar zunächst einfach deshalb, weil diese Konsumgüter - wie viele andere auch - den Jugendlichen zur Verfügung stehen, ob nun legal oder illegal. Es ist also in der Regel keineswegs so, daß die Jugendlichen bewußt ein Problem vor Augen haben, das sie nicht lösen können und vor dem sie daher zwangsläufig zur Droge flüchten. Bei der zitierten Alkoholikerin war es offenbar eher umgekehrt, daß sie nämlich unter dem Einfluß des Alkohols und der dadurch hervorgerufenen Gruppenstimmung einige Probleme zu entdecken begann und sich gemeinsam mit den anderen ein besseres Leben ausmalte.

Die Frage, ob Jugendliche Probleme haben und deshalb die Flucht antreten, oder ob sie - umgekehrt - die Probleme erst danach bekommen, ist nicht leicht zu beantworten. Der Berliner Drogenbeauftragte Wolfgang Heckmann meint:

"Sucht (ist) nicht das eigentliche Problem, sondern vielmehr Symptom für tieferliegende, hinter dem Drogenmißbrauch verborgene psychische und soziale Probleme. Die Realitätsflucht, die die verschiedenen Drogen - seien es legale wie Alkohol und Medikamente, oder ... illegale wie Haschisch, LSD oder Heroin - erzeugen, ist die Flucht vor nicht erträglichen Lebensbedingungen, vor Einsamkeit, vor Unbeachtetsein, vor Überforderung, vor Langeweile und Eintönigkeit vor der Normalität oder vor der Bewertung ... , nicht ganz normal zu sein. Gründe für Realitätsflucht gibt es viele, und im Grunde kennen wir sie alle"(9).

Dagegen scheint zu sprechen, was Herbert Berger und seine Kollegen in einer Untersuchung herausgefunden haben, die unter dem Titel "Wege in die Heroinabhängigkeit" erschienen ist. Für diese Untersuchung wurden hundert in einer Jugendstrafanstalt einsitzende männliche Fixer befragt. Man wollte Genaueres wissen über den Verlauf der von den Soziologen sogenannten "Drogen-Karriere"; man wollte herausfinden, wann und unter welchen Umständen mit dem Konsum weicher Drogen begonnen und unter welchen Umständen auf harte Drogen, wie Heroin, "umgestiegen" wird.

Persönliche, akute Probleme, die den Griff zur Droge hätten erklären können, konnten weder die Fixer nennen, noch konnte sie die Untersuchung rekonstruieren. Statt dessen weist diese Untersuchung auf die überragende Bedeutung gleichaltriger Gruppen hin, die während der ganzen "Drogenkarriere" eher zunimmt. Der Anstoß zum Drogenkonsum erfolge im alltäglichen Freizeitleben:

"Dieser Anstoß erfolgt nicht etwa, wie in einigen traditionellen Ansätzen impliziert unterstellt, durch besonders herausragende, für den einzelnen als Belastung empfundene Ereignisse und Erfahrungen. Der Anstoß ergibt sich vielmehr im Rahmen seiner alltäglichen Kontakte mit anderen Gleichaltrigen-Personen, mit denen er öfters zusammentrifft und denen er auch ein gewisses Vertrauen entgegenbringt. Er gerät eines Tages in eine Situation, in der es zum Konsum kommt und sich für ihn die Möglichkeit eröffnet, daran zu partizipieren"(10).

Entgegen der Erwartung scheinen die Fixer in der Mehrheit eher kontaktfreudig zu sein, was die Autoren der Untersuchung zu der Warnung veranlaßt, einen guten Kontakt mit Gleichaltrigen per se nicht für ein Gegenmittel gegen den Drogenkonsum zu halten:

"Statt gute Kontakte zu Gleichaltrigen als Puffer gegen den Drogenkonsum zu sehen - wie in der bisherigen Literatur allgemein üblich - , spricht einiges dafür, gute und viele Kontakte zu Gleichaltrigen eher als einen Faktor zu sehen, der die Chance des Drogenkonsums ... erhöht: Wer über viele Kontakte verfügt, kommt mehr oder minder per Zufall häufiger mit anderen

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Konsumenten in Berührung. Er ist demgemäß sowohl positiven Einschätzungen des Drogenkonsums, als auch der Gelegenheit zum Konsum öfter ausgesetzt" (11).

Nun kann der Widerspruch dieser Ergebnisse zu der Meinung Heckmanns ein scheinbarer sein. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß es die klassischen Pubertätskonflikte, die einem bewußt sind und die man mit bestimmten Personen, zum Beispiel Eltern oder Lehrern, verbinden kann, kaum noch gibt. Einerseits repräsentieren diese Personen keine Realität mehr, für die man sie verantwortlich machen könnte; sie bringen die Realität als instrumentelle oder organisatorische Sprecher allenfalls zur Geltung. Die Polizei etwa wird gegen "Aussteiger" - zum Beispiel gegen Hausbesetzer - vielfach als Stellvertreter eingesetzt; sie muß agieren, weil politische Lösungen fehlen.

Andererseits ist es in dem beschriebenen Status des Noch-nicht - ohne positiven Sinn - für Jugendliche ungemein schwierig geworden, Probleme überhaupt zu erkennen und zu artikulieren, beispielsweise, weil innerhalb des Jugendmilieus die Kontrahenten fehlen, an denen man solche Probleme entdecken könnte.

Dies mag erklären, weshalb auch die Kritik an der Gesellschaft so unbestimmt bleibt, sich eigentlich nur im "feeling" ausdrücken kann, also in der unausgegorenen Formulierung dessen, wie man sich und die etablierte Welt emotional erlebt. Wie soll man etwa erklären, daß man in einer Welt einsam ist, in der jeder mit jedem kommunizieren kann und auch soll? Und wie soll man erklären, daß man sich ungeliebt und nicht anerkannt fühlt, wo doch alle irgendwie nett sind und einem nicht zu nahe treten? Oder wie kann man einen Mangel an Geborgenheit feststellen, wo doch für jeden im Rahmen der sozialpolitischen Netzes gesorgt wird?

Die Probleme, die den Jugendlichen aus ihrer Lebenssituation erwachsen, sind psychologisch verdeckt, das heißt, sie können ohne einen gewissen Informationsstand erst gar nicht bewußt werden. So läßt sich vielleicht erklären, daß ein eher dumpfes und diffuses Problemgefühl erst im Rahmen bestimmter Erlebnisse in Gleichaltrigen-Gruppen zum Bewußtsein kommt. Dafür sprechen auch die meist ganz zufälligen Begegnungen mit Jugendsekten, wo man erst durch die Erfahrung der scheinbar harmonischen Gemeinschaft mit den anderen entdeckt, wonach man bisher unbewußt gesucht hat. So heißt es in einem Bericht:

"Ein junges Mädchen hatte mich in Essen in der Fußgängerzone angesprochen. 'Suchst du auch nach Jesus?', fragte sie mich - und ob ich suchte. Sie sagte, daß sie eine Missionarin der 'Kinder Gottes' sei und gab mir einen Brief von Mose David. Da stand: 'Verändere die Welt! Fang' heute an! Verändere dein eigenes Leben!' Sie gab mir ihre Adresse und lud mich ein, sie zu besuchen. Noch am ... (selben) Abend bin ich hingegangen. Voller Liebe und Zärtlichkeit wurde ich von den jungen Leuten dort aufgenommen. Ich war ganz überwältigt. Wir haben zusammen in der Bibel gelesen, gebetet und gesungen. Nach diesem Abend war ich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder glücklich"(12).

Am Beispiel der Jugendsekten wird aber auch deutlich, daß übermäßige Integration in die Gruppe ein Instrument dafür sein kann, dem einzelnen von außen gesetzte Ziele aufzuzwingen und ihn der äußeren Realität zu entfremden. Der amerikanische Psychologe John C. Clark hat vier Jahre lang ehemalige Sektenmitglieder untersucht. Die sogenannte "Bekehrung" verläuft - so stellte er fest - immer wieder nach demselben Mechanismus:

"Alle Kulte erreichen während dieser Zeit durch verstärkten Gruppendruck, Nahrungsänderung und ... Einführung von Schuld und Terror eine ideologische Bewußtseinsänderung: Unauf-

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hörliches Predigen und Belehren von allen Seiten, pausenlose Überwachung, andauernde Verweigerung jeglicher Intimsphäre für Geist und Körper, sogar bei der Benutzung des Badezimmers. Alle Beziehungen zu anderen Menschen werden reglementiert, es gibt keine individuelle Ausdrucksweise mehr. Die Opfer werden ganz schnell dazu gebracht, ihre Einstellung zu allen vertrauten und geliebten Objekten, Eltern, Geschwistern und Zuhause, schnellstens zu ändern und werden körperlich und seelisch in eine so fremde Umgebung versetzt, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Auf diese Weise wird es immer schwieriger für sie, sich die Vergangenheit überhaupt noch vorzustellen. Das Gegenwärtige wird zur Realität und schließt alle Elemente der übernatürlichen, magischen und erschreckenden Gedankenwelt ein, die andauernd von der Gruppe zum Ausdruck gebracht wird. Man glaubt, daß Sicherheit und Gesundheit ausschließlich innerhalb der Gruppe erlangt werden können. Es wird kein Raum mehr gelassen zur selbständigen Erprobung der Wirklichkeit"(13).

Daß Gruppen den Zugang ihrer Mitglieder zur äußeren Realität verbauen können, wissen wir auch aus der Terrorszene. Hier wird die Isolation durch die Strafandrohung verstärkt. Der ehemalige Terrorist Horst Mahler beschreibt die Veränderungen, die sich aus der Illegalität ergeben:

" ... daß man sich verändert, ergibt sich schon daraus, daß man in der Illegalität in einer völlig veränderten Welt lebt, und man muß sich das 'mal vorstellen, daß keine größere Intensität von Druck vorstellbar ist als eben Illegalität in einer hochtechnisierten Großstadt mit einem riesigen Polizeiapparat, dem alle Mittel zur Verfügung stehen. Und da sieht man die Umwelt tatsächlich nur noch in militärischen Mustern, als befreite Zone und als gefährliches Gebiet. Und man sieht auch die Menschen nicht mehr offen, geht nicht mehr auf sie zu, sondern betrachtet jeden und luchst, ob man in seinen Augen etwas aufleuchten sieht, ein Aha-Erlebnis, und man sich also entdeckt fühlen muß, was ja dann höchsten Alarm bedeutet, so daß man also ständig lauernd mit diesen Menschen - wenn man mußte - umging, sie eben als potentielle Verräter oder als Denunzianten sah, sich also vor ihnen schützte und Vertrauen eben aus der alten Zeit nichts mehr galt"(14).

Die Gruppe der Gleichgestimmten und Gleichgesinnten - so scheint es - wird mit hohen sozial-emotionalen Erwartungen besetzt; sie soll gewähren, was sonst nicht zu haben ist: Geborgenheit, Anerkennung, Zugehörigkeit - Erwartungen, die man früher eher an die Familie oder an einen kleinen Kreis von Freunden richtete.

So ist es sicher kein Zufall, daß der Terrorismus bei uns seinen Höhepunkt erreichte, als es darum ging, die eigenen Gruppenmitglieder - durch Erpressung - aus dem Gefängnis zu holen. Das Gefühl der Solidarität mit den anderen Mitgliedern der Gruppe scheint ein neues Lebensgefühl geworden zu sein; darin scheint etwas von dem aufzuleuchten, was als Vision eines künftigen, besseren Lebens empfunden wird: Solidarität statt Konkurrenz, Gleichberechtigung statt Hierarchie, freudig getane Arbeit statt fremdbestimmter Leistung und vor allem - Sehnsucht nach der Totalität menschlicher Beziehungen, die nicht durch Rollenhandeln gleichsam parzelliert und aufgespalten sind.

Jedoch ist die Frage, ob mit solchen Erwartungen die Gruppe nicht überfordert sein muß. In vielen Fällen dürfte der innere Zusammenhalt in erster Linie durch das Feindbild aufrechterhalten werden, das man sich von der Außenwelt gemacht hat. Es wird regelrecht benötigt zur Stabilisierung der eigenen Gruppe, die sich ohne solche Feindbilder möglicherweise ihrer Illusion schmerzlich bewußt werden müßte. Bei den Fixern wird der Kontakt mit der Außenwelt im kommunikativen und im psychischen Sinne ganz oder so weit wie möglich abgebrochen; die Außenwelt wird hier zwar nicht aktiv bekämpft, aber im Schein der Drogenerlebnisse und unter dem Zwang zu deren

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ständiger Wiederholung ignoriert. Rechtsradikale Jugendliche feiern das neue Gemeinschaftserlebnis, mit dem sie ihre Zugehörigkeit zu rechtsradikalen Gruppen stets begründen, durchweg in Verbindung mit offenem Haß gegen Andersdenkende. Selbst die Jugendsekten sind, wie wir sahen, offensichtlich darauf angewiesen, für ihr Gemeinschaftserlebnis den rigorosen Abbruch der Außenkontakte zu fordern.

Diese Beobachtungen müssen skeptisch machen gegenüber den Erwartungen, die an die Gruppe gestellt werden. Wenn die Gruppenbeziehungen nicht als Bereicherung für andere Kontakte erlebt werden können, dann führen sie das Denken, Fühlen und Verhalten ihrer Mitglieder in die Abhängigkeit. Möglicherweise hat dieser Zusammenhang etwas mit dem zu tun, was Alexander Mitscherlich schon vor vielen Jahren in seinem Buch "Die vaterlose Gesellschaft" geschildert hat. Mit der gesellschaftlichen Demontage des Vaters, so meinte er, also in dem Maße, in dem der Vater seine Autorität im Sozialisationsprozeß verliere, breche bei den Kindern die Geschwister-Rivalität durch. Folgt man diesem Gedanken, dann wäre die Solidarität in den Gruppen eher eine Illusion, scheinhaft aufrechterhalten nur dadurch, daß die Rivalitäts-Energie der Gruppenmitglieder nach außen gewendet werden kann.

Selbständigkeit und Selbstbewußtsein kann sich hier kaum entfalten; eher entsteht eine Art süchtiger Abhängigkeit von der Gruppe. So sieht es auch der Berliner Politikwissenschaftler Wolf Dieter Narr:

"Problematisch ist ... , daß all diese Ersatzwirklichkeiten in der Regel diese Jugendlichen auch nicht 'zu sich' kommen lassen, keine freie und tragende Geselligkeit stiften, sondern diese Jugendlichen eher 'von sich' wegbringen und ihre bleibenden Einsamkeiten überspielen, eine lärmend überlagerte Ungeselligkeit. Fällt die Droge, fällt die Wohngemeinschaft, fällt der Kult oder fällt die 'stärkste der Parteien' aus, der man sich angeschlossen hat, dann bleibt man ebenso hilflos zurück, wie man 'eingetreten'ist"(15).
 
 

Identität im "Niemandsland"

Von der Gesellschaft her gesehen sind diese überhöhten und deshalb gefährlichen Erwartungen an die Gruppe nur der Versuch, eine institutionelle Lücke auszufüllen, ein "institutionelles Niemandsland", wie es der Schweizer Soziologe Gerhard Schmidtchen genannt hat. Die Demontage des Vaters steht nämlich für einen allgemeinen Prozeß gesellschaftlicher, nämlich institutioneller und normativer Desorganisation überhaupt. Schmidtchen schreibt im Rahmen einer Analyse des Terrorismus:

"Terroristen beginnen als Moralisten. Ihre Karriere ist eng verwoben mit Bereichen gesellschaftlicher Desorganisation. Terrorismus ist typisch für kontrollschwache und unterinstitutionalisierte Gesellschaften. Die moderne Demokratie hat bisher noch nicht die richtigen Antworten für ihr strukturelles Kontroll-Dilemma gefunden: zu starke und restriktive Kontrolle bremst die Beweglichkeit des Gesellschaftssystems und senkt seine Produktivität, ersatzloser Abbau veralteter Kontrollsysteme erzeugt Desorganisation. Zustände der Desorganisation sind wie ständige Einladungen an politische Verführer ... . Die Terroristen werden wahrscheinlich keine Rekrutierungsschwierigkeiten haben, solange ein selbstgerechtes Gesellschaftssystem nicht bemerkt, in welchem institutionellen Niemandsland ein Teil der jungen Generation und ein Teil der lntelligenz heranwächst"(16).

"Institutionelles Niemandsland": Das ist zum Beispiel die "ungeregelte" Sphäre von Freizeit und Konsum, aber auch bürokratisches Handeln, dessen institutioneller Sinn

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nicht mehr einsehbar ist. Dieses "Niemandsland" wird von den Aussteigern bebaut, so gut es ihnen möglich ist. Leben läßt sich in ihm jedoch offenbar nur in fast grenzenlosem Subjektivismus; denn wo gesellschaftliche Desorganisation herrscht und keine lohnende Zukunftsperspektive zu erkennen ist, bleibt nur die Unmittelbarkeit des Handelns und Fühlens. In dem Satz: "Wir wollen alles, und zwar subito" drückt sich kein Allmachts- und Herrschaftsgefühl aus, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Gemeint ist vielmehr eine Zeitperspektive, die sich auf die gegenwärtige Unmittelbarkeit reduziert: Was wesentlich und erreichbar ist, soll jetzt stattfinden, nicht erst morgen oder übermorgen. Dies ist eine Absage an die Perspektiven der überlieferten Mittelschicht-Sozialisation. Deren Forderung hieß: In jungen Jahren Verzicht leisten, damit später Karriere, Wohlstand und Status gesichert werden können.

Diese Unmittelbarkeit wird nur im "feeling" letztlich erfahrbar und mitteilbar, also darin, ob man sich gut oder schlecht fühlt. Daran gemessen sind die rationalen Erklärungen und Begründungen zweitrangig. Am radikalsten wird dieses "feeling" beim Rauschgiftkonsum erlebt, und genau dies macht in der Anfangsphase, wenn noch keine körperliche Abhängigkeit besteht, die Versuchung der Droge aus: daß man nämlich durch sie extremes Wohlbefinden scheinbar jederzeit herstellen kann. Das wird deutlich in der folgenden Schilderung eines jungen Mädchens:

"Mit 15 habe ich angefangen zu drücken. Das Drücken, das Gefühl kannste überhaupt net so beschreiben. Angenehm, ich habe Mamma, Pappa in der Vene drin, ich habs zu Hause in der Vene. Eine Geborgenheit, ich war sicher, ich konnte reden, ich hab leben können, hat mir das Gefühl von Leben gegeben, alles war nicht mehr so tragisch, alles um mich rum war o.k."(17).

Aber in der Drogensucht kommt das Suchtbedürfnis nur besonders deutlich zum Ausdruck. Der Kult der Unmittelbarkeit, die Weigerung, Bedürfnisse aufzuschieben und sie in irgendeiner Weise kulturell und in Beziehungen zu anderen zu gestalten, ist in sich schon ein Suchtverhalten.

Fassen wir noch einmal einige wichtige Gesichtspunkte zusammen:

1. Die junge Generation wächst heute weitgehend in einem institutionellen Niemandsland auf. Hier ist sie in hohem Maße auf die Gleichaltrigen als Partner und als Maßstab angewiesen. Der Status des Noch-nicht-Etabliertseins ist nicht mehr mit einer positiven, auf die Zukunft der Gesellschaft gerichteten gesellschaftlichen Definition und Erwartung verbunden. Die Aussteiger machen diese neue Lage der jungen Generation nur deutlich, weil sie der Öffentlichkeit auffallen; sie richten sich in diesem Status tendenziell auf Dauer ein, ohne eigene Zukunftsperspektive, die das Handeln langfristig steuern könnte.

2. Auffallend ist das starke Anlehnungsbedürfnis an ebenso gestimmte Gleichaltrigen-Gruppen, in die hohe und letztlich unerfüllbare Erwartungen im Hinblick auf die sozialen und emotionalen Grundbedürfnisse nach Liebe, Anerkennung und Geborgenheit gesetzt werden.

3. Auffallend ist ferner eine Tendenz, die Zeitperspektive auf die unmittelbare Gegenwart zu reduzieren und die Realität eher gefühlsmäßig zu erleben, als durch Denken zu erschließen.

Alle diese Tendenzen sind für die Entwicklung von Selbständigkeit und Autonomie, also für das, was wir herkömmlich einen "mündigen" Menschen nennen, eher

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hinderlich. Und das wirft die Frage auf, ob die Aussteiger die Versager unter der jungen Generation sind, oder, umgekehrt, die starken Persönlichkeiten, die sich mit dem, was sie vorfinden, nicht abfinden wollen, für sich selbst neue Wege suchen und dafür zur Not auch öffentliche Auseinandersetzungen in Kauf nehmen. Diese Frage zielt natürlich ins Herz aller denkbaren Vorurteile. So mancher Bürger hält die Aussteiger - solange seine eigenen Kinder noch nicht dazugehören - für Kriminelle und Versager, die nur einmal tüchtig zur Ordnung gerufen werden müßten. Trotz derlei Vorurteilen darf man dieser Frage jedoch nicht ausweichen.

Wissenschaftliche Untersuchungen gibt es darüber kaum, und die vorliegenden erlauben keine verallgemeinernden Urteile. Aber es läßt sich sagen, daß das Erwachsenwerden schwerer geworden ist. Das "institutionelle Niemandsland", in dem Jugendliche heute heranwachsen, verlangt eine besonders große Anstrengung, um Identität und Ichstärke zu erlangen. Das war in der klassischen Konstellation der Auseinandersetzung mit dem Vater, beziehungsweise mit den ihm entsprechenden Institutionen einfacher, wenn auch vielleicht konfliktreicher. Heute müssen die Maßstäbe, mit denen und nach denen die Herausarbeitung der Persönlichkeit erfolgen soll, aus der individuellen Innerlichkeit kommen. Andererseits verlangt die offene Situation, in der Jugendliche heute aufwachsen, auch ein besonders hohes Maß an Ichstärke. Früher war die Identitätsfindung für viele Jugendliche weitgehend eine Sache der Identifikation mit gesellschaftlichen Kollektiven, zum Beispiel mit der eigenen Familientradition oder mit der Schicht beziehungsweise Klasse, der man angehörte, und deren Normen. So entsteht eine paradoxe Lage: In einer gesellschaftlichen Situation, in welcher Ichstärke, Autonomie und Selbständigkeit als Persönlichkeitsmerkmale in besonderem Maße nicht nur für eine kleine Elite, sondern für alle Heranwachsenden wichtig sind, fehlen die Sozialisationsangebote, die dafür benötigt werden.

So nimmt die Zahl derer zu, die - aus welchen Gründen auch immer - den Leistungsanforderungen in Schule, Hochschule und Berufsausbildung nicht gewachsen sind. Und für sie hat unsere Gesellschaft, in der bezahlbare Arbeit knapper geworden ist, kaum noch angemessene Positionen zur Verfügung. So wird eine Art von "Jugendproletariat" produziert, für das eine halbwegs befriedigende soziale Integration nicht in Sicht ist. Lediglich ein Teil der alternativen Arbeitsprojekte scheint zu verhindern, daß ein junger Mensch zum Sozialfall wird.

Hinzu kommt die normative Verunsicherung, die sich darin ausdrückt, daß grundlegende Werte der Gesellschaft zur Debatte gestellt sind. So wird etwa der überlieferte Arbeitsbegriff fragwürdig und damit auch die klassische Trennung von Arbeit und Freizeit. In einer kirchlichen Informationsschrift über neue Sekten heißt es dazu:

"Die etablierte Umwelt, die sich als ein wissenschaftlich-technisches Plansystem der Produktion erweist, wo ein kaum gefährdeter materieller Wohlstand und eine reine Bedürfnisbefriedigung zum Inbegriff von Wohl und Glück werden, bietet keine unbefragte attraktive Zielvorstellung mehr für die Heranwachsenden. Sie sind sensibilisiert für die inneren Risse und nur oberflächlich verkleisterten Brüche in einer Gesellschaft, die kaum noch allgemein anerkannte verbindliche Formen kennt, die vom funktionalen Denken regiert wird und in der die innerweltlichen menschlichen Bedürfnisse weithin vergesellschaftet werden. Das massive Defizit sehen die jungen Menschen in der fehlenden Sinnerfahrung und Sinnerfüllung. Wo gemeinsame Wertvorstellungen fortschreitend zerfallen, übrigens ein Faktum, das von vielen Menschen als Befreiung erlebt wird, zerfällt auch das leitende Bezugsfeld für die konkrete Lebensgestaltung: Eine 'babylonische' Verwirrung nimmt den Platz ein. Man ist frei und 'vaterlos' zugleich"(18).

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So gesehen spiegelt die regressive Aussteigerszene eigentlich nur die kulturelle Gesamtsituation wider. Das Titelmotto unseres Berichtes, daß man alles sofort haben wolle, könnte eine Erfindung der Konsumwerbung sein; denn vom Vorschulalter an werden entsprechende Denk- und Gefühlsstandards den Kindern und Jugendlichen durch die Werbung vorgesetzt. Das Verhältnis der Aussteiger zum Konsum ist also durchaus doppeldeutig: Einerseits werden die perfekten Konsumstandards, für die man hart arbeiten soll, leidenschaftlich abgelehnt. Andererseits geschieht dies mit den verinnerlichten Mustern jener bekämpften Konsumhaltung. Thilo Castner erklärt das so:

"Die gegenwärtige Jugend hat von Geburt an überwiegend materielle Fülle und uneingeschränkte Bedürfnisbefriedigung erlebt - entsprechend bestand auch keine Notwendigkeit zum Erlernen von Genußverzicht oder -aufschub. Asketische Lebenswerte, Sparsamkeit, Genügsamkeit werden Wohlstandskindern nicht abverlangt. Sie gewöhnen sich daran, ihre Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen, und lernen nicht, Bedürfnisse aufzuschieben, zu überbrücken, zu sublimieren. Völlige Sublimationsunfähigkeit aber bedeutet Ich-Schwäche und als Folge schnelles Resignieren; erfordert doch die Überwindung von Schwierigkeiten immer ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen und Triebaufschub ... "(19).

An das Leben und an die anderen werden hohe Ansprüche gestellt, die zu dem, was man selbst emotional, sozial und als Arbeit zu investieren bereit oder in der Lage ist, in einem krassen Mißverhältnis stehen. Aber gerade die wichtigen menschlichen Bedürfnisse - Liebe, Anerkennung, Geborgenheit - sind nicht zum Nulltarif zu haben, sondern erfordern auch eigene Anstrengung. Fehlt diese oder bleibt sie erfolglos, dann werden die anderen Menschen - auch die Angehörigen der eigenen Gruppe - zur doppelten Belastung: Einmal sind die anderen nötig für eine zumindest äußerliche Anerkennung; diese muß aber andererseits durch ständiges Mitmachen und durch ständigen Einsatz der Geschwister-Rivalität errungen werden.

"Etwas so zu lernen, daß sie es wiedergeben können, liegt der großen Mehrzahl dieser Kinder nicht. Dabei mutet ihnen der Unterricht heute meist zu, sich gegenseitig etwas mitzuteilen, das sie für sich oder in einer anderen Gruppe 'erarbeitet' haben ... . Aber sie interessieren sich für die Äußerungen der anderen nur in dem Maße, in dem sie sie bestreiten können. Eigene Meinungen ins Feld führen - das ist das Hauptvergnügen ... . Das auffälligste an den heutigen Kindern ist ihre ... Unfähigkeit, zu trauen - ein sie beherrschendes Gefühl, zu kurz gekommen, übergangen, übersehen, überhört, ungerecht belastet oder beschuldigt zu werden. Sie schreien sich gegenseitig ständig nieder; sie sind zu einer gemeinsamen Leistung und Ordnung nur unter mathematischer Aufteilung der Aufgaben und Opfer bereit - oder in einer Clique, die sich gegen andere absetzt und möglichst einen Boß hat"(20).

Diese Schilderung von Hartmut von Hentig stimmt mit vielen anderen Äußerungen und Untersuchungen des Schülerverhaltens überein. Sie läßt uns ahnen, wie groß das Potential an "Aussteigern" noch werden kann.
 
 

"Aussteigen" als Politik?

Aber zeigt die Aussteiger-Szene nicht auch neue Wege und Lösungen auf? Welche politische Bedeutung hat zum Beispiel die alternative Bewegung? Handelt es sich hier um eine Bewegung, die noch unklar und eher unbewußt Maßstäbe eines neuen Lebens entwickelt, nach denen künftige Generationen zufrieden leben könnten? Gelegentlich

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kommt eine entsprechende Problematik zum Vorschein - so in einer öffentlichen Erklärung Freiburger Hausbesetzer:

"Wir haben einen Horror vor der Vision, als numerierter Roboter, begraben in Betonsärgen mit vollautomatischer Kücheneinrichtung und Klimaanlage, betreut von Psychiatern, Beschäftigungstherapeuten, Freizeitgestaltern und sonstigen sozialen Flickschustern, in überwachten sterilen Begegnungsstätten unser Dahinvegetieren zu managen. Wir wollen Straßen, auf denen man sich treffen, feiern, tanzen, reden kann. Wir wollen Wohnungen, die groß und geräumig sind, wo Kinder aufwachsen und spielen können, ohne sie mit dem Fernglas aus dem 15. Stock suchen oder mit dem Megaphon zum Mittagessen rufen zu müssen"!(21)

Die politische Bedeutung der Aussteiger-Szene liegt offensichtlich zunächst einmal darin, daß die Aussteiger durch ihr Handeln und Verhalten auf Probleme und Widersprüche hinweisen, die nicht einfach durch Geld oder sozialpädagogischen Einsatz zu lösen sind, sondern die die Substanz bisher für wichtig gehaltener Werte betreffen. Es geht zum Beispiel um die Frage, ob privates Eigentum auch dann mit dem Ziel der Profitmaximierung verwendet werden darf, wenn dies Wohnungsnot für Menschen mit geringem Einkommen zu Folge hat, und darum, in welchen sozialen und kulturellen Formen wir eigentlich im Nahbereich wohnen und leben möchten. In den Zeiten, in denen wirtschaftliches Wachstum das vorrangige gesellschaftliche Ziel war, wurden Wohnsiedlungen oft ohne Rücksicht auf sozialen und gesellschaftlichen Komfort gebaut. Hinzu kommen alle inzwischen öffentlich bekannten Probleme, die mit dem Widerspruch von industriellem Wachstum und Umweltbelastung zu tun haben. Die Aussteiger bringen diese und andere Probleme der Öffentlichkeit eindringlich zum Bewußtsein.

Aber: Nach ihren Vorstellungen ist eine hochkomplizierte und differenzierte Industriegesellschaft nicht im Ganzen zu organisieren; alternative Projekte können sich nur in den Nischen einer solchen Gesellschaft halten, und dies auch nur deshalb, weil sie mit deren Leistungen und Dienstleistungen - vom Bildungswesen bis zur Sozialpolitik - rechnen können. Und wäre ein Leben, wie es sich die Alternativ-Szene vorstellt, auch wirklich wünschenswert? Ist es eine verlockende Utopie?

Die meisten alternativen Projekte haben nur einen geringen Ertrag, der oft gerade nur das Existenzminimum deckt, und das bei relativ langen Arbeitszeiten. Dies liegt vor allem am Kapitalmangel und an fehlender Arbeitsteilung. Ebenso wenig verlockend dürfte vielen die undifferenzierte soziale Vision erscheinen. Nachbarschaftliche Harmonie, relativ dichte Gruppenbeziehungen, und damit unmittelbare Sozialkontrolle, ganzheitliche, nicht durch Rollen begrenzte Beziehungen mit permanenter Kommunikation - das kann auch zur schrecklichen Vision werden. Und gelänge es, solche Sozialverhältnisse wieder einzurichten - es sind im Grunde vorindustrielle Modelle -, dann würde aller Voraussicht nach die nächste Generation unter Protest aus dieser von ihr als unerträglich borniert empfundenen Sozialität wieder "ausziehen".

Die Alternativ-Szene verweist insofern nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Vorläufer hatte sie in vielen Variationen, zum Beispiel in der Weimarer Republik - in einer Zeit, die ebenfalls von vielen als sozial desorganisiert empfunden wurde, vor allem vom mittleren Bürgertum. Sie steht in der Tradition jener bürgerlichen Kulturkritik, die Gemeinschaft gegen Gesellschaft, Kultur gegen Zivilisation, das Einfache gegen das Komplexe ausspielte und dies verband mit einem tiefen Ressentiment gegen Form und Inhalt der bürgerlichen Demokratie. Die politische Bedeutung

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der Aussteigergruppen besteht möglicherweise vor allem darin, daß sie wegen ihres mangelhaften politischen Bewußtseins und der Irrealität ihrer Vorstellungen und Erwartungen im besonderen Maße politisch verfügbar sind. Das ist keine Frage der jeweiligen politischen Gesinnung - die nicht sehr fundiert erscheint und sich ändern kann wie die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Gruppe - , sondern eine Frage des soziokulturellen Befindens. Statusunsicherheit und normative Mehrdeutigkeit sind für viele schwer zu ertragen: sie sind ein fruchtbarer Boden für radikale politische Parolen. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß politische Verführbarkeit nur in der Aussteiger Szene zu erwarten sei. Die große Mehrheit der Jugendlichen bleibt zwar unauffällig, paßt sich an und sucht ihre Frustrationen im Freizeitbereich zu kompensieren; aber die Probleme, von denen hier die Rede war, betreffen auch sie, und wir wissen nicht, wie viele von ihnen bereits innerlich emigriert sind, das heißt, im Ernstfall keinen Finger für die Verteidigung der Republik rühren würden. Aus dem Holz der unauffällig Angepaßten waren die "Eichmanns" geschnitzt, die Hitlers Wünsche realisierten.

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Quellennachweis

(1) Der Spiegel, Nr. 52/1980, S. 27.

(2) Ronald Bunzenthal, Alternative Ökonomie: Karriere, Konsum und Konkurrenz nicht gefragt, in: Frankfurter Rundschau v. 3. 1. 1981.

(3) Hartmut und Thilo Castner: Jugend zwischen Überfluß und Mangel, in: aus politik und zeitgeschichte Nr. 21/1980, S. 3ff.

(4) Castner, a.a.O., S. 4.

(5) Ebd.

(6) Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Von der APO nach TUNIX, in: Claus Richter (Hrsg.): Die überflüssige Generation, Königstein: Athenäum 1979, S. 132ff., hier S. 137.

(7) H. Berger u. a., Wege in die Heroinabhängigkeit, München: Juventa 1980, S. 56.

(8) Ch. Schaefers (Hrsg.), Notausgänge, Hannover: Fackelträger 1980, S. 17.

(9) W. Heckmann, Eigentlich ist dieses Leben ein ständiger Hilferuf, in: Ch. Schaefers, a. a. O., S. 59ff., hier S. 59.

(10) H. Berger, a.a.O., S. 55.

(11) H. Berger, a.a.O., S. 47.

(12) Ch. Schaefers, a.a.O., S. 167.

(13) zit. n. Ch. Schaefers, a.a.O., S. 179.

(14) Frankfurter Rundschau v. 22. 3. 1978.

(15) W. D. Narr, Jugend - ein Erwachsenenproblem, in: C. Richter, a.a.O., S. 96ff., hier S. 110.

(16) Zit. nach Lothar von Ballusek, Zum Exodus Jugendlicher, in: aus poltik und
zeitgeschichte Nr. 30/1979, S. 20.

(17) Zit. nach Castner, a.a.O., S. 4.

(18) Sekten und neuere Weltanschauungsgemeinschaften - Eine Information (1978), hrsg. vom Arbeitskreis Sekten und neuere Weltanschauungsgemeinschaften im Auftrag der Zentralstelle Pastoral, Bonn, zit. nach L. v. Ballusek, a.a.O., S. 19.

(19) Castner, a.a.O, S. 16.

(20) H. v. Hentig, Was ist eine humane Schule? München 1977, zit. n. Castner, a.a.O., S. 13

(21) Die ZEIT v. 26. 12. 1980.

 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke16.htm

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